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Fabelblut

Kurzbeschreibung
GeschichteFantasy, Action / P12 / Het
16.08.2023
29.09.2023
39
95.076
2
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18.09.2023 4.123
 
Diesmal wache ich nicht auf dem Fußboden einer römischen Villa auf. Oder in einer Gefängniszelle mitten im Meer.
Ich liege in einem der bequemen Krankenbetten des Erste-Hilfe Zimmers von Stormglen Manor. Als ich die Augen aufschlage und die englischen Fenster sehe, die graue Steinfassade davor, durchfluteten mich Erleichterung und Dankbarkeit wie ein warmer Schauer.
Zuhause. Ich bin wirklich wieder zuhause.
Ich drehe den Kopf und finde Eleanor im Bett am anderen Ende des Raumes. Sie hat die Augen geschlossen, ist bewusstlos oder schläft. In ihrem Handrücken steckt eine Infusion, die Flüssigkeit im Plastikröhrchen sieht verdächtig nach Milkweed aus. Nicolas sitzt auf einem Stuhl an ihrer Seite und hält ihre Hand. Er ist so auf sie konzentriert, dass es eine Weile dauert, bis er mich bemerkt. „Lina! Du, bist aufgewacht. Hast du Hunger?"
Ich schüttle den Kopf und setze mich grade ins Bett. Draußen ist es noch hell, aber das Licht ist weich. „Wie lange...?"
„Constanze sagt, du bist bewusstlos geworden, als sie und Eric dich durch das Portal gezerrt haben. Wahrscheinlich der Schock und alles. Wir sind jetzt seit vier Stunden hier."
„Eleanor...?"
„Stabil. Sie hat leichte Verletzungen, aber zum Glück ist die Rippe nur angeknackst. Die Magie hat sie sehr erschöpft. Wird ein paar Stunden dauern, bis sie wieder ansprechbar ist."
Erinnerungen stürzen auf mich ein wie eine schwarze Flut. „Du hast sie gerettet. Wie...?"
„Ich habe sie nur daran erinnert, wer sie wirklich ist. Dass es mehr gibt als Hass."
Ich schaue ihn an, versuche meinen lahmen Kopf zum Laufen zu bringen. „Du bist zu den Wächtern gegangen."
Nicolas nickt. „War ein Schock für sie. Sie haben mir zunächst nicht geglaubt. Bis dein Hilferuf kam. Danach sind Demetra und die Alumni sofort los."
Ich erlaube mir nicht, darüber nachzudenken, was das heißt, schiebe die aufbrodelnden Schuldgefühle weg, bis ganz nach unten. Sie müssen kommen, werden kommen. Aber nicht jetzt.
„Dann dulden die Alumni dich wieder im Kolleg? Obwohl du mit den Rebellen zusammenarbeitest?"
Er neigt den Kopf zur Seite, zeigt ein schiefes Grinsen. „Sagen wir, sie tolerieren mich, weil ich Eleanor das Leben gerettet habe. Im Moment haben sie genug andere Probleme." Nicolas räuspert sich. „Du solltest wirklich was essen. Die Alumni haben in zwei Stunden ein Krisentreffen im grünen Kollegium. Ich hab dir Eleanors Umhang schon über den Stuhl da gehängt."
„Eleanors...ähm was?" Langsam dämmert mir, was er damit sagen will. „Oh, nein. Nein, nein, nein."
„Eleanor ist verletzt", beharrt er, „Sie baucht eine Vertretung. Schau mich nicht so an, ich bin ein offiziell Geächteter."
„Aber Mo ist der dienstältere. Er-"
„Mo ist verschwunden."
Ich stocke, mitten in meinem Gedankenfluss. „Was?"
Nicolas senkt den Blick. „Das Gefängnis wurde zu großen Teilen zerstört. Damon hat sich mit Margaret abgesetzt, weiß der Teufel, wo die stecken. Alumni Eric hat euer Boot gefunden, mit deinem Portalbuch. Er hat es in dein Fach im Kollegium gelegt. Aber von Mos Buch fehlte jede Spur. Wo auch immer sein Portal hinging. Stormglen Manor war es nicht."
