October 29
von darkrose310
Kurzbeschreibung
Die 35 jährige Nina lebt in Hamburg, ist ausgebildete Pflegefachkraft und arbeitet in eine Kinderarztpraxis. Ihr Leben läuft eher belanglos vor sich hin, bis sie an einem Freitagabend mitten auf St.Pauli auf Chris in einem desolaten Zustand trifft. Ninas ausgeprägtes Helfersyndrom führt dazu, dass sich die beiden schnell näher kommen. Doch dass danach ihr gesamter Alltag aus den Fugen gerät und sie teilweise um ihr Leben fürchten muss, damit hatte Nina an diesem 27. Oktober nicht gerechnet.
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Het
Chris "The Lord" Harms
OC (Own Character)
09.08.2023
18.09.2023
16
42.125
6
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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18.09.2023
3.007
Als Liam zwei Stunden später nach Hause kam, schlief Nina immer noch auf dem Sofa.
«Ich habe Pizza mitgebracht, du hast sicher auch Hunger!» sagte Liam, was Gerrit bejahte. Sie wärmten die Pizzen nochmals kurz im Ofen auf und Liam erzählte dem Keyboarder von seiner Befragung und Aussage.
«Sind bei der Polizei eigentlich nur Idioten?» endete er seine Zusammenfassung und auch Gerrit hatte ähnliche Erfahrungen gemacht. Die beiden setzten sich mit Pizza und Getränken zu Nina ins Wohnzimmer.
«Zum Glück ist sie eingeschlafen, sie war total fertig. Sie sieht immer noch so blass aus. Hätten wir sie nicht doch besser in ein Krankenhaus bringen sollen?»
«Viel mehr als Schmerzmittel verabreichen und viel Ruhe verordnen würden sie ihr dort auch nicht. Ich glaube im Moment ist es eher die psychische Belastung, welche noch dazu kommt. Sie bräuchte jetzt einfach Zeit um sich auszuruhen und das Ganze zu verarbeiten und das geht nicht, wenn ein Albtraum den nächsten jagt.»
Die beiden merkten, wie sich Nina langsam regte.
«Auch mal wieder wach? Liam hat dir auch eine Pizza mitgebracht, ist noch im Ofen, damit sie nicht kalt wird. Ich hole sie mal eben.» sagte Gerrit und verschwand. Benommen blickte Nina auf ihre Uhr. 23 Uhr.
«Wie lange bist du schon da Liam?»
«knapp eine halbe Stunde, hat etwas länger gedauert. Ich habe Chris ganz kurz gesehen, er ist ok und versucht dich morgen anzurufen, sobald er die Möglichkeit dazu hat.» Nina nahm einen Schluck von ihrem unterdessen kalten Tee, um ihre trockene Kehle zu befeuchten.
«Hat Herr Kuhnert etwas gesagt, wie es nun weitergehe?» fragte sie leise.
«Er sagt, wir müssen den morgigen Tag abwarten. Er geht davon aus, dass Mike befragt wird, vielleicht kommt es zu einer Hausdurchsuchung. Herr Kuhnert hat erwähnt, dass Chris der letzte Kontakt zu Jessy war, er hat ja heute Vormittag mit ihr telefoniert, es könnte sein, dass sie ihn auch dazu morgen noch vernehmen. Aber das sind alles Spekulationen.»
Als sie fertig gegessen hatte, verabschiedete sich Gerrit und Nina sass noch eine Weile mit ihrem Bruder im Wohnzimmer. Sie erzählte ihm vom Gespräch mit Silvia und Timo und war einfach nur froh, ihn an ihrer Seite zu haben. Es war bereits nach 2 Uhr morgens, als sie ins Bett ging an Schlaf war jedoch auch heute nicht wirklich zu denken.
Nina hatte mehr als unruhig geschlafen, ihre Rippen hatten es ihr fast unmöglich gemacht, eine bequeme Position zu finden und am Morgen war sie wegen Kopfschmerzen schon früh wieder wach. Sie ging ins Bad, stellte sich unter die Dusche und zog sich an. Als sie zurück in den Flur trat, kam ihr Liam entgegen, welcher unterdessen auch wach war. «Guten Morgen, du siehst scheisse aus Schwesterherz.»
«Guten Morgen, dass nenn ich mal Geschwisterliebe.» entgegnete sie ihm und er zuckte entschuldigend die Schultern, «ich bin nur ehrlich. Wirf dir ein Schmerzmittel ein und leg dich aufs Sofa, ich mache Frühstück.»
«ich kann dir helfen.» sagte sie, Doch er schüttelte nur den Kopf, «brauchst du nicht.» er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und so tat sie, was er gesagt hatte. Sie tippte eine SMS an Silvia, wie es Timo gehe und meldete dich auf der Arbeit für den Rest der Woche krank. Zum Glück nahm man ihr den Fahrradunfall ab. Und da es nur vier Tage bis zu ihren Ferien waren, war auch kein Arztzeugnis notwendig. Erleichtert legte sie ihr Handy beiseite. Es klingelte jedoch sofort wieder, überrascht blickte sie auf eine unbekannte Nummer und ging ran.
«Kaufmann?»
«Nina, hier ist Chris»
«Chris, bist du okay?» mit einem Schlag hatte sich Nina hingesetzt und war hell wach.
«Ich bin soweit okay ja, Herr Kuhnert ist bereits wieder hier. Wie geht es dir?»
«ich… vermisse dich. Du weisst unterdessen Bescheid wegen Jessy?»
