Tutorial: Show don't tell: Was ist das und wie setzt man es um?
"Show don’t tell" - das Schreiben fürs Kopfkino. Was sich auf den ersten Blick einfach anhört, stellt jedoch die meisten Autoren vor eine gewaltige Herausforderung. Denn was genau ist mit diesem Prinzip gemeint? Und wie schaffe ich es, das in meine Geschichten einzubauen? Genau diesen Fragen soll sich dieses Tutorial widmen.
Zunächst sei angemerkt, dass sich das Prinzip Show don’t tell in vielerlei Ebenen auf einen geschriebenen Text beziehen kann. Auf der einen Seite kann es genutzt werden, um die handelnden Charaktere darzustellen und dem Leser ein besseres Bild ihrer Persönlichkeiten zu vermitteln. Auf der anderen Seite kann Show don’t tell aber auch eine Szene selbst beleuchten und ausgestalten. Beide Ebenen - Charaktere und Handlung/Szenerie - gehören gleichermaßen zu einer Geschichte. Würde eines von beidem fehlen, funktioniert die gesamte Erzählung nicht mehr. Es sind sozusagen zwei Seiten ein und derselben Medaille, die untrennbar miteinander verbunden sind.
In diesem Tutorial soll nun vorrangig die Ebene der Handlung und Szenerie behandelt werden. Wenn du dich ergänzend auch für die Anwendung des Show don’t tell in Hinblick auf die Charakterisierung von Personen interessierst, dann wirf gerne einen Blick in das Tutorial "Show don’t tell: Was ist das und wie setzt man es um?" von Yoro.
Was bedeutet es nun aber, dieses Prinzip auf die Ausgestaltung einer Szene anzuwenden? Dazu möchte ich dich bitten, bei einem kleinen Gedankenexperiment mitzumachen.
Denk einmal zurück an deinen letzten Urlaub oder einen Ausflug, den du in besonders guter Erinnerung hast. Bestimmt hast du dort haufenweise Fotos geschossen, um die besonderen Momente für dich festzuhalten. Gehe nun gedanklich diese Fotos durch und suche dir eines aus, das dich am meisten fasziniert und das du als Szene oder Landschaft besonders eindrücklich empfunden hast.
Vielleicht zeigt dieses Foto einen Strand mit angrenzendem Meer, das so unfassbar blau ist, wie man es sonst nur von den Bildern im Fernsehen kennt, bei denen man doch immer irgendwie den Eindruck hat, als sei die Farbe nachträglich bearbeitet worden. Aber dieses Bild ist real, und natürlich möchtest du deine Freunde und Familie zu Hause an dem teilhaben lassen, was du gesehen hast. Und nun wirst du schnell merken, dass es nicht dasselbe ist, deinen Liebsten zu erzählen, was du gesehen hast. Der Effekt ist größer, wenn du ihnen dieses sagenhafte Foto zeigst, denn es sagt so viel mehr als tausend Worte.
Das ist "Show don’t tell". Du erzählst nicht einfach, was du siehst, sondern du zeigst es.
Übertragen auf das Schreiben sagt dieses Prinzip, dass du deinen Lesern nicht nur eine Szene erörtern sollst, sondern ihnen ein wahrhaftiges Bild vor Augen führst. Du sollst also ihr Kopfkino zum Laufen bringen.
Aber wie genau soll das nun gehen?
Bleiben wir noch einmal einen Moment beim Kino. Der Vorteil eines Filmes ist natürlich unschlagbar. Im Bruchteil einer Sekunde kann das Auge tausende Informationen erfassen und zusammensetzen. Dabei erfasst es sowohl die wichtigen Dinge, die sich im Vordergrund abspielen, aber auch die Dinge, die den Hintergrund darstellen.
Nehmen wir als Beispiel einmal eine Szene, bei der sich zwei Menschen an einem Tisch gegenübersitzen und sich unterhalten. Über was sie reden, soll dabei erst einmal nicht wichtig sein.
Die Unterhaltung ist also die Handlung an sich. Das Tell. Doch wie steht es um das Show?
Bei einem Film erfasst das Auge all diese Details auf einen Schlag.
Vielleicht entpuppt sich der Raum, in dem die Szene spielt, als Küche, denn an der Wand sieht man eine Küchenzeile mit allen möglichen Utensilien, ein paar Töpfen, einer stehenden Küchenrolle. Vielleicht steht dort auch eine Kaffeemaschine, deren Inhalt den Weg in farbige Tassen vor den beiden Hauptpersonen gefunden hat.
