Tutorial: Wie erschaffe ich einen Charakter, mit dem jeder mitfühlt?
Der Originalentwurf dieses Tutorials stammt von Noremi Livwait und wurde von unserem Tutorial-Team überarbeitet und fertiggestellt.
Teil 1: Grundüberlegung
Wir fangen ganz von vorne an und stellen uns die grundlegenden Fragen:
- Zu welchem Geschichtstyp gehört deine Figur? (Fantasy, reale Welt, Zukunft, Vergangenheit ...)
- Männlich oder weiblich?
- Alter?
Überlege dir das ungefähre Aussehen der Figur. Was trägt sie? Wie sind ihre Gesichtszüge? Wie wirkt sie auf andere Menschen? Was sind ihre Stärken und Schwächen?
Aber das reicht noch lange nicht. Figuren, mit denen man mitfühlt, sieht man beinahe als lebendig an, und um das zu erreichen, braucht die Figur so viele Charakterzüge wie möglich. Sie sollte am besten eine bunte Zwiebel sein, und ich hoffe, nachdem du das Tutorial gelesen und fleißig befolgt hast, ist sie das auch.
Nimm dir Zeit und überlege dir Folgendes:
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Wer würde deine Figur mögen? Wer würde sie nicht mögen? Wen mag sie selbst?
- Erschaffst du einen Charakter, der eher "von nebenan" ist, dann werden sich die meisten Leser mit ihm irgendwie identifizieren können. Ein Banker im Maßanzug erweckt sicher bei deutlich weniger Lesern ein Gefühl der Verbindung.
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Ist sie selbstständig? Lebt sie noch bei ihren Eltern? Arbeitet sie bereits?
- Die finanzielle Situation ist ausschlaggebend für den Wohnraum und die Wohngegend. Deine Figur kann ja kaum drei, vier Euro am Tag verdienen und damit eine sechsköpfige Familie und ein schönes, großes Haus am Leben erhalten. Auf Stimmigkeit kommt es also an.
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Wie bewegt sie sich? Wie gibt sie sich? Was sind ihre Werte? Wer würde das sympathisch finden? Ist sie aufrecht? Gebückt? Schlenkern die Arme? Mit welchem Gesichtsausdruck läuft sie durch die Gegend?
- Ist ihr Gang schleppend, schreitend, schlurfend oder stolzierend, so wird gleich auf den Charakter geschlossen. Faul, erhaben, jugendlich, arrogant und so weiter. Wie bewegt sich ihr restlicher Körper dabei? Oft ist es ja so, dass eine Person, die vorgibt irgendetwas zu sein und es in Wahrheit nicht ist, irgendetwas an ihrem Gang hat, was nicht passt. Gibt sie z.B. vor, der Chef zu sein, würde sie aufrecht gehen, aber ihre Hände zittern. Es gibt dann also irgendetwas, das nicht passt und einen Bruch im Verhalten zeigt. Die Person kann entlarvt werden.
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Wie klingt ihre Stimme? Hat sie einen Dialekt/Akzent?
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Schrill, dröhnend, leise, stotternd? Daraus lassen sich nicht nur Charaktereigenschaften ableiten, sondern auch, ob eine Person sympathisch ist. Eine schrille oder anderweitig anstrengende Stimme wird sicher nicht so oft gut empfunden. Stottern kann auf Nervosität hindeuten und kann abhängig von der Gesamtsituation sein. Also passt darauf auf.
Ein Akzent ist die Aussprache von Worten. So kann es den Akzent "Fränkisch" und "Sächsisch" geben. Oder Deutsch mit französischem Akzent, ebenso wie britisches und amerikanisches Englisch. Hier gibt es unterschiedliche Einschätzungen, was davon eher zum Mitfühlen anregt. Dialekt ist wiederum die Wortwahl. Beides ist gerade im britischen Raum ein direktes Zeichen, ob jemand viel oder wenig Bildung genossen hat. Es werden daher beim Lesen automatisch Rückschlüsse auf die Person gezogen. Ihr solltet also abwägen, was ihr für euren Charakter erreichen wollt und entsprechend wählen.