Sie hörte wie Chris Luft holte, «Ja. Ich habe es gestern erfahren. Ehrlich gesagt habe ich im Moment glaube ich noch gar nicht realisiert, dass es wirklich passiert ist. Ich habe eben mit meiner Mutter und Timo telefoniert, die beiden sind auch in Ordnung.»
Nina schluckte, «Timo ist in guten Händen, bei deinen Eltern. Sobald du zu Hause bist, nehmen wir ihn zu uns. Ich rufe heute auch nochmals an. Weisst du schon, was jetzt weiter passiert? Wann lassen sie dich gehen?»
«genau weiss ich das noch nicht, Herr Kuhnert ist gerade erst gekommen und hat erstmal das mit dem Telefonieren eingerichtet. Er wird sich bei dir melden, es kann sein, dass du nochmals zur Polizei kommen musst.»
«sag mir einfach, wenn ich irgendetwas tun kann»
«wir melden uns. Passa auf dich auf Nina, ich bin bald wieder bei dir, das hier wird irgendwann vorbei sein!»
«Ich weiss. Ich liebe dich Chris!»
«ich dich auch. Tschüss Nina.»
Mit zitternden Händen legte Nina das Handy weg, als Liam mit einem beladenen Tablett ins Wohnzimmer kam. «War das Chris?» sie nickte nur, «ist er in Ordnung? Weiss er mehr?»
«ich muss eventuell heute nochmal zur Polizei, mehr wissen wir noch nicht. Herr Kuhnert ist schon da.»
«ihr habt mit ihm einen echt guten Anwalt an eurer Seite, das wird schon.» sagte ihr Bruder und reichte ihr eine der beiden Kaffeetassen. Das Frühstück verlief relativ schweigend. Liam verabschiedete sich danach zum Einkaufen, während Nina die Küche aufräumte.
Am Nachmittag bekam Nina endlich einen Anruf von Herr Kuhnert, sie solle bitte nochmals auf den Polizeiposten kommen. Dort wurde sie diesmal vor allem über ihr Verhältnis zu Jessica Braun befragt. Unter anderem wurde auch der Chatverlauf von ihnen beiden hervorgeholt.
«Wie ich bereits sagte, diese Nachrichten wurden allen in der Zeit während der Entführung geschrieben, ich habe nichts damit zu tun. Können sie nicht irgendwie nachvollziehen, ob mein Handy manipuliert wurde?» die Polizei beschlagnahmte somit ihr Handy. Als die Befragung zu Ende war, besprach sie sich wieder mit Herr Kuhnert,
«So wie es scheint laufen die Ermittlungen betreffen Jessica Braun auf Hochtouren. Ich wurde informiert, dass Chris in Untersuchungshaft bleibt, da er in diesen Fall auch involviert ist.»
«Bitte was? Chris steht doch nicht in Zusammenhang mit Jessys Tod? Er war die ganze Zeit bei mir und dann mit Klaas unterwegs.» fragte Nina entsetzt.
«Er wird nicht direkt für Mord verdächtigt, es ist nur alles sehr verstrickt. Sie müssen verstehen Nina, die beiden sind in einem Sorgerechtsstreit, gegen Chris steht eine Anzeige wegen Körperverletzung und ein Gutachten welches ihn als schizophren und alkoholabhängig ausweist. Sie müssen verstehen, dass da die Polizei etwas genauer hinsehen muss. Klaas wird auch noch befragt.»
«die sollen bei diesem Mike erstmal genauer hinsehen!» sagte Nina empört.
Der Anwalt nickte, «das werden sie sehr bald. Sobald sie bei Chris nicht mehr weiterkommen und das wird bald sein, wird Herr Larsson ins Gebet genommen. Haben sie etwas Vertrauen und Geduld Frau Kaufmann.»
Geduld. Nein, Geduld war nicht Ninas Stärke, weder mit sich und ihren Verletzungen noch mit der Polizei und deren Vorgehen. Zuhause schnappte sie sich Liams Handy und gab Chris Eltern, sowie Klaas und Gerrit Bescheid, dass sie zurzeit nur auf dieser Nummer erreichbar sei. Auf Liams Anweisung hin legte sie sich hin und schlief irgendwann auf dem Sofa ein. Als sie später kurz aufwachte ging sie nur kurz unter die Dusche und verabschiedete sich in Richtung Bett. Erholsamen Schlaf fand sie jedoch auch da nicht. Sie fand keine bequeme Position und ihre Rippen schmerzen bei jeder Bewegung. Ausserdem kreisten ihre Gedanken immer und immer wieder um Chris, Timo und Jessy. Jessy war tot, wie würden sie und Chris mit Timo zurechtkommen? Sie liebte Timo, aber jetzt würde alles anders werden, Timo hatte keine Mutter mehr und sie fühlte sich überhaupt nicht in der Lage, diese Position einzunehmen. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie schluchzte mehrmals laut auf, scheinbar so laut, dass Liam sie in der Küche hörte und zu ihr ins Zimmer trat.
Er sagte nichts, sondern legte einfach seinen Arm um sie und hielt sie fest, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
«willst du darüber reden?» fragte er dann leise.
Sie zuckte die Schultern, «es ist wegen Timo und Chris… ich weiss einfach nicht, was jetzt passiert und ob ich das alles schaffe.»
«Schwesterherz, du hast gerade so viel durchgemacht, es ist klar, dass du das im Moment nicht weisst. Nimm erstmal einen Schritt nach dem anderen, bestimmt kommt Chris bald raus, dann gibst du erstmal deinem Körper Zeit, sich zu heilen und dann kümmert ihr euch darum, wie es weitergeht. Wenn das jemand schafft, dann du Nina. Davon bin ich überzeugt. Aber nicht heute und auch noch nicht morgen.»
