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Anton

von SandroAla
Kurzbeschreibung
KurzgeschichteAllgemein / P12 / Gen
26.05.2023
26.05.2023
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Anton

„Der Nächste bitte!“ ruft die Beamte durch eine kleine Luke, versteckt hinter einer großen Glasscheibe. Die Haare hat sie zum Dutt hochgesteckt, ihre Falten im Gesicht unter einer dicken Schicht Makeup versteckt. Den Höcker auf der viel zu großen Nase sieht man trotzdem. Tja, manche haben halt Pech. Anton grinst.

Die Menschenschlange macht einen Schritt vorwärts. Schweigend. Wie eine Armee im Gleichschritt, in dicke Mäntel eingepackt. Hauptsächlich gekrümmte, vom Leben gezeichnete Kreaturen. Wohl wissend, dass das Alter kein Verdienst, sondern lediglich eine Erscheinung ist. Zwischendrin auch ein paar junge Leute. Die Alten stumm und wissend, und die Jungen neugierig um sich blickend. Niemand will hier sein, freiwillig wohl die wenigsten.

Anton versteckt sich tiefer hinter seinem hochgeschlagenen Mantelkragen, den er mit seiner rechten Faust zusammenzieht. Seine Arthritis schmerzt und er friert! Nur seine Nasenspitze ragt heraus, ein schwarzer Fischerhut aus Filz verdeckt sein schütteres graues Haar. Die Haut aschfahl, der Zahn der Zeit hat immerhin dreiundachtzig Jahre lang an ihm genagt.

„Der Nächste bitte!“. Vor Anton sind nur noch zwei Mäntel, er grübelt. Warum ist der Nächste meist der Erste in einer Reihe? Und steht der dem anderen dann auch nahe? Ist in dieser Reihe überhaupt wer wem am nächsten, oder jeder nur sich selbst? Er spricht seine wirren Gedanken aber schon lange nicht mehr aus, weil sie keiner ernst nimmt. Nur der Arzt, der ihm immer die Tabletten verschrieben hat. Natürlich gegen Bezahlung, schließlich muss auch ein Primar von was leben. Die Menschen haben immer gesagt, dass Anton verrückt ist und die Kinder im Dorf haben sich vor ihm gefürchtet.

Anton schüttelt die Gedanken ab. Er schaut auf seine Füße. Noch immer hat er seine Filzpantoffel an, hätte er Stiefel anziehen sollen? Aber er hatte ohnehin keine Zeit mehr gehabt. Mit der Zeitung war er auch noch nicht durch, sein morgendliches Ritual. Das Frühstück im Altersheim war jedoch gut gewesen. Er ist wie immer in der Mitte des Speisesaals allein am Tisch gesessen und hatte ein Stück Brot mit Butter und Honig, dazu ein Glas warme Milch.

Wie früher, als er noch ein kleiner Bub war, nach dem großen Krieg. Am Vigiljoch, am Hof von Onkel Ferdinand. Der war ein strenger Mann. „Ois für‘n Führer“, hat er immer gesagt und er war auch immer für eine Tracht Prügel gut. Meistens dann, wenn er beim Wirt im Dorf zu viel getrunken hatte. Aber er wusste auch so immer einen Grund. Obwohl Anton sich immer bemüht hatte, alles richtig zu machen. „Des wird den Bastard schu ned umbringan, mocht eam nua härta“, hat er zu Tante Luisi immer gesagt, wenn sie sich schützend vor Anton gestellt hat. „Lass den Bua in Ruah! Du grober Laggl, du grober! Ned amoi mit deine Krompm im Stoi geahst so um!“ Oft hat sie dann auch eine Watschn vom Ferdinand bekommen. „Judenbagasch“ hat er dann immer gebrüllt.

Luisi hat Anton immer ganz fest an sich gedrückt. Er hat heute noch manchmal den Geruch in der Nase. Von der Wollweste. Nach Kuhstall und Urin irgendwie. Aber er hat sich auch geborgen gefühlt, mochte diese Nähe. Seine Eltern waren kurz zuvor im Krieg gestorben, und so war er das Mündel vom Ferdinand geworden. Der hat nie Nähe zugelassen, war nur in der Stube oder im Stall. Oder mit der Magd auf der Alm, wo noch keine Touristen waren. In den Lärchenwäldern und an der schwarzen Lacke, am Jocher See hat sie ihm Nähe gegeben. Die Luisi hat es geahnt und nie was gesagt. Sie hat sich immer geekelt und seine Nähe nicht ertragen, wenn er sie berührt hat oder wenn sie ihre eheliche Pflicht erfüllen hat müssen.

