Wolfspack
von Tristania
Kurzbeschreibung
Frankreich, 1767. In der rauen Bergregion des Gévaudan treibt seit drei Jahren eine geheimnisvolle Kreatur ihr Unwesen. Unzählige Jäger befinden sich auf ihrer Spur, darunter auch der ehemalige Capitaine Jean Méchant. Sein einziges Ziel ist es, das Wesen zur Strecke zu bringen, doch nach einer verhängnisvollen Begegnung muss er feststellen, dass in der Dunkelheit der Wälder mehr als nur eine Bestie lauert. (Familie/Freundschaft | No Pairings)
GeschichteMystery, Schmerz/Trost / P18 / Gen
Alea der Bescheidene
El Silbador
Falk Irmenfried von Hasenmümmelstein
Jean Méchant der Tambour
Lasterbalk der Lästerliche
Luzi das L
12.04.2023
18.09.2023
20
81.672
4
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Dieses Kapitel
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18.09.2023
4.324
Einen schönen guten Abend, jetzt gab es doch eine unverhoffte Pause. Eigentlich stand das Kapitel gedanklich bereits, doch ich bin nicht wirklich zum Schreiben gekommen - Schuld sind sieben Herren (zumindest ein Teil davon). Jetzt aber endlich weiter im Text, ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Frank hielt Wort mit seiner Ankündigung, sich um alle nötigen Vorbereitungen zu kümmern. Bei Anbruch des nächsten Tages stand ein Wagen mit zwei Pferden im Hof, auf dessen Ladefläche bereits Proviant, Decken, Feuerholz und Werkzeuge verstaut waren. Die Tiere trugen zudem Scheuklappen und breite, gepolsterte Riemen über den Nüstern, durch die ihr Geruchsinn erheblich eingeschränkt wurde. Auch wenn Franks Haltung zu Jeans Geschichte deutlich skeptisch war, hatte er doch gewissenhaft Maßnahmen ergriffen, die den drei Werwölfen entgegenkamen.
Der Schreiber stieß zu ihnen, als sie zusammen in der Küche saßen und das trotz der frühen Stunde reichhaltige Frühstück vertilgten, das Marianna zubereitet hatte. Vor allem Luzi und Alea lieferten sich einen regelrechten Wettstreit darin, wer innerhalb kürzester Zeit mehr Essbares in sich hineinstopfen konnte. Im Moment lag der kleine Spielmann mit der dritten Portion vorne, aber der Sänger blieb ihm hartnäckig auf den Fersen. Als Luzi sich durch Franks Ankunft kurzzeitig ablenken ließ, nutzte er die Gunst des Augenblicks und stibitzte die fingerdicke Schinkenscheibe von dessen Teller.
„Gestern Abend wurde ein erneuter Angriff gemeldet“, berichtete dieser, nachdem er Platz genommen hatte und sich von Marianna mit einer Schüssel Hafergrütze und ausreichend Tee versorgen ließ. Damit hatte er schlagartig die Aufmerksamkeit aller gewonnen.
„Wo genau?“, erkundigte sich Lasterbalk.
„Zwischen dem Pachthof Broussoux und Paulhac-en-Margeride , unweit von Auvers.“
„Auvers? Das ist ganz in der Nähe“, hakte Jean ein und runzelte die Stirn. „Was genau ist passiert?“
„Die Opfer waren ein neunzehnjähriges Mädchen und ihre jüngere Schwester. Sie waren auf dem Rückweg, als sie von einer großen, wolfsartigen Kreatur angegriffen wurden.“
„Wurden sie getötet?“
„Nein, sie haben den Angriff sogar relativ unbeschadet überstanden. Die jüngere Schwester berichtete, dass das ältere Mädchen das Biest auf einer Flussinsel mit einer Stange oder Lanze noch bis zum anderen Ufer zurückgedrängt haben soll, ehe es von ihr abließ und in den Wald floh.“
„Das ist äußerst erfreulich“, nickte Lasterbalk und seine Augen blitzten hinter den Brillengläsern auf. „Liegt einer der Orte zufällig auf unserem Weg?“
„Ja, wir kommen direkt durch Paulhac-en-Margeride hindurch“, bestätigte Frank zögerlich. Er tauschte einen Blick mit Jean und auf seiner Stirn bildete sich eine kleine Falte, als er in dessen Augen den gleichen Ausdruck erkannte wie bei dem Magister. „Was habt ihr vor?“
„Wenn sie wohlauf ist, würde ich sie gerne zu dem Vorfall befragen. Vielleicht liefert uns das ein paar wertvolle Hinweise auf das Vorhaben unseres Gegners.“
„Niemand hat direkt behauptet, dass es sich dabei wirklich um die Bestie handelte. Es kann auch einfach ein normaler Wolf gewesen sein, davon haben wir hier schließlich genug“, gab Frank zu bedenken, aber das brachte Lasterbalk nicht von der Idee ab.
„Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir mit ihr sprechen und herausfinden, was da genau passiert ist.“
„Ich frage mich eines – angenommen, es war die Bestie. Warum ist sie immer noch hier in der Gegend, wenn sich Apcher doch auf direktem Weg nach Paris befindet? Ist er doch nicht das Hauptziel oder hat sie sogar auf uns gewartet? Das alles macht irgendwie keinen richtigen Sinn“, grübelte Falk laut.
„Auch das finden wir am besten vor Ort raus.“ Lasterbalk schob den Teller zur Seite und erhob sich. „Ich schlage vor, wir brechen in spätestens einer halben Stunde auf. Ist jeder so weit?“
Zustimmendes Nicken war die Antwort, bis sich Marianna zu Wort meldete. „Einen Augenblick noch, Messieurs. Habt Ihr etwas zu Schreiben zur Hand?“ Anstelle von Lasterbalk zog Frank ein Notizbuch sowie einen Bleistift hervor, befeuchtete die Spitze und blickte die Haushälterin fragend an.
„Wenn ihr in Paulhac-en-Margeride seid, begebt euch von der Hauptstraße aus direkt zur Kirche. Dahinter findet ihr das Haus der Familie Lefebre – fragt nach André, er ist der Mann meiner Schwester und der einzige Wachtmeister vor Ort. Eine eigene Gendarmerie gibt es dort nicht, dafür fordern sie im Zweifelsfall Leute aus Saugues an, aber wenn wirklich einmal etwas passiert, ist er auf jeden Fall im Bilde. Bestellt ihm schöne Grüße von mir, dann dürfte er euch in allen Fragen zur Verfügung stehen.“
„Das ist wunderbar, aufrichtigen Dank für Eure Hilfe.“ Falk schenkte ihr ein herzliches Lächeln, was Marianna umgehend erröten ließ.
„Sehr gerne, Monsieur Falk. Ich würde euch in dieser Angelegenheit nur allzu gerne begleiten, aber mich hält leider die Pflicht hier. Auch wenn im Moment nicht viel zu tun ist, braucht es doch jemanden, der nach dem Rechten sieht.“
„Da habt Ihr völlig recht, Madame.“
„Würdet Ihr mir vor Eurer Abreise noch die Gunst erweisen und die Seitentür gründlich verbarrikadieren, so dass wirklich niemand mehr unverhofft hereinkommen kann?“
„Mit dem größten Vergnügen“, lächelte dieser dienstbeflissen und stand ebenfalls auf, was das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch bedeutete. Luzi schnappte sich im Gehen noch einen zentimeterdicken Kanten Brot, ein Stück Käse und eine Handvoll getrockneter Pflaumen, die er allesamt mit einem Grinsen vor dem Sänger in Sicherheit brachte. Lasterbalk bot Frank an, mit ihm zusammen die letzten Inspektionen am Wagen vorzunehmen und Alea begab sich zu dem Quartier, das er mit Luzi und Lasterbalk geteilt hatte, um die Gepäckstücke zu holen.
Auch Jean machte sich auf den Weg zu seinen Räumlichkeiten, wo sein Reisebündel fertig geschnürt auf ihn wartete. Wie erhofft war es eine Wohltat, nicht mehr auf die Kleidung anderer angewiesen zu sein, und in weiser Voraussicht hatte er gleich all seine verbliebenen Habseligkeiten zusammengepackt, inklusive der Paradeuniform. Gestern noch hatte es sich unwirklich angefühlt, wieder in die altbekannten Kammern zu ziehen und heute verließ er diese abermals in dem Wissen, dass er sie endgültig nicht mehr betreten würde. Erst das Priorat, nun das Château und als nächstes Paris – gerade war es ein wenig, als reise er nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zurück und breche dort nach und nach seine Zelte ab.
