Meine treueste Freundin
von SandroAla
Kurzbeschreibung
Die Erinnerung an eine Kindheit, die dem Erzähler bis in die Gegenwart wie ein Klotz am Bein hängt und jeden seiner Schritte nach vorne zu einem psychischen Kraftakt macht.
KurzgeschichteAngst, Schmerz/Trost / P18 / Gen
27.05.2023
27.05.2023
1
1.049
1
27.05.2023
1.049
„Hey, du siehst gar nicht gut aus“, stellt sie besorgt fest und setzt sich zu mir auf das Sofa. Sie weiß, dass ich leide, sieht die Narben, spürt den Kummer. Sie kennt mich. Sie kennt meine Sprachlosigkeit. Meine Ohnmacht und meinen Zweifel.
Mein Blick ist traurig. Was soll ich ihr erzählen, was sie ohnehin nicht schon von mir weiß? Ich kenne sie schon viele Jahrzehnte, mein Haupt ist schon ergraut. Ich habe keine Geheimnisse vor ihr. Sie begleitet mich stets auf meinen Pfaden und auch auf meinen Irrwegen.
„Möchtest du deine Gefühle laut in Worte fassen? Vielleicht hilft es dir, wenn sie gehört werden?“, fragt meine Freundin einfühlsam, liebevoll. „Ich bleibe bei dir, du bist nicht allein.“ Sie setzt sich auf meinen Schoß und umarmt mich zärtlich. Ich fühle und rieche ihren warmen Atem, spüre die Wärme ihres Körpers, fühle Geborgenheit. Ich blicke sie an und beginne ruhig zu erzählen. Sie kennt die Erzählung schon, hört jedoch wie immer interessiert zu.
„Weißt du, man muss es nicht mögen. Ich mag es tatsächlich nicht, und werde es auch nie tun. Bin ich deswegen der Normale oder der Irrgeleitete? Bin ich Opfer oder Täter? Richtig oder falsch? Unschuld, Schuld? So viele Fragen und keine Antworten. Der Kopf ist leer und doch so voll. Mir ist übel, aber ich funktioniere noch. Ich liege in meinem Zimmer, im Bett und fliege davon. Verlasse den Raum, fliehe vor den bösen Schatten.
Ich erwache auf einer bunten Sommerwiese, die vom Wind sanft berührt wird. Hand in Hand, ich neben mir. Man vermag die grenzenlose Freiheit des wolkenlosen Himmels als Trost zu empfinden. Die Sonne ist mein Anker, hält mich im Licht. Bitte bleib bei mir, verlass‘ mich nicht! Meine Augen sind offen, die Pupillen geschlossen. Das Tor zur Seele ist versperrt, der Schlüssel entsorgt. Ich bin weg, nicht hier. In den Tiefen meines jähen Kummers vergraben.“
Meine Freundin spürt, dass ich einen Kampf austrage und hält meine Hand. Fest und doch zärtlich. Wir legen uns auf das Sofa. Ich schließe die Augen, sie legt ihren Kopf in meine Halsbeuge und inhaliert meinen Geruch. Ich mag es, wenn sie das tut. Das ist so intim, so liebevoll. Ich spreche weiter.
„Die Kirche läutet in der Ferne zum Abendgebet. Wird meine Männlichkeit schon zu Beginn der Pubertät zu Grabe getragen, im Keim erstickt? Der Verstand, der mich noch zärtlich und vertraut an meiner Hand begleitet, mustert meinen Körper. Ich bin nackt, schwach und wehrlos. Eine Opfergabe am Altar des Lebens. Mein Verstand wendet beschämt den Blick ab, kann es nicht ertragen, kann es nicht verstehen. Er lässt meine Hand los, kehrt mir den Rücken und lässt mich allein zurück.
Es ist Herbst, Dünger wird ausgeführt. Es riecht nach Kot, scharf und ekelhaft. So wie auch mein Peiniger stinkt. Jede Kreatur riecht wie sein Zuhause. Ich bewege mich nicht, erstarre. Der Rücken schmerzt, Dung spritzt auf mich. Mir graust vor der Wärme, dem Quell für neues Leben.