Wundert es mich wirklich? Bei dem, was er da erfahren hat, war Stormglen sicher nicht sein erster Anlaufpunkt. Mein Blick ruht auf Eleanors bleichem Gesicht, Ton in Ton mit den Bettlaken. Wahrscheinlich besser, dass sie bewusstlos ist.
Auf einmal tut mir ihre gebrochene Rippe gar nicht mehr so leid.
„Also gut, ich gehe." Ich stehe auf, aber von Nicolas kommt keine Reaktion. Er hat sich wieder Eleanor zugewandt, sein Gesicht voller Sorge.
„Hasst du Blackwell deswegen so?", frage ich. „Weil du nie gegen ihn angekommen bist?"
Nicolas schaut auf, überrascht. „Lina, Lina. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine gute Beobachterin bist?"
Nein, nie.
„Klar, ständig. Nur, dass du's weißt." Ich zwinkere ihm zu. "Ich hätte lieber dich genommen. Und Eleanor mittlerweile sicher auch."

Um Punkt drei mache ich mich als frisch gebackene Alumna der Schatten auf den Weg ins grüne Kollegium. Mit Eleanors schwarzem Umhang um den Schultern komme mir vor wie eine Betrügerin (oder bestenfalls wie bei einem verfrühten Faschingsumzug). Er ist überraschend leicht und die Schatten spielen fangen um meine Fußknöchel herum, als fänden sie es spannend, nach so langer Zeit, endlich wieder eine neue Trägerin zu  haben. Um uns herum ist es ungewöhnlich still. Natürlich, das ganze Kolleg trauert.
Ich öffne die Tür zum mittleren Gewächshaus und trete ein. Sie sind schon alle versammelt. Die Alumni Constanze und Eric. Dazu Flavius, ein Mitglied des grünen Kollegiums, der im Auftrag der Wächter als Heiler arbeitet. Chefarzt von Stormglen sozusagen. Zu meiner Überraschung ist auch Faustia da. Sie sitzt mit geröteten Augen neben einem großen grauen Steinblock, der optisch an einen Altar erinnert und hält die Hand einer Frau. Ich zucke zusammen, als ich Demetra erkenne. Sie liegt vollkommen reglos da, die Gesichtszüge entspannt, die Hände über dem Bauch gefaltet. Wie die Statuen auf alten Grabmälern.
Nur, dass sie gar nicht so tot aussieht. Müsste sie nicht viel starrer sein? Ihre Haut farbloser, weißer?
Die Versammlung sieht auf, als ich die Tür schließe.
„Was machst du hier?", fragt Eric und zieht die Augen zusammen. Dann fällt sein Blick auf meinen Umhang. „Eleanor ruht sich  ja ziemlich lange aus."
Schauen wir mal, wie lange du schläfst, wenn ich dir ein paar Rippen breche. Wie wärs mit einer Entschuldigung? Immerhin hatte Eleanor die ganze Zeit Recht. Sie war unschuldig. Und ihr habt sie ihm ans Messer geliefert. Die Worte liegen mir auf der Zunge, aber ich schlucke sie runter. Stattdessen sage ich, mit einem Nicken auf Demetra. „Was ist mit ihr? Sie lebt...?"
„Das wollte ich gerade erklären, Alumna", sagt Flavius, der Heiler und folgt meinem Blick. „Der Dolch-" Erst jetzt merke ich, dass er das Messer in der Hand hält. Zum Glück klebt Demetras Blut nicht mehr daran. „Hat die Priora nicht tödlich verwundet. Hätte man ihn gleich entfernt und die Wunde fachmännisch gereinigt, könnte sie schon wieder wach sein."
„Eleanor wollte ihn nicht rausziehen", murmele ich, „Wegen dem Blutverlust."
Flavius nickt. „Wir können ihr keinen Vorwurf machen. Normalerweise wäre das richtig gewesen. Aber dieser Dolch war vergiftet. Was die Priorin tötet, ist nicht die Wunde, sondern das Gift in ihrem Blut."