Er schulterte den Rucksack mit seinen Habseligkeiten, ehe er nach Gehrock und Dreispitz griff und den Raum, der ihm jahrelang ein Zuhause gewesen war, ein letztes Mal betrachtete. Dann wandte er sich endgültig ab, durchschritt die Tür und eilte den Gang entlang nach draußen, wo der Wagen abfahrtsbereit wartete.
Die Weiterreise nach Norden verlief ohne Zwischenfälle und auch die Rechnung mit den Pferden ging erfreulicherweise auf. Jean, Luzi und Alea hielten sich nach Möglichkeit im hinteren Bereich des Wagens auf und versuchten, den Zugtieren so wenig Irritation wie möglich zu bieten, während sich Lasterbalk, Falk und Frank auf dem Kutschbock abwechselten. Auf die ursprüngliche Idee, das Gefährt in Wolfsform zu begleiten verzichteten sie vorerst, da dies mitunter zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte. Je weiter sie sich von dem Zentralmassiv entfernten, desto spärlicher wurden die Wälder; stattdessen beherrschten weitläufige Wiesen und Felder die Landschaft. Schlechte Bedingungen also für schnelle Versteckmöglichkeiten und außerdem war es mitten am helllichten Tag.
Als sie Paulhac-en-Margeride gegen Mittag erreichten, stellten sie fest, dass der Ort nicht viel größer war als Prunières. Anstelle einer Wehranlage war es hier die wuchtige, geradlinige Silhouette einer romanischen Kirche, die sich im Zentrum der Gemeinde erhob und das Stadtbild am ehesten prägte. Die niedrigen Häuser, die sich darum verteilten, drängten sich regelrecht schutzsuchend an die Mauern des Gotteshauses.
„Ich denke es wäre vernünftig, wenn wir nicht alle geschlossen bei den Lefebres einfallen“, gab Lasterbalk zu bedenken, als sie den Wagen am Rand der Hauptstraße anhielten. „Womöglich könnte dadurch ein falscher Eindruck entstehen. Daher schlage ich vor, dass ich mit André Lefebre rede und ihn um ein Gespräch mit den geschädigten Damen bitte.“
„Ich begleite dich“, entschied Jean und sprang vom Wagen, ehe Lasterbalk einen Einwand vorbringen konnte. „Vier Ohren hören mehr als zwei und vielleicht fällt mir etwas auf, für das feinere Sinne notwendig sind.“
„Hm. Gute Idee“, stimmte der Magister schließlich nach kurzer Überlegung zu. „Aber halte dich am besten im Hintergrund.“
„In Ordnung.“
„Wir warten am Ortsende auf euch. Hier stehen zu bleiben wäre auf längere Zeit zu auffällig“, verabschiedete Falk die beiden, nahm den Platz auf dem Kutschbock ein und ließ den Wagen wieder anrollen, kaum dass sich Lasterbalk und Jean in Bewegung gesetzt hatten und auf die schmale Gasse zuhielten.
„Du wächst langsam in deine Rolle hinein, habe ich den Eindruck“, bemerkte Lasterbalk, als sie sich zwischen den engstehenden Häusern bewegten. Jean zuckte die Schultern.
„Was bleibt mir anderes übrig?“
„Das meine ich nicht – natürlich musst du dich damit arrangieren. Aber wenn ich dich so ansehe, bekomme ich allmählich das Gefühl, dass du deine neue Identität nicht nur akzeptierst, sondern sie darüber hinaus auch annimmst.“
Jean blieb stehen und musterte den größeren Mann nachdenklich. „Was lässt dich darauf schließen?“
„Deine Haltung. Du wirkst ausgeglichener als vor ein paar Tagen.“
Jean dachte kurz an die abermals schlafarme letzte Nacht und die Umstände, die dazu geführt hatten und schüttelte leicht den Kopf. „Den Eindruck habe ich nicht wirklich.“
„Die Details, mein Freund. Die Details verraten eine Menge.“
„Willst du dir deine Beobachtungsgabe nicht lieber für die Befragung aufsparen?“
Lasterbalk lachte leise.
„Die Nutzung dieser Gabe führt nicht zu deren Verschleiß, im Gegenteil. Man schärft sie damit wie ein gutes Schwert“, verkündete er salbungsvoll, ehe er zu dem schmalen, zweistöckigen nickte. „Dann wollen wir mal unser Glück versuchen.“
Glück hatten sie auf Anhieb, denn bei der Frau, auf die sie zuerst stießen, handelte es sich um die Vermieterin des gesuchten Gesetzeshüters. Mit einem knappen Nicken schickte sie die beiden Männer in den ersten Stock, ehe sie damit fortfuhr, das unebene Pflaster vor ihrer Tür zu kehren. Lasterbalk und Jean dankten und erklommen die Stufen, an deren Ende sie schließlich vor einer schmalen Tür landeten. Auf ihr Klopfen hin ertönten nach ein paar Sekunden schlurfende Schritte und dann standen sie auch schon vor Mariannas Schwager.
André Lefebre entpuppte sich als hagerer Mann Ende fünfzig, dessen Haupthaar nur noch aus einem grauen Kranz bestand. Wie Lasterbalk trug er eine Brille, hinter der grüne Augen die beiden Fremden mit einem wachen Ausdruck musterten. Als Lasterbalk sie beide vorstellte und ihr Anliegen nannte, furchte sich die faltige Stirn noch ein wenig mehr und ließ sich auch durch Mariannas Grußworte nicht wirklich glätten.
„Verzeiht mir Messieurs, aber worin genau bestehen Eure Beweggründe, mit Mesdemoiselles Vallet sprechen zu wollen?“, fragte er, nachdem Lasterbalk geendet hatte.
„Es sind persönliche Gründe“, wich dieser aus und notierte sich gedanklich gleich den Namen. „Sozusagen zum Zwecke der Nachforschung.“
„Welche Art von Nachforschung?“, ließ Lefebre nicht locker und bewegte Jean dazu, entgegen Lasterbalks Anweisung nun doch etwas beizutragen. „Ich nehme an, Ihr kennt die Gerüchte um die Bestie des Gévaudan?“
Lefebre verzog verdrossen das Gesicht. „Natürlich. Wer könnte in dieser Gegend leben und nichts davon mitbekommen.“
„Wir möchten nur kurz mit Mesdemoiselles Vallet reden. Vielleicht verraten uns die Umstände, unter denen der Angriff vonstatten ging, ob wir es mit dem Wesen zu tun haben oder nicht.“
Der Mangel an Begeisterung stand Lefebre ins Gesicht geschrieben, doch schließlich seufzte er und erwiderte: „Ich kann euch zu ihnen bringen, doch ich verspreche nicht, dass sie auch mit euch reden werden.“
„Wir wären Euch zutiefst verbunden.“
Der Wachtmeister murmelte etwas Unverständliches, griff nach seinem Hut und schob sich an den beiden Männern vorbei zur Treppe. Sie folgten ihm hinab in die schmale Gasse und weiter durch den Ort, wo André Lefebre schließlich wieder das Wort ergriff.
