Strahlemann und Griesgram
von ChibiIsa
Kurzbeschreibung
In Titus und Korbinians Klasse kommt ein neuer Mitschüler: Linus! Er ist alles andere als freundlich, aufgeschlossen und offen. Ob Titus und er doch miteinander klar kommen, dürft ihr gerne selbst lesen.
GeschichteFamilie, Liebesgeschichte / P18 / MaleSlash
08.09.2023
23.09.2023
4
12.293
7
18.09.2023
3.145
03 Ein kleiner Schritt
Linus
Seufzend laufe ich wieder mal durch den Park. Ich bin jetzt schon eine Woche auf der neuen Schule und in meiner Klasse.
Ich habe mich mit keinem angefreundet, aber die Situation zwischen mir, Korbinian und Titus hat sich wenigstens entspannt. Ich bin ihnen und auch allen anderen einfach aus dem Weg gegangen.
Das war für mich die beste Strategie. Ich weiß auch nicht, was mich in den ersten Tag geritten hat.
Ich war viel zu aggressiv.
Egal, ob ich den Unfall hatte oder nicht, so bin ich überhaupt nicht! Ich war nie der Draufgänger oder Anführer, sondern eher der Stratege im Hintergrund.
„Hallo, na, wir kennen uns doch“, spricht mich auf einmal jemand an. Ich linse zu der Frau. Ah, das ist die Frau mit dem Rollator.
Sie ist… sie war der Grund, warum ich zu Titus einfach nichts mehr gesagt habe. Sie ist einer der Fälle, die er beschrieben hat. Ich weiß nicht, was sie hat, aber so wie sie aussieht, geht es ihr viel schlechter als mir. „Geht es dir heute besser?“
„Mir? Aber mir ging es doch nicht schlecht“, finde ich.
„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du sehr aufgeregt“, erinnert sie sich. Gut, dass sie die Vorgeschichte nicht mitbekommen hat. Im Park war meine Wut ja damals fast schon verraucht.
„Hm, ich war eher sauer. Es war mein erster Schultag an einer neuen Schule und der lief genauso doof wie erwartet“, erkläre ich.
„Oh ja, Schule ist nicht immer so leicht. Wollen wir uns setzen, dann kannst du mir erzählen, was los war“, schlägt sie vor.
Hm… warum auch nicht. Sie war bisher die Normalste, die ich hier getroffen habe. Ich nicke nur, ehe wir uns auf der nächsten Bank niederlassen.
„Ich… darf ich Sie was fragen?“, will ich wissen.
„Ja, darfst du und sag doch einfach „Du“. Ich bin Brigitte“, erklärt sie.
„Ich bin Linus“, entgegne ich.
„Freut mich“, antwortet sie lächelnd. „Was wolltest du fragen?“
„Ich… also… warum… der Rollator und du…“, stammele ich herum. Ich kann sie doch nicht einfach fragen, was mit ihr passiert ist! Das wäre komplett taktlos.
„Warum ich auf das Ding angewiesen bin?“, will sie wissen. Ich nicke. „Das war mein Exmann“
„Was?!“, bin ich jetzt vollkommen von der Rolle. Sie hatte gar keinen Unfall? Das hat ein Mensch verursacht?! „Ich… aber was… wie…“
„Er hat es sehr gut verstanden, Gewalt anzuwenden. Deshalb sehe ich nun so aus, wie ich aussehe“, entgegnet sie.
„Aber das ist… das geht doch nicht! Warum hat er das getan?“, will ich wissen.
„Dafür gibt es keinen Grund, den wir verstehen würden. Er hat einfach komplett andere Ansicht davon, wie man miteinander umgeht. Mein Sohn hat das auch zu spüren bekommen“, erzählt sie.
„Dein Sohn? Ist dein Exmann nicht sein Vater?“, frage ich.
„Nein, ich hatte ihn schon vor meiner Beziehung mit meinem Exmann. Er hat aber auch einen Sohn mit in die Ehe gebracht“, erklärt Brigitte.
„Und wo ist er jetzt?“, will ich wissen. Ich kann das gerade einfach noch nicht ganz fassen. Ein Unfall, wie bei mir, ist eine Sache, aber wenn jemand das vorsätzlich herbeigeführt hat, ist das einfach mehr als krass.
„Er lebt mit seinem Sohn in Berlin und ist neu verheiratet“, antwortet sie.
„WAS?! Warum ist er nicht im Gefängnis und wie kann er noch das Sorgerecht für seinen Sohn haben?!“, will ich wissen.
„Er ist ein ziemlich reich und hat gute Anwälte. Er hat damals eine sehr milde Strafe bekommen und er musste uns Schmerzensgeld zahlen, aber ich hatte keine Kraft mich weiter mit ihm zu befassen. Ich wollte damals einfach nur weg von ihm. Ich wollte nicht mehr abhängig von ihm sein. Und wegen des Sorgerechts… er hat einfach sehr gute Anwälte und seinem Sohn selbst, hat er nie etwas getan“, erzählt sie.
Als ich das höre, wird mir ganz anders. Wir sind auch reich und sicher könnte mein Vater auch irgendwas drehen, wenn ich mal was anstellen würde, aber so sollte es nicht laufen! Wir sollten alle die gleichen Chancen haben, aber so ist es nicht.
Das zeigt sie mir gerade und das zeigt mir auch Titus. Auch, wenn er mit Korbinian befreundet ist, bin ich mir sicher, dass er nicht in seiner Liga spielt! Zumindest, was das Gehalt ihrer Eltern angeht.
„Aber das ist so… ich kann das gerade einfach überhaupt nicht fassen“, gebe ich zurück. „Geht es deinem Sohn denn gut?“
Jetzt lächelt sie. Es ist so ein herzliches Lächeln. Genauso wie das von Titus. Bei ihm geht es mir ja gehörig auf die Nerven, weil er meint, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben! Aber bei ihr… da ist es anders. Ihr nehme ich das ab.