Ich suche die Sonne, sehne mich danach, von ihr geblendet zu werden. Ich blicke um mich, der Horizont ist weit weg. Mein Verstand ist schon dort, ich sehe ihn davoneilen. Der Wind entwickelt sich zu einem Sturm. Große Last drückt auf meinen Rücken, meine Schultern schmerzen. Ich falle, liege auf dem Bauch. Mein Gesicht wird brutal auf den Boden gedrückt. Schlamm und Moder füllen den Mund aus, ich würge. Ich kann nicht atmen, nicht schreien. Die Sinne schwinden, Finsternis. Sie erdrückt mich, frisst mich auf.“
Ich beginne zu weinen. Meine Freundin kuschelt sich näher an mich, küsst meine Wange. Lässt mich fühlen, dass sie da ist. Schenkt mir Aufmerksamkeit und Nähe.
„Zikaden zirpen, erfreuen sich an meiner Schande. Ein toter Fisch treibt an mir vorüber. Seine trüben Augen glotzen mich an, starren durch mich hindurch! Durch meine gläserne Verletzlichkeit. Wo ein Fisch schwimmt, ist auch Wasser. Ich will mich waschen, den Dung von meinem Rücken schrubben, meine Hautschuppen entfernen. Rein sein. Wie vor dem Ausflug auf die Sommerwiese. Wie am Morgen. Unschuldig, jungfräulich. Zikaden, seid leise! Bitte!
Hat der Kerl nicht verstanden, dass ich das nicht will? Habe ich es provoziert? Wie groß ist meine Schuld? Blut rinnt aus meinem Anus. Ich weine. Das Ungeheuer stapft befriedigt nach Hause, sein Dung ist aufgebraucht. Seine Arbeit ist getan, es ist vollbracht.
Ich bleibe beschmutzt auf der Wiese liegen. Der Wind verebbt. Die Zikaden suchen das Weite, ich übergebe mich. Das Schuppentier verschwindet zappelnd. Der Fisch und mein Erbrochenes passen nicht gemeinsam auf das Kissen. Ich liege wieder im Bett, nackt, wehrlos und gebrochen. Eine missbrauchte und gedemütigte Hülle. Es ekelt mich.“
Ich kämpfe, es quält mich. Vieles was ich verdrängt hatte, kommt jetzt aus den Untiefen meiner Seele hervor. War das Pflaster der Zeit so groß, dass ich vieles vergessen hatte? Hat es die Wunden überdeckt? Ich zittere am ganzen Körper und spreche leise weiter. Meine Freundin konzentriert sich auf mich, um zu hören und um zu fühlen. Sie ist bei mir, spürt meine Verzweiflung.
„Niemand sieht mich, alle sehen weg! Es ist finster. Ich atme leise, fast nicht, ersticke am Elend. Ich habe Angst! Bin so unendlich allein, doch niemand soll mich sehen. Nie mehr! Ich bleibe in Deckung, genug Dung für heute. Ich drehe mich auf den Rücken, schütze mein After. Der ekelhafte Ausfluss ist schmierig in meinen Gesäß. Ich möchte den Darm entleeren.
Der Vorhang fällt, das Schauspiel ist zu Ende. Der Applaus ist verebbt, die Zuseher verlassen zufrieden das Theater. Die Stille klagt an, die Scheinwerfer feiern Abend. Die Scham ist groß, ich friere. Der Verstand gesellt sich wieder zu mir, legt seine Hand auf meine Schulter. Zeigt mir, dass er wieder bei mir ist, dass er wieder nach Hause kommen möchte. Ich lasse es zu. Wir entzünden auf der finsteren Bühne gemeinsam ein Streichholz und hoffen, dass uns die kleine Flamme wärmt. Im flackernden Licht vereinen wir uns wieder und versuchen, ein klein wenig Frieden für unsere Seele zu finden. Meine Narben werden jedoch bleiben, sie machen mich zu dem, was ich bin: Ein verletzter Mensch.“
Meine Freundin und ich liegen noch immer auf der Couch. Ich bin so traurig, die Gefühle übermannen mich. Ich weine wie damals. Sie bleibt bei mir liegen, ist für mich da, tröstet mich. Sie bleibt für immer jung, gehört für immer zu mir. Meine treueste Freundin. Sie, meine Erinnerung.