„Verzeiht mir meine Direktheit, aber gehört ihr zu den königlichen Spinnern, die seit Monaten die Wälder nach diesem angeblichen Biest durchkämmen?“
Jean und Lasterbalk tauschten einen vielsagenden Blick, dann erwiderte der Magister: „Nicht direkt. Ihr haltet nicht viel von dieser Geschichte, Monsieur?“
Ein Schnauben ertönte, dann antwortete Lefebre: „Das Gévaudan war schon immer eine Gegend der Wölfe. Wenn Ihr mich fragt, dann sind es die Menschen, die hier geduldet werden, nicht umgekehrt. Daher denke ich, dass der Angriff höchstens von einem tollwütigen Tier stammt, weniger von einem mystischen.“
„Aber selbst, wenn es ein tollwütiger Wolf war, ist es schon bemerkenswert, dass ein Mädchen von neunzehn Lenze sich und seine Schwester gegen ihn verteidigen konnte. Mademoiselle Vallet muss talentiert im Umgang mit Waffen sein oder sämtliche Schutzengel des Herren an ihrer Seite gehabt haben.“
„Wie auch immer, die Menschen hier leben in ständiger Furcht und sehen sie seit dem gestrigen Vorfall als Heldin. Manche betiteln sie bereits als die tapfere Jungfrau von Gévaudan. Daher seid sorgsam im Umgang mit den Fragen, die ihr an sie stellt.“
„Das werden wir sein, keine Sorge.“
Der Weg führte sie in einem kurzen Marsch in Richtung Fluss und zu einem abgelegenen Haus, das mehr der Hütte eines Tagelöhners glich. Die lehmverputzten Wände hatten Risse und das Strohdach gehörte dringend geflickt, doch er kleine Garten, der sich davor befand, machte einen gepflegten Eindruck. Als sie das niedrige Tor erreichten, erhob sich eine junge Frau zwischen den Beeten und blickte ihnen mit unverhohlenem Misstrauen entgegen.
„Ich grüße dich, Marie-Jeanne“, rief Lefebre und winkte ihr zu. „Eigentlich störe ich dich nur ungern bei der Arbeit, aber ich habe hier zwei Herren, die dich suchen. Ist deine Schwester ebenfalls zu Hause?“
„Bonjour, Monsier Lefebre. Therese ist auf dem Markt in Auvers, sie wird wahrscheinlich erst gegen Abend zurückkehren. Aber vielleicht kann ich auch allein helfen?“
„Bestimmt, es geht um die Sache von gestern.“
Er hob vielsagend die Augenbrauen und Marie-Jeanne Vallets Blick wurde noch eine Spur ernster.
„Bonjour, Messieurs“, grüßte sie die Neuankömmlinge verhalten und musterte Lasterbalk und Jean eindringlich. „Darf ich fragen, wer ihr seid?“
„Natürlich“, erwiderte Lasterbalk lächelnd und stellte sowohl sich als auch Jean vor. „Wir haben von dem Vorfall gehört und hätten an paar Fragen an Euch, Mademoiselle. Dürfen wir eintreten?“
Sie nickte knapp, deutete mit dem Kinn auf die Haustür und ging vor. Die drei Männer folgten in das Innere der Hütte, die im Gegensatz zu dem ärmlichen Äußeren spärlich, aber sauber war. In der einen Ecke fanden sich eine Kochfeuerstelle mit ein paar Küchenutensilien sowie ein Tisch und Stühle für vier Personen. Auf der gegenüberliegenden Seite stapelten sich mehrere Strohsäcke mit Decken, die ausgelegt als Schlafstatt dienten. Am auffälligsten war eine geflochtene Korbwiege, die mitten im Raum stand und aus der leise, glucksende Geräusche ertönten. Marie-Jeanne deutete den Besuchern sich an den Tisch zu setzen, ehe sie einen raschen Blick in die Wiege warf und dann zur Kochstelle ging, wo sie aus einem Eimer Wasser in einen Krug schöpfte und diesen mit ein paar Bechern servierte.
„Verzeiht, wir haben keinen Wein im Haus.“
„Euch sei verziehen.“ Lasterbalk nippte an dem Becher, stellte ihn zur Seite und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Bitte erzählt uns in eigenen Worten, was gestern geschehen ist.“
Die junge Frau wechselte einen Blick mit dem Wachtmeister und begann dann leise und stockend: „Therese – meine jüngere Schwester - und ich waren unterwegs nach Broussoux, um Mehl und Eier zu holen. Wir wollten zurück sein, ehe die Nacht anbricht, da die Wälder im Moment noch gefährlicher sind. Als wir auf halber Strecke die Holzbrücke mit der Flussinsel überquerten, standen wir plötzlich einem Wolf gegenüber. Ich dachte er würde verschwinden, wenn wir laut genug wären, doch stattdessen hat er uns angeknurrt und machte keine Anstalten, den Weg freizugeben.“
„War es ein normaler Wolf oder war an diesem etwas ungewöhnlich?“, fragte Lasterbalk dazwischen. Sie überlegte kurz, dann antwortete sie: „Er war sehr groß, ungefähr wie ein Herdenhund. Er hatte einen breiten, flachen Kopf; sein Maul war im Inneren sehr dunkel und seine Zähne schimmerten ungewöhnlich hell. Sein Fell war rotbraun und er trug eine Menge Narben und Kampfspuren auf der Haut.“
Ein Blick zu Jean, gefolgt von der Andeutung eines Nickens. „Fahrt bitte fort.“
„Ich hatte eine Stange dabei mit Papas altem Bajonett, die hatten wir uns zur Verteidigung zusammengebunden. Jedenfalls hob ich diese und da griff das Biest auch schon an. Ich habe es zwischen den Rippen erwischt und konnte es zurückdrängen, jedenfalls sprang es danach jaulend ins Wasser und ist in Richtung Waldrand verschwunden.“
„Wurde von euch jemand bei dem Angriff verletzt?“, erkundigte Jean sich und verspürte Erleichterung, als Marie-Jeanne verneinte.
„Nur ein paar Kratzer und Schürfwunden, nichts schlimmes.“
„Keine Bisse?“
„Nein.“
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als sich das leise Glucksen im Hintergrund in ein klägliches Wimmern wandelte. Marie-Jeanne sprang auf und eilte zu der Wiege, griff vorsichtig hinein und hob den Säugling mit geübten Bewegungen heraus.
„Schhh, ist ja gut“, flüsterte sie und schaukelte das Kind sachte, woraufhin es sich wieder ein wenig beruhigte und an seinem Daumen nuckelnd an sie schmiegte. Der Anblick brachte Lasterbalk auf eine weitere Frage, die er bisher noch gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
„Laut Bericht wart Ihr mit Eurer Schwester in den Angriff verwickelt, ist das richtig?“
Sie zögert kurz mit einer Antwort, doch dann meinte sie: „Nicht ganz, Therese ist sofort weggelaufen. Und wir hatten Theo noch dabei. Maman und Papa sind tagsüber auf den Feldern und er ist noch zu klein, um allein zu bleiben.“
„Ein prächtiger Bursche. Euer Sohn?“
„Mein Bruder.“ Die Antwort kam so schnell, als habe sie bereits mit der Frage gerechnet und sie drückte den Knaben dabei noch ein klein wenig mehr an ihre Brust. „Ich kümmere mich hauptsächlich um ihn, wenn meine Mutter es nicht kann.“
„War Euer Bruder bei Euch oder Eurer Schwester?“
„Bei mir. Therese kann nicht so gut mit ihm umgehen, daher trug ich ihn im Tuch auf dem Rücken. Das ist auch der Grund, warum ich die Waffe hatte; wäre ich weggelaufen, hätte der Wolf uns bestimmt erwischt und Theo ist doch noch so klein und wehrlos.“ Der Gedanke brachte ihre Stimme zum Zittern und die Unruhe schien sich auf das Kind zu übertragen, denn es wand sich in ihren Armen und zog mit beiden Händen am Halsausschnitt ihres Kleides. Sie versuchte es mit den gleichen Schaukelbewegungen zu beruhigen und fragte unvermittelt: „Gibt es noch etwas, dass ihr wissen wollt, Messieurs? Ansonsten möchte ich euch bitten zu gehen, ich muss mich um Theo kümmern. Er hat sicherlich Hunger.“
„Nein, wir haben keine weiteren Fragen, Mademoiselle. Ich danke Euch für Eure Zeit und Eure Hilfe.“
Lasterbalk erhob sich und deutete eine Verbeugung an, schritt zur Tür und bückte sich unter dem niedrigen Türsturz hindurch nach draußen. Jean und Lefebre dankten ebenfalls und folgten dem Magister auf dem gleichen Weg. Kaum hatten sie den Fuß über die Schwelle gesetzt, schloss Marie-Jeanne die Tür geräuschvoll und man vernahm das Scharren eines Riegels, der sicherheitshalber gleich mit vorgeschoben wurde.
Schweigend durchquerten sie den Garten und schlugen den Weg zurück zur Dorfmitte ein. Erst, als sie die Hauptstraße erreicht hatten, ergriff Lasterbalk wieder das Wort.