Die Szene spielt also in einer Wohnung. Doch da muss die Information noch lange nicht aufhören. Vielleicht befindet sich genau hinter dem Tisch, an dem die beiden sitzen, ein großes Fenster, das den Blick nach draußen ermöglicht. Was siehst du dort? Vielleicht ist es der Blick aus dem 15. Stock eines Hochhauses, von dem aus man eine Aussicht über die ganze Stadt genießt. Andere Häuser ragen in den Himmel hinein, Sonnenlicht spiegelt sich in den Fensterscheiben und Straßen ziehen sich wie ein Geflecht aus Adern durch die Häuserschluchten.
Vielleicht zeigt das Fenster aber auch einen Ausblick ins Grüne. Auf einen Garten mit bunten Blumenbeeten und einem Rasen, der dringend mal wieder gemäht werden müsste. Auf einen weit verzweigten Baum, dessen dichtes Blattwerk an warmen Sommertagen kühlenden Schatten spendet.
Das alles kann das Auge erfassen und verarbeiten, ohne dass in der Szene an sich überhaupt schon etwas passiert wäre.
Drücken wir nun auf Play und lassen den Film starten. Das Gespräch ist nach wie vor egal, aber neben dem, was offenkundig gesagt wird, kann der Betrachter auch aus Bewegungen der Personen zusätzliche Informationen gewinnen. Rutscht einer der beiden vielleicht unruhig auf seinem Stuhl herum und sieht aus, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen? Sind die beiden fröhlich am Lachen? Was zeigt die Mimik der beiden? Kannst du Sorgenfalten auf der Stirn erkennen oder ein spöttisches Zucken eines Mundwinkels? Kratzt sich jemand verlegen am Hinterkopf? Ohne zu wissen, was gesprochen wird, lassen sich schon erste Rückschlüsse auf die vorherrschende Stimmung gewinnen. Grund hierfür sind Gestik und Mimik der handelnden Personen. Diese beiden Aspekte sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil unserer täglichen Kommunikation und liefern und viele wertvolle Informationen im Umgang miteinander.
Natürlich ist das die zentrale Schwierigkeit am Schreiben, denn im Gegensatz zum Film kann ein Text nur bedingt visuelle Informationen übertragen.
Gehe deshalb einmal in dich und denke darüber nach, was in deinem Kopf vor sich geht, während du schreibst. Wahrscheinlich hast du ganz genau vor dem inneren Auge, was dort gerade geschieht, oder? Vielleicht siehst du deine Geschichte auch selber wie einen kleinen Kinofilm in deinem Kopf. Du siehst einerseits deine Charaktere vor dir. Wie sie aussehen, was sie anhaben, wie sie sich bewegen. Du weißt, wie sie sich fühlen und was sie denken. Welche Macken und Angewohnheiten sie haben, wie sie reagieren und wie ihre Mimik sich verändert. Aber du siehst auch das Drumherum, die Hintergründe, ein Zimmer oder eine Landschaft in all ihren Details. Und genau das ist der Schlüssel zum Show don’t tell: Den Kinofilm aus deinem Kopf aufs Papier zu bringen. Du bist sozusagen der Bühnenbildner deiner eigenen Geschichte und entscheidest, was das Publikum zu sehen bekommt.
Versuchen wir das Ganze nun noch einmal an einer beispielhaften Szene zu vergleichen:
Das soll der Rahmen der Handlung sein. John holt sich auf dem Weg zur Arbeit einen Kaffee. Aber wie wahrscheinlich schon deutlich zu sehen ist, ist der Beispieltext ziemlich kurz und knapp gehalten. Er enthält zwar alle notwendigen Informationen, aber mehr auch nicht. "Tell".
Nun möchte ich euch dieselbe Szene gerne noch einmal in einem anderen Licht zeigen.
John verließ das Haus und die schwere Eingangstür fiel hinter ihm ins Schloss, während er die vier Stufen zum Bürgersteig hinabstieg. Wie jeden Morgen wandte er sich ohne Umschweife nach rechts und folge der belebten Straße, auf der bereits zu dieser frühen Stunde schon reges Treiben herrschte. Passanten, die sich wie er auf dem Weg zur Arbeit befanden, eilten an ihm vorbei, einige von ihnen vertieft in erste Telefongespräche. Ein Gewirr aus Stimmen lag in der Luft und mischte sich dort mit dem Geräusch dröhnender Motoren der vorbeifahrenden Autos.
