Tutorial: Wie sollte eine Kurzgeschichte aufgebaut sein?
Die Kurzgeschichte besitzt durch ihre spezielle Form einen besonderen Stellenwert in der Literatur. Häufig ist sie nur einige Wörter bis wenige Seiten lang und sollte in einem Stück gelesen werden können; das bedeutet auch, dass sie nicht in Kapitel unterteilt ist. Nicht jede kurze Geschichte ist auch eine Kurzgeschichte, da für diese formale Kriterien gelten, welche in diesem Tutorial erklärt werden. Dieses bezieht sich dabei auf die klassische Kurzgeschichte mit deren gängigem Aufbau sowie ihren typischen Merkmalen. Eine Geschichte muss nicht alle dieser Merkmale erfüllen, um als Kurzgeschichte zu gelten. Einige der Merkmale - und das meint nicht ausschließlich die Länge - müssen jedoch eingehalten werden, damit die Kurzgeschichte auch als solche erkennbar ist.
- Wie ist eine Kurzgeschichte aufgebaut?
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Eine Kurzgeschichte unterscheidet sich in ihrem Aufbau von anderen Geschichtstypen vor allem durch die sehr kurze oder fehlende Einleitung und das offene Ende.
Der Leser wird häufig schon im ersten Satz mit der Handlung konfrontiert. Eine Exposition - also eine Erklärung von Figuren und Orten - gibt es nicht. Wenn überhaupt wird in einem oder zwei kurzen Sätzen das Nötigste zusammengefasst, sodass der Leser das Nachfolgende verstehen kann, falls das ohne Zusammenhang nicht möglich ist. Aber egal ob der erste Satz eine Erklärung vorweg oder quasi schon Teil des Hauptteiles ist: Er muss Spannung erzeugen und an die Geschichte fesseln. Das erreicht ein Satz, in dem der Leser mit einem Sachverhalt konfrontiert wird, dessen Klärung er sich im weiteren Text erhofft. Ein erster Satz, der über das sonnige Wetter nach zwei Wochen Regen und die zwitschernden Vögel erzählt, weckt nicht halb so viel Interesse wie jemand, der bei Sonnenschein einen Regenmantel trägt und das Zwitschern der Vögel imitiert.
Dieser spannende Einstieg mündet in den Hauptteil. Dort wird das Problem oder der Sachverhalt vom Anfang aufgegriffen und bearbeitet. Dabei ist es wichtig, sich beim Schreiben an einem roten Faden zu orientieren, der den Leser zielsicher durch die Geschichte auf den Schluss zuführt. Die Würze liegt in der Kürze und das Abschweifen zu nicht relevanten Themen oder zu ausführliche Beschreibungen ziehen alles unnötig in die Länge. Deshalb sollten alle Dialoge und Aktionen auf das Wesentliche beschränkt sein und die Handlung vorantreiben.
Das Ende der Kurzgeschichte kommt häufig sehr abrupt und ist offen. Manchmal handelt es sich auch um eine Pointe - also eine überraschende Wendung. Obwohl sich im Hauptteil mehr oder weniger intensiv mit dem Problem auseinandergesetzt wurde, wird am Ende keine Lösung für dieses angeboten. Das fördert die Auseinandersetzung des Lesers mit dem Text und dem darin erzählten Sachverhalt. Manchmal wird am Schluss auch angedeutet, in welche Richtung sich das Geschehen entwickeln wird: Das wird als halboffenes Ende bezeichnet.
- Wie müssen Figuren und Orte konzipiert werden?
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Kurzgeschichten wirken häufig anonym, da Charaktere nicht immer und Orte sehr selten einen Namen haben.
Die Handlung beschränkt sich auf einen Ort, der meist nicht genauer beschrieben wird. So handelt es sich um irgendeine Großstadt, irgendein Café oder irgendeinen Bahnhof; diese Begriffe bedürfen keiner weiteren Erklärung, da sich jeder Leser etwas darunter vorstellen kann. Manchmal wird der Handlungsort nicht einmal benannt, sondern nur durch typische Merkmale angedeutet. Das gilt im Übrigen auch für Zeitepochen; so werden diese durch den Kleidungsstil oder die Sprache und Haltung der Figuren charakterisiert.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen ein bis zwei Figuren; mehr als zwei sind sehr unüblich. Diese werden nur in den wesentlichen und für die Geschichte relevanten Punkten beschrieben; für eine ausführliche Vorgeschichte ist hier kein Platz. Häufig haben Figuren keine Namen, stattdessen werden Personalpronomen oder äußerliche Beschreibungen wie zum Beispiel die alte Frau oder der blonde Junge verwendet. Bei diesen Figuren handelt es sich um normale Menschen und nicht etwa Helden; das fördert die Identifikation des Lesers mit ihnen. Welche Erzählperspektive gewählt wird, bleibt dem Autor überlassen. Sollte während des Schreibens klar werden, dass es über eine Figur besonders viel zu erzählen gibt, dann bietet es sich an, über diese mehrere Kurzgeschichten zu schreiben.
