Getting in Position
von Murica
Kurzbeschreibung
Neues Haus, neue Schule, neues Leben. Marla hat das Gefühl, sich selbst verloren zu haben. Nach dem Tod ihres Vaters hat sich ihr Leben so rasant verändert, dass sie nicht mehr genau weiß, wohin sie gehört oder wer sie eigentlich ist. Ein Umzug soll ihr einen Neuanfang ermöglichen. Doch so ein Neuanfang ist kompliziert, wenn man gar nicht weiß, welchen Weg man gehen soll.
GeschichteFamilie, Schmerz/Trost / P12 / FemSlash
OC (Own Character)
Sophie Koch
Sören Petersen
21.05.2023
27.09.2023
19
33.492
3
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Dieses Kapitel
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18.09.2023
1.757
Zurück in der Klasse musste ich all meine Willenskraft darauf verwenden, an unserer Gruppenarbeit zumindest interessiert auszusehen und nicht wie in meiner alten Klasse mich an mein Handy zu setzen und aus allem rauszuziehen. Denn genau das hätte ich am liebsten gemacht. Ich wollte mich mit nichts mehr auseinandersetzten, nicht so tun, als wäre alles super oder irgendwelche dummen Wünsche und Befürchtungen sammeln. Ich wollte mich wie immer zurückziehen und auf Social Media verschwinden.
Normalerweise wäre ich dann aus der Schule geflohen und zur Clique gerannt. Dort hatten mich die Leute verstanden. Ich hatte mich über die Schule und das System beschweren können und alle hatten mich dafür gefeiert. Und am Abend hatten wir Dinge unternommen, die wirklich wichtig waren. Die Clique hatte mir einen Sinn gegeben. Wir waren wirklich für etwas eingestanden, hatten einen Unterschied gemacht.
Stattdessen saß ich jetzt in dieser Klasse, ignorierte, wie verkommen die Welt war und beschäftigte mich mit unwichtigen Problemen wie schlechten Noten oder dem Klassenzusammenhalt. Aber was waren das wirklich für Probleme? Mit den echten Problemen konnten wir uns gar nicht beschäftigen, weil das System die Leute ausfilterte, die nicht hineinpassten. Menschen mit echten Problem waren an einem Gymnasium gar nicht anzutreffen, weil das System sie nicht dort haben wollte, wo sie Dinge für sich verändern konnten.
„Marla, alles gut?“, fragte Ines plötzlich.
„Ja, was sollte sein?“
„Du sahst nur so aus, als könnte etwas sein.“
„So sehe ich immer aus!“
„Ist ja gut, ich hab ja nur gefragt.“ Ines hob abwehrend die Hände und wandte sich wieder den anderen zu, die ebenfalls in unserer Gruppe waren.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und war kurz davor, doch mein Handy aus der Tasche zu holen, aber ich ließ es bleiben. Wahrscheinlich war ich etwas schroff gewesen. Aber ich wollte mich gerade auch nicht entschuldigen. Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden!
Der restliche Schultag verlief zähflüssig. Meine schlechte Laune blieb bestehen. Die Stunde mit den Sozialarbeitern war genauso langweilig wie erwartet. Die Erwartungen, Wünsche und Befürchtungen waren nichts Überraschendes und auch die daraus resultierenden Ziele nicht. Bei den Fragebögen zum Klassenklima wurde es ganz kurz spannend, als offen wurde, dass es wenige negative Beurteilungen gab und Victor direkt Jaro beschuldigte. Fast wäre ein spannender Konflikt entstanden, aber den unterband Sören direkt, sodass die Stunde langweilig weiterging.
Mit Deutsch, Biologie und Philosophie wurde es auch nicht besser mit meinem Stundenplan. Die Pausen verzog ich mich alleine auf den Schulhof und in den Stunden unterhielt ich mich kaum mit Ines. Die kurzen Zusammenarbeiten waren heute auf jeden Fall interessant.