„Scheiße." Ich achte nicht auf Eric, der mir einen irritierten Blick zuwirft. „Besser wir verschweigen Eleanor dieses Detail."
„Ich habe die Ausbreitung verlangsamen können", sagt Flavius. "Wenn wir sie regelmäßig mit frischer Magie versorgen, wie es Faustia hier gerade tut, kann ich sie am Leben erhalten."
„Wie lange?", fragt Alumna Constanze.
„Ein paar Wochen. Vielleicht Monate. "
Constanze stößt ein ersticktes Schluchzen aus. Ihr Gesicht ist geschwollen und verheult. „Gibt es kein Gegengift?"
„Doch. Ich habe es schon angesetzt. Aber es fehlt eine Zutat." Flavius schluckt. „Blut von demjenigen, der sie verwundet hat."
Wir schweigen, starren ihn an. Sogar Faustia schaut auf.
„Das ist nicht dein Ernst?", sagt Eric. „Wenn wir kein Blut von Damon Blackwell bekommen, stirbt sie?"
Flavius wirkt hilflos. „Es tut mir leid."
Constanze schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und sinkt mit einem Schluchzen an der Glaswand nach unten auf den Boden.
„Im Moment ist es nur Faustias Magie, die das Gift zurückhält", fährt Flavius fort. „Ohne diese künstliche Zufuhr wäre sie innerhalb eines Tages tot. Wir haben Freiwillige gesucht, die an ihrer Seite wachen und ihr etwas Magie abgeben. Wenn sie alle zwei Stunden tauschen, erschöpft es niemanden zu sehr. Ich mache euch keine Illusionen: Ohne das Gegengift wird sie sich nicht erholen. Sie wird nie wieder aufwachen. Aber es gäbe uns Zeit, an Blackwell ranzukommen."
Eric schnaubt, aber Faustia blickt zu uns auf.
„Bitte!" Ihre Hand ist fest um Demetras geklammert. „Unser Kollegium würde das übernehmen. Wir machen eine Liste, teilen Schichten ein-"
„Demetra hat keine Angehörigen", unterbricht sie Flavius, „Das gibt die Entscheidung an die Alumni weiter."
Es dauert, einen Moment, bis ich begreife, was er da sagen will. „Wir sollen entscheiden, ob Demetra künstlich am Leben gehalten wird, oder nicht?"
„Einer muss es tun", sagt Falvius. „Und ohne eine Priora tragt ihr jetzt die Verantwortung."
Zum ersten Mal an diesem Tag, sehe ich so etwas wie Mitgefühl in Erics Miene. Er tritt an den steinernen Tisch und sieht auf seine Chefin hinunter. Sie wirkt so klein, jung, zerbrechlich. „Hat sie Schmerzen?"
„Ich weiß es nicht", flüstert Flavius, „So ein Zustand ist selten. Ihr Geist schwebt irgendwo zwischen Leben und Tod."
Eric schaut auf, sieht erst mich an, dann Constanze, die mit angezogenen Beinen auf dem Boden kauert. „Wir werden das nicht entscheiden. Morgen um diese Zeit treffen wir uns im Refektorium. Dann öffnen wir Demetras Testament. Wenn sie einen von uns zum neuen Prior bestimmt hat, fällt er die Entscheidung. Allein. Ansonsten wählen wir aus unseren Reihen einen neuen. In Zeiten wie diesen darf das Kolleg nicht führungslos sein. Genau das hat Blackwell beabsichtigt. Er ist irgendwo da draußen, leckt seine Wunden. Wenn wir jetzt Schwäche zeigen, schlägt er zu."
***
Ich brauche zwei Anläufe, bis ich das Schlüsselloch treffe. Fluchend kicke ich die Haustüre auf, während ich gleichzeitig Eleanors Schattenumhang unter meine Winterjacke stopfe.
„Lina!"
Im Wohnzimmer brennt schon Licht. Vor den Fenstern geht die Nachmittagssonne unter und Mareike sitzt mit aufgerissenen Augen am Küchentisch davor, neben ihr ein Berg Kartoffelschalen. Von meinem Vater ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich hat er Nachtschicht.