„Gestattet mir zwei letzte Fragen, Monsieur Lefebre – wie alt ist die Mutter von Mademoiselle Vallet und wie viele Angriffe gab es vor diesem schon im direkten Umfeld von Paulhac-en-Margeride?“
„Ähm, nun, Madame Vallet dürfte ein wenig jünger sein als ich. Genau weiß ich es nicht. Und es gab bis jetzt einen Angriff auf einen Hirtenjungen aus Auvers, das liegt allerdings schon zwei Jahre zurück und fand ein gutes Stück südlicher statt.“
„Hat der Junge überlebt?“
„Bedauerlicherweise nicht.“
„Dann weiß ich jetzt alles, was ich wissen muss. Habt Dank für Eure Hilfe, Monsieur.“
„Gut. Schön. Dann viel Erfolg mit Euren Theorien.“
André Lefebre tippte gegen die Krempe seines Hutes, nickte Jean noch einmal zu und machte dann, dass der davonkam, sichtlich erleichtert darüber, dass er die unverhofften Besucher damit wieder los war.
Lasterbalk und Jean schlugen die Gegenrichtung ein und kaum war Lefebre außer Hörweite, wandte Jean sich in gedämpftem Tonfall an den Magister.
„Also, wie lauten deine Erkenntnisse?“
„Das Mademoiselle Vallet uns nicht in allen Punkten die Wahrheit gesagt hat.“
„Denkst du, sie hat etwas an den Vorgängen verschwiegen?“
„Den Angriff betreffend nicht, nein. Ich gehe davon aus, dass sich das wirklich so abgespielt hat, wie von ihr geschildert wurde. Aber das Kind, dass sie dabeihatte, ist gewiss nicht ihr Bruder, sondern ihr leiblicher Sohn.“
„Hm. Dann hattest du den gleichen Gedanken wie ich, auch wenn sie es strikt verneint hat.“
„Ich bin neugierig, woran hast du es bemerkt?“
„Die Art und Weise, wie sie mit dem Kleinen umging. Das war fast zu vertraut für Geschwister. Und da war etwas in ihrem Geruch, dass ich nicht zuordnen konnte, bis … naja, bis sie erwähnte, dass das Kind hungrig sein könnte.“
„Ja, und?“, wollte Lasterbalk wissen, als Jean nicht fortfuhr und seine Augen funkelten amüsiert, als dieser tatsächlich rot wurde.
„Nun sie … ich denke, dass sie ihn noch stillt. Deshalb wollte sie auch nicht, dass wir bleiben, um sich nicht zu verraten. Würde sie das Kind mit der Flasche füttern, hätte sie es auch einfach in unserem Beisein tun können.“
„Eine sehr gute Beobachtung, zu deren Schluss ich im Übrigen auch gekommen bin. Und noch ein Punkt – sie hat während des Hinweises auf den Verwandtschaftsgrad im Anschluss meine Mutter gesagt. Nicht unsere. Daher habe ich mich auch nach dem Alter der Dame erkundigt, denn wenn Lefebres Angabe stimmt, dürfte sie bereits über die Lebensspanne hinaus sein, in der eine Frau Kinder zur Welt bringen kann. Damit steht fest, dass sie in diesem Punkt eindeutig gelogen hat.“
„Aber was genau haben Marie-Jeanne Vallets Liebschaften mit dem Angriff der Bestie zu tun?“
„Nun, man verheimlicht das Resultat einer Liebschaft aus zwei triftigen Gründen. Entweder hat sie den Knaben nicht freiwillig empfangen, oder es gilt die Familienehre zu schützen, indem sie die Identität des Vaters geheim hält. Einfach heiraten konnte sie ihn scheinbar nicht, sonst hätte sie das gewiss getan. Bei einer Gemeinde, die so klein ist wie Paulhac-en-Margeride, dürften sich gewisse Gerüchte schneller verbreiten als ein Lauffeuer. Und was das mit unserer Bestie zu tun hat – nun, eventuell mehr, als wir ahnen. Warum sollte sie Interesse an der Familie hegen? Ich könnte mir vorstellen, dass das eigentliche Ziel gar nicht die Mädchen waren, sondern der Junge. Fragt sich wieder einmal nur, warum.“
„Der uneheliche Sohn einer jungen Frau im Fokus eines mordenden Wandelwesens …“, murmelte Jean nachdenklich.
„Klingt vertraut, hm?“
Jean tat Lasterbalk nicht den Gefallen darauf einzugehen, sondern wechselte rasch auf einen anderen Punkt.
„Sollten wir sie dann nicht warnen oder am besten gleich in Sicherheit bringen? Immerhin leben sie noch und ich fürchte, dass das Biest dies als Anlass nehmen und ihr einen weiteren Besuch abstatten könnte.“
„Das werden wir auch und dabei könntest du eventuell behilflich sein. Und zwar ersuche ich dich darum, so schnell es geht ein Schreiben an Marianna zu senden, mit der Bitte, die Familie vorübergehend im Château aufzunehmen. Dort dürfte es für die Bestie deutlich schwerer werden, an sie heranzukommen. Ich denke, das wird sie dir nicht abschlagen.“
„Denke ich auch. Dann versuchen wir es auf diesem Weg.“
„Sehr gut. Ah, da vorne ist der Wagen.“
Während die Pferde grasten, hatten es sich Falk, Frank, Alea und Luzi in der Zwischenzeit im hohen Gras neben dem Weg bequem gemacht und empfingen die beiden Rückkehrer in gespannter Erwartung. Lasterbalk übernahm es, den Rest der Mitstreiter in Kenntnis zu setzen und kaum hatte er geendet, meldete sich Frank zu Wort.
„Ich kenne den Namen Vallet … er tauchte in den letzten Monaten ein paar Mal in den Rechnungsbüchern des Marquis auf. Ich kann aber nicht mit Gewissheit sagen, ob es sich dabei auch wirklich um die Familie hier in Paulhac-en-Margeride handelt, dafür bräuchte ich die Schriftstücke.“
„Befinden sich die Bücher in Prunières?“, erkundigte sich Lasterbalk und Frank nickte. „Ich werde Henri informieren, dass er die entsprechenden Auszüge nach Paris schicken soll. Er verwaltet die finanziellen Belange der Familie und er ist in seiner Arbeit äußerst gründlich.“
„Wunderbar, dann könnt ihr die jeweiligen Schreiben gleich zusammen senden und dann hoffe ich, dass uns bei unserer Ankunft ein paar Antworten erwarten.“
„Wie gehen wir jetzt wegen der Bestie vor? Angenommen, sie sucht sich unterwegs weitere Opfer, wollen wir dann jedes Mal dort Halt machen und Zeugen befragen? Dann wird es eine Ewigkeit dauern, bis wir in Paris ankommen und den Marquis finden“, gab Alea zu bedenken. Lasterbalk wiegte den Kopf ein wenig und rückte die Brille gerade.
„Mademoiselle Vallet hat sie nach eigener Aussage durch einen tiefen Stich verletzt und damit zur Flucht getrieben. Das heißt, die Wunde dürfte sie zumindest noch ein, zwei Tage beschäftigen. Eventuell hält sie das erst einmal von weiteren Attacken ab. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass sie inzwischen weiß, dass wir ihr auf den Fersen sind. Bestenfalls wird sie sich deshalb nun darauf konzentrieren, so schnell wie möglich nach Paris zu kommen.“
„Dann sollten auch wir keine Zeit mehr verlieren“, entschied Falk, erhob sich und griff nach den Zügeln der Pferde. „Kommt schon, Freunde. Die Hauptstadt wartet.“
Zum Schluss noch ein paar geschichtliche Fakten. Die Figur der Marie-Jeanne Vallet beruht auf einer real existierenden Vorlage, die ich so nah wie möglich übernommen habe. Sie hat damals tatsächlich den Spitznamen "Jungfrau von Gévaudan" erhalten, zum Zeichen ihres Mutes, und wurde auch für einige Zeit zum Sinnbild der Tapferkeit der Menschen gegen die Bedrohung durch die Bestie. Allerdings erhielt sie außer Ruhm nie die versprochene Belohnung, was sie im Laufe ihres späteren Lebens bis zu ihrem Tod noch stark beschäftigte.