Bis es Anton zu viel geworden ist. Sein Vormund war der Heugabel viel zu nahe gekommen und das Bild vom Führer war dann auch weg. „A saubleda Unfoi, des mit‘n Ferdl“, hat der Gendarm damals beim Wirt erzählt, während er einen Schnaps auf den Ferdinand getrunken hat. Vielleicht hat er eh die Wahrheit gewusst. Die Luisi hat nach dem Vorfall jeden Abend in der alten Kirche „St. Vigilius am Joch“ um Antons Seelenheil gebetet. Sie ist leider auch viel zu früh gestorben, Gott hab sie selig.

„Der Nächste bitte!  Richten Sie die Papiere her, damit es bisschen schneller geht. Wir wollen ja alle drankommen.“ Die mahnenden Worte vom geschminkten Dutt reißen Anton aus den Gedanken. Hat er alles beisammen? Er will nicht der sein, der die Reihe aufhält. Er kramt in seiner linken Manteltasche. Holt einen weißen Zettel heraus. Jeder in der Reihe hat so einen Brief bekommen.

Er dreht sich um. „Eisig is.“

Der Angesprochene erwidert auf Plattdeutsch. „Dat Wachten maakt dat ok nich beter.“

Anton bestätigt mit einem Nicken. „Ja, an Hocker Leit.“ Er dreht sich wieder um und schaut nach vorne zur Krähe. Gott, ein Piefke! Er macht ein Schritt zur Seite.

„Na, wir bleiben alle schön in der Reihe. Nicht drängeln, jeder kommt dran“, blafft die Schalterbeamte Anton an. „Der Nächste bitte!“

„Funz‘n“, sagt ein anderer Mann laut hinter Anton.

Anton muss lachen. So eine hätte er zu Hause nicht ertragen! Sowieso keine, er war sein Lebtag immer allein gewesen. Er hat auch keine Kinder, denn er konnte gar keine machen. Das haben die Ärzte ihm gesagt. Irgendwas ist mit seine Spermien, er hat es nie richtig verstanden. Darum hat er auch nie richtig Nähe zu einer Frau gefunden. Die Luisi war die einzige gewesen.

„Der Nächste bitte!“

Anton ist an der Reihe.

„Name?“

„Anton, Gruberbauer Anton“

„Kommen‘s näher. Dann brauch ich nicht so zu schreien.“

„‘Tschuldigung.“

Sie blickt Anton herablassend an. „Ihr seid alle gleich! Immer die große Klappe, und wenn ihr dann vor mir steht, könnt ihr nicht mal „muh“ sagen.“

Anton ist geneigt „muh“ zu sagen, aber er verkneift es sich. Die Bissgurn hat den Ferdl wohl nie kennen gelernt. Der hätte ihr gezeigt, wo der Bartl den Most her holt!

„Und?“

„Und … wos?“ will er wissen.

Sie schnaubt verächtlich. „Todesursache?“

„Herzpotsch‘n.“ Anton hat es sofort gewusst, beim letzten Bissen Brot. Zuerst hat er noch geglaubt, dass die Milch schlecht war, weil ihm übel geworden ist. Aber beim letzten Blick, als der Teller auf sein Gesicht zugerast war, wusste er, was geschlagen hat: Seine letzte Stund‘!

„Zeitpunkt?“ Sie schaut genervt auf ihre Armbanduhr. Der Feierabend naht!

„Geg‘n Ochte, z‘morget.“

„Aha.“ Die Beamte versteht kein Wort. Sie stempelt genervt den Zettel ab und deutet mit dem Kopf zum Eingangstor. „Der Nächste bitte!“

Anton blickt noch einmal zur Menschenschlange zurück und geht durch das Tor. Ein Bauer begrüßt ihn. „Grias di, Anton! Wo hatscht hin?“

Anton lächelt den Alten an und steht da, mit nichts als nur einem Mantel. Wie nach dem Krieg, am ersten Tag bei der Luisi. Er riecht den Gestank von Kuhstall und Urin. „Do ochi, zum Marterle!“ Er dreht sich um und geht Richtung Lärchenwald, zum See. Anton fühlt sich wohl, er ist mit sich im Reinen.

“Pfiat di, oltr Zoch!“
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