„Wo zur Hölle warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht!"
Bitte! Nichts mehr von der Hölle heute.
Eigentlich müsste ich ihr jetzt eine Lüge auftischen. Eine plausible Erklärung, warum ich gestern nicht nachhause gekommen bin. Aber ich schaffe es nicht. Der Klos in meinem Hals schwillt an, macht das Sprechen fast unmöglich. Alles, was ich kann, ist nicht ganz die Wahrheit sagen.
Ich bleibe mit hängenden Schultern im Türrahmen stehen, ringe um Worte. „Elenas Oma." Meine Stimme klingt so zittrig. Wann habe ich sie das letzte Mal benutzt? „Sie liegt im Sterben. Sie...sie müssen entscheiden, ob sie die Geräte abstellen und..."
Ich muss das entscheiden. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie soll ich das entscheiden? Ich?
Ich kann nicht weitersprechen. Das Ungesagte hämmert gegen meine Kehle, dass mir schlecht wird.
Ich bin schuld, Mareike.
Ich habe sie umgebracht.
Wenn ich nicht um Hilfe gerufen hätte. Wenn ich einmal nachgedacht hätte.
Mareike steht auf, noch immer den Kartoffelschäler in der Hand. Im Hintergrund brodelt ein Topf,  Weihnachtsmusik dröhnt aus den Radio, eine Strophe von We three Kings auf der Irish Christmas Playlist.
Myrrh is mine; its bitter perfume, breathes a life of gathering gloom; sorrowing, sighing, bleeding, dying, sealed in the stone-cold tomb.
Ihre Augen wandern über mein Gesicht. Ich muss schrecklich aussehen. Bleich, zittrig, unterkühlt. „Spaziergang?"
Wir laufen durch die aufziehende Dunkelheit, altes Laub vom Herbst und Schneereste knirschen unter unseren Schuhen, aber es sind die einzigen Geräusche. Mareike zwingt mich nicht zum Reden, hält die Stille mit mir aus, damit ich meine Gedanken sortieren kann und ich bin ihr unendlich dankbar dafür.
Ich glaube, wir haben uns noch nie näher geführt.
Wieder zuhause, bringt sie mich dazu, zwei Teller Gemüsesuppe runterzuwürgen. Ich gehe in die Badewanne, stopfe Eleanors roten Pullover in die Waschmaschine. Er riecht immer noch leicht nach Nelken und Zimt. Den Schattenumhang rühre ich lieber nicht an.
Dann schauen Mareike und ich zusammen im Wohnzimmer Harry Potter. Die Filme sind mein Zufluchtsort seit Kindertagen. Gerade läuft der sechste Teil, Dumbledore liegt tot zu Füßen des Astronomieturms. Als Harry ihn findet, beginnt er zu weinen.
Aber nicht nur Harry. Die Szene, die Musik brechen etwas in mir auf. Der Klos in meinem Hals löst sich und plötzlich schluchze ich. Tränen fallen aufs Sofa und selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht mehr zurückhalten.
Mareike legt die Arme um mich. „Ist ok, Lina." Es sind die ersten Worte, die sie seit Stunden zu mir sagt. „Manchmal muss man einfach weinen."
Ich bin geduscht und frisch gekämmt, als ich am nächsten Tag zum grünen Kollegium laufe. Eleanors Umhang habe ich über den Arm gelegt. Die Schatten flüstern leise, als hätten selbst sie Respekt.
Schwarz ist eigentlich die Farbe unseres Kollegiums, aber jetzt sieht man sie überall. Das sonst so quirlige grüne Kollegium ist verstummt. Stattdessen höre ich Gesänge aus den Gärten und dem Wald. Nänien, Trauerlieder und Totenklagen, über einen verlorenen Frühling und einen sternlosen Winter.
Klagelieder für Demetra, die lebende Tote.
Vor dem Eingang erwartet mich Faustia schon. Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, ist sie ganz in schwarz gewandt.