„Ihm geht es sehr gut. Er ist so lebensfroh, dass man meinen könnte, er hätte eine ganz normale Kindheit gehabt. Bis auf die eine oder andere Narbe auf seinem Rücken, ist bei ihm auch nichts zurückgeblieben“, erklärt sie. „Ihr könntet im gleichen Alter sein. Wie alt bist du? 17 oder 18?“
„Momentan noch 17. Ich habe Anfang Oktober Geburtstag“, entgegne ich.
„Dann bist du einen Monat jünger“, antwortet sie lächelnd. „Wie wäre es, wenn ich euch mal bekannt mache? Er kann dir sicher auch helfen, mit deiner Verletzung besser klar zu kommen“
Ich denke sofort an Titus. Er wollte mir auch helfen, aber damit konnte ich nichts anfangen. Ich glaube kaum, dass es bei ihrem Sohn besser ist.
„Danke, aber ich denke im Moment hilfst du mir am Meisten“, versichere ich.
„Ich? Ich bin doch nur eine alte Schachtel, deren Körper zu viel mitgemacht hat. Du hast noch alles vor dir. Wegen der Verletzung an der Hand, solltest du dich nicht aufhalten lassen. Die hindert dich nicht daran Träume zu haben“, entgegnet sie.
„Aber sie hindert mich daran meinen größten Traum zu verwirklichen“, antworte ich. „Und um zu verstehen, wie es trotzdem weitergehen kann, würde ich gerne weiterhin mit dir reden“
„Das ist sehr nett von dir, aber liegt dir wirklich so viel an mir?“, will sie wissen.
„Ja, weil du auch einen Schicksalsschlag hinter dir hast. Du fühlst dich echt an“, finde ich.
„Und alle anderen fühlen sich falsch an?“, fragt sie.
„Nicht falsch, aber irgendwie… aufgesetzt. Ich habe einen Jungen in meiner Klasse, der mich überzeugen will, dass das Leben weitergeht, auch wenn ich den Unfall hatte.
Tief in mir drin weiß ich das auch, aber es ist einfach schwer zu verstehen, wenn mir das jemand erzählt, der völlig unbekümmert ist“, antworte ich.
„Denkst du nicht, man kann unbekümmert sein, auch wenn man eine Geschichte hinter sich hat? Meinem Jungen merkt man absolut nichts an“, entgegnet sie.
„Aber wie… wie hat er das gemacht?“, frage ich.
„Er und ich, hatten einfach sehr viel Unterstützung. Die Familie seines besten Freundes, hat uns sehr geholfen und auch die Behörden und Fachleute. Hast du dir schon mal überlegt zu einem Psychologen zu gehen? Das wäre doch auch ein Schritt, der wichtig ist“, findet Brigitte.
„Aber ich bin doch nicht verrückt!“, wehre ich mich sofort.
„Nein, das bist du absolut nicht, aber dir ist etwas Schlimmes passiert, dass du anscheinend noch nicht verarbeitet hast.
Der Junge aus deiner Klasse hat Recht, das Leben geht weiter, aber vielleicht brauchst du einen Stups in die richtige Richtung, um zu verstehen, dass es so ist. Dabei kann dir ein Psychologe helfen“, versichert sie.
Ich bin leicht ratlos. Ich habe die Menschen, die zum Psychologen gehen immer verurteilt und gemeint, dass man sich einfach nicht so anstellen sollte.
Jetzt soll ich da selbst hin?
Das ist für mich… es will nicht in meinen Kopf. Andererseits… vielleicht hilft es mir wirklich. So wie ich jetzt bin, kann ich mich selbst kaum leiden.
„Ich muss darüber nachdenken“, entgegne ich.
„Tu das“, stimmt sie lächelnd zu und steht auf. „Ich muss nach Hause. Mein Sohn und sein Freund machen heute wieder Abendessen“
„Soll ich dich bringen?“, frage ich sofort.
„Nein, nein, alles gut. Ich wohne gleich da hinten in dem Mehrfamilienhaus“, antwortet sie. Ich folge ihrem Blick. Mehrfamilienhaus… das ist echt freundlich ausgedrückt. Es ist ein richtig alter Plattenbau mit x Wohnungen.
Ich weiß, unser Haus oder eher Villa ist riesig, modern und protzig, aber ich würde ihr viel mehr wünschen, dass sie bei uns wohnen kann.
„Dort wohnst du?“, erkundige ich mich. Irgendwie kann ich es auch nicht glauben. Trotz ihrer Einschränkung wirkt sie einfach irgendwie vornehm.
„Ja, mehr können wir uns momentan einfach nicht leisten“, erklärt sie. „Aber es ist in Ordnung. Wir machen das Beste draus und wir haben sogar einen Balkon“
Ein Balkon… wir haben zu Hause eine Dachterrasse, eine normale Terrasse und einen Balkon und trotzdem ist es Vater eigentlich nicht genug. Ich wünschte so sehr, dass er mal so bescheiden wäre, wie sie es ist.
„Das freut mich“, antworte ich.
„Wo wohnst du?“, fragt Brigitte.
„In dem Wohngebiet weiter südlich von hier. Ich muss noch etwas weiter laufen“, entgegne ich.
„Läufst du gerne?“, will sie wissen.
„Ja… ich jogge auch… ich bin viel gejoggt, aber jetzt nicht mehr“, entgegne ich.
„Nicht mehr? Aber das könntest du doch auch mit der Hand“, bemerkt Brigitte.
„Ja… das liegt nicht an der Hand… ich…das…“, stammele ich.
„Du willst oder kannst es mir noch nicht sagen“, vermutet sie.