Nina nickte stumm und liess sich zurück ins Bett fallen. «ich bringe dir noch einen Tee.» sagte ihr Bruder und verschwand aus dem Zimmer.
Irgendwann war es Nina gelungen, einzuschlafen, sie wurde jedoch immer wieder wach und fand auch in dieser Nacht keinen erholsamen Schlaf. Als es endlich hell im Zimmer war, beschloss sie, aufzustehen. Sie drehte sich um, nahm die Schmerzmittel, welche auf dem Nachttisch bereit lagen und ging ins Bad. Liam hatte ihr einen Zettel geschrieben, dass er in seinem Büro am Arbeiten sei, sie aber jederzeit zu ihm kommen könne, wenn sie etwas brauchen würde. Wie konnte sie sich eigentlich jemals bei ihm bedanken, für das, was er alles tat? Sie wusste auch das nicht, sie wusste im Moment überhaupt nichts. Sie wusste nur, dass sie froh war, dass er hier war. Sie hat bemerkt, dass sie jedes Mal eine seltsame Angst beschlich, wenn sie sich vorstellte, irgendwo allein zu sein oder alleine hinzugehen. Das kannte sie nicht, sie hatte jahrelang allein gewohnt, war Single gewesen und hatte absolut kein Problem mit dem allein sein gehabt. Jetzt war es für sie der blanke Horror, sich schon nur vorzustellen, eine Nacht ohne jemanden in ihrer Nähe zu haben in einer Wohnung zu sein. Irgendwann würde Chris wieder auf Tour gehen, irgendwann konnte sie nicht mehr hier bei Liam unterkommen, der hatte schliesslich auch ein eigenes Leben, ging es ihr durch den Kopf und dann kam der schlimmste Gedanke von allen: Was, wenn sie Chris nicht so schnell entlassen würde, wenn er längere Zeit ins Gefängnis müsste, dann wäre sie automatisch plötzlich ziemlich viel allein, nicht erst bei der nächsten Tour. Nina wurde zuerst heiss dann kalt, er bildete sich kalter Schweiss auf ihrer Stirn und sie hatte das Gefühl, dass sie keine Luft mehr bekam. Was war los? Ihr wurde schwindlig und ihre Atmung wurde immer flacher, es war nicht der Schmerz an den Rippen, sondern etwa, was ihr den Hals zuschnürte. Sie krallte sich an der Küchenzeile fest um nicht um zu kippen. Sie wusste nicht genau wie lange sie dort stand und nach Luft rang, als Liams Bürotür auf ging und ihr Bruder in die Küche kam.
«Nina, was ist denn?» sie konnte nicht antworten. «Nina, schau mich an! Gut, und jetzt atme langsam ein und aus, ich bin da, es ist alles in Ordnung.» er legte seinen Arm um sie und schob sie ins Gästezimmer, wo er sie aufs Bett legte. Nina zitterte noch immer, doch das enge Gefühl in der Brust liess nach.
«Versuch ruhig zu atmen, dir passiert nichts.» als sie sich einigermassen beruhigt hatte, verschwand er kurz und kam mit einem Glas Wasser zurück. Einige Minuten später war Nina wieder einigermassen bei sich und Liam sagte, «geht’s wieder?» Nina nickte, «Nina, das war eine Panikattacke.»
«ich habe mich da nur reingesteigert, es geht schon wieder. Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen und… ach keine Ahnung, ich habe einfach Angst Liam. Ich habe Angst.. vor allem.» er zog eine Augenbraue nach oben, sagte zuerst aber nichts.
«Ich werde nochmals versuchen zu Schlafen.» murmelte sie.
«Ich bin eigentlich kein Fan davon, aber in deiner Situation denke ich e wäre sinnvoll, wenn du ein Beruhigungsmittel nehmen würdest, einfach damit dein Körper ein paar Stunden abschalten kann, was meinst du?» Nina nickte und nahm die weisse Pille, welche ihr Bruder kurz danach gab. Es dauerte nicht lange und diese zeigte Wirkung.
POV Chris
Immerhin ein Teil dieses riesigen Knotens in diesem gottverdammten Chaos, welches im Moment in seinem Leben herrschte, war gelöst. Noch heute Morgen früh wurde ein psychologisches Gutachten von ihm gemacht, ein echtes, das andere hatte die Polizei als Fälschung erkennen können. Somit stand fest, dass Chris weder Schizophren war noch sonst ein potentielles Risiko für seine Mitmenschen oder seinen Sohn darstellte. Ausserdem war Jessys Aussage als Gegenstandlos eingestuft worden, nachdem die IT Abteilung der Polizei die Handydaten von Nina ausgewertet hatten und bestätigten, das nicht Nina das Handy entsperrt hatte und der Chatverlauf sich dementsprechend als gefälscht herauskristallisierte. Mit der Aussage von Nina, Liam und Gerrit hatten sich alle Vorwürfe gegen ihn erübrigt, Jessy galt als nicht zurechnungsfähig, Mike im Gegenzug sass tief in der Scheisse und die Vorwürfe gegen ihn erhärteten sich immer mehr.
Da Chris zu Jessys Todeszeitpunkt ein Alibi hatte, wurde er auch damit nicht in Verbindung gebracht. Bei Mike sah das auch das anders aus. Chris war tief in Gedanken versunken, als die Tür auf ging und Herr Kuhnert wieder ins Zimmer trat, in welchem Chris vorher noch ein letztes Mal befragt worden war.