Ich nicke ihr zu und spähe durch das Glas ins Gewächshaus. „Wie lange ist sie schon da drin?"
„Den ganzen Tag." Faustia seufzt. „Sie isst nicht, trinkt nicht. Wir haben ihr gesagt, dass sie sich ausruhen soll, sie braucht noch keine Schicht übernehmen. Sinnlos."
„Danke", sage ich und lege ihr eine Hand auf die Schulter. "Ich übernehme. Du solltest dich auch ausruhen. Euer Kollegium hat viel mitgemacht in den letzten Stunden."
Ich öffne die Tür zum Gewächshaus. Seit gestern hat sich wenig verändert. Mo ist fort, Nicolas hat sich im Gästezimmer eingerichtet und Demetra liegt immer noch reglos auf diesem Tisch, grauer Umhang auf grauem Stein, wie eine Statue. Eine Königin der Altvorderenzeit, aufgebahrt zum Begräbnis.
Nur eins ist anders. Eleanor sitzt an ihrer Seite, Demetras Hand in ihrer. Ihr Blick ist auf ihr Gesicht gerichtet. Sie weint nicht, aber ihre Augen verraten, dass sie es getan hat.
Leise setze ich mich auf den Stuhl an ihrer Seite: „Faustia wartet draußen, um dich abzulösen."
„Ich brauche keine-"
„Halt den Mund!" Es überrascht mich selbst, wie forsch ich klinge. So spricht man eigentlich nicht mit Trauernden. Vielleicht färbt Eleanor schon auf mich ab? Wird man so, wenn man diesen Umhang zu lange trägt? „Mach so weiter und du kippst vom Stuhl. Damit ist keinem geholfen. Die Alumni treffen sich in zehn Minuten."
„Geh du hin."
„Ich bin nicht die Alumn-"
„Es interessiert mich nicht, wen sie wählen."
„Sollte es aber. Der entscheidet nämlich, ob Demetra lebt oder stirbt."
Endlich habe ich ihre Aufmerksamkeit. Sie wirft mir einen warnenden Blick zu, aber ich bin noch nicht fertig. „Ich weiß, dir geht es scheiße. Und ich werde nichts sagen, das dich tröstet, weil ich weiß, es gibt nichts. Bitte, Eleanor. Heul, schlag mich, schrei. Aber lass dich jetzt nicht hängen."
„Eric hat mir von dem Gift erzählt", sagt sie leise.
O, natürlich hat er das, dieser Idiot!
„Es ist nicht deine Schuld." Sondern meine. „Du hast nicht wissen können, dass der Dolch vergiftet war."
Eleanor nickt, aber es wirkt nicht überzeugend. Noch immer weigert sie sich, Demetras Hand loszulassen. Sie hält sie locker, wie um ihr nicht wehzutun und ihr Daumen streicht dabei besänftigend über ihre Haut. „Weißt du, warum ich damals zurückgekommen bin? Warum ich Damon für sie verraten habe?" Ihre Stimme ist rau und aufgekratzt. „Meine Schwester war schon schwanger, bevor wir in die Schlacht zogen. Damon wollte das Kind nicht. Er war wütend, hat ihr die Schuld gegeben. Sobald es geboren war, wollte er es umbringen. Stell dir das vor" Sie schließt die Augen. „Mo umbringen."
Die Erinnerung an Mo durchzuckt mich wie ein kurzer, glühender Schmerz. „Warum?"
„Aus vielen Gründen. Er fürchtete, das Kind könnte ihm eines Tages den Rang streitig machen. Nach seiner Krone greifen. Er hatte Angst, Margaret und ich könnten es mehr lieben als ihn. Vor allem war es Bequemlichkeit. Ein Kind passte nicht in seinen Plan. Und anstatt den Plan zu ändern, änderte er lieber die Tatsachen. Margret hat ihm nie zugetraut, dass er es durchzieht, sie war blind vor Liebe, sah nicht mehr klar. Ich schon" Eleanor holt Luft. „Ich war ein psychisches Wrack, als ich bei Demetra ankam. Hin und hergerissen. Sie hätte mich verspotten können, belehren, abweisen. Vermutlich hätte mir das den Rest gegeben. Aber das tat sie nicht. Sie hat mich einfach in den Arm genommen und festgehalten. Mich weinen lassen, ohne Scham oder Schuld. Als wäre ich nie weggewesen."
