Entblößt, so wie Gott ihn auf die Reise des Lebens geschickt hat, liegt er hier unter dem Laubbaum, gebettet auf sattgrünem Gras: Nackt und alleine. Seine Kleidung liegt fein und säuberlich gestapelt neben ihm in der Wiese. „Ordnung ist das halbe Leben!" wurde er schon als Kind mit Schlägen diszipliniert und gebrochen. Seine von Arthritis gezeichneten Beine hat er überkreuzt und die schlaffen Arme seitlich weggestreckt. Er wird sich am Rücken liegend wie ein beiseitegelegtes Kreuz dem Tod übergeben. Die verkrebste Nase liegt wie ein unförmiger Klumpen in seinem vom Leben gezeichneten Gesicht. Ein Blick tief in seine traurigen Augen lassen verborgene Geheimnisse erahnen, wie die unergründlichen Tiefen des Ozeans. Die Schambehaarung ist genauso grau wie seine strähnige, widerspenstige Frisur. Wie oft hat er sich im Leben für seine zu klein geratene Männlichkeit geschämt? Wie viel Kränkungen musste er deswegen ertragen? Sollen sie doch nun alle spotten!

Die alte Eiche spendet ihm auch heute wieder Trost. Erneut bezeugt sie seine Geschichten über Leben und Tod, Liebe und Hass, Hoffnung und Verzweiflung und bewahrt seine Erzählungen stets still und weise. In alle Himmelsrichtungen streckt sie ihre schützenden Äste, das leuchtende Grün der Blätter hebt sich vom Dunkel der narbigen Borke ab. Ein Herz ist in die Rinde eingeritzt, es bestätigt stark verwittert das Alter des Baumes.

Noch einmal wollte der Alte hier sein. Hier, wo er als junger Mann den ersten Kuss von seiner viel zu jung verstorbenen Frau bekommen hat. Ihre Gesichter näherten sich damals zaghaft, er blickte unsicher in ihre braunen Augen, auf ihre vollen Lippen und auf ihren leicht geöffneten Mund. Er schloss seine Augen und roch ihren warmen Atem. Sie berührten sich fast schüchtern, zärtlich und dennoch fordernd. Am Kiesweg hinter der Eiche spazierten sie danach Hand in Hand in den Sonnenuntergang, voller Träume und Illusionen. So unbeschwert, so unschuldig und auch so naiv. Die hellen Kieselsteine bedecken noch heute als Zeugen dieser jungen Unbeschwertheit den dunklen erdigen Weg.

Wie sehr er ihren Geruch und ihre Nähe vermisst, keine andere Frau konnte Ihr je das Wasser reichen. Sie war so krank und zerbrechlich, dennoch sein Fels in der Brandung. Otis Redding säuselt mit seiner unverkennbar gebrochenen Stimme ihren Song „... for your precious love ...". Ja, für ihn war seine Frau immer das kostbarste Wesen gewesen, sein Anker. Der Tod, diese grausame Bestie hat sie ihm genommen und ihre gemeinsame Zukunft wie eine Blatt Papier zerrissen. Eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel und kullert einer zerbrechlichen Glasperle gleich seine Wange hinunter.

Die Sommersonne steht im satten gelb einer Zitrone auf elf Uhr und wärmt seinen alten Körper. Es duftet nach Sommerblumen, die Natur erstrahlt in den buntesten Farben: grün, weiß, lila und gelb, soweit das Auge reicht. Wiesen-Salbei, Schafgarbe, Flockenblume und Hornklee zaubern eine üppige Landschaft, die am Horizont mit dem wolkenlosen Himmel verschwimmt. Claude Monet vermochte es nicht schöner zu malen. Vogelgezwitscher und das Zirpen von männlichen Zikaden beleben die Natur lautstark. Ein weißer Schmetterling flattert aufgeregt umher, unsicher in der Wahl der Richtung. Wissend, dass die Transformation von der Raupe zum Schmetterling ein Schritt zum eigenen Ende war. Will ihn das Insekt in den letzten Minuten begleiten? „Danke mein Freund" flüstert der Mann entkräftet.

Er hustet. Den geleeartigen Auswurf schluckt er wieder hinunter, zu schwach um ihn auszuspucken. Das zuvor eingenommene Gift verkrampft seinen Körper, wartet sie schon auf ihn? Schmerzverzerrt blickt er zur Eiche, um sein in der Rinde verewigtes Herz als letztes Bild mitzunehmen. Grashalme und Sommerblumen wiegen sanft ihm Wind hin und her als würden sie für ihn tanzen. Als er das Seil des Lebens loslässt, verabschiedet ihn eine sommerliche Brise und trägt den letzten Atemzug eines Sterbenden in die Welt hinaus: „...for my precious love!"