Beim Essen bemerkte dann auch Michaela meine schlechte Laune. „Ist heute in der Schule etwas passiert?“
Ich verdrehte die Augen. „Nichts, was dich etwas angehen würde.“
„Es könnte dir wirklich helfen, nicht immer alles in dich hineinzufressen, sondern deinem Ärger mal Luft zu machen.“
Ich ließ meinen Löffel in die Suppe fallen. „Ach ja? Und mit wem sollte ich bitte reden? Alle meine Freunde sind Stunden entfernt!“
„Marla, das waren nicht wirklich deine Freunde. Die haben dich nur benutzt.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie willst du das bitte beurteilen? Du kanntest sie gar nicht! Aber sie waren immer für mich da. Sie haben mich verstanden.“
„Sie haben dich ausgenutzt!“ Michaela seufzte. „Okay, Themenwechsel. Wenn du schon nicht darüber reden willst, warum versuchst du dann nicht mal, deine Gefühle in dein neues Hobby zu stecken?“
„Ich soll das Tanzen noch mehr verteufeln?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber du bewegst dich ja, du machst Sport. Nutz all die Wut und die negativen Emotionen, um dich richtig auszupowern. Wir hatten ja eh die Abmachung, dass du dich diese Woche noch einmal richtig anstrengst. Heute hast du dann ja auch nur Modern, oder?“
Ich nickte und nahm meinen Löffel wieder auf. „Aber ich will mich gerade gar nicht bewegen. Ich will in mein Bett.“
„Ja, und dann vergräbst du dich in deinem Leid. Also ist das Gegenteil zu tun, genau das, was dir jetzt gerade am meisten helfen könnte. Versuch es zumindest.“
Ich seufzte erneut. „Was bleibt mir auch für eine Wahl?“
„Du wirst heute eh hingehen. Also kannst du auch das Beste daraus machen.“ Michaela grinste.
Am liebsten hätte ich ihr irgendwas gegen den Kopf geworfen, aber ich beschränkte mich darauf, weiter meine Suppe zu essen und ihr Grinsen zu ignorieren.
Nach dem Essen wollte ich mich eigentlich umziehen, da fiel mein Blick auf mein Tablet. Ich setzte mich auf mein Bett und schaute darauf. Melody hatte mir mehrere Nachrichten geschrieben. Kurz überlegte ich, ob ich sie ignorieren und am Abend anschauen sollte, dann war ich aber doch zu neugierig.
„Vögelchen!“
„Du musst am Wochenende unbedingt vorbeikommen!“
„Hier wird eine riesige Demo stattfinden!“
Die nächste Nachricht war ein Sharepic mit den Daten der Demo.
„Vögelchen!“
„!!!“
„Antworte bitte endlich!“
„Ich bin so aufgeregt!“
„Vögelchen“
„Du und dein langweiliges Spießer-Leben…“
Die letzte Nachricht war noch nicht lange her. Ich tippte: „Sorry, Schule und Mittagessen… Was für eine Demo?“
Sofort war Melody wieder online. „Gegen den scheiß Polizeistaat. Ich weiß, dass Nico ein paar richtig geile Aktionen plant. Das kannst du nicht verpassen!“
Melody klang, als würde diesmal wirklich richtig etwas passieren. Wir konnten so einen großen Unterschied machen. Wir konnten das Leben von tausenden Menschen verbessern! Wieso verbot Michaela mir das? Wieso nahm sie mir mein politisches Engagement? Letztes Mal als ich auf einer Demo war, hatte sie mir den Kopf abgerissen.
„Vögelchen, ich sehe, wie du überlegst. Aber da gibt es nichts zu überlegen, du musst einfach kommen!“
Das Leben war so unfair. „Aber ich hab am Samstag tanzen. Wenn ich schwänze, lässt Michaela mich zu nächster Woche nicht aufhören…“
„Du stellst dein körperliches Unwohlsein vor das Leid von tausenden Menschen? Denk an all die, die täglich von Polizeigewalt betroffen sind. Die willst du im Stich lassen? Was bist du nur für ein Mensch?!“
Ich seufzte. „Ich will ja, Melody… Aber Michaela…“
„Nichts aber! Wenn dir unsere Sache wichtig ist, dann bist du da!“ Und plötzlich war sie wieder offline.
Ich schloss den Chat. Es hatte keinen Sinn mehr, noch eine Nachricht zu schreiben. Das hatte ich oft genug herausgefunden. Und ich wollte ja wirklich kommen. Demos mit Melody, Nico und dem Rest der Clique waren unglaublich aufregend. Wir setzten uns für ein gutes Ziel ein und waren dabei laut. Wir verschafften unserer Stimme Gehör.