Mein Blick ist traurig. Was soll ich ihr erzählen, was sie ohnehin nicht schon von mir weiß? Ich kenne sie schon viele Jahrzehnte, mein Haupt ist schon ergraut. Ich habe keine Geheimnisse vor ihr. Sie begleitet mich stets auf meinen Pfaden und auch auf meinen Irrwegen.
„Möchtest du deine Gefühle laut in Worte fassen? Vielleicht hilft es dir, wenn sie gehört werden?“, fragt meine Freundin einfühlsam, liebevoll. „Ich bleibe bei dir, du bist nicht allein.“ Sie setzt sich auf meinen Schoß und umarmt mich zärtlich. Ich fühle und rieche ihren warmen Atem, spüre die Wärme ihres Körpers, fühle Geborgenheit. Ich blicke sie an und beginne ruhig zu erzählen. Sie kennt die Erzählung schon, hört jedoch wie immer interessiert zu.
„Weißt du, man muss es nicht mögen. Ich mag es tatsächlich nicht, und werde es auch nie tun. Bin ich deswegen der Normale oder der Irrgeleitete? Bin ich Opfer oder Täter? Richtig oder falsch? Unschuld, Schuld? So viele Fragen und keine Antworten. Der Kopf ist leer und doch so voll. Mir ist übel, aber ich funktioniere noch. Ich liege in meinem Zimmer, im Bett und fliege davon. Verlasse den Raum, fliehe vor den bösen Schatten.
Ich erwache auf einer bunten Sommerwiese, die vom Wind sanft berührt wird. Hand in Hand, ich neben mir. Man vermag die grenzenlose Freiheit des wolkenlosen Himmels als Trost zu empfinden. Die Sonne ist mein Anker, hält mich im Licht. Bitte bleib bei mir, verlass‘ mich nicht! Meine Augen sind offen, die Pupillen geschlossen. Das Tor zur Seele ist versperrt, der Schlüssel entsorgt. Ich bin weg, nicht hier. In den Tiefen meines jähen Kummers vergraben.“
Meine Freundin spürt, dass ich einen Kampf austrage und hält meine Hand. Fest und doch zärtlich. Wir legen uns auf das Sofa. Ich schließe die Augen, sie legt ihren Kopf in meine Halsbeuge und inhaliert meinen Geruch. Ich mag es, wenn sie das tut. Das ist so intim, so liebevoll. Ich spreche weiter.
„Die Kirche läutet in der Ferne zum Abendgebet. Wird meine Männlichkeit schon zu Beginn der Pubertät zu Grabe getragen, im Keim erstickt? Der Verstand, der mich noch zärtlich und vertraut an meiner Hand begleitet, mustert meinen Körper. Ich bin nackt, schwach und wehrlos. Eine Opfergabe am Altar des Lebens. Mein Verstand wendet beschämt den Blick ab, kann es nicht ertragen, kann es nicht verstehen. Er lässt meine Hand los, kehrt mir den Rücken und lässt mich allein zurück.
Es ist Herbst, Dünger wird ausgeführt. Es riecht nach Kot, scharf und ekelhaft. So wie auch mein Peiniger stinkt. Jede Kreatur riecht wie sein Zuhause. Ich bewege mich nicht, erstarre. Der Rücken schmerzt, Dung spritzt auf mich. Mir graust vor der Wärme, dem Quell für neues Leben.