«Andreas, was gibt’s?» das Gesicht des Anwaltes hellte sich etwas auf, als er Chris eine Mappe vor die Nase hielt, «hier sind deine Entlassungspapiere, endlich! Ausserdem habe ich das Handy von Nina da, die Beweisaufnahme ist abgeschlossen.»
«Also kann ich gehen?» fragte Chris ungläubig,
«ich bin verpflichtet, diese Formulare noch kurz mit dir durchzugehen, danach bist du ein freier Mann.»
Chris Gesicht beschlich ein Lächeln, es lag noch viel vor ihm, aber immerhin war dieser Albtraum hier erstmal vorbei. Der Anwalt ging mit ihm jeden Punkt durch, er durfte das Land nicht verlassen, bis alle Ermittlungen abgeschlossen waren und musste für die Polizei für weitere Fragen zur Verfügung stehen, blablabla. Er unterschrieb alles, danach mussten sie noch eine Weile warten, bis endlich alles erledigt war und er seine Persönlichen Sachen zurückbekam und sie endlich gehen konnten. Chris lehnte sich das Handy von Andreas Kuhnert aus, um Liam Bescheid zu geben, dass er auf dem Weg zu ihm und Nina war und dann verabschiedete er sich von seinem Anwalt, natürlich nicht, ohne sich noch einmal zu bedanken.
Chris fühlte sich, als hätte er einen Tonnenschweren Rucksack nach langer Reise endlich ausgezogen. Er beschloss den Weg zu Liams Wohnung zu Fuss zurückzulegen, irgendwie hatte er einen Bewegungsbedarf, nach den letzten zwei Tagen. Als er zwanzig Minuten später klingelte, freute er sich darauf, Nina endlich wieder in die Arme zu nehmen und danach Timo bei seinen Eltern abzuholen. Liam drückte den Türöffner und Chris eilte die Treppe hoch.
«Hey Chris, schön dich zu sehen.» begrüsste Ninas Bruder ihn, «du glaubst nicht, wie froh ich bin, wieder hier draussen zu sein. Wie geht’s Nina, wo ist sie?»
«sie schläft.» sagte Liam und blickte zu Boden.
«was?» fragte Chris ungeduldig, irgendetwas lag hier schon wieder im Argen!
«Chris, lass uns hinsetzen und reden.»
Chris Herz setzte einen Schlag aus, als er Liam ins Wohnzimmer folgte und sich neben ihn hinsetzte, Lima kam gleich zur Sache, «Nina geht’s beschissen. Gestern Abend hatte sie einen Zusammenbruch und heute Vormittag eine Panikattake. Sie hat Angst, Angst allein zu sein, Angst vor der Situation mit Timo, sie glaubt, dass sie es nicht schafft. Ausserdem kann sie kaum schlafen und das gibt sie zwar nicht zu, aber ich glaube die Schmerzen ihrer Verletzungen sind schlimmer als sie zugibt.»
Chris vergrub seinen Kopf in seine Hände. Er wusste doch selbst nicht, was er jetzt tun sollte, er wusste, dass er sich jetzt eigentlich in erster Linie um Timo kümmern musste, doch Nina brauchte ihn wohl auch, schliesslich ist sie nur durch ihn überhaupt in diese Situation geraten. «Fuck!» rief er aus und klopfte mit flacher Hand auf den Tisch. «Was soll ich denn tun?» fragte er fast kleinlaut und erntete einen ratlosen Blick von Liam,
«ich bin genauso planlos wie du. Wir können nicht mehr tun als für sie da sein, aber langsam bin ich auch am Ende von meinem Latein. Ich habe ihr… ich habe ihr heute Morgen ein relativ starkes Schlafmittel gegeben, ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, sie muss irgendwie mal ein bisschen runterkommen.»
Chris nickte und es herrschte einen Moment Stille, welche Liam wieder durchbrach, «hast du was Neues? Wegen Jessy und Mike?»
Chris erzählte ihm, dass sein Anwalt herausbekommen hatte, dass Mike immer mehr ins Kreuzfeuer der Ermittler rückte und was er bis jetzt wusste. «Somit wäre das Problem Mike erstmal gelöst.» sagte Liam und Chris nickte, «immerhin etwas. Ich hatte geplant, Nina hier abzuholen und dann mit ihr zusammen zu meinen Eltern zu fahren und Timo zu uns zu holen, aber nach dem, was du mir erzählt hast, glaube ich nicht, dass die Idee so gut ist.» Chris begann seine Schläfen zu massieren, sein Kopf fühlte sich an, als würde er explodieren.
«Du solltest zu deinem Sohn, aber nicht mit Nina. Wenn er sie so sieht, wird das noch traumatischer für ihn. Wir sollten versuchen, sie davon zu überzeugen, dass sie noch ein paar Tage hier bleibt, bei mir und zu dir und Timo kommt, wenn sie sich bereit fühlt. So kannst du und Timo die Sache mit Jessy etwas verarbeiten und Nina ruht sich hier aus, ich bin ja da. Was meinst du?»
Chris nickte stumm. Das tönte vernünftig, allerdings auch nicht ganz richtig, «ich möchte nicht, dass sich Nina abgeschoben fühlt. Ausserdem, was ist mit dir Liam? Wir ziehen dich da einfach ungefragt in einen verdammt tiefen Schlammassel hinein.»
«Nina wird er verstehen, sie ist nicht dumm sie weiss selbst, dass sie im Moment keine Hilfe für Timo ist. Und was mich angeht, ich bin schon so tief mit drin, spielt das echt noch eine Rolle? Ausserdem: Nina ist meine Zwillingsschwester, ich würde alles für die tun und weiss, dass sie dasselbe für mich tun würde. Das war immer so. Ich denke übrigens, dass sie eben aufgewacht ist.» Chris blickte ihn verwundert an, «ich habe nichts gehört.»