Wieso sah Michaela das nicht? Ich konnte sie nicht einmal fragen, da ich dann zugeben musste, noch Kontakt zu Melody zu haben. Gut, wenn ich mich zur Demo schlich, wusste sie das auch. Theoretisch konnte ich vielleicht Ines als Alibi nehmen. Ines hatte mich zu ihren Karaokeabenden eingeladen. Allerdings waren die hier in der Stadt, weshalb ich keine Ausrede hatte, nicht zum Tanzen zu gehen.
Ich konnte unmöglich zu dieser Demo gehen. Ich wollte, aber wenn ich das tat, hatte ich mit großen Konsequenzen zu rechen. Zu groß, als dass ich sie gerade eingehen wollte. Michaela würde mir dafür nicht nur den Kopf abreißen. Vielleicht setzte sie mich dann tatsächlich vor die Tür. Dann musste ich zwar auch nicht mehr zum Tanzen gehen, aber was dann passierte, wusste ich auch nicht. Ich konnte nicht riskieren, dass sie mich rausschmiss. Denn wenn das geschah, endete ich ganz sicher wie meine Mutter.
Ich wollte es nicht zugeben und offen würde ich das auch nie sagen, aber Michaela führte ein geordnetes Leben und war wahrscheinlich ein guter Einfluss auf mich. Zumindest für das, was gesellschaftlich als gut erachtet wurde. Wenn ich also Chancen haben wollte, mich gesellschaftskonform zu verhalten und mir in dem System einen Platz zu verschaffen, musste ich bei ihr bleiben. Ohne sie und ihre ständige Kontrolle würde ich das nicht durchhalten.
„Marla, wir fahren in zehn Minuten!“
Ich seufzte. „Okay“, antwortete ich.
Resigniert erhob ich mich und begann tatsächlich damit, mich umzuziehen.
Im Modern tanzten wir zu einem eher ruhigen Lied. Als ich heute genauer auf den Text achtete, fiel mir auf, dass es mit Herzschmerz zu tun hatte – worüber konnte man auch sonst Lieder schreiben? Aber tatsächlich passte das Lied ganz gut zu meiner Stimmung.
Ich war sauer. Sauer, dass ich in diesem Leben gefangen war und nicht zu dieser Demo konnte. Ich war sauer, dass ich so unzufrieden war.
Und ich war traurig. Traurig, dass ich Melody nicht sehen durfte. Dass Papa tot war und dass Mama mich ständig vergaß. Ich war traurig, weil ich mich so allein fühlte und weil ich ständig alles vermasselte.
Insofern konnte ich mich in den Interpreten ganz gut hineindenken. Letztendlich war das der Grund, weshalb ich tatsächlich versuchte, Michaelas Rat umzusetzen, und meine Gefühle in den Sport zu packen. Wenn ich schon einmal hier war, konnte ich tatsächlich versuchen, mich nicht nur darüber zu ärgern, dass ich hier sein musste.
Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich gar nicht mehr so viel über die Bewegungen nachdachte wie ganz am Anfang. Gerade die Teile, die wir schon oft gemacht hatten, musste ich nur sehen und konnte sie leicht kopieren. Ob ich dabei genauso elegant aussah wie unsere Lehrerin, war natürlich eine andere Frage, aber darüber versuchte ich nicht nachzudenken.
Stattdessen achtete ich auf den Text. Genau diesen Text musste ich nun in die Bewegungen umsetzen. Die Bewegungen sollten das aussagen, was ich nicht aussprechen konnte.
Plötzlich wurde jeder Durchlauf anstrengender. Ich bekam das Gefühl, mich wirklich den Bewegungen hinzugeben und sie mehr und mehr zu verbinden. Die Choreo fühlte sich dadurch irgendwann viel flüssiger an, viel lebendiger. Als wäre sie mehr als nur stumpfe Bewegungen.
Am Ende der Stunde war ich auf jeden Fall fertig. Aber irgendwie war auch diese innere Anspannung fort. Ich hasste es, aber Michaelas Rat hatte funktioniert. Die Tanzstunde über hatte ich mich so ausgepowert, dass ich einfach keine Kraft mehr hatte, um weiterhin sauer zu sein. Stattdessen fühlte ich mich sogar irgendwie gut. Zwar schwitzig und stinkend, aber gut. Wobei ich morgen sicher wieder Muskelkater haben würde und sich meine Meinung garantiert ändern. Schließlich wollte ich mit dem Tanzen aufhören und diese eine Stunde würde das nicht ändern. Melody hatte nämlich Recht gehabt und mit dem Tanzen überhaupt anzufangen, war albern gewesen.