Die verlorene Tochter, die nach Hause kommt. Ich nicke.
"Damon glaubt bis heute, sie hätte mir irgendeinen Deal angeboten. Dabei ist die Wahrheit viel einfacher: Sie hat mich gesehen. Mich wahrgnommen, für das was ich bin, mit allen Fehlern. Das Mädchen hinter dem Panzer. Den Mensch. Und trotzdem hat sie sich nicht abgewendet. Sie hatte mir schon vergeben, bevor ich überhaupt den Mund aufgemacht habe."
„Wie eine Mutter, die dich liebt, egal, was für Scheiße du baust", murmele ich. „Deswegen deine Loyalität. Du hast das Kolleg sechzehn Jahre lang ertragen. Hast ihre Drecksarbeit gemacht und dich nie beschwert. Für sie." Und für Mo. Mo, für den die eigenen Eltern zur größten Gefahr geworden waren. Der nur an einem Ort auf der Welt wirklich sicher war. Im Schutz von Stormglen Manor.
Eleanor schüttelt den Kopf. „Keine Abwehr von Rebellenangriffen kann aufwiegen, was sie und Mo mir in diesen Jahren gegeben haben. Ich musste alles neu lernen. Wahrheit, Schönheit, Vertrauen. Ich verdanke Demetra mein Leben." Und habe ihres nicht retten können. Sie muss es nicht erst aussprechen.
„Bring ihr Damons Blut", sage ich. „Du bist die einzige hier, die es kann. Immerhin hast du ihn fast in den Trümmern seiner eigenen Festung begraben. Er hat Angst vor dir. Hätte ich auch, wenn ich er wäre." Über Eleanors Gesicht huscht der Geist eines Lächelns und ich nutze die Chance. „Bitte, Eleanor. Komm zurück. Nimm deinen Platz im Refektorium wieder ein. Was du hier machst, ist kein Hell or high water. Es ist aufgeben, verstecken. Das Kollegium der Schatten braucht seine Alumna."
„Es tut mir leid, Lina. Aber die gibt es nicht mehr."
Ich starre sie an. „Was soll das...?"
Eleanor seufzt. Dann öffnet sie die Faust, ihre andere, die nicht Demetras Hand hält und ein Gegenstand kommt zum Vorschein.
Jetzt weiß ich, was Demetra ihr vor ihrem Tod in die Hand gedrückt hat.
„Nein, oder?" Mein Blick wandert von Eleanor zu Demetrius. "Eric wird uns umbringen!"
Ich könnte schwören, dass bei meinen Worten ein Lächeln über Demetras versteinerte Lippen huscht.
„Sie hat keinen Nachfolger benannt." Erics schlanke Finger blättern durch das Testament, fahrig, als suche er einen fehlenden Anhang. „Da steht nur, wer ihre verdammten Pflanzen erbt! Was will ich denn mit einem Kaktus?"
„Passt zu deinem Charakter", murmele ich und lehne mich in Eleanors Stuhl zurück. Vom hohen Tisch der Alumni aus wirkt das Refektorium ungewohnt groß. Ich behalte die Tür im Auge, meine Finger klopfen unruhig auf den Tisch.
Constanze kratzt sich am Hals, wo sich nervöse rote Stressflecken gebildet haben. Jeder trauert wohl anders. „Dann sollten wir jetzt neu wählen."
„Nicht nötig!"
Die Alumni heben die Köpfe.
Ah. Endlich.
Eleanor ist im Rahmen erschienen. Sie trägt einen Umhang, aber nicht mehr den schwarzen der Schatten. Ihrer ist grau. Silbrig grau.
Ich kann fast sehen, wie sich die Rädchen in Erics Gehirn drehen. „Was hast du da an?"