«Ich auch nicht, nur so ein Gefühl, wie gesagt, Zwillingsschwester, ich weiss meistens mehr als mir oder ihr lieb ist.» Liam grinste und Chris ging zu Nina ins Gästezimmer, sie war tatsächlich wach.
«Ich habe Pizza mitgebracht, du hast sicher auch Hunger!» sagte Liam, was Gerrit bejahte. Sie wärmten die Pizzen nochmals kurz im Ofen auf und Liam erzählte dem Keyboarder von seiner Befragung und Aussage.
«Sind bei der Polizei eigentlich nur Idioten?» endete er seine Zusammenfassung und auch Gerrit hatte ähnliche Erfahrungen gemacht. Die beiden setzten sich mit Pizza und Getränken zu Nina ins Wohnzimmer.
«Zum Glück ist sie eingeschlafen, sie war total fertig. Sie sieht immer noch so blass aus. Hätten wir sie nicht doch besser in ein Krankenhaus bringen sollen?»
«Viel mehr als Schmerzmittel verabreichen und viel Ruhe verordnen würden sie ihr dort auch nicht. Ich glaube im Moment ist es eher die psychische Belastung, welche noch dazu kommt. Sie bräuchte jetzt einfach Zeit um sich auszuruhen und das Ganze zu verarbeiten und das geht nicht, wenn ein Albtraum den nächsten jagt.»
Die beiden merkten, wie sich Nina langsam regte.
«Auch mal wieder wach? Liam hat dir auch eine Pizza mitgebracht, ist noch im Ofen, damit sie nicht kalt wird. Ich hole sie mal eben.» sagte Gerrit und verschwand. Benommen blickte Nina auf ihre Uhr. 23 Uhr.
«Wie lange bist du schon da Liam?»
«knapp eine halbe Stunde, hat etwas länger gedauert. Ich habe Chris ganz kurz gesehen, er ist ok und versucht dich morgen anzurufen, sobald er die Möglichkeit dazu hat.» Nina nahm einen Schluck von ihrem unterdessen kalten Tee, um ihre trockene Kehle zu befeuchten.
«Hat Herr Kuhnert etwas gesagt, wie es nun weitergehe?» fragte sie leise.
«Er sagt, wir müssen den morgigen Tag abwarten. Er geht davon aus, dass Mike befragt wird, vielleicht kommt es zu einer Hausdurchsuchung. Herr Kuhnert hat erwähnt, dass Chris der letzte Kontakt zu Jessy war, er hat ja heute Vormittag mit ihr telefoniert, es könnte sein, dass sie ihn auch dazu morgen noch vernehmen. Aber das sind alles Spekulationen.»
Als sie fertig gegessen hatte, verabschiedete sich Gerrit und Nina sass noch eine Weile mit ihrem Bruder im Wohnzimmer. Sie erzählte ihm vom Gespräch mit Silvia und Timo und war einfach nur froh, ihn an ihrer Seite zu haben. Es war bereits nach 2 Uhr morgens, als sie ins Bett ging an Schlaf war jedoch auch heute nicht wirklich zu denken.
Nina hatte mehr als unruhig geschlafen, ihre Rippen hatten es ihr fast unmöglich gemacht, eine bequeme Position zu finden und am Morgen war sie wegen Kopfschmerzen schon früh wieder wach. Sie ging ins Bad, stellte sich unter die Dusche und zog sich an. Als sie zurück in den Flur trat, kam ihr Liam entgegen, welcher unterdessen auch wach war. «Guten Morgen, du siehst scheisse aus Schwesterherz.»
«Guten Morgen, dass nenn ich mal Geschwisterliebe.» entgegnete sie ihm und er zuckte entschuldigend die Schultern, «ich bin nur ehrlich. Wirf dir ein Schmerzmittel ein und leg dich aufs Sofa, ich mache Frühstück.»
«ich kann dir helfen.» sagte sie, Doch er schüttelte nur den Kopf, «brauchst du nicht.» er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und so tat sie, was er gesagt hatte. Sie tippte eine SMS an Silvia, wie es Timo gehe und meldete dich auf der Arbeit für den Rest der Woche krank. Zum Glück nahm man ihr den Fahrradunfall ab. Und da es nur vier Tage bis zu ihren Ferien waren, war auch kein Arztzeugnis notwendig. Erleichtert legte sie ihr Handy beiseite. Es klingelte jedoch sofort wieder, überrascht blickte sie auf eine unbekannte Nummer und ging ran.
«Kaufmann?»
«Nina, hier ist Chris»
«Chris, bist du okay?» mit einem Schlag hatte sich Nina hingesetzt und war hell wach.
«Ich bin soweit okay ja, Herr Kuhnert ist bereits wieder hier. Wie geht es dir?»
«ich… vermisse dich. Du weisst unterdessen Bescheid wegen Jessy?»
Sie hörte wie Chris Luft holte, «Ja. Ich habe es gestern erfahren. Ehrlich gesagt habe ich im Moment glaube ich noch gar nicht realisiert, dass es wirklich passiert ist. Ich habe eben mit meiner Mutter und Timo telefoniert, die beiden sind auch in Ordnung.»
Nina schluckte, «Timo ist in guten Händen, bei deinen Eltern. Sobald du zu Hause bist, nehmen wir ihn zu uns. Ich rufe heute auch nochmals an. Weisst du schon, was jetzt weiter passiert? Wann lassen sie dich gehen?»