Routiniert folgte John seinem Weg und ließ sich in dem morgendlichen Betrieb der Großstadt treiben. Ein kühler Wind blies einige trockene Blätter mit einem leisen Kratzen über den Asphalt und ließ ihn den Kragen seines Mantels nach oben schlagen. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis er den Coffeeshop erreichte, der nur zwei Blocks von seiner Wohnung entfernt lag, und John war fast schon erleichtert, als er das kalte Wetter für einen kurzen Moment hinter sich lassen konnte. Er liebte dieses Café mit den kleinen Tischen, die an der Fensterfront zum Verweilen einluden, und kaum hatte er den Laden betreten, stieg ihm der verheißungsvoll warme Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen in die Nase.
Letzten Endes ist es genau dieselbe Handlung, die wir hier verfolgt haben, doch im zweiten Beispiel wurde der Handlung noch ein umfangreicher Hintergrund gegeben. Plötzlich bekommt der Leser einen ersten Eindruck von dem Haus, in dem John lebt und lernt die Nachbarschaft kennen, durch die er sich bewegt. Der Leser erfährt, dass das Wetter an diesem Morgen eher kühl und wahrscheinlich unangenehm ist und wie der Coffeeshop aussieht, in dem John seinen kleinen Zwischenstopp einlegt.
All das sind Informationen, die der Leser nicht sehen könnte, wenn man sie ihm nicht sprichwörtlich vor Augen führt. Dabei muss es sich jedoch nicht zwangsläufig nur um visuelle Eindrücke handeln, vielmehr kann "Show don’t tell" beim Ausgestalten einer Szene dazu genutzt werden, alle Sinne gleichermaßen anzusprechen. Was hört der Charakter? Was riecht er? Um es kurz zu machen: Was nimmt der Charakter alles um sich herum wahr?
Um diese Frage zu beantworten, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt, und jede Szene ließe sich beliebig ausbauen und gestalten. Es gilt lediglich darauf zu achten, das Ganze nicht zu übertreiben, sondern stattdessen den Versuch zu unternehmen, ein gewisses Gleichgewicht zu halten.
In der Beispielszene hätte John auf seinem Weg zum Beispiel auch noch eine kleine Ratte mit struppigem Fell auffallen können, die sich auf der Suche nach einem schmackhaften Snack durch einen aufgerissenen Müllsack am Straßenrand wühlt. Vielleicht wird die Ratte sogar fündig und trägt mit freudig bebenden Schnurrhaaren ein vertrocknetes Stück Käse davon.
Das wäre ein Detail, das Johns Weg noch weiter ausgeschmückt hätte, doch weder Ratte, noch Käse hätten für die folgende Handlung eine besondere Bedeutung gehabt und den Leser so mit schlichtweg unwichtigen Details überflutet.
Denn wenn sich eines im Unterschied der beiden Beispiele zeigt, dann, dass sich der Umfang eines Textes durch die Anwendung von "Show don’t tell" erheblich streckt. Das ist nur verständlich, denn irgendwo müssen die zusätzlichen Informationen schließlich ihren Platz finden. Wenn aber alle Szenen gleichermaßen ausführlich ausgestaltet werden, fällt es dem Leser umso schwerer, zwischen den wirklich wichtigen Informationen und jenen, die eher nur eine Randinformation sind, zu unterscheiden. Versuche also, den Schwerpunkt beim "Show don’t tell" auf die prägnanten und relevanten Szenen zu legen und dem Leser dort das Bild in deinem Kopf zu veranschaulichen.
Manchmal kann es auch helfen, hin und wieder ein kleines Detail in eine eher unbedeutende Textpassage einzubauen, um diese etwas aufzulockern und ihr den strengen "Tell"-Touch zu nehmen.
Letztendlich ist es die Abwechslung, die eine Geschichte lebendig erscheinen lässt. Lass deinen Lesern die Möglichkeit, ihr eigenes Kopfkino zu entwickeln, aber gib ihnen dafür die wichtigsten Informationen - das grundlegende Bühnenbild - mit an die Hand, um deiner Szene die gewünschte Wirkung zuteilwerden zu lassen und die Leser in deinen Bann zu ziehen.