- Welchen Umfang hat eine Kurzgeschichte inhaltlich?
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Da Kurzgeschichten nicht lang sind, haben sie auch keine komplexe Handlung. Dadurch beschränkt sich die Geschichte auf eine Haupthandlung ohne Nebenhandlungen. Die Geschichte ist chronologisch aufgebaut; Flashbacks sowie Zeitsprünge in die Vergangenheit gibt es nicht. Stattdessen können Erinnerungen oder der innere Monolog bzw. die erlebte Rede der Figur benutzt werden, um zurückliegende Ereignisse zu zeigen. Die erzählte Zeit in einer Kurzgeschichte beträgt manchmal nur Augenblicke, meist Minuten bis Stunden, aber selten länger als einen Tag. Deshalb gibt es kaum Zeitsprünge; stattdessen folgen die erzählten Ereignisse direkt aufeinander. Zudem wird meist im Präteritum geschrieben.
Bei der Themenfindung ist es wichtig, ein Problem zu finden, dass in einem kurzen Text mit den handwerklichen Beschränkungen gut beleuchtet werden kann. Deshalb wird in einer Kurzgeschichte meist nur ein Thema angesprochen. Dieses wird in Form eines aktuellen oder alltäglichen Problems aufgegriffen und meist als prägendes Ereignis im Leben der Figur dargestellt. Obwohl Kurzgeschichten häufig sehr spezifisch auf das Leben der Figuren zugeschnitten wirken, behandeln sie dennoch ein komplexeres Problem, als es zunächst scheint. Bei diesem kann es sich um alles Mögliche handeln: Gefühle, Krieg, Gesellschaft und Klimakrise sind nur einige Beispiele. Ebenfalls hilft es festzulegen, welchen Aspekt man genau beleuchtet: Statt beispielsweise allgemein über die Gesellschaft zu wettern, sucht man sich ein Thema wie Leistungsdruck oder Vorurteile heraus. Je konkreter das Thema, desto besser kann man alle Gedanken einfließen lassen, ohne dass die Kurzgeschichte zu lang wird.
- Wie wird eine Kurzgeschichte nicht zu lang?
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Um eine Kurzgeschichte nicht länger als nötig werden zu lassen, gibt es verschiedene Kniffe. Zum einen sind die Sätze meist kurz: Der Inhalt wird ohne viele Kommata auf den Punkt gebracht. Die Sprache ist alltäglich - häufig fast umgangssprachlich; Stilmittel sollten trotzdem genutzt werden, vor allem die Ellipse kann das Erzähltempo erheblich ankurbeln.
Außerdem sollte alles Unnötige vermieden werden: Dazu zählen ausführliche Beschreibungen ebenso wie lange Erklärungen. Im Gegensatz zu einer herkömmlichen Geschichte muss der Leser bei einer Kurzgeschichte viel mitdenken; ihm wird nicht alles erklärt. Ebenso wird im Text keine Wertung des Geschehens vorgenommen. Als Autor ist es wichtig, den Leser mit Andeutungen, Metaphern und Symbolen auf die richtige Fährte zu locken, ihm aber nicht alles vorzukauen. Den Umstand und den Zusammenhang aller erzählten Elemente muss der Leser selbst konstruieren. Autoren, die dies perfektioniert haben, schreiben Geschichten, die intuitiv richtig gedeutet werden, obwohl der Text nicht zu offensichtlich aussagt, worauf er hinauswill; spätestens hier sollte klar werden, weshalb es eine Kunstform ist.
Die oben beschriebenen Einschränkungen können ein wenig abschreckend wirken - das sollten sie aber nicht. Es hilft enorm, sich nicht mit dem Plan hinzusetzen, die perfekte Kurzgeschichte zu schreiben und auf keinen Fall etwas zu tun, das gegen die "Regeln" verstößt. Diese leiten sich auch nur aus dem ab, was bei den ersten Kurzgeschichten üblich war. Viel leichter ist es, der Kreativität zuerst freien Lauf zu lassen und anschließend zu überlegen, ob das Korsett der Kurzgeschichte dazu passt. Am Ende gibt es kein ganz oder gar nicht: Einige, aber nicht alle der Merkmale auf die eigene Geschichte anzuwenden, reicht durchaus. Sich Freiheiten zu nehmen, kann das Resultat deutlich aufwerten und eine gute Geschichte zu schreiben ist viel wichtiger, als zwanghaft formale Kriterien einzuhalten.