Zwei Dinge sind bei mir anders, einmal der Zeitpunkt (der reale Angriff gegenüber Marie-Jeanne fand im August 1765 statt, nicht erst wie hier 1767) und sie hatte erwiesenermaßen noch kein Kind zu diesem Zeitpunkt. Warum diese künstlerische Änderung in der Geschichte noch wichtig ist, wird sich bald schon zeigen.
Ansonsten ist Marie-Jeanne Vallet auch heute noch in Südfrankreich zu finden, da ein Künstler im 20. Jahrhundert ihren Kampf mit der Bestie verewigte. Die Skulptur findet sich heute in Auvers und ist ein beliebter Touristenspot.
Wer noch ein wenig mehr über die echte Marie-Jeanne Vallet erfahren möchte und des Französchen mächtig ist (oder eine Übersetzungssoftware bemühen möchte), dem empfehle ich den Eintrag auf Wikipedia France zu ihrer Person: https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Marie-Jeanne_Vallet
Übrigens, nicht wundern, in englischsprachigen Suchergebnissen wird sie "Valet" geschrieben. Da sie Wikipedia France aber unter Vallet führt und die es in diesem Fall besser wissen müssten, habe ich die Schreibweise mit Doppel-L übernommen.
Frank hielt Wort mit seiner Ankündigung, sich um alle nötigen Vorbereitungen zu kümmern. Bei Anbruch des nächsten Tages stand ein Wagen mit zwei Pferden im Hof, auf dessen Ladefläche bereits Proviant, Decken, Feuerholz und Werkzeuge verstaut waren. Die Tiere trugen zudem Scheuklappen und breite, gepolsterte Riemen über den Nüstern, durch die ihr Geruchsinn erheblich eingeschränkt wurde. Auch wenn Franks Haltung zu Jeans Geschichte deutlich skeptisch war, hatte er doch gewissenhaft Maßnahmen ergriffen, die den drei Werwölfen entgegenkamen.
Der Schreiber stieß zu ihnen, als sie zusammen in der Küche saßen und das trotz der frühen Stunde reichhaltige Frühstück vertilgten, das Marianna zubereitet hatte. Vor allem Luzi und Alea lieferten sich einen regelrechten Wettstreit darin, wer innerhalb kürzester Zeit mehr Essbares in sich hineinstopfen konnte. Im Moment lag der kleine Spielmann mit der dritten Portion vorne, aber der Sänger blieb ihm hartnäckig auf den Fersen. Als Luzi sich durch Franks Ankunft kurzzeitig ablenken ließ, nutzte er die Gunst des Augenblicks und stibitzte die fingerdicke Schinkenscheibe von dessen Teller.
„Gestern Abend wurde ein erneuter Angriff gemeldet“, berichtete dieser, nachdem er Platz genommen hatte und sich von Marianna mit einer Schüssel Hafergrütze und ausreichend Tee versorgen ließ. Damit hatte er schlagartig die Aufmerksamkeit aller gewonnen.
„Wo genau?“, erkundigte sich Lasterbalk.
„Zwischen dem Pachthof Broussoux und Paulhac-en-Margeride , unweit von Auvers.“
„Auvers? Das ist ganz in der Nähe“, hakte Jean ein und runzelte die Stirn. „Was genau ist passiert?“
„Die Opfer waren ein neunzehnjähriges Mädchen und ihre jüngere Schwester. Sie waren auf dem Rückweg, als sie von einer großen, wolfsartigen Kreatur angegriffen wurden.“
„Wurden sie getötet?“
„Nein, sie haben den Angriff sogar relativ unbeschadet überstanden. Die jüngere Schwester berichtete, dass das ältere Mädchen das Biest auf einer Flussinsel mit einer Stange oder Lanze noch bis zum anderen Ufer zurückgedrängt haben soll, ehe es von ihr abließ und in den Wald floh.“
„Das ist äußerst erfreulich“, nickte Lasterbalk und seine Augen blitzten hinter den Brillengläsern auf. „Liegt einer der Orte zufällig auf unserem Weg?“
„Ja, wir kommen direkt durch Paulhac-en-Margeride hindurch“, bestätigte Frank zögerlich. Er tauschte einen Blick mit Jean und auf seiner Stirn bildete sich eine kleine Falte, als er in dessen Augen den gleichen Ausdruck erkannte wie bei dem Magister. „Was habt ihr vor?“
„Wenn sie wohlauf ist, würde ich sie gerne zu dem Vorfall befragen. Vielleicht liefert uns das ein paar wertvolle Hinweise auf das Vorhaben unseres Gegners.“
„Niemand hat direkt behauptet, dass es sich dabei wirklich um die Bestie handelte. Es kann auch einfach ein normaler Wolf gewesen sein, davon haben wir hier schließlich genug“, gab Frank zu bedenken, aber das brachte Lasterbalk nicht von der Idee ab.
„Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir mit ihr sprechen und herausfinden, was da genau passiert ist.“
„Ich frage mich eines – angenommen, es war die Bestie. Warum ist sie immer noch hier in der Gegend, wenn sich Apcher doch auf direktem Weg nach Paris befindet? Ist er doch nicht das Hauptziel oder hat sie sogar auf uns gewartet? Das alles macht irgendwie keinen richtigen Sinn“, grübelte Falk laut.
„Auch das finden wir am besten vor Ort raus.“ Lasterbalk schob den Teller zur Seite und erhob sich. „Ich schlage vor, wir brechen in spätestens einer halben Stunde auf. Ist jeder so weit?“
Zustimmendes Nicken war die Antwort, bis sich Marianna zu Wort meldete. „Einen Augenblick noch, Messieurs. Habt Ihr etwas zu Schreiben zur Hand?“ Anstelle von Lasterbalk zog Frank ein Notizbuch sowie einen Bleistift hervor, befeuchtete die Spitze und blickte die Haushälterin fragend an.
„Wenn ihr in Paulhac-en-Margeride seid, begebt euch von der Hauptstraße aus direkt zur Kirche. Dahinter findet ihr das Haus der Familie Lefebre – fragt nach André, er ist der Mann meiner Schwester und der einzige Wachtmeister vor Ort. Eine eigene Gendarmerie gibt es dort nicht, dafür fordern sie im Zweifelsfall Leute aus Saugues an, aber wenn wirklich einmal etwas passiert, ist er auf jeden Fall im Bilde. Bestellt ihm schöne Grüße von mir, dann dürfte er euch in allen Fragen zur Verfügung stehen.“
„Das ist wunderbar, aufrichtigen Dank für Eure Hilfe.“ Falk schenkte ihr ein herzliches Lächeln, was Marianna umgehend erröten ließ.
„Sehr gerne, Monsieur Falk. Ich würde euch in dieser Angelegenheit nur allzu gerne begleiten, aber mich hält leider die Pflicht hier. Auch wenn im Moment nicht viel zu tun ist, braucht es doch jemanden, der nach dem Rechten sieht.“
„Da habt Ihr völlig recht, Madame.“
„Würdet Ihr mir vor Eurer Abreise noch die Gunst erweisen und die Seitentür gründlich verbarrikadieren, so dass wirklich niemand mehr unverhofft hereinkommen kann?“
„Mit dem größten Vergnügen“, lächelte dieser dienstbeflissen und stand ebenfalls auf, was das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch bedeutete. Luzi schnappte sich im Gehen noch einen zentimeterdicken Kanten Brot, ein Stück Käse und eine Handvoll getrockneter Pflaumen, die er allesamt mit einem Grinsen vor dem Sänger in Sicherheit brachte. Lasterbalk bot Frank an, mit ihm zusammen die letzten Inspektionen am Wagen vorzunehmen und Alea begab sich zu dem Quartier, das er mit Luzi und Lasterbalk geteilt hatte, um die Gepäckstücke zu holen.
Auch Jean machte sich auf den Weg zu seinen Räumlichkeiten, wo sein Reisebündel fertig geschnürt auf ihn wartete. Wie erhofft war es eine Wohltat, nicht mehr auf die Kleidung anderer angewiesen zu sein, und in weiser Voraussicht hatte er gleich all seine verbliebenen Habseligkeiten zusammengepackt, inklusive der Paradeuniform. Gestern noch hatte es sich unwirklich angefühlt, wieder in die altbekannten Kammern zu ziehen und heute verließ er diese abermals in dem Wissen, dass er sie endgültig nicht mehr betreten würde. Erst das Priorat, nun das Château und als nächstes Paris – gerade war es ein wenig, als reise er nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zurück und breche dort nach und nach seine Zelte ab.