Trotzdem kam ich nicht umhin, mich ein bisschen auf den Contemporary-Kurs morgen zu freuen. Der war zwar mit am schwierigsten, aber die Bewegungen und die Musik gefielen mir am besten. Außerdem musste ich mich immer so sehr konzentrieren, dass ich nie Zeit hatte, über irgendetwas anderes nachzudenken. Vielleicht konnte ich ja gleich die Choreo noch einmal kurz wiederholen, um morgen besser als sonst mitzukommen. Vielleicht kam ich mir dann auch beim Tanzen nicht immer so albern und unelegant vor.
Normalerweise wäre ich dann aus der Schule geflohen und zur Clique gerannt. Dort hatten mich die Leute verstanden. Ich hatte mich über die Schule und das System beschweren können und alle hatten mich dafür gefeiert. Und am Abend hatten wir Dinge unternommen, die wirklich wichtig waren. Die Clique hatte mir einen Sinn gegeben. Wir waren wirklich für etwas eingestanden, hatten einen Unterschied gemacht.
Stattdessen saß ich jetzt in dieser Klasse, ignorierte, wie verkommen die Welt war und beschäftigte mich mit unwichtigen Problemen wie schlechten Noten oder dem Klassenzusammenhalt. Aber was waren das wirklich für Probleme? Mit den echten Problemen konnten wir uns gar nicht beschäftigen, weil das System die Leute ausfilterte, die nicht hineinpassten. Menschen mit echten Problem waren an einem Gymnasium gar nicht anzutreffen, weil das System sie nicht dort haben wollte, wo sie Dinge für sich verändern konnten.
„Marla, alles gut?“, fragte Ines plötzlich.
„Ja, was sollte sein?“
„Du sahst nur so aus, als könnte etwas sein.“
„So sehe ich immer aus!“
„Ist ja gut, ich hab ja nur gefragt.“ Ines hob abwehrend die Hände und wandte sich wieder den anderen zu, die ebenfalls in unserer Gruppe waren.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und war kurz davor, doch mein Handy aus der Tasche zu holen, aber ich ließ es bleiben. Wahrscheinlich war ich etwas schroff gewesen. Aber ich wollte mich gerade auch nicht entschuldigen. Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden!
Der restliche Schultag verlief zähflüssig. Meine schlechte Laune blieb bestehen. Die Stunde mit den Sozialarbeitern war genauso langweilig wie erwartet. Die Erwartungen, Wünsche und Befürchtungen waren nichts Überraschendes und auch die daraus resultierenden Ziele nicht. Bei den Fragebögen zum Klassenklima wurde es ganz kurz spannend, als offen wurde, dass es wenige negative Beurteilungen gab und Victor direkt Jaro beschuldigte. Fast wäre ein spannender Konflikt entstanden, aber den unterband Sören direkt, sodass die Stunde langweilig weiterging.
Mit Deutsch, Biologie und Philosophie wurde es auch nicht besser mit meinem Stundenplan. Die Pausen verzog ich mich alleine auf den Schulhof und in den Stunden unterhielt ich mich kaum mit Ines. Die kurzen Zusammenarbeiten waren heute auf jeden Fall interessant.
Beim Essen bemerkte dann auch Michaela meine schlechte Laune. „Ist heute in der Schule etwas passiert?“
Ich verdrehte die Augen. „Nichts, was dich etwas angehen würde.“
„Es könnte dir wirklich helfen, nicht immer alles in dich hineinzufressen, sondern deinem Ärger mal Luft zu machen.“
Ich ließ meinen Löffel in die Suppe fallen. „Ach ja? Und mit wem sollte ich bitte reden? Alle meine Freunde sind Stunden entfernt!“
„Marla, das waren nicht wirklich deine Freunde. Die haben dich nur benutzt.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie willst du das bitte beurteilen? Du kanntest sie gar nicht! Aber sie waren immer für mich da. Sie haben mich verstanden.“
„Sie haben dich ausgenutzt!“ Michaela seufzte. „Okay, Themenwechsel. Wenn du schon nicht darüber reden willst, warum versuchst du dann nicht mal, deine Gefühle in dein neues Hobby zu stecken?“
„Ich soll das Tanzen noch mehr verteufeln?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber du bewegst dich ja, du machst Sport. Nutz all die Wut und die negativen Emotionen, um dich richtig auszupowern. Wir hatten ja eh die Abmachung, dass du dich diese Woche noch einmal richtig anstrengst. Heute hast du dann ja auch nur Modern, oder?“
Ich nickte und nahm meinen Löffel wieder auf. „Aber ich will mich gerade gar nicht bewegen. Ich will in mein Bett.“
„Ja, und dann vergräbst du dich in deinem Leid. Also ist das Gegenteil zu tun, genau das, was dir jetzt gerade am meisten helfen könnte. Versuch es zumindest.“
Ich seufzte erneut. „Was bleibt mir auch für eine Wahl?“
„Du wirst heute eh hingehen. Also kannst du auch das Beste daraus machen.“ Michaela grinste.