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Im folgenden Teil werfe ich einfach einige Fragen in den Raum. Ich werde hier versuchen, deine eigene Fantasie anzuregen, nicht, dir etwas vorzudenken. Nur so kannst du selber eine Nähe zu deinem Charakter erschaffen. Anschließend geht es detaillierter weiter.
Wie weiter oben gefragt - was sind ihre Stärken? Was kann sie gut? Was treibt sie an? Was sind ihre Schwächen, womit hapert es und wie geht sie damit um? Ist sie sauer? Frustriert? Akzeptiert sie es einfach?
Wie ist ihr Gemüt? Ist sie aufbrausend, melancholisch, fröhlich oder ein Schwarzdenker?
Überlege dir ein paar Macken, die sie menschlicher werden lassen - eine Schwäche für etwas, die sie liebenswert macht; eine besondere Stärke, die man an ihr bewundern kann.
Welches ist ihr Lebensmotto? Krönchen richten, weitergehen? Ach, das schaff ich doch eh nicht? Alles wird gut? Die Welt ist wunderbar?
Wie ist ihre Meinung zu Themen, die in deiner Geschichte eine Rolle spielen (zum Beispiel Kinderarbeit, Umweltverschmutzung, Hexenverbrennung, Krieg oder sexuelle Orientierung)?
Soll Liebe in deiner Geschichte überhaupt eine Rolle spielen? Wenn ja, wie groß ist sie? Welch Höhen und Tiefen braucht es? Überlege dir einen Partner für deine Figur. Wie gut passen sie zusammen? Gibt es ein happy End?
Bevor du weiterliest, solltest du dir das alles überlegt haben (und es aufgeschrieben haben). Eine Skizze deiner Figur ist nützlich.
Teil 2: Die bunte Zwiebel
Es heißt ja, man solle einen wirklich interessanten Charakter aus weiß und schwarz machen, also aus Gut und Böse. Heraus kommen dann Graustufen. Aber das scheint mir ein wenig langweilig. Meiner Meinung nach sollte die Figur ein bunter Regenbogen sein, die zwischen allen dort vorhandenen Farben hin und her rutscht. Die wenigsten Menschen haben nur eine Persönlichkeit. Es kommt meistens darauf an, mit wem sie zusammen sind. Man benimmt sich im Beisein seiner Eltern ganz anders als im Beisein seiner Kumpels. Und so nimmt auch die Persönlichkeit immer verschiedene "Farben" an. Behalte das beim Schreiben im Hinterkopf.
Nun zur Zwiebel. Es ist interessanter, wenn der Leser am Anfang der Geschichte noch nicht alles über die Figur weiß. Nach und nach sollten immer mehr Facetten der Persönlichkeit zu Tage kommen, die schon die ganze Zeit da waren, aber nur nie bemerkt wurden. Wie eine Zwiebel schält sich das Äußerliche langsam ab und offenbart nach und nach das eigentliche Wesen.
So, das alles war jetzt Vorarbeit, nun kommen wir zum nächsten und wichtigsten Teil: packend über die Figur schreiben.
Teil 3: Gefühle
Diese richtig darzustellen, ist nicht immer leicht. Besonders, wenn man diese Gefühle selber noch nicht gefühlt hat. Die wichtigsten/relevantesten sind hier aufgelistet:
- Angst.
- Hier ist es wichtig, zu beschreiben, vor was die Person eigentlich Angst hat. Was sie für "Symptome" hat. z.B. Angstschweiß, Zähneklappern, kalte Schauer, Herzklopfen, das ganze Programm. Und der Auslöser dieser Symptome muss natürlich so schrecklich wie möglich beschreiben werden, in den schillerndsten Farben, mit allen möglichen Übertreibungen. Man muss, wenn man das liest, selber Angst davor bekommen.
- Hass.
- Hass glüht. Wenn er stark ist, ist er immer vorhanden und beeinflusst jede einzelne Tat. Er schwelt im Inneren des Herzens und frisst es nach und nach auf. Hass und Zorn sind eng miteinander verbunden. Sicher hast du schon Menschen gesehen, die einen anderen voller Hass und Wut anstieren. Ihr Gesicht ist ganz verzerrt davon, es wirkt fast ein bisschen irre, und einem wird ganz anders. Versuche, zu beschreiben, wie sich dieser Hass anfühlt. Wie eine glänzende, schwarze Spinne, die dich gefräßig anfunkelt. Oder wie ein kleines, sehr heißes, rotes Glutstück, das mit schwarzem Pech überzogen ist. Es gibt viele Vergleiche.