„Ja, tut mir leid“, entgegne ich.
„Muss es nicht. Ich kann das verstehen. Jetzt muss ich los. Ich wünsche dir einen schönen Abend. Wenn du willst, kannst du jederzeit wieder kommen. Ich bin fast jeden Tag hier“, versichert sie lächelnd.
„Ich komme auf jeden Fall wieder“, stimme ich zu, ehe sie gut gelaunt den Heimweg antritt. Ich bin zwar weit entfernt von guter Laune, aber mir ist etwas leichter ums Herz.
„Wirst du heute gar nicht von deinem Fahrer abgeholt oder hast du den mittlerweile um die Ecke gebracht?“, will Titus wissen, als wir ein paar Tage später zufällig das Schulgelände zusammen verlassen.
„Ich gehe nicht nach Hause und für das, was ich vorhabe, kann ich Lars nicht gebrauchen“, gebe ich zurück. „Er lebt also noch, falls dich das interessiert“
„Hast du ihn wenigstens ordentlich auseinandergenommen?“, fragt er. Ich zucke mit den Schultern.
„Nö, keine Lust“, entgegne ich. Warum genau rede ich eigentlich mit ihm? Vielleicht weil mir die Gespräche mit Brigitte wirklich guttun und ich ganz langsam wieder normal mit Menschen umgehen lerne? „Wo ist der Schrumpfkopf heute?“
„Korbinian hat Fußballtraining“, antworte ich. „Und nenn ihn nicht immer so. Er ist nur ein bisschen… direkt. Das hat nichts mit seiner Intelligenz zu tun“
„Er ist sitzen geblieben und hat trotzdem echt schlechte Noten. Ein bisschen wenig Intelligenz sehe ich da schon“, antworte ich. Ich meine, ich wusste auch bevor ich in die Klasse gekommen bin, wer Korbinian ist.
Seine Familie spielt in unserer Liga. Sie haben mehrere Restaurants und Hotels und Kohle ohne Ende. Im Gegensatz zu mir, ist er kein Einzelkind, sondern hat zwei jüngere Schwestern. Seine Eltern legen auch nicht so viel Wert auf Bildung, Ansehen und Ruf, wie meine.
„Ich denke, Intelligenz ist nicht nur über Noten messbar. Deine emotionale Intelligenz ist momentan im Keller, würde ich sagen“, gibt Titus ganz nebenbei zurück. „Aber sag, wohin gehst du? Einkaufen? Zu nem Date? Oder was ganz anderes?“
„Ich war noch nie einkaufen, also mache ich das bestimmt auch heute nicht“, gebe ich zurück. Also bitte, sowas mache ich doch nicht! Was sollte daran spaßig sein?!
Noch dazu, sieht Titus nicht so aus, als könnte er es sich leisten, oft einkaufen zu gehen. Seine Sachen sind abgetragen und teilweise auch zu groß.
Müsste ich raten, würde ich sagen, dass Korbinian ihm viel abgibt.
„WAS?! Du warst noch nie einkaufen?! Dann müssen wir das machen! Los, komm!“, will er mich mitziehen, doch ich schüttle ihn ab. Er schaut mich erschrocken an. Sehe ich so furchterregend aus? „Sorry… ich wollte nicht… tut mir leid. Manchmal schieße ich über das Ziel hinaus“
Ich schüttle den Kopf.
„Ist egal. Ich kann aber nicht einkaufen gehen. Ich habe einen Termin“, erkläre ich.
„Ach so, aber vielleicht überlegst du es dir mal. Ich kaufe echt gerne ein“, versichert er grinsend. „Und ich finde es grade richtig toll, dass du ganz normal mit mir redest! Also, ich wünsche dir viel Spaß bei deinem Termin. Wir sehen uns“
Er steigt auf sein Fahrrad und tritt fast schon in die Pedale, aber ich kann ihn nicht gehen lassen. Ich… ich will nicht alleine zu diesem Termin.
„Titus…“, fange ich an. Er schaut sofort zu mir.
„Wow, du hast das erste Mal meinen Namen gesagt. Was kann ich denn für dich tun?“, will er wissen.
„Ich… also… du… kannst du mit zu dem Termin kommen?“, frage ich.
„Ich? Was für ein Termin ist das denn?“, erkundigt er sich. Ich deute auf meine Schiene.
„Das Ding kommt endlich ab“, erkläre ich.
„Echt?! Und das… du… bist du dir sicher, dass ich da dabei sein soll? Nicht vielleicht dein Papa oder deine Mama?“, schlägt er vor.
„Die hab ich schon fast ne Woche nicht gesehen. Die wissen von dem Termin gar nichts“, gebe ich zurück. Jetzt ist er irritiert. „Nicht jeder hat so tolle Eltern wie Korbinian oder du“
„Ja… ich… also… weißt du, wie lange der Termin ungefähr dauert? Wenn ich viel später nach Hause komme, müsste ich kurz anrufen“, erklärt er.
„Das heißt, du kommst wirklich mit?“, bin ich überrascht. Auch, wenn ich mir eine Begleitung gewünscht habe, hätte ich nie gedacht, dass er wirklich mitkommen.
„Klar! Warum nicht? Ich denke, sowas macht niemand gerne alleine und wenn ich dir da helfen kann, mache ich das sehr gerne“, stimmt er lächelnd zu.
„Kannst du das Korbinian verschweigen?“, frage ich dann. Er schaut mich überrascht an.
„Ist es so wichtig, was er von dir denkt?“, will er wissen.
„Nein, eigentlich nicht. Ich will nur nicht, dass er so was sagt, wie neulich“, antworte ich. Auch, wenn ich es nicht zugeben konnte, es hat mich einfach echt getroffen, dass er so über meinen Unfall und die Folgen gesprochen hat.