Am liebsten hätte ich ihr irgendwas gegen den Kopf geworfen, aber ich beschränkte mich darauf, weiter meine Suppe zu essen und ihr Grinsen zu ignorieren.
Nach dem Essen wollte ich mich eigentlich umziehen, da fiel mein Blick auf mein Tablet. Ich setzte mich auf mein Bett und schaute darauf. Melody hatte mir mehrere Nachrichten geschrieben. Kurz überlegte ich, ob ich sie ignorieren und am Abend anschauen sollte, dann war ich aber doch zu neugierig.
„Vögelchen!“
„Du musst am Wochenende unbedingt vorbeikommen!“
„Hier wird eine riesige Demo stattfinden!“
Die nächste Nachricht war ein Sharepic mit den Daten der Demo.
„Vögelchen!“
„!!!“
„Antworte bitte endlich!“
„Ich bin so aufgeregt!“
„Vögelchen“
„Du und dein langweiliges Spießer-Leben…“
Die letzte Nachricht war noch nicht lange her. Ich tippte: „Sorry, Schule und Mittagessen… Was für eine Demo?“
Sofort war Melody wieder online. „Gegen den scheiß Polizeistaat. Ich weiß, dass Nico ein paar richtig geile Aktionen plant. Das kannst du nicht verpassen!“
Melody klang, als würde diesmal wirklich richtig etwas passieren. Wir konnten so einen großen Unterschied machen. Wir konnten das Leben von tausenden Menschen verbessern! Wieso verbot Michaela mir das? Wieso nahm sie mir mein politisches Engagement? Letztes Mal als ich auf einer Demo war, hatte sie mir den Kopf abgerissen.
„Vögelchen, ich sehe, wie du überlegst. Aber da gibt es nichts zu überlegen, du musst einfach kommen!“
Das Leben war so unfair. „Aber ich hab am Samstag tanzen. Wenn ich schwänze, lässt Michaela mich zu nächster Woche nicht aufhören…“
„Du stellst dein körperliches Unwohlsein vor das Leid von tausenden Menschen? Denk an all die, die täglich von Polizeigewalt betroffen sind. Die willst du im Stich lassen? Was bist du nur für ein Mensch?!“
Ich seufzte. „Ich will ja, Melody… Aber Michaela…“
„Nichts aber! Wenn dir unsere Sache wichtig ist, dann bist du da!“ Und plötzlich war sie wieder offline.
Ich schloss den Chat. Es hatte keinen Sinn mehr, noch eine Nachricht zu schreiben. Das hatte ich oft genug herausgefunden. Und ich wollte ja wirklich kommen. Demos mit Melody, Nico und dem Rest der Clique waren unglaublich aufregend. Wir setzten uns für ein gutes Ziel ein und waren dabei laut. Wir verschafften unserer Stimme Gehör.
Wieso sah Michaela das nicht? Ich konnte sie nicht einmal fragen, da ich dann zugeben musste, noch Kontakt zu Melody zu haben. Gut, wenn ich mich zur Demo schlich, wusste sie das auch. Theoretisch konnte ich vielleicht Ines als Alibi nehmen. Ines hatte mich zu ihren Karaokeabenden eingeladen. Allerdings waren die hier in der Stadt, weshalb ich keine Ausrede hatte, nicht zum Tanzen zu gehen.
Ich konnte unmöglich zu dieser Demo gehen. Ich wollte, aber wenn ich das tat, hatte ich mit großen Konsequenzen zu rechen. Zu groß, als dass ich sie gerade eingehen wollte. Michaela würde mir dafür nicht nur den Kopf abreißen. Vielleicht setzte sie mich dann tatsächlich vor die Tür. Dann musste ich zwar auch nicht mehr zum Tanzen gehen, aber was dann passierte, wusste ich auch nicht. Ich konnte nicht riskieren, dass sie mich rausschmiss. Denn wenn das geschah, endete ich ganz sicher wie meine Mutter.