- Liebe.
- Wie jeder weiß, kann man Liebe nicht beschreiben, es ist, als wären alle Worte klein und unzureichend dafür. Man versucht es, aber immer merkt man, dass das, was man gerade gesagt hat, doch nicht zutrifft. Natürlich kann man hier Vergleiche finden, wie die altbewährten Schmetterlinge im Bauch oder sowas, aber Liebe ist doch nicht nur im Bauch! Sie ist überall, im Kopf, im Herzen, in der Seele, in jeder einzelnen Zelle ist Liebe, wenn man liebt. Man kann irgendeinen altklugen Spruch von wegen Liebe ist ... lesen und dann wie ein Wackeldackel nicken und sagen: "Ja, das ist Liebe!" Aber wenn man noch einmal nachfühlt, merkt man, dass das auch nicht richtig ist. Also wie beschreibt man Liebe? Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, gibt es auch noch hunderte Abstufungen davon: jemandem hübsch finden, sich zu jemandem hingezogen fühlen, Herzklopfen, leichte Liebe, verliebt sein, besitzergreifend lieben, rosarot lieben, heiß und innig lieben, bis zum Wahnsinn lieben ...
- Trauer.
- Es gibt sehr viele Arten von Trauer und jeder trauert etwas anders. Manchmal ist es wie ein schwarzes Loch, das alle Empfindungen einsaugt und nur noch elende Leere zurücklässt. Oder es schnürt dir die Brust zu, du hast das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Dein Herz hat es schwer mit dem Schlagen. Ich könnte ewig so weiter machen, aber wir lassen es mal bei den beiden Beispielen. Auch hier gilt: Finde passende Vergleiche und beschreibe es, so genau es geht.
Es gibt noch tausend weitere Gefühle, und sie hier alle aufzuzählen und zu analysieren, würde erstens keinen Sinn ergeben und zweitens sehr viel Platz brauchen. So kann ich dir nur raten: Versuche immer, zu jedem Gefühl, die passendsten Worte zu finden. Überlege dir, wie deine Figur sie empfindet, was es da für treffende Vergleiche gibt.
Teil 4: Hilfsmittel
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Richtiger Satzbau
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Bei einer Erzählung ist es so, als wären die Sätze die Gedanken der Hauptperson, beziehungsweise der Person, die gerade am Ball ist. Je nachdem, was ihr gerade zustößt, kann man viel oder wenig in einen Satz packen. Wie zum Beispiel bei Gefahrensituationen. Man bekommt nicht viel mit, hat nur kurze, manchmal unzusammenhängende Sätze.
Ich sah den Stier auf mich zu rasen. Der Staub des Sägemehls wirbelte auf. Er kitzelte in der Nase. Der Stier schnaufte, und ich konnte das hasserfüllte Funkeln in seinen Augen erkennen. Rot glimmte in ihnen auf. Mein Gehirn setzte aus, es sagte: "Ach, du bist doch eh verloren, mach den Rest dann mal ohne mich." Und in dem Moment, in dem mich der Stier erreichte, musste ich über mein Gehirn grinsen. Dann wurde alles dunkel.Wenn alles ganz schnell geht, dann ist es oft ein längerer Satz, dessen Teile aber kurz sind, weil sie mit vielen Kommas unterteilt sind.
Und dann ging alles ganz schnell. Die Eule stieß herab, die Maus hob alarmiert den Kopf, ein schrilles Fiepsen, Federn, die durch die Luft wirbelten, dann war alles still. Die Eule hatte ihr Ziel getroffen.So kann man mit der Länge der Sätze spielen.
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Worte
- Sie sind der Schlüssel zu packenden Sätzen. Oben habe ich das bereits angedeutet, mit den Gefühlen und so. Versuche immer, die treffendsten Worte zu finden, die die Situation am besten beschreiben. Und zögere nicht, dir ein gutes Wort zu merken, wenn du es irgendwo hörst, es kann noch sehr nützlich sein.