Ich habe mit Wut reagiert, weil es in dem Moment das Einzige war, was ich gespürt habe, aber hinterher hätte ich genauso gut heulen können.
„Dann ist mein Mund ihm gegenüber verschlossen. Darf ich mit meiner Mama drüber reden? Ich glaube nämlich, dass ich mit irgendwem drüber reden muss. Sowas geht immer nicht so spurlos an mir vorbei“, gibt er zurück.
„Ist okay“, entgegne ich.
„Dann rufe ich sie kurz an und sage Bescheid, dass es eventuell später wird“, antwortet er lächelnd und zieht sein Handy aus der Hosentasche.
Auch das ist ein älteres Modell von Samsung. Wohl auch ein abgelegtes Teil von Korbinian. Ich meine, ich rechne es ihm und seiner Familie hoch an, dass sie so was machen, aber was ist bei Titus los, dass er sich wirklich so wenig leisten kann.
„Sag… du hast bisher nur deine Mutter erwähnt. Was ist mit deinem Vater?“, muss ich das einfach fragen, nachdem er telefoniert hat. Das Gespräch war so liebevoll. So was habe ich noch nie zu Hause erlebt. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
Vielleicht war es so, als ich ein Baby oder Kleinkind war.
„Den gibt es nicht. Er hat Mama sitzen lassen, als sie schwanger war. Ich kenne seinen Namen und weiß auch, wo er wohnt, aber momentan interessiert mich das noch nicht. Ich bin mit Mama mehr als zufrieden“, versichert er lächelnd.
„Hast du Geschwister?“, will ich wissen.
„Keine richtigen. Mama war bis vor ein paar Jahren noch mit einem Mann verheiratet. Da hatte ich einen Stiefbruder, aber momentan haben wir nur Kontakt über WhatsApp. Nach der Scheidung ist er mit seinem Vater weggezogen“, erzählt er.
Hm… er sagt das so locker und flockig. Er hat das anscheinend echt gut verarbeitet. Ich bin immer noch nicht wirklich weiter. „Hast du welche oder bist du ein Einzelkind?“
„Ich bin ein Einzelkind“, antworte ich.
„Also im Grunde, wie ich“, stimmt er lächelnd zu, als wir bei der Arztpraxis ankommen.
„Hier muss ich rein“, bemerke ich.
„Dann kette ich mein Fahrrad an“, antwortet Titus und stellt es in den Fahrradständer, ehe er es abschließt. „Gehen wir rein?“
Das würde ich gerne, aber ich stehe da und kann mich nicht rühren. Wenn der Arzt jetzt sagt, dass alles verloren ist und ich die Hand nicht mehr bewegen kann, drehe ich durch!
„Ich… das… du bist… das…“, stammele ich.
„Was ist los, Linus? Hol mal tief Luft und sag dann, was dich beschäftigt“, schlägt er vor. Ich linse zu ihm.
Er ist so positiv und das obwohl ich ihn bisher doch nur richtig doof behandelt habe. Er ist viel zu gut für die Welt! Schließlich schüttle ich den Kopf.
„Gehen wir“, entscheide ich mich dagegen ihm zu sagen, was gerade in mir vorgeht.
„Sicher?“, fragt Titus.
Ich nicke nur, ehe wir hineingehen.
Als wir ein paar Minuten später im Wartezimmer sitzen, bin ich vollkommen nervös. Mein Bein wippt die ganze Zeit auf und ab, während ich mir nervös auf den Nägeln herumkaue.
„Linus, ich weiß es ist schwer, aber du kannst auch einfach mit mir reden, anstatt hier kurz vorm Nervenzusammenbruch zu stehen“, bemerkt Titus irgendwann.
Ich schaue zu ihm. Wie immer hat er ein warmes Lächeln auf den Lippen. Vielleicht… vielleicht versuche ich ihm einfach zu erklären, was los ist.
„Ich… das… ich habe…“, will ich anfangen, werde aber dann aufgerufen.
„Du packst das“, ist Titus sich sicher, als wir schließlich im Behandlungsraum sitzen. Ehe ich noch etwas erwidern kann, kommt der Arzt herein. Es ist Dr. Braun. Ein guter Bekannter meines Vaters.
„Hallo, Linus. Ach, hast du jemanden als Verstärkung dabei“, bemerkt er.
„Hallo, ich bin Titus. Wir kennen uns aus der Schule“, antwortet er lächelnd.
„Dann hast du doch schon Freunde gefunden? Das ist richtig toll“, findet Dr. Braun. Ich linse zu Titus. Er lächelt nur.
Für ihn ist es okay als mein „Freund“ betitelt zu werden. Er wird das gegenüber dem Doktor auch nicht großartig aufklären. Dafür bin ich ihm wirklich dankbar.
„Kannst du dir jetzt meinen Arm anschauen?“, bitte ich.
„Natürlich! Dafür sind wir da“, gibt Dr. Braun zurück. „Ich nehme zuerst die Schiene ab und taste dann alles ab. Danach muss ich dich erstmal zum Röntgen schicken“
Ich nicke nur, ehe er die Schiene abnimmt.
Ich atme erstmal durch. Obwohl mich die Schiene natürlich nicht beim Atmen gestört hat, fühle ich mich jetzt trotzdem leichter.
„Spürst du das?“, tastet der Arzt dann den Arm ab.
Ich nicke, während er immer weiter nach vorne wandert. Ich spüre alles und dass macht mich gerade richtig zuversichtlich!
Schließlich tastet er auch noch alle Finger ab und fragt, ob ich das auch fühlen kann. Ich nicke.
„Das ist gut, Linus. Jetzt gehst du zum Röntgen. Wenn das geschafft ist, sehen wir uns nochmal“, erklärt er.
„Aber dass ich alles fühlen kann, ist doch gut, oder?!“, erkundige ich mich.