Ich wollte es nicht zugeben und offen würde ich das auch nie sagen, aber Michaela führte ein geordnetes Leben und war wahrscheinlich ein guter Einfluss auf mich. Zumindest für das, was gesellschaftlich als gut erachtet wurde. Wenn ich also Chancen haben wollte, mich gesellschaftskonform zu verhalten und mir in dem System einen Platz zu verschaffen, musste ich bei ihr bleiben. Ohne sie und ihre ständige Kontrolle würde ich das nicht durchhalten.
„Marla, wir fahren in zehn Minuten!“
Ich seufzte. „Okay“, antwortete ich.
Resigniert erhob ich mich und begann tatsächlich damit, mich umzuziehen.
Im Modern tanzten wir zu einem eher ruhigen Lied. Als ich heute genauer auf den Text achtete, fiel mir auf, dass es mit Herzschmerz zu tun hatte – worüber konnte man auch sonst Lieder schreiben? Aber tatsächlich passte das Lied ganz gut zu meiner Stimmung.
Ich war sauer. Sauer, dass ich in diesem Leben gefangen war und nicht zu dieser Demo konnte. Ich war sauer, dass ich so unzufrieden war.
Und ich war traurig. Traurig, dass ich Melody nicht sehen durfte. Dass Papa tot war und dass Mama mich ständig vergaß. Ich war traurig, weil ich mich so allein fühlte und weil ich ständig alles vermasselte.
Insofern konnte ich mich in den Interpreten ganz gut hineindenken. Letztendlich war das der Grund, weshalb ich tatsächlich versuchte, Michaelas Rat umzusetzen, und meine Gefühle in den Sport zu packen. Wenn ich schon einmal hier war, konnte ich tatsächlich versuchen, mich nicht nur darüber zu ärgern, dass ich hier sein musste.
Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich gar nicht mehr so viel über die Bewegungen nachdachte wie ganz am Anfang. Gerade die Teile, die wir schon oft gemacht hatten, musste ich nur sehen und konnte sie leicht kopieren. Ob ich dabei genauso elegant aussah wie unsere Lehrerin, war natürlich eine andere Frage, aber darüber versuchte ich nicht nachzudenken.
Stattdessen achtete ich auf den Text. Genau diesen Text musste ich nun in die Bewegungen umsetzen. Die Bewegungen sollten das aussagen, was ich nicht aussprechen konnte.
Plötzlich wurde jeder Durchlauf anstrengender. Ich bekam das Gefühl, mich wirklich den Bewegungen hinzugeben und sie mehr und mehr zu verbinden. Die Choreo fühlte sich dadurch irgendwann viel flüssiger an, viel lebendiger. Als wäre sie mehr als nur stumpfe Bewegungen.
Am Ende der Stunde war ich auf jeden Fall fertig. Aber irgendwie war auch diese innere Anspannung fort. Ich hasste es, aber Michaelas Rat hatte funktioniert. Die Tanzstunde über hatte ich mich so ausgepowert, dass ich einfach keine Kraft mehr hatte, um weiterhin sauer zu sein. Stattdessen fühlte ich mich sogar irgendwie gut. Zwar schwitzig und stinkend, aber gut. Wobei ich morgen sicher wieder Muskelkater haben würde und sich meine Meinung garantiert ändern. Schließlich wollte ich mit dem Tanzen aufhören und diese eine Stunde würde das nicht ändern. Melody hatte nämlich Recht gehabt und mit dem Tanzen überhaupt anzufangen, war albern gewesen.
Trotzdem kam ich nicht umhin, mich ein bisschen auf den Contemporary-Kurs morgen zu freuen. Der war zwar mit am schwierigsten, aber die Bewegungen und die Musik gefielen mir am besten. Außerdem musste ich mich immer so sehr konzentrieren, dass ich nie Zeit hatte, über irgendetwas anderes nachzudenken. Vielleicht konnte ich ja gleich die Choreo noch einmal kurz wiederholen, um morgen besser als sonst mitzukommen. Vielleicht kam ich mir dann auch beim Tanzen nicht immer so albern und unelegant vor.