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Metaphern
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Definition: Übertragung eines Wortes, besonders eines konkreten Begriffs auf ein abstraktes, Bild, ohne dabei einen direkten Vergleich zu nutzen, z.B. das Haupt der Familie.
Noch Fragen? Bestimmt, denn so fällt es schwer dieses Stilmittel in die eigene Geschichte einzubauen.
Was ich damit sagen möchte: Metaphern sind super gut geeignet, um Bilder, die sich nicht wirklich perfekt erklären lassen, beim Leser entstehen zu lassen.
In ihr Gesicht trat ein leerer Ausdruck, denn ihr wurde bewusst, dass sie ihrem Kollegen niemals wird das Wasser reichen können, wenn sie nicht schleunigst aus seinem Schatten hervortrat.Die Regennadeln durchbohrten mühelos die Kleidung der letzten zurückgebliebenen Gäste der Gartenparty im Garten des Buckingham Palace.Wieder hatte er es geschafft und einen perfekten Knüller auf seine Leser abgeschossen. -
Na, wie hast du dich bei den einzelnen Beispielsätzen gefühlt? Beim ersten Beispiel hättest du dich bestimmt gefragt, wo da die Metapher ist, wenn ich sie nicht unterstrichen hätte, korrekt? Manche Metaphern sind inzwischen so sehr im allgemeinen Sprachgebrauch verwurzelt, dass sie beim Lesen gar nicht mehr bewusst auffallen. Diese Sorte Metapher ist nicht elegant, vermittelt aber das richtige oder gewollte Bild beim Leser.
Anders sieht es beim zweiten Beispiel aus. Die Vorstellung, von Nadeln durchbohrt zu werden, ist wenig reizvoll. Hier wird eine sehr starke Metapher benutzt, um deutlich zu machen, dass es heftig regnet. Vielleicht geschieht in der Aufregung und der Flucht nach drinnen ein Mord? Das Bild wird beim Leser hängen bleiben.
Das dritte Beispiel ist absichtlich etwas schräg, hast du bestimmt bemerkt, oder? Der Leser weiß, dass er es hier mit einem erfolgreichen Journalisten zu tun hat, aber ganz rund wirkt das nicht. Es stört den Lesefluss, da die Teile der Kombination einfach zu weit voneinander entfernt sind. Dieser Eindruck kann auch beim zweiten Beispiel entstehen. Habt ihr euch einmal im richtigen Licht starke Regenfälle genau angeschaut? Die Tropfen sehen dann wirklich wie Nadeln aus. Die Wirkung hängt also vom jeweiligen Leser und seinen Erfahrungen ab.
Wie du siehst, kann man mit Metaphern einiges aus solchen Sätzen machen. Sie können in verschiedene Richtungen verlaufen und passen zu jedem Thema. Es ist nicht immer leicht, die richtigen Worte zu finden. Metaphern brauchen immer etwas Fantasie. Metaphern sollten daher immer mit Vorsicht benutzt werden. Das gilt sowohl für die Formulierung als auch für die Anzahl. Der Autor sollte abwägen, ob er mit einer langen Erklärung den Leser verwirrt oder ob eine kürzere Metapher helfen könnte.
Zusammenfassen möchte ich am Ende die wichtigsten Gedanken. Zunächst solltet ihr euch euren Charakter vorstellen. Was macht ihn aus? Welche Leser sollen mit ihm mitfühlen? Macht eine Skizze oder eine Mindmap mit den wichtigsten Punkten. Versucht, aus den verschiedenen Eigenschaften/Verhaltensweisen ein Gesamtwerk zu erstellen, womit ihr erreicht, was ihr erreichen wollt. Nutzt dabei gerne das Bild der Zwiebel, sodass ihr für jede Schicht etwas habt. Überlegt euch, wie der Charakter in verschiedenen Situationen reagieren würde und wie er im Umgang mit anderen reagiert. Daraus lässt sich dann ein vielschichtiger Charakter erschaffen, der von den Lesern gemocht wird. Ich hoffe, dass dir das hier etwas genützt hat.