„Ja, aber ich will es mir auch auf dem Röntgenbild anschauen“, gibt der Doktor zurück.
„Dann mache ich das“, stimme ich zu, ehe wir das Zimmer verlassen und nach draußen gehen.
Linus
Seufzend laufe ich wieder mal durch den Park. Ich bin jetzt schon eine Woche auf der neuen Schule und in meiner Klasse.
Ich habe mich mit keinem angefreundet, aber die Situation zwischen mir, Korbinian und Titus hat sich wenigstens entspannt. Ich bin ihnen und auch allen anderen einfach aus dem Weg gegangen.
Das war für mich die beste Strategie. Ich weiß auch nicht, was mich in den ersten Tag geritten hat.
Ich war viel zu aggressiv.
Egal, ob ich den Unfall hatte oder nicht, so bin ich überhaupt nicht! Ich war nie der Draufgänger oder Anführer, sondern eher der Stratege im Hintergrund.
„Hallo, na, wir kennen uns doch“, spricht mich auf einmal jemand an. Ich linse zu der Frau. Ah, das ist die Frau mit dem Rollator.
Sie ist… sie war der Grund, warum ich zu Titus einfach nichts mehr gesagt habe. Sie ist einer der Fälle, die er beschrieben hat. Ich weiß nicht, was sie hat, aber so wie sie aussieht, geht es ihr viel schlechter als mir. „Geht es dir heute besser?“
„Mir? Aber mir ging es doch nicht schlecht“, finde ich.
„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du sehr aufgeregt“, erinnert sie sich. Gut, dass sie die Vorgeschichte nicht mitbekommen hat. Im Park war meine Wut ja damals fast schon verraucht.
„Hm, ich war eher sauer. Es war mein erster Schultag an einer neuen Schule und der lief genauso doof wie erwartet“, erkläre ich.
„Oh ja, Schule ist nicht immer so leicht. Wollen wir uns setzen, dann kannst du mir erzählen, was los war“, schlägt sie vor.
Hm… warum auch nicht. Sie war bisher die Normalste, die ich hier getroffen habe. Ich nicke nur, ehe wir uns auf der nächsten Bank niederlassen.
„Ich… darf ich Sie was fragen?“, will ich wissen.
„Ja, darfst du und sag doch einfach „Du“. Ich bin Brigitte“, erklärt sie.
„Ich bin Linus“, entgegne ich.
„Freut mich“, antwortet sie lächelnd. „Was wolltest du fragen?“
„Ich… also… warum… der Rollator und du…“, stammele ich herum. Ich kann sie doch nicht einfach fragen, was mit ihr passiert ist! Das wäre komplett taktlos.
„Warum ich auf das Ding angewiesen bin?“, will sie wissen. Ich nicke. „Das war mein Exmann“
„Was?!“, bin ich jetzt vollkommen von der Rolle. Sie hatte gar keinen Unfall? Das hat ein Mensch verursacht?! „Ich… aber was… wie…“
„Er hat es sehr gut verstanden, Gewalt anzuwenden. Deshalb sehe ich nun so aus, wie ich aussehe“, entgegnet sie.
„Aber das ist… das geht doch nicht! Warum hat er das getan?“, will ich wissen.
„Dafür gibt es keinen Grund, den wir verstehen würden. Er hat einfach komplett andere Ansicht davon, wie man miteinander umgeht. Mein Sohn hat das auch zu spüren bekommen“, erzählt sie.
„Dein Sohn? Ist dein Exmann nicht sein Vater?“, frage ich.
„Nein, ich hatte ihn schon vor meiner Beziehung mit meinem Exmann. Er hat aber auch einen Sohn mit in die Ehe gebracht“, erklärt Brigitte.
„Und wo ist er jetzt?“, will ich wissen. Ich kann das gerade einfach noch nicht ganz fassen. Ein Unfall, wie bei mir, ist eine Sache, aber wenn jemand das vorsätzlich herbeigeführt hat, ist das einfach mehr als krass.
„Er lebt mit seinem Sohn in Berlin und ist neu verheiratet“, antwortet sie.
„WAS?! Warum ist er nicht im Gefängnis und wie kann er noch das Sorgerecht für seinen Sohn haben?!“, will ich wissen.
„Er ist ein ziemlich reich und hat gute Anwälte. Er hat damals eine sehr milde Strafe bekommen und er musste uns Schmerzensgeld zahlen, aber ich hatte keine Kraft mich weiter mit ihm zu befassen. Ich wollte damals einfach nur weg von ihm. Ich wollte nicht mehr abhängig von ihm sein. Und wegen des Sorgerechts… er hat einfach sehr gute Anwälte und seinem Sohn selbst, hat er nie etwas getan“, erzählt sie.
Als ich das höre, wird mir ganz anders. Wir sind auch reich und sicher könnte mein Vater auch irgendwas drehen, wenn ich mal was anstellen würde, aber so sollte es nicht laufen! Wir sollten alle die gleichen Chancen haben, aber so ist es nicht.
Das zeigt sie mir gerade und das zeigt mir auch Titus. Auch, wenn er mit Korbinian befreundet ist, bin ich mir sicher, dass er nicht in seiner Liga spielt! Zumindest, was das Gehalt ihrer Eltern angeht.
„Aber das ist so… ich kann das gerade einfach überhaupt nicht fassen“, gebe ich zurück. „Geht es deinem Sohn denn gut?“
Jetzt lächelt sie. Es ist so ein herzliches Lächeln. Genauso wie das von Titus. Bei ihm geht es mir ja gehörig auf die Nerven, weil er meint, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben! Aber bei ihr… da ist es anders. Ihr nehme ich das ab.