«genau weiss ich das noch nicht, Herr Kuhnert ist gerade erst gekommen und hat erstmal das mit dem Telefonieren eingerichtet. Er wird sich bei dir melden, es kann sein, dass du nochmals zur Polizei kommen musst.»
«sag mir einfach, wenn ich irgendetwas tun kann»
«wir melden uns. Passa auf dich auf Nina, ich bin bald wieder bei dir, das hier wird irgendwann vorbei sein!»
«Ich weiss. Ich liebe dich Chris!»
«ich dich auch. Tschüss Nina.»
Mit zitternden Händen legte Nina das Handy weg, als Liam mit einem beladenen Tablett ins Wohnzimmer kam. «War das Chris?» sie nickte nur, «ist er in Ordnung? Weiss er mehr?»
«ich muss eventuell heute nochmal zur Polizei, mehr wissen wir noch nicht. Herr Kuhnert ist schon da.»
«ihr habt mit ihm einen echt guten Anwalt an eurer Seite, das wird schon.» sagte ihr Bruder und reichte ihr eine der beiden Kaffeetassen. Das Frühstück verlief relativ schweigend. Liam verabschiedete sich danach zum Einkaufen, während Nina die Küche aufräumte.
Am Nachmittag bekam Nina endlich einen Anruf von Herr Kuhnert, sie solle bitte nochmals auf den Polizeiposten kommen. Dort wurde sie diesmal vor allem über ihr Verhältnis zu Jessica Braun befragt. Unter anderem wurde auch der Chatverlauf von ihnen beiden hervorgeholt.
«Wie ich bereits sagte, diese Nachrichten wurden allen in der Zeit während der Entführung geschrieben, ich habe nichts damit zu tun. Können sie nicht irgendwie nachvollziehen, ob mein Handy manipuliert wurde?» die Polizei beschlagnahmte somit ihr Handy. Als die Befragung zu Ende war, besprach sie sich wieder mit Herr Kuhnert,
«So wie es scheint laufen die Ermittlungen betreffen Jessica Braun auf Hochtouren. Ich wurde informiert, dass Chris in Untersuchungshaft bleibt, da er in diesen Fall auch involviert ist.»
«Bitte was? Chris steht doch nicht in Zusammenhang mit Jessys Tod? Er war die ganze Zeit bei mir und dann mit Klaas unterwegs.» fragte Nina entsetzt.
«Er wird nicht direkt für Mord verdächtigt, es ist nur alles sehr verstrickt. Sie müssen verstehen Nina, die beiden sind in einem Sorgerechtsstreit, gegen Chris steht eine Anzeige wegen Körperverletzung und ein Gutachten welches ihn als schizophren und alkoholabhängig ausweist. Sie müssen verstehen, dass da die Polizei etwas genauer hinsehen muss. Klaas wird auch noch befragt.»
«die sollen bei diesem Mike erstmal genauer hinsehen!» sagte Nina empört.
Der Anwalt nickte, «das werden sie sehr bald. Sobald sie bei Chris nicht mehr weiterkommen und das wird bald sein, wird Herr Larsson ins Gebet genommen. Haben sie etwas Vertrauen und Geduld Frau Kaufmann.»
Geduld. Nein, Geduld war nicht Ninas Stärke, weder mit sich und ihren Verletzungen noch mit der Polizei und deren Vorgehen. Zuhause schnappte sie sich Liams Handy und gab Chris Eltern, sowie Klaas und Gerrit Bescheid, dass sie zurzeit nur auf dieser Nummer erreichbar sei. Auf Liams Anweisung hin legte sie sich hin und schlief irgendwann auf dem Sofa ein. Als sie später kurz aufwachte ging sie nur kurz unter die Dusche und verabschiedete sich in Richtung Bett. Erholsamen Schlaf fand sie jedoch auch da nicht. Sie fand keine bequeme Position und ihre Rippen schmerzen bei jeder Bewegung. Ausserdem kreisten ihre Gedanken immer und immer wieder um Chris, Timo und Jessy. Jessy war tot, wie würden sie und Chris mit Timo zurechtkommen? Sie liebte Timo, aber jetzt würde alles anders werden, Timo hatte keine Mutter mehr und sie fühlte sich überhaupt nicht in der Lage, diese Position einzunehmen. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie schluchzte mehrmals laut auf, scheinbar so laut, dass Liam sie in der Küche hörte und zu ihr ins Zimmer trat.
Er sagte nichts, sondern legte einfach seinen Arm um sie und hielt sie fest, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
«willst du darüber reden?» fragte er dann leise.
Sie zuckte die Schultern, «es ist wegen Timo und Chris… ich weiss einfach nicht, was jetzt passiert und ob ich das alles schaffe.»
«Schwesterherz, du hast gerade so viel durchgemacht, es ist klar, dass du das im Moment nicht weisst. Nimm erstmal einen Schritt nach dem anderen, bestimmt kommt Chris bald raus, dann gibst du erstmal deinem Körper Zeit, sich zu heilen und dann kümmert ihr euch darum, wie es weitergeht. Wenn das jemand schafft, dann du Nina. Davon bin ich überzeugt. Aber nicht heute und auch noch nicht morgen.»
Nina nickte stumm und liess sich zurück ins Bett fallen. «ich bringe dir noch einen Tee.» sagte ihr Bruder und verschwand aus dem Zimmer.
