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Das Genie

von SandroAla
Kurzbeschreibung
KurzgeschichteHumor / P12 / Gen
25.05.2023
25.05.2023
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„Hallo ... auch zur Prüfung hier?"

Mario musterte die junge Frau. Hübsch, aber scheinbar dämlich. Was glaubte sie, warum er sich hier am Schalter anstellte? „Ja, klar", gab er zur Antwort. „Und du, was machst du hier?"

„Ich muss die Anmeldungen aufnehmen und euch einweisen. Gibst du mir deinen Studienausweis?" Er reichte ihr die Karte über den Tisch. „D'Alagno ... bist du Italiener? Mit deinen blonden Locken schaust du aber nicht so aus."

Mario runzelte die Stirn. Mann oh Mann, ist die anstrengend! „Nein, mein Vater. Und selbst?"

Sie ignorierte seine Frage und reichte ihm eine Mappe. „Hier sind die Skripten. Der erste Teil der Prüfung ist in ein paar Minuten im Klassenzimmer der 3a. Gerade aus und das vierte Zimmer auf der linken Seite. Viel Glück!"

Er nickte. Als ob er Glück brauchte! Mit der Mappe unterm Arm machte er sich auf den Weg in das Klassenzimmer. Als er den Raum betrat, waren ab der zweiten Reihe schon alle Plätze besetzt. Daher nahm er genau vor dem Lehrertisch Platz. Es war ihm egal als Streber angesehen zu werden.

Ein älterer, dicker Mann betrat festen Schrittes den Raum und ließ hinter sich die Tür ins Schloss fallen. Das nervöse Geplapper der Studenten nahm ein jähes Ende. Sein strenger Blick schweifte durch das Zimmer. „Guten Morgen", sagte er mit brummender Stimme und rieb sich sein Doppelkinn. Seine Aktentasche legte er geräuschvoll auf den Lehrertisch und setzte sich auf den knarrenden Sessel dahinter. „Mein Name ist Magister Saller. Ich hoffe, Sie sind vorbereitet". Er lockerte seine Krawatte und öffnete den obersten Knopf des Hemdes.

„Dieser Teil der Prüfung soll Ihre Kreativität zeigen und auch, ob Sie die Grundtechniken des Schreibens beherrschen. Auf Blatt eins der Skripten finden Sie zwölf Wörter, mit denen Sie einen Text verfassen müssen. Es kann eine Kurzgeschichte, ein Gedicht oder ein Essay sein. Sie kennen die Unterschiede?" Die Studenten nickten. „Okay, bevor wir die Wörter durchgehen, noch ein Tipp von mir: Lassen Sie die Wörter auf sich wirken. Welche Bilder entstehen? Schreiben Sie Ihre ersten Gedanken auf, verwenden Sie anschließend die Cluster-Methode ... lassen Sie sich von Ihrer Intuition leiten. Sie müssen alle zwölf Wörter im Text unterbringen ... Zeichenanzahl maximal fünftausend."

„Das soll die ganze Aufgabe sein? Ein Text mit diesen zwölf Wörtern? Ist ja easy!" Mario blickte hämisch um sich, in der Hoffnung, die Lacher auf seiner Seite zu haben. Sein Wunsch wurde jedoch mit Kopfschütteln quittiert. Solche Streber!

„Na, dann werden Sie ja kein Problem haben, Sie Genie! Ich freue mich schon auf Ihren Text ... wehe er passt mir nicht!", blaffte der Lehrer Mario an. „Ich rate Ihnen, die Aufgabe nicht auf die leichte Schulter zu nehmen". Er strafte Mario nochmals mit einem bösen Blick. „Also, gehen wir die Wörter durch: Flaschenhals – klackern – Rosshaar – Honigbrot – Lichteinfall – Tannengrün – Katzenmusik – Wasserspiegel – schnarren – Buckeln – sichelförmig und Bugwelle", las der Lehrer langsam und deutlich vor. „In den Mappen finden Sie ausreichend Papier. Stifte sollten Sie selbst mithaben. Sie dürfen nun beginnen, Zeit: zwei Stunden." Er sah auf die Uhr, es war ein paar Minuten nach neun.

Ja, ja Alter ... so ein Schwachsinn! Mario nahm ein leeres Blatt aus der Mappe und begann zu schreiben:

"Ich sitze an Deck der Jacht meines verstorbenen Vaters und betrachte den Lichteinfall auf dem Wasserspiegel des Gardasees. Die Bugwelle zeichnet immer größer werdende Kreise in den See. Ich genieße diesen Luxus. Für was soll ich denn mein Leben lang buckeln, wenn ich mir mit dem Familienerbe das hier alles leisten kann? Meine Füße liegen auf dem mit echten Rosshaar gefüllten Kissen, nur das hässliche Tannengrün des Bezugs war Stiefmutters' Wunsch. Ihre Stöckelschuhe klackern am Holzdeck, als sie mir ein Honigbrot bringt. Das soll sie sich sonst wo hinstecken. Meine Hand verkrampft sich am Flaschenhals der Rotweinflasche. Es würde mir gefallen, diese Flasche auf ihrem Kopf zu zertrümmern! Wahrscheinlich würgt sie jetzt auch gleich wieder ihre Geige und strapaziert mit dieser Katzenmusik meine Nerven. Oh Gott, wie ich diese Frau mittlerweile hasse! Mein Vater – Gott hab' ihn Seelig - dessen sichelförmige Nase ich geerbt habe, hatte diese junge Tussi, warum auch immer, leider geheiratet. Liebe war da nie im Spiel! Aber ich höre noch heute seine schnarrende Stimme, mit der er mir immer was von Frauen, Liebe und Treue vorschwafelte. Alles nur leeres Geschwätz! Er war zeitlebens wie ein rolliger Kater herumgereist und hatte Mama und auch die anderen Häschen wie seine Unterwäsche ausgetauscht ... nur diese blöde Kuh leider nicht!"

Mario legte zufrieden den Stift zur Seite. Fertig in zwanzig Minuten, während andere noch mit geschlossenen Augen die Wörter wirken ließen. Diese Freaks! Er bemühte sich, nicht laut loszulachen. Er stand auf und legte mit einem Augenzwinkern seine Arbeit auf den Tisch des verdutzten Lehrers. „Das Genie wartet draußen", sagte er und verließ um halb Zehn den Raum.
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