„Ihm geht es sehr gut. Er ist so lebensfroh, dass man meinen könnte, er hätte eine ganz normale Kindheit gehabt. Bis auf die eine oder andere Narbe auf seinem Rücken, ist bei ihm auch nichts zurückgeblieben“, erklärt sie. „Ihr könntet im gleichen Alter sein. Wie alt bist du? 17 oder 18?“
„Momentan noch 17. Ich habe Anfang Oktober Geburtstag“, entgegne ich.
„Dann bist du einen Monat jünger“, antwortet sie lächelnd. „Wie wäre es, wenn ich euch mal bekannt mache? Er kann dir sicher auch helfen, mit deiner Verletzung besser klar zu kommen“
Ich denke sofort an Titus. Er wollte mir auch helfen, aber damit konnte ich nichts anfangen. Ich glaube kaum, dass es bei ihrem Sohn besser ist.
„Danke, aber ich denke im Moment hilfst du mir am Meisten“, versichere ich.
„Ich? Ich bin doch nur eine alte Schachtel, deren Körper zu viel mitgemacht hat. Du hast noch alles vor dir. Wegen der Verletzung an der Hand, solltest du dich nicht aufhalten lassen. Die hindert dich nicht daran Träume zu haben“, entgegnet sie.
„Aber sie hindert mich daran meinen größten Traum zu verwirklichen“, antworte ich. „Und um zu verstehen, wie es trotzdem weitergehen kann, würde ich gerne weiterhin mit dir reden“
„Das ist sehr nett von dir, aber liegt dir wirklich so viel an mir?“, will sie wissen.
„Ja, weil du auch einen Schicksalsschlag hinter dir hast. Du fühlst dich echt an“, finde ich.
„Und alle anderen fühlen sich falsch an?“, fragt sie.
„Nicht falsch, aber irgendwie… aufgesetzt. Ich habe einen Jungen in meiner Klasse, der mich überzeugen will, dass das Leben weitergeht, auch wenn ich den Unfall hatte.
Tief in mir drin weiß ich das auch, aber es ist einfach schwer zu verstehen, wenn mir das jemand erzählt, der völlig unbekümmert ist“, antworte ich.
„Denkst du nicht, man kann unbekümmert sein, auch wenn man eine Geschichte hinter sich hat? Meinem Jungen merkt man absolut nichts an“, entgegnet sie.
„Aber wie… wie hat er das gemacht?“, frage ich.
„Er und ich, hatten einfach sehr viel Unterstützung. Die Familie seines besten Freundes, hat uns sehr geholfen und auch die Behörden und Fachleute. Hast du dir schon mal überlegt zu einem Psychologen zu gehen? Das wäre doch auch ein Schritt, der wichtig ist“, findet Brigitte.
„Aber ich bin doch nicht verrückt!“, wehre ich mich sofort.
„Nein, das bist du absolut nicht, aber dir ist etwas Schlimmes passiert, dass du anscheinend noch nicht verarbeitet hast.
Der Junge aus deiner Klasse hat Recht, das Leben geht weiter, aber vielleicht brauchst du einen Stups in die richtige Richtung, um zu verstehen, dass es so ist. Dabei kann dir ein Psychologe helfen“, versichert sie.
Ich bin leicht ratlos. Ich habe die Menschen, die zum Psychologen gehen immer verurteilt und gemeint, dass man sich einfach nicht so anstellen sollte.
Jetzt soll ich da selbst hin?
Das ist für mich… es will nicht in meinen Kopf. Andererseits… vielleicht hilft es mir wirklich. So wie ich jetzt bin, kann ich mich selbst kaum leiden.
„Ich muss darüber nachdenken“, entgegne ich.
„Tu das“, stimmt sie lächelnd zu und steht auf. „Ich muss nach Hause. Mein Sohn und sein Freund machen heute wieder Abendessen“
„Soll ich dich bringen?“, frage ich sofort.
„Nein, nein, alles gut. Ich wohne gleich da hinten in dem Mehrfamilienhaus“, antwortet sie. Ich folge ihrem Blick. Mehrfamilienhaus… das ist echt freundlich ausgedrückt. Es ist ein richtig alter Plattenbau mit x Wohnungen.
Ich weiß, unser Haus oder eher Villa ist riesig, modern und protzig, aber ich würde ihr viel mehr wünschen, dass sie bei uns wohnen kann.
„Dort wohnst du?“, erkundige ich mich. Irgendwie kann ich es auch nicht glauben. Trotz ihrer Einschränkung wirkt sie einfach irgendwie vornehm.
„Ja, mehr können wir uns momentan einfach nicht leisten“, erklärt sie. „Aber es ist in Ordnung. Wir machen das Beste draus und wir haben sogar einen Balkon“
Ein Balkon… wir haben zu Hause eine Dachterrasse, eine normale Terrasse und einen Balkon und trotzdem ist es Vater eigentlich nicht genug. Ich wünschte so sehr, dass er mal so bescheiden wäre, wie sie es ist.
„Das freut mich“, antworte ich.
„Wo wohnst du?“, fragt Brigitte.
„In dem Wohngebiet weiter südlich von hier. Ich muss noch etwas weiter laufen“, entgegne ich.
„Läufst du gerne?“, will sie wissen.
„Ja… ich jogge auch… ich bin viel gejoggt, aber jetzt nicht mehr“, entgegne ich.
„Nicht mehr? Aber das könntest du doch auch mit der Hand“, bemerkt Brigitte.
„Ja… das liegt nicht an der Hand… ich…das…“, stammele ich.
„Du willst oder kannst es mir noch nicht sagen“, vermutet sie.
„Ja, tut mir leid“, entgegne ich.
„Muss es nicht. Ich kann das verstehen. Jetzt muss ich los. Ich wünsche dir einen schönen Abend. Wenn du willst, kannst du jederzeit wieder kommen. Ich bin fast jeden Tag hier“, versichert sie lächelnd.