Irgendwann war es Nina gelungen, einzuschlafen, sie wurde jedoch immer wieder wach und fand auch in dieser Nacht keinen erholsamen Schlaf. Als es endlich hell im Zimmer war, beschloss sie, aufzustehen. Sie drehte sich um, nahm die Schmerzmittel, welche auf dem Nachttisch bereit lagen und ging ins Bad. Liam hatte ihr einen Zettel geschrieben, dass er in seinem Büro am Arbeiten sei, sie aber jederzeit zu ihm kommen könne, wenn sie etwas brauchen würde. Wie konnte sie sich eigentlich jemals bei ihm bedanken, für das, was er alles tat? Sie wusste auch das nicht, sie wusste im Moment überhaupt nichts. Sie wusste nur, dass sie froh war, dass er hier war. Sie hat bemerkt, dass sie jedes Mal eine seltsame Angst beschlich, wenn sie sich vorstellte, irgendwo allein zu sein oder alleine hinzugehen. Das kannte sie nicht, sie hatte jahrelang allein gewohnt, war Single gewesen und hatte absolut kein Problem mit dem allein sein gehabt. Jetzt war es für sie der blanke Horror, sich schon nur vorzustellen, eine Nacht ohne jemanden in ihrer Nähe zu haben in einer Wohnung zu sein. Irgendwann würde Chris wieder auf Tour gehen, irgendwann konnte sie nicht mehr hier bei Liam unterkommen, der hatte schliesslich auch ein eigenes Leben, ging es ihr durch den Kopf und dann kam der schlimmste Gedanke von allen: Was, wenn sie Chris nicht so schnell entlassen würde, wenn er längere Zeit ins Gefängnis müsste, dann wäre sie automatisch plötzlich ziemlich viel allein, nicht erst bei der nächsten Tour. Nina wurde zuerst heiss dann kalt, er bildete sich kalter Schweiss auf ihrer Stirn und sie hatte das Gefühl, dass sie keine Luft mehr bekam. Was war los? Ihr wurde schwindlig und ihre Atmung wurde immer flacher, es war nicht der Schmerz an den Rippen, sondern etwa, was ihr den Hals zuschnürte. Sie krallte sich an der Küchenzeile fest um nicht um zu kippen. Sie wusste nicht genau wie lange sie dort stand und nach Luft rang, als Liams Bürotür auf ging und ihr Bruder in die Küche kam.
«Nina, was ist denn?» sie konnte nicht antworten. «Nina, schau mich an! Gut, und jetzt atme langsam ein und aus, ich bin da, es ist alles in Ordnung.» er legte seinen Arm um sie und schob sie ins Gästezimmer, wo er sie aufs Bett legte. Nina zitterte noch immer, doch das enge Gefühl in der Brust liess nach.
«Versuch ruhig zu atmen, dir passiert nichts.» als sie sich einigermassen beruhigt hatte, verschwand er kurz und kam mit einem Glas Wasser zurück. Einige Minuten später war Nina wieder einigermassen bei sich und Liam sagte, «geht’s wieder?» Nina nickte, «Nina, das war eine Panikattacke.»
«ich habe mich da nur reingesteigert, es geht schon wieder. Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen und… ach keine Ahnung, ich habe einfach Angst Liam. Ich habe Angst.. vor allem.» er zog eine Augenbraue nach oben, sagte zuerst aber nichts.
«Ich werde nochmals versuchen zu Schlafen.» murmelte sie.
«Ich bin eigentlich kein Fan davon, aber in deiner Situation denke ich e wäre sinnvoll, wenn du ein Beruhigungsmittel nehmen würdest, einfach damit dein Körper ein paar Stunden abschalten kann, was meinst du?» Nina nickte und nahm die weisse Pille, welche ihr Bruder kurz danach gab. Es dauerte nicht lange und diese zeigte Wirkung.
POV Chris
Immerhin ein Teil dieses riesigen Knotens in diesem gottverdammten Chaos, welches im Moment in seinem Leben herrschte, war gelöst. Noch heute Morgen früh wurde ein psychologisches Gutachten von ihm gemacht, ein echtes, das andere hatte die Polizei als Fälschung erkennen können. Somit stand fest, dass Chris weder Schizophren war noch sonst ein potentielles Risiko für seine Mitmenschen oder seinen Sohn darstellte. Ausserdem war Jessys Aussage als Gegenstandlos eingestuft worden, nachdem die IT Abteilung der Polizei die Handydaten von Nina ausgewertet hatten und bestätigten, das nicht Nina das Handy entsperrt hatte und der Chatverlauf sich dementsprechend als gefälscht herauskristallisierte. Mit der Aussage von Nina, Liam und Gerrit hatten sich alle Vorwürfe gegen ihn erübrigt, Jessy galt als nicht zurechnungsfähig, Mike im Gegenzug sass tief in der Scheisse und die Vorwürfe gegen ihn erhärteten sich immer mehr.
Da Chris zu Jessys Todeszeitpunkt ein Alibi hatte, wurde er auch damit nicht in Verbindung gebracht. Bei Mike sah das auch das anders aus. Chris war tief in Gedanken versunken, als die Tür auf ging und Herr Kuhnert wieder ins Zimmer trat, in welchem Chris vorher noch ein letztes Mal befragt worden war.
«Andreas, was gibt’s?» das Gesicht des Anwaltes hellte sich etwas auf, als er Chris eine Mappe vor die Nase hielt, «hier sind deine Entlassungspapiere, endlich! Ausserdem habe ich das Handy von Nina da, die Beweisaufnahme ist abgeschlossen.»
«Also kann ich gehen?» fragte Chris ungläubig,
«ich bin verpflichtet, diese Formulare noch kurz mit dir durchzugehen, danach bist du ein freier Mann.»