Eleanor lächelt grimmig. Sie hebt die Hand und berührt die silberne Schließe auf ihrem Brustbein. Sie hat die Größe einer Nadel und die Form eines Staffelstabs.
Mein Lauf ist vollendet, Eleanor. Aber das Rennen nicht. Dein Rennen.
„Es war Demetras letzter Wille. Kurz bevor sie starb."
Eric ballt die Hand zur Faust. „Du lügst! Wen hast du bestochen? Was hast du gemacht?"
„Du weißt es so gut wie ich", sagt Eleanor. „Dieser Umhang kann nur von der rechtmäßigen Priora getragen werden. Jedem anderen verweigert er sich."
Constanzes Miene ist eingefroren vom Schock, aber Eric schüttelt nach wie vor den Kopf. „Nein! Nein..."
Wäre die Lage nicht so ernst, hätte ich mein Feixen nicht verbergen können.
Eleanor hebt eine Braue. „Respektierst du so Demetras Willen?"
„Ich beuge mich keiner, die den Schatten befielt!" An seinem Hals pulsiert eine Ader. „Die Wächter werden dich nie akzeptieren!"
„Dann müssen sie mich umbringen!" Eleanors Miene ist jetzt genauso wütend. „Denn ich werde diesen Umhang erst wieder freiwillig ablegen, wenn Demetra lebend durch die Tür kommt! Sie hat mir das Kolleg anvertraut, ob es dir passt oder nicht! Wenn du damit ein Problem hast, dann trete zurück!"
Eric klappt den Mund zu. Wahrscheinlich hat noch nie jemand so mit ihm gesprochen.
„Schön." Eleanor läuft durch den Raum, lässt sich auf Demetras Platz sinken. "Wir haben lange genug in den Vorurteilen der Vergangenheit gelebt. Demetra hat mich nicht ausgewählt, damit wir uns am Status Quo festklammern."
„Also willst du sie am Leben halten?", fragt Constanze leise, „Das Gegengift finden?"
„Natürlich." Eleanors Stimme klingt gereizt. „Wir werden Damon jagen. Und dann hole ich mir sein Blut."
Eric schnaubt, sagt aber nichts.
„Was, wenn er uns jagt?", flüstert Constanze.
„Das wird er. Er will das Kolleg, weil er Hecates Tagebuch sucht. Wir müssen es finden, bevor er es tut, rauskriegen, was es damit auf sich hat. Das ist eure Aufgabe." Sie sieht Constanze und Eric an. „Ich möchte, dass ihr die Portalbücher durchschaut. Alle, von jedem Wächter. Wir brauchen dieses Buch."
Eric öffnet den Mund. „Sicher nehme ich keine Befehle von dir-"
Constanze boxt ihn in die Seite. „Natürlich, Priora. Wir machen uns gleich an die Arbeit." Sie packt ihn am Ärmel und schleppt ihn aus dem Refektorium, ehe Eric weitere Dummheiten machen kann.
Als sie weg sind, setzt Eleanor seufzend die Ellenboden auf den Tisch und fährt sich über das Gesicht. „Das wäre geschafft."
Ich sehe den Schmerz in ihrem Gesicht. Scheinbar macht ihre Verletzung immer noch Probleme. „Wie geht es jetzt weiter?", frage ich.
„Wenn ich das wüsste. Wir schützen das Kolleg. Verstärken die Schilde, ziehen mehr Wächter ein."
„Damon ist verschollen."
„Er wird zurückkommen. Glaub mir, das wird er. Und dann müssen wir bereit sein. Wir haben immer noch einen Verräter in unseren Reihen. Bevor wir nicht wissen, wer das ist, könne wir niemandem vertrauen. Ich habe Nicolas zu den Rebellen geschickt. Damon ist ein gemeinsamer Feind. Vielleicht können wir ein Bündnis schließen."
„Das wird den Wächtern nicht gefallen."
„Nein." Eleanors Miene ist düster. „Wird es nicht. Aber jetzt bin ich Priora. Und das heißt Veränderung."
Ich zögere. „Was ist mit Mo?"