„Ich komme auf jeden Fall wieder“, stimme ich zu, ehe sie gut gelaunt den Heimweg antritt. Ich bin zwar weit entfernt von guter Laune, aber mir ist etwas leichter ums Herz.
„Wirst du heute gar nicht von deinem Fahrer abgeholt oder hast du den mittlerweile um die Ecke gebracht?“, will Titus wissen, als wir ein paar Tage später zufällig das Schulgelände zusammen verlassen.
„Ich gehe nicht nach Hause und für das, was ich vorhabe, kann ich Lars nicht gebrauchen“, gebe ich zurück. „Er lebt also noch, falls dich das interessiert“
„Hast du ihn wenigstens ordentlich auseinandergenommen?“, fragt er. Ich zucke mit den Schultern.
„Nö, keine Lust“, entgegne ich. Warum genau rede ich eigentlich mit ihm? Vielleicht weil mir die Gespräche mit Brigitte wirklich guttun und ich ganz langsam wieder normal mit Menschen umgehen lerne? „Wo ist der Schrumpfkopf heute?“
„Korbinian hat Fußballtraining“, antworte ich. „Und nenn ihn nicht immer so. Er ist nur ein bisschen… direkt. Das hat nichts mit seiner Intelligenz zu tun“
„Er ist sitzen geblieben und hat trotzdem echt schlechte Noten. Ein bisschen wenig Intelligenz sehe ich da schon“, antworte ich. Ich meine, ich wusste auch bevor ich in die Klasse gekommen bin, wer Korbinian ist.
Seine Familie spielt in unserer Liga. Sie haben mehrere Restaurants und Hotels und Kohle ohne Ende. Im Gegensatz zu mir, ist er kein Einzelkind, sondern hat zwei jüngere Schwestern. Seine Eltern legen auch nicht so viel Wert auf Bildung, Ansehen und Ruf, wie meine.
„Ich denke, Intelligenz ist nicht nur über Noten messbar. Deine emotionale Intelligenz ist momentan im Keller, würde ich sagen“, gibt Titus ganz nebenbei zurück. „Aber sag, wohin gehst du? Einkaufen? Zu nem Date? Oder was ganz anderes?“
„Ich war noch nie einkaufen, also mache ich das bestimmt auch heute nicht“, gebe ich zurück. Also bitte, sowas mache ich doch nicht! Was sollte daran spaßig sein?!
Noch dazu, sieht Titus nicht so aus, als könnte er es sich leisten, oft einkaufen zu gehen. Seine Sachen sind abgetragen und teilweise auch zu groß.
Müsste ich raten, würde ich sagen, dass Korbinian ihm viel abgibt.
„WAS?! Du warst noch nie einkaufen?! Dann müssen wir das machen! Los, komm!“, will er mich mitziehen, doch ich schüttle ihn ab. Er schaut mich erschrocken an. Sehe ich so furchterregend aus? „Sorry… ich wollte nicht… tut mir leid. Manchmal schieße ich über das Ziel hinaus“
Ich schüttle den Kopf.
„Ist egal. Ich kann aber nicht einkaufen gehen. Ich habe einen Termin“, erkläre ich.
„Ach so, aber vielleicht überlegst du es dir mal. Ich kaufe echt gerne ein“, versichert er grinsend. „Und ich finde es grade richtig toll, dass du ganz normal mit mir redest! Also, ich wünsche dir viel Spaß bei deinem Termin. Wir sehen uns“
Er steigt auf sein Fahrrad und tritt fast schon in die Pedale, aber ich kann ihn nicht gehen lassen. Ich… ich will nicht alleine zu diesem Termin.
„Titus…“, fange ich an. Er schaut sofort zu mir.
„Wow, du hast das erste Mal meinen Namen gesagt. Was kann ich denn für dich tun?“, will er wissen.
„Ich… also… du… kannst du mit zu dem Termin kommen?“, frage ich.
„Ich? Was für ein Termin ist das denn?“, erkundigt er sich. Ich deute auf meine Schiene.
„Das Ding kommt endlich ab“, erkläre ich.
„Echt?! Und das… du… bist du dir sicher, dass ich da dabei sein soll? Nicht vielleicht dein Papa oder deine Mama?“, schlägt er vor.
„Die hab ich schon fast ne Woche nicht gesehen. Die wissen von dem Termin gar nichts“, gebe ich zurück. Jetzt ist er irritiert. „Nicht jeder hat so tolle Eltern wie Korbinian oder du“
„Ja… ich… also… weißt du, wie lange der Termin ungefähr dauert? Wenn ich viel später nach Hause komme, müsste ich kurz anrufen“, erklärt er.
„Das heißt, du kommst wirklich mit?“, bin ich überrascht. Auch, wenn ich mir eine Begleitung gewünscht habe, hätte ich nie gedacht, dass er wirklich mitkommen.
„Klar! Warum nicht? Ich denke, sowas macht niemand gerne alleine und wenn ich dir da helfen kann, mache ich das sehr gerne“, stimmt er lächelnd zu.
„Kannst du das Korbinian verschweigen?“, frage ich dann. Er schaut mich überrascht an.
„Ist es so wichtig, was er von dir denkt?“, will er wissen.
„Nein, eigentlich nicht. Ich will nur nicht, dass er so was sagt, wie neulich“, antworte ich. Auch, wenn ich es nicht zugeben konnte, es hat mich einfach echt getroffen, dass er so über meinen Unfall und die Folgen gesprochen hat.
Ich habe mit Wut reagiert, weil es in dem Moment das Einzige war, was ich gespürt habe, aber hinterher hätte ich genauso gut heulen können.