Chris Gesicht beschlich ein Lächeln, es lag noch viel vor ihm, aber immerhin war dieser Albtraum hier erstmal vorbei. Der Anwalt ging mit ihm jeden Punkt durch, er durfte das Land nicht verlassen, bis alle Ermittlungen abgeschlossen waren und musste für die Polizei für weitere Fragen zur Verfügung stehen, blablabla. Er unterschrieb alles, danach mussten sie noch eine Weile warten, bis endlich alles erledigt war und er seine Persönlichen Sachen zurückbekam und sie endlich gehen konnten. Chris lehnte sich das Handy von Andreas Kuhnert aus, um Liam Bescheid zu geben, dass er auf dem Weg zu ihm und Nina war und dann verabschiedete er sich von seinem Anwalt, natürlich nicht, ohne sich noch einmal zu bedanken.
Chris fühlte sich, als hätte er einen Tonnenschweren Rucksack nach langer Reise endlich ausgezogen. Er beschloss den Weg zu Liams Wohnung zu Fuss zurückzulegen, irgendwie hatte er einen Bewegungsbedarf, nach den letzten zwei Tagen. Als er zwanzig Minuten später klingelte, freute er sich darauf, Nina endlich wieder in die Arme zu nehmen und danach Timo bei seinen Eltern abzuholen. Liam drückte den Türöffner und Chris eilte die Treppe hoch.
«Hey Chris, schön dich zu sehen.» begrüsste Ninas Bruder ihn, «du glaubst nicht, wie froh ich bin, wieder hier draussen zu sein. Wie geht’s Nina, wo ist sie?»
«sie schläft.» sagte Liam und blickte zu Boden.
«was?» fragte Chris ungeduldig, irgendetwas lag hier schon wieder im Argen!
«Chris, lass uns hinsetzen und reden.»
Chris Herz setzte einen Schlag aus, als er Liam ins Wohnzimmer folgte und sich neben ihn hinsetzte, Lima kam gleich zur Sache, «Nina geht’s beschissen. Gestern Abend hatte sie einen Zusammenbruch und heute Vormittag eine Panikattake. Sie hat Angst, Angst allein zu sein, Angst vor der Situation mit Timo, sie glaubt, dass sie es nicht schafft. Ausserdem kann sie kaum schlafen und das gibt sie zwar nicht zu, aber ich glaube die Schmerzen ihrer Verletzungen sind schlimmer als sie zugibt.»
Chris vergrub seinen Kopf in seine Hände. Er wusste doch selbst nicht, was er jetzt tun sollte, er wusste, dass er sich jetzt eigentlich in erster Linie um Timo kümmern musste, doch Nina brauchte ihn wohl auch, schliesslich ist sie nur durch ihn überhaupt in diese Situation geraten. «Fuck!» rief er aus und klopfte mit flacher Hand auf den Tisch. «Was soll ich denn tun?» fragte er fast kleinlaut und erntete einen ratlosen Blick von Liam,
«ich bin genauso planlos wie du. Wir können nicht mehr tun als für sie da sein, aber langsam bin ich auch am Ende von meinem Latein. Ich habe ihr… ich habe ihr heute Morgen ein relativ starkes Schlafmittel gegeben, ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, sie muss irgendwie mal ein bisschen runterkommen.»
Chris nickte und es herrschte einen Moment Stille, welche Liam wieder durchbrach, «hast du was Neues? Wegen Jessy und Mike?»
Chris erzählte ihm, dass sein Anwalt herausbekommen hatte, dass Mike immer mehr ins Kreuzfeuer der Ermittler rückte und was er bis jetzt wusste. «Somit wäre das Problem Mike erstmal gelöst.» sagte Liam und Chris nickte, «immerhin etwas. Ich hatte geplant, Nina hier abzuholen und dann mit ihr zusammen zu meinen Eltern zu fahren und Timo zu uns zu holen, aber nach dem, was du mir erzählt hast, glaube ich nicht, dass die Idee so gut ist.» Chris begann seine Schläfen zu massieren, sein Kopf fühlte sich an, als würde er explodieren.
«Du solltest zu deinem Sohn, aber nicht mit Nina. Wenn er sie so sieht, wird das noch traumatischer für ihn. Wir sollten versuchen, sie davon zu überzeugen, dass sie noch ein paar Tage hier bleibt, bei mir und zu dir und Timo kommt, wenn sie sich bereit fühlt. So kannst du und Timo die Sache mit Jessy etwas verarbeiten und Nina ruht sich hier aus, ich bin ja da. Was meinst du?»
Chris nickte stumm. Das tönte vernünftig, allerdings auch nicht ganz richtig, «ich möchte nicht, dass sich Nina abgeschoben fühlt. Ausserdem, was ist mit dir Liam? Wir ziehen dich da einfach ungefragt in einen verdammt tiefen Schlammassel hinein.»
«Nina wird er verstehen, sie ist nicht dumm sie weiss selbst, dass sie im Moment keine Hilfe für Timo ist. Und was mich angeht, ich bin schon so tief mit drin, spielt das echt noch eine Rolle? Ausserdem: Nina ist meine Zwillingsschwester, ich würde alles für die tun und weiss, dass sie dasselbe für mich tun würde. Das war immer so. Ich denke übrigens, dass sie eben aufgewacht ist.» Chris blickte ihn verwundert an, «ich habe nichts gehört.»
«Ich auch nicht, nur so ein Gefühl, wie gesagt, Zwillingsschwester, ich weiss meistens mehr als mir oder ihr lieb ist.» Liam grinste und Chris ging zu Nina ins Gästezimmer, sie war tatsächlich wach.