Ich suche die Sonne, sehne mich danach, von ihr geblendet zu werden. Ich blicke um mich, der Horizont ist weit weg. Mein Verstand ist schon dort, ich sehe ihn davoneilen. Der Wind entwickelt sich zu einem Sturm. Große Last drückt auf meinen Rücken, meine Schultern schmerzen. Ich falle, liege auf dem Bauch. Mein Gesicht wird brutal auf den Boden gedrückt. Schlamm und Moder füllen den Mund aus, ich würge. Ich kann nicht atmen, nicht schreien. Die Sinne schwinden, Finsternis. Sie erdrückt mich, frisst mich auf.“
Ich beginne zu weinen. Meine Freundin kuschelt sich näher an mich, küsst meine Wange. Lässt mich fühlen, dass sie da ist. Schenkt mir Aufmerksamkeit und Nähe.
„Zikaden zirpen, erfreuen sich an meiner Schande. Ein toter Fisch treibt an mir vorüber. Seine trüben Augen glotzen mich an, starren durch mich hindurch! Durch meine gläserne Verletzlichkeit. Wo ein Fisch schwimmt, ist auch Wasser. Ich will mich waschen, den Dung von meinem Rücken schrubben, meine Hautschuppen entfernen. Rein sein. Wie vor dem Ausflug auf die Sommerwiese. Wie am Morgen. Unschuldig, jungfräulich. Zikaden, seid leise! Bitte!
Hat der Kerl nicht verstanden, dass ich das nicht will? Habe ich es provoziert? Wie groß ist meine Schuld? Blut rinnt aus meinem Anus. Ich weine. Das Ungeheuer stapft befriedigt nach Hause, sein Dung ist aufgebraucht. Seine Arbeit ist getan, es ist vollbracht.
Ich bleibe beschmutzt auf der Wiese liegen. Der Wind verebbt. Die Zikaden suchen das Weite, ich übergebe mich. Das Schuppentier verschwindet zappelnd. Der Fisch und mein Erbrochenes passen nicht gemeinsam auf das Kissen. Ich liege wieder im Bett, nackt, wehrlos und gebrochen. Eine missbrauchte und gedemütigte Hülle. Es ekelt mich.“
Ich kämpfe, es quält mich. Vieles was ich verdrängt hatte, kommt jetzt aus den Untiefen meiner Seele hervor. War das Pflaster der Zeit so groß, dass ich vieles vergessen hatte? Hat es die Wunden überdeckt? Ich zittere am ganzen Körper und spreche leise weiter. Meine Freundin konzentriert sich auf mich, um zu hören und um zu fühlen. Sie ist bei mir, spürt meine Verzweiflung.
„Niemand sieht mich, alle sehen weg! Es ist finster. Ich atme leise, fast nicht, ersticke am Elend. Ich habe Angst! Bin so unendlich allein, doch niemand soll mich sehen. Nie mehr! Ich bleibe in Deckung, genug Dung für heute. Ich drehe mich auf den Rücken, schütze mein After. Der ekelhafte Ausfluss ist schmierig in meinen Gesäß. Ich möchte den Darm entleeren.
Der Vorhang fällt, das Schauspiel ist zu Ende. Der Applaus ist verebbt, die Zuseher verlassen zufrieden das Theater. Die Stille klagt an, die Scheinwerfer feiern Abend. Die Scham ist groß, ich friere. Der Verstand gesellt sich wieder zu mir, legt seine Hand auf meine Schulter. Zeigt mir, dass er wieder bei mir ist, dass er wieder nach Hause kommen möchte. Ich lasse es zu. Wir entzünden auf der finsteren Bühne gemeinsam ein Streichholz und hoffen, dass uns die kleine Flamme wärmt. Im flackernden Licht vereinen wir uns wieder und versuchen, ein klein wenig Frieden für unsere Seele zu finden. Meine Narben werden jedoch bleiben, sie machen mich zu dem, was ich bin: Ein verletzter Mensch.“
Meine Freundin und ich liegen noch immer auf der Couch. Ich bin so traurig, die Gefühle übermannen mich. Ich weine wie damals. Sie bleibt bei mir liegen, ist für mich da, tröstet mich. Sie bleibt für immer jung, gehört für immer zu mir. Meine treueste Freundin. Sie, meine Erinnerung.