„Dann ist mein Mund ihm gegenüber verschlossen. Darf ich mit meiner Mama drüber reden? Ich glaube nämlich, dass ich mit irgendwem drüber reden muss. Sowas geht immer nicht so spurlos an mir vorbei“, gibt er zurück.
„Ist okay“, entgegne ich.
„Dann rufe ich sie kurz an und sage Bescheid, dass es eventuell später wird“, antwortet er lächelnd und zieht sein Handy aus der Hosentasche.
Auch das ist ein älteres Modell von Samsung. Wohl auch ein abgelegtes Teil von Korbinian. Ich meine, ich rechne es ihm und seiner Familie hoch an, dass sie so was machen, aber was ist bei Titus los, dass er sich wirklich so wenig leisten kann.
„Sag… du hast bisher nur deine Mutter erwähnt. Was ist mit deinem Vater?“, muss ich das einfach fragen, nachdem er telefoniert hat. Das Gespräch war so liebevoll. So was habe ich noch nie zu Hause erlebt. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
Vielleicht war es so, als ich ein Baby oder Kleinkind war.
„Den gibt es nicht. Er hat Mama sitzen lassen, als sie schwanger war. Ich kenne seinen Namen und weiß auch, wo er wohnt, aber momentan interessiert mich das noch nicht. Ich bin mit Mama mehr als zufrieden“, versichert er lächelnd.
„Hast du Geschwister?“, will ich wissen.
„Keine richtigen. Mama war bis vor ein paar Jahren noch mit einem Mann verheiratet. Da hatte ich einen Stiefbruder, aber momentan haben wir nur Kontakt über WhatsApp. Nach der Scheidung ist er mit seinem Vater weggezogen“, erzählt er.
Hm… er sagt das so locker und flockig. Er hat das anscheinend echt gut verarbeitet. Ich bin immer noch nicht wirklich weiter. „Hast du welche oder bist du ein Einzelkind?“
„Ich bin ein Einzelkind“, antworte ich.
„Also im Grunde, wie ich“, stimmt er lächelnd zu, als wir bei der Arztpraxis ankommen.
„Hier muss ich rein“, bemerke ich.
„Dann kette ich mein Fahrrad an“, antwortet Titus und stellt es in den Fahrradständer, ehe er es abschließt. „Gehen wir rein?“
Das würde ich gerne, aber ich stehe da und kann mich nicht rühren. Wenn der Arzt jetzt sagt, dass alles verloren ist und ich die Hand nicht mehr bewegen kann, drehe ich durch!
„Ich… das… du bist… das…“, stammele ich.
„Was ist los, Linus? Hol mal tief Luft und sag dann, was dich beschäftigt“, schlägt er vor. Ich linse zu ihm.
Er ist so positiv und das obwohl ich ihn bisher doch nur richtig doof behandelt habe. Er ist viel zu gut für die Welt! Schließlich schüttle ich den Kopf.
„Gehen wir“, entscheide ich mich dagegen ihm zu sagen, was gerade in mir vorgeht.
„Sicher?“, fragt Titus.
Ich nicke nur, ehe wir hineingehen.
Als wir ein paar Minuten später im Wartezimmer sitzen, bin ich vollkommen nervös. Mein Bein wippt die ganze Zeit auf und ab, während ich mir nervös auf den Nägeln herumkaue.
„Linus, ich weiß es ist schwer, aber du kannst auch einfach mit mir reden, anstatt hier kurz vorm Nervenzusammenbruch zu stehen“, bemerkt Titus irgendwann.
Ich schaue zu ihm. Wie immer hat er ein warmes Lächeln auf den Lippen. Vielleicht… vielleicht versuche ich ihm einfach zu erklären, was los ist.
„Ich… das… ich habe…“, will ich anfangen, werde aber dann aufgerufen.
„Du packst das“, ist Titus sich sicher, als wir schließlich im Behandlungsraum sitzen. Ehe ich noch etwas erwidern kann, kommt der Arzt herein. Es ist Dr. Braun. Ein guter Bekannter meines Vaters.
„Hallo, Linus. Ach, hast du jemanden als Verstärkung dabei“, bemerkt er.
„Hallo, ich bin Titus. Wir kennen uns aus der Schule“, antwortet er lächelnd.
„Dann hast du doch schon Freunde gefunden? Das ist richtig toll“, findet Dr. Braun. Ich linse zu Titus. Er lächelt nur.
Für ihn ist es okay als mein „Freund“ betitelt zu werden. Er wird das gegenüber dem Doktor auch nicht großartig aufklären. Dafür bin ich ihm wirklich dankbar.
„Kannst du dir jetzt meinen Arm anschauen?“, bitte ich.
„Natürlich! Dafür sind wir da“, gibt Dr. Braun zurück. „Ich nehme zuerst die Schiene ab und taste dann alles ab. Danach muss ich dich erstmal zum Röntgen schicken“
Ich nicke nur, ehe er die Schiene abnimmt.
Ich atme erstmal durch. Obwohl mich die Schiene natürlich nicht beim Atmen gestört hat, fühle ich mich jetzt trotzdem leichter.
„Spürst du das?“, tastet der Arzt dann den Arm ab.
Ich nicke, während er immer weiter nach vorne wandert. Ich spüre alles und dass macht mich gerade richtig zuversichtlich!
Schließlich tastet er auch noch alle Finger ab und fragt, ob ich das auch fühlen kann. Ich nicke.
„Das ist gut, Linus. Jetzt gehst du zum Röntgen. Wenn das geschafft ist, sehen wir uns nochmal“, erklärt er.
„Aber dass ich alles fühlen kann, ist doch gut, oder?!“, erkundige ich mich.
„Ja, aber ich will es mir auch auf dem Röntgenbild anschauen“, gibt der Doktor zurück.
„Dann mache ich das“, stimme ich zu, ehe wir das Zimmer verlassen und nach draußen gehen.