Er schulterte den Rucksack mit seinen Habseligkeiten, ehe er nach Gehrock und Dreispitz griff und den Raum, der ihm jahrelang ein Zuhause gewesen war, ein letztes Mal betrachtete. Dann wandte er sich endgültig ab, durchschritt die Tür und eilte den Gang entlang nach draußen, wo der Wagen abfahrtsbereit wartete.
***
Die Weiterreise nach Norden verlief ohne Zwischenfälle und auch die Rechnung mit den Pferden ging erfreulicherweise auf. Jean, Luzi und Alea hielten sich nach Möglichkeit im hinteren Bereich des Wagens auf und versuchten, den Zugtieren so wenig Irritation wie möglich zu bieten, während sich Lasterbalk, Falk und Frank auf dem Kutschbock abwechselten. Auf die ursprüngliche Idee, das Gefährt in Wolfsform zu begleiten verzichteten sie vorerst, da dies mitunter zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte. Je weiter sie sich von dem Zentralmassiv entfernten, desto spärlicher wurden die Wälder; stattdessen beherrschten weitläufige Wiesen und Felder die Landschaft. Schlechte Bedingungen also für schnelle Versteckmöglichkeiten und außerdem war es mitten am helllichten Tag.
Als sie Paulhac-en-Margeride gegen Mittag erreichten, stellten sie fest, dass der Ort nicht viel größer war als Prunières. Anstelle einer Wehranlage war es hier die wuchtige, geradlinige Silhouette einer romanischen Kirche, die sich im Zentrum der Gemeinde erhob und das Stadtbild am ehesten prägte. Die niedrigen Häuser, die sich darum verteilten, drängten sich regelrecht schutzsuchend an die Mauern des Gotteshauses.
„Ich denke es wäre vernünftig, wenn wir nicht alle geschlossen bei den Lefebres einfallen“, gab Lasterbalk zu bedenken, als sie den Wagen am Rand der Hauptstraße anhielten. „Womöglich könnte dadurch ein falscher Eindruck entstehen. Daher schlage ich vor, dass ich mit André Lefebre rede und ihn um ein Gespräch mit den geschädigten Damen bitte.“
„Ich begleite dich“, entschied Jean und sprang vom Wagen, ehe Lasterbalk einen Einwand vorbringen konnte. „Vier Ohren hören mehr als zwei und vielleicht fällt mir etwas auf, für das feinere Sinne notwendig sind.“
„Hm. Gute Idee“, stimmte der Magister schließlich nach kurzer Überlegung zu. „Aber halte dich am besten im Hintergrund.“
„In Ordnung.“
„Wir warten am Ortsende auf euch. Hier stehen zu bleiben wäre auf längere Zeit zu auffällig“, verabschiedete Falk die beiden, nahm den Platz auf dem Kutschbock ein und ließ den Wagen wieder anrollen, kaum dass sich Lasterbalk und Jean in Bewegung gesetzt hatten und auf die schmale Gasse zuhielten.
„Du wächst langsam in deine Rolle hinein, habe ich den Eindruck“, bemerkte Lasterbalk, als sie sich zwischen den engstehenden Häusern bewegten. Jean zuckte die Schultern.
„Was bleibt mir anderes übrig?“
„Das meine ich nicht – natürlich musst du dich damit arrangieren. Aber wenn ich dich so ansehe, bekomme ich allmählich das Gefühl, dass du deine neue Identität nicht nur akzeptierst, sondern sie darüber hinaus auch annimmst.“
Jean blieb stehen und musterte den größeren Mann nachdenklich. „Was lässt dich darauf schließen?“
„Deine Haltung. Du wirkst ausgeglichener als vor ein paar Tagen.“
Jean dachte kurz an die abermals schlafarme letzte Nacht und die Umstände, die dazu geführt hatten und schüttelte leicht den Kopf. „Den Eindruck habe ich nicht wirklich.“
„Die Details, mein Freund. Die Details verraten eine Menge.“
„Willst du dir deine Beobachtungsgabe nicht lieber für die Befragung aufsparen?“
Lasterbalk lachte leise.
„Die Nutzung dieser Gabe führt nicht zu deren Verschleiß, im Gegenteil. Man schärft sie damit wie ein gutes Schwert“, verkündete er salbungsvoll, ehe er zu dem schmalen, zweistöckigen nickte. „Dann wollen wir mal unser Glück versuchen.“
Glück hatten sie auf Anhieb, denn bei der Frau, auf die sie zuerst stießen, handelte es sich um die Vermieterin des gesuchten Gesetzeshüters. Mit einem knappen Nicken schickte sie die beiden Männer in den ersten Stock, ehe sie damit fortfuhr, das unebene Pflaster vor ihrer Tür zu kehren. Lasterbalk und Jean dankten und erklommen die Stufen, an deren Ende sie schließlich vor einer schmalen Tür landeten. Auf ihr Klopfen hin ertönten nach ein paar Sekunden schlurfende Schritte und dann standen sie auch schon vor Mariannas Schwager.
André Lefebre entpuppte sich als hagerer Mann Ende fünfzig, dessen Haupthaar nur noch aus einem grauen Kranz bestand. Wie Lasterbalk trug er eine Brille, hinter der grüne Augen die beiden Fremden mit einem wachen Ausdruck musterten. Als Lasterbalk sie beide vorstellte und ihr Anliegen nannte, furchte sich die faltige Stirn noch ein wenig mehr und ließ sich auch durch Mariannas Grußworte nicht wirklich glätten.
„Verzeiht mir Messieurs, aber worin genau bestehen Eure Beweggründe, mit Mesdemoiselles Vallet sprechen zu wollen?“, fragte er, nachdem Lasterbalk geendet hatte.
„Es sind persönliche Gründe“, wich dieser aus und notierte sich gedanklich gleich den Namen. „Sozusagen zum Zwecke der Nachforschung.“
„Welche Art von Nachforschung?“, ließ Lefebre nicht locker und bewegte Jean dazu, entgegen Lasterbalks Anweisung nun doch etwas beizutragen. „Ich nehme an, Ihr kennt die Gerüchte um die Bestie des Gévaudan?“
Lefebre verzog verdrossen das Gesicht. „Natürlich. Wer könnte in dieser Gegend leben und nichts davon mitbekommen.“
„Wir möchten nur kurz mit Mesdemoiselles Vallet reden. Vielleicht verraten uns die Umstände, unter denen der Angriff vonstatten ging, ob wir es mit dem Wesen zu tun haben oder nicht.“
Der Mangel an Begeisterung stand Lefebre ins Gesicht geschrieben, doch schließlich seufzte er und erwiderte: „Ich kann euch zu ihnen bringen, doch ich verspreche nicht, dass sie auch mit euch reden werden.“
„Wir wären Euch zutiefst verbunden.“
Der Wachtmeister murmelte etwas Unverständliches, griff nach seinem Hut und schob sich an den beiden Männern vorbei zur Treppe. Sie folgten ihm hinab in die schmale Gasse und weiter durch den Ort, wo André Lefebre schließlich wieder das Wort ergriff.
„Verzeiht mir meine Direktheit, aber gehört ihr zu den königlichen Spinnern, die seit Monaten die Wälder nach diesem angeblichen Biest durchkämmen?“
Jean und Lasterbalk tauschten einen vielsagenden Blick, dann erwiderte der Magister: „Nicht direkt. Ihr haltet nicht viel von dieser Geschichte, Monsieur?“
Ein Schnauben ertönte, dann antwortete Lefebre: „Das Gévaudan war schon immer eine Gegend der Wölfe. Wenn Ihr mich fragt, dann sind es die Menschen, die hier geduldet werden, nicht umgekehrt. Daher denke ich, dass der Angriff höchstens von einem tollwütigen Tier stammt, weniger von einem mystischen.“
„Aber selbst, wenn es ein tollwütiger Wolf war, ist es schon bemerkenswert, dass ein Mädchen von neunzehn Lenze sich und seine Schwester gegen ihn verteidigen konnte. Mademoiselle Vallet muss talentiert im Umgang mit Waffen sein oder sämtliche Schutzengel des Herren an ihrer Seite gehabt haben.“
„Wie auch immer, die Menschen hier leben in ständiger Furcht und sehen sie seit dem gestrigen Vorfall als Heldin. Manche betiteln sie bereits als die tapfere Jungfrau von Gévaudan. Daher seid sorgsam im Umgang mit den Fragen, die ihr an sie stellt.“
„Das werden wir sein, keine Sorge.“
Der Weg führte sie in einem kurzen Marsch in Richtung Fluss und zu einem abgelegenen Haus, das mehr der Hütte eines Tagelöhners glich. Die lehmverputzten Wände hatten Risse und das Strohdach gehörte dringend geflickt, doch er kleine Garten, der sich davor befand, machte einen gepflegten Eindruck. Als sie das niedrige Tor erreichten, erhob sich eine junge Frau zwischen den Beeten und blickte ihnen mit unverhohlenem Misstrauen entgegen.