Eleanor schweigt, offenbar habe ich einen wunden Punkt getroffen. „Auch er wird zurückkommen", sagt sie leise.
„Mehr fällt dir dazu nicht ein?" Ich ziehe die Brauen zusammen, fühle, wie die Wut wieder anklopft.
Eleanor schaut zu mir auf, sichtlich verärgert. „Was willst du von mir hören? Dass ich Scheiße gebaut habe?"
„Ja!" Ich starre sie an. „Du hast Scheiße gebaut! Ziemliche Scheiße! Verdammt, Eleanor! Sechzehn Jahre!" Es sprudelt auf einmal nur so aus mir heraus, all die Worte, die ich mir in den letzten Tagen verkniffen habe, aus Rücksicht, Trauer und Schock. „Kein Wunder, dass er dich nicht sehen will! Du hast ihn sein Leben lang belogen! Hast deiner Schwester ihren Sohn vorenthalten. Er hatte ein Recht darauf, seine Eltern zu kennen. Wie hast du ihm das verheimlichen können? Was haben du und Demetra euch eigentlich rausgenommen? Er hat dir vertraut! Wir sind für dich in die Hölle gegangen! " Ich hätte noch mehr sagen können. Viel mehr. Schreiend, tobend. Aber als ich Eleanor sehe, zusammengesunken wie unter Schlägen, beiße ich mir auf die Zunge. Sie ist immer noch verletzt und trauert, erinnere ich mich.
So oder so. Ich kenne Eleanor. Nichts, was ich sage, könnte sie so quälen, wie ihr eigenes Gewissen.
„Ich hatte Angst, ihn zu verlieren", sagt Eleanor mit gesenktem Kopf und ich höre, dass Tränen in ihren Augen stehen. „Ich war einfach zu feige, Lina. Zu feige für die Wahrheit."
„Ausgerechnet du."
Sie sieht zu mir auf. „Ich weiß, wo Mo ist. Es gibt nur einen Ort, an den er jetzt noch gehen könnte." Sie greift in die Tasche und zieht eine Fahrkarte der Londoner U-Bahn hervor, schiebt sie über den Tisch zu mir. „Such ihn. Rede mit ihm. Sag ihm, ich verstehe, wenn er mich hasst. Wenn er nie wieder etwas mit mir zu tun haben will. Aber er ist in Gefahr. Und er muss wissen, was hier passiert. Fabelreich ist auch sein zuhause." Sie schaut mir in die Augen, ihn ihrem Blick liegt etwas Flehentliches. „Bitte, Lina. Du hast jedes Recht, meine Befehle zu missachten. Mich zu verabscheuen. Aber tu es für Mo, er-"
„Hell or high water", unterbreche ich sie. „Erinnerst du dich? Es war nie nur ein daher gesagter Spruch."
Ich erhebe mich, gehe um den Tisch herum, baue mich vor ihr auf. Meine Hand greift schon nach dem Ticket, als mir noch etwas einfällt.
"Kennst du dich mit der Elfensprache aus?"
Eleanor runzelt die Stirn. "Ich spreche sie nicht. Aber sie hat Ähnlichkeiten mit dem Altgriechischen, also kann man sich das meiste ableiten."
"Was bedeutet Soteria?"
"Einfach. Ist identisch im Griechischen. Es gibt mehrere semantische Feinheiten. Aber die Hauptbedeutung ist Retterin oder Erlöserin." Eleanor wirft mir einen ihrer wachsamen, ausforschenden Blicke zu. " Warum?"
Erlöserin. Ein Schaudern läuft über meinen Rücken.
„Nur so. Du machst deine Arbeit in dieser Welt und ich mache meine in der anderen."
Ich ignoriere die Gänsehaut, schnappe mir das One-Way-Ticket vom Tisch, drehe die dünne Karte zwischen den Fingern und lese die Adresse. Sofort zieht sich ein Lächeln über meine Mundwinkel.
„Keine Sorge, Eleanor. Ich finde Mo. Und ich bringe ihn nachhause."

Ende von Band 1
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