„Ich grüße dich, Marie-Jeanne“, rief Lefebre und winkte ihr zu. „Eigentlich störe ich dich nur ungern bei der Arbeit, aber ich habe hier zwei Herren, die dich suchen. Ist deine Schwester ebenfalls zu Hause?“
„Bonjour, Monsier Lefebre. Therese ist auf dem Markt in Auvers, sie wird wahrscheinlich erst gegen Abend zurückkehren. Aber vielleicht kann ich auch allein helfen?“
„Bestimmt, es geht um die Sache von gestern.“
Er hob vielsagend die Augenbrauen und Marie-Jeanne Vallets Blick wurde noch eine Spur ernster.
„Bonjour, Messieurs“, grüßte sie die Neuankömmlinge verhalten und musterte Lasterbalk und Jean eindringlich. „Darf ich fragen, wer ihr seid?“
„Natürlich“, erwiderte Lasterbalk lächelnd und stellte sowohl sich als auch Jean vor. „Wir haben von dem Vorfall gehört und hätten an paar Fragen an Euch, Mademoiselle. Dürfen wir eintreten?“
Sie nickte knapp, deutete mit dem Kinn auf die Haustür und ging vor. Die drei Männer folgten in das Innere der Hütte, die im Gegensatz zu dem ärmlichen Äußeren spärlich, aber sauber war. In der einen Ecke fanden sich eine Kochfeuerstelle mit ein paar Küchenutensilien sowie ein Tisch und Stühle für vier Personen. Auf der gegenüberliegenden Seite stapelten sich mehrere Strohsäcke mit Decken, die ausgelegt als Schlafstatt dienten. Am auffälligsten war eine geflochtene Korbwiege, die mitten im Raum stand und aus der leise, glucksende Geräusche ertönten. Marie-Jeanne deutete den Besuchern sich an den Tisch zu setzen, ehe sie einen raschen Blick in die Wiege warf und dann zur Kochstelle ging, wo sie aus einem Eimer Wasser in einen Krug schöpfte und diesen mit ein paar Bechern servierte.
„Verzeiht, wir haben keinen Wein im Haus.“
„Euch sei verziehen.“ Lasterbalk nippte an dem Becher, stellte ihn zur Seite und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Bitte erzählt uns in eigenen Worten, was gestern geschehen ist.“
Die junge Frau wechselte einen Blick mit dem Wachtmeister und begann dann leise und stockend: „Therese – meine jüngere Schwester - und ich waren unterwegs nach Broussoux, um Mehl und Eier zu holen. Wir wollten zurück sein, ehe die Nacht anbricht, da die Wälder im Moment noch gefährlicher sind. Als wir auf halber Strecke die Holzbrücke mit der Flussinsel überquerten, standen wir plötzlich einem Wolf gegenüber. Ich dachte er würde verschwinden, wenn wir laut genug wären, doch stattdessen hat er uns angeknurrt und machte keine Anstalten, den Weg freizugeben.“
„War es ein normaler Wolf oder war an diesem etwas ungewöhnlich?“, fragte Lasterbalk dazwischen. Sie überlegte kurz, dann antwortete sie: „Er war sehr groß, ungefähr wie ein Herdenhund. Er hatte einen breiten, flachen Kopf; sein Maul war im Inneren sehr dunkel und seine Zähne schimmerten ungewöhnlich hell. Sein Fell war rotbraun und er trug eine Menge Narben und Kampfspuren auf der Haut.“
Ein Blick zu Jean, gefolgt von der Andeutung eines Nickens. „Fahrt bitte fort.“
„Ich hatte eine Stange dabei mit Papas altem Bajonett, die hatten wir uns zur Verteidigung zusammengebunden. Jedenfalls hob ich diese und da griff das Biest auch schon an. Ich habe es zwischen den Rippen erwischt und konnte es zurückdrängen, jedenfalls sprang es danach jaulend ins Wasser und ist in Richtung Waldrand verschwunden.“
„Wurde von euch jemand bei dem Angriff verletzt?“, erkundigte Jean sich und verspürte Erleichterung, als Marie-Jeanne verneinte.
„Nur ein paar Kratzer und Schürfwunden, nichts schlimmes.“
„Keine Bisse?“
„Nein.“
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als sich das leise Glucksen im Hintergrund in ein klägliches Wimmern wandelte. Marie-Jeanne sprang auf und eilte zu der Wiege, griff vorsichtig hinein und hob den Säugling mit geübten Bewegungen heraus.
„Schhh, ist ja gut“, flüsterte sie und schaukelte das Kind sachte, woraufhin es sich wieder ein wenig beruhigte und an seinem Daumen nuckelnd an sie schmiegte. Der Anblick brachte Lasterbalk auf eine weitere Frage, die er bisher noch gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
„Laut Bericht wart Ihr mit Eurer Schwester in den Angriff verwickelt, ist das richtig?“
Sie zögert kurz mit einer Antwort, doch dann meinte sie: „Nicht ganz, Therese ist sofort weggelaufen. Und wir hatten Theo noch dabei. Maman und Papa sind tagsüber auf den Feldern und er ist noch zu klein, um allein zu bleiben.“
„Ein prächtiger Bursche. Euer Sohn?“
„Mein Bruder.“ Die Antwort kam so schnell, als habe sie bereits mit der Frage gerechnet und sie drückte den Knaben dabei noch ein klein wenig mehr an ihre Brust. „Ich kümmere mich hauptsächlich um ihn, wenn meine Mutter es nicht kann.“
„War Euer Bruder bei Euch oder Eurer Schwester?“
„Bei mir. Therese kann nicht so gut mit ihm umgehen, daher trug ich ihn im Tuch auf dem Rücken. Das ist auch der Grund, warum ich die Waffe hatte; wäre ich weggelaufen, hätte der Wolf uns bestimmt erwischt und Theo ist doch noch so klein und wehrlos.“ Der Gedanke brachte ihre Stimme zum Zittern und die Unruhe schien sich auf das Kind zu übertragen, denn es wand sich in ihren Armen und zog mit beiden Händen am Halsausschnitt ihres Kleides. Sie versuchte es mit den gleichen Schaukelbewegungen zu beruhigen und fragte unvermittelt: „Gibt es noch etwas, dass ihr wissen wollt, Messieurs? Ansonsten möchte ich euch bitten zu gehen, ich muss mich um Theo kümmern. Er hat sicherlich Hunger.“
„Nein, wir haben keine weiteren Fragen, Mademoiselle. Ich danke Euch für Eure Zeit und Eure Hilfe.“
Lasterbalk erhob sich und deutete eine Verbeugung an, schritt zur Tür und bückte sich unter dem niedrigen Türsturz hindurch nach draußen. Jean und Lefebre dankten ebenfalls und folgten dem Magister auf dem gleichen Weg. Kaum hatten sie den Fuß über die Schwelle gesetzt, schloss Marie-Jeanne die Tür geräuschvoll und man vernahm das Scharren eines Riegels, der sicherheitshalber gleich mit vorgeschoben wurde.
Schweigend durchquerten sie den Garten und schlugen den Weg zurück zur Dorfmitte ein. Erst, als sie die Hauptstraße erreicht hatten, ergriff Lasterbalk wieder das Wort.
„Gestattet mir zwei letzte Fragen, Monsieur Lefebre – wie alt ist die Mutter von Mademoiselle Vallet und wie viele Angriffe gab es vor diesem schon im direkten Umfeld von Paulhac-en-Margeride?“
„Ähm, nun, Madame Vallet dürfte ein wenig jünger sein als ich. Genau weiß ich es nicht. Und es gab bis jetzt einen Angriff auf einen Hirtenjungen aus Auvers, das liegt allerdings schon zwei Jahre zurück und fand ein gutes Stück südlicher statt.“
„Hat der Junge überlebt?“
„Bedauerlicherweise nicht.“
„Dann weiß ich jetzt alles, was ich wissen muss. Habt Dank für Eure Hilfe, Monsieur.“
„Gut. Schön. Dann viel Erfolg mit Euren Theorien.“
André Lefebre tippte gegen die Krempe seines Hutes, nickte Jean noch einmal zu und machte dann, dass der davonkam, sichtlich erleichtert darüber, dass er die unverhofften Besucher damit wieder los war.
Lasterbalk und Jean schlugen die Gegenrichtung ein und kaum war Lefebre außer Hörweite, wandte Jean sich in gedämpftem Tonfall an den Magister.
„Also, wie lauten deine Erkenntnisse?“
„Das Mademoiselle Vallet uns nicht in allen Punkten die Wahrheit gesagt hat.“
„Denkst du, sie hat etwas an den Vorgängen verschwiegen?“
„Den Angriff betreffend nicht, nein. Ich gehe davon aus, dass sich das wirklich so abgespielt hat, wie von ihr geschildert wurde. Aber das Kind, dass sie dabeihatte, ist gewiss nicht ihr Bruder, sondern ihr leiblicher Sohn.“
„Hm. Dann hattest du den gleichen Gedanken wie ich, auch wenn sie es strikt verneint hat.“
„Ich bin neugierig, woran hast du es bemerkt?“
„Die Art und Weise, wie sie mit dem Kleinen umging. Das war fast zu vertraut für Geschwister. Und da war etwas in ihrem Geruch, dass ich nicht zuordnen konnte, bis … naja, bis sie erwähnte, dass das Kind hungrig sein könnte.“
„Ja, und?“, wollte Lasterbalk wissen, als Jean nicht fortfuhr und seine Augen funkelten amüsiert, als dieser tatsächlich rot wurde.
„Nun sie … ich denke, dass sie ihn noch stillt. Deshalb wollte sie auch nicht, dass wir bleiben, um sich nicht zu verraten. Würde sie das Kind mit der Flasche füttern, hätte sie es auch einfach in unserem Beisein tun können.“
„Eine sehr gute Beobachtung, zu deren Schluss ich im Übrigen auch gekommen bin. Und noch ein Punkt – sie hat während des Hinweises auf den Verwandtschaftsgrad im Anschluss meine Mutter gesagt. Nicht unsere. Daher habe ich mich auch nach dem Alter der Dame erkundigt, denn wenn Lefebres Angabe stimmt, dürfte sie bereits über die Lebensspanne hinaus sein, in der eine Frau Kinder zur Welt bringen kann. Damit steht fest, dass sie in diesem Punkt eindeutig gelogen hat.“
„Aber was genau haben Marie-Jeanne Vallets Liebschaften mit dem Angriff der Bestie zu tun?“
„Nun, man verheimlicht das Resultat einer Liebschaft aus zwei triftigen Gründen. Entweder hat sie den Knaben nicht freiwillig empfangen, oder es gilt die Familienehre zu schützen, indem sie die Identität des Vaters geheim hält. Einfach heiraten konnte sie ihn scheinbar nicht, sonst hätte sie das gewiss getan. Bei einer Gemeinde, die so klein ist wie Paulhac-en-Margeride, dürften sich gewisse Gerüchte schneller verbreiten als ein Lauffeuer. Und was das mit unserer Bestie zu tun hat – nun, eventuell mehr, als wir ahnen. Warum sollte sie Interesse an der Familie hegen? Ich könnte mir vorstellen, dass das eigentliche Ziel gar nicht die Mädchen waren, sondern der Junge. Fragt sich wieder einmal nur, warum.“
„Der uneheliche Sohn einer jungen Frau im Fokus eines mordenden Wandelwesens …“, murmelte Jean nachdenklich.
„Klingt vertraut, hm?“
Jean tat Lasterbalk nicht den Gefallen darauf einzugehen, sondern wechselte rasch auf einen anderen Punkt.
„Sollten wir sie dann nicht warnen oder am besten gleich in Sicherheit bringen? Immerhin leben sie noch und ich fürchte, dass das Biest dies als Anlass nehmen und ihr einen weiteren Besuch abstatten könnte.“
„Das werden wir auch und dabei könntest du eventuell behilflich sein. Und zwar ersuche ich dich darum, so schnell es geht ein Schreiben an Marianna zu senden, mit der Bitte, die Familie vorübergehend im Château aufzunehmen. Dort dürfte es für die Bestie deutlich schwerer werden, an sie heranzukommen. Ich denke, das wird sie dir nicht abschlagen.“
„Denke ich auch. Dann versuchen wir es auf diesem Weg.“
„Sehr gut. Ah, da vorne ist der Wagen.“
Während die Pferde grasten, hatten es sich Falk, Frank, Alea und Luzi in der Zwischenzeit im hohen Gras neben dem Weg bequem gemacht und empfingen die beiden Rückkehrer in gespannter Erwartung. Lasterbalk übernahm es, den Rest der Mitstreiter in Kenntnis zu setzen und kaum hatte er geendet, meldete sich Frank zu Wort.
„Ich kenne den Namen Vallet … er tauchte in den letzten Monaten ein paar Mal in den Rechnungsbüchern des Marquis auf. Ich kann aber nicht mit Gewissheit sagen, ob es sich dabei auch wirklich um die Familie hier in Paulhac-en-Margeride handelt, dafür bräuchte ich die Schriftstücke.“
„Befinden sich die Bücher in Prunières?“, erkundigte sich Lasterbalk und Frank nickte. „Ich werde Henri informieren, dass er die entsprechenden Auszüge nach Paris schicken soll. Er verwaltet die finanziellen Belange der Familie und er ist in seiner Arbeit äußerst gründlich.“
„Wunderbar, dann könnt ihr die jeweiligen Schreiben gleich zusammen senden und dann hoffe ich, dass uns bei unserer Ankunft ein paar Antworten erwarten.“
„Wie gehen wir jetzt wegen der Bestie vor? Angenommen, sie sucht sich unterwegs weitere Opfer, wollen wir dann jedes Mal dort Halt machen und Zeugen befragen? Dann wird es eine Ewigkeit dauern, bis wir in Paris ankommen und den Marquis finden“, gab Alea zu bedenken. Lasterbalk wiegte den Kopf ein wenig und rückte die Brille gerade.
„Mademoiselle Vallet hat sie nach eigener Aussage durch einen tiefen Stich verletzt und damit zur Flucht getrieben. Das heißt, die Wunde dürfte sie zumindest noch ein, zwei Tage beschäftigen. Eventuell hält sie das erst einmal von weiteren Attacken ab. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass sie inzwischen weiß, dass wir ihr auf den Fersen sind. Bestenfalls wird sie sich deshalb nun darauf konzentrieren, so schnell wie möglich nach Paris zu kommen.“
„Dann sollten auch wir keine Zeit mehr verlieren“, entschied Falk, erhob sich und griff nach den Zügeln der Pferde. „Kommt schon, Freunde. Die Hauptstadt wartet.“
Zum Schluss noch ein paar geschichtliche Fakten. Die Figur der Marie-Jeanne Vallet beruht auf einer real existierenden Vorlage, die ich so nah wie möglich übernommen habe. Sie hat damals tatsächlich den Spitznamen "Jungfrau von Gévaudan" erhalten, zum Zeichen ihres Mutes, und wurde auch für einige Zeit zum Sinnbild der Tapferkeit der Menschen gegen die Bedrohung durch die Bestie. Allerdings erhielt sie außer Ruhm nie die versprochene Belohnung, was sie im Laufe ihres späteren Lebens bis zu ihrem Tod noch stark beschäftigte.
Zwei Dinge sind bei mir anders, einmal der Zeitpunkt (der reale Angriff gegenüber Marie-Jeanne fand im August 1765 statt, nicht erst wie hier 1767) und sie hatte erwiesenermaßen noch kein Kind zu diesem Zeitpunkt. Warum diese künstlerische Änderung in der Geschichte noch wichtig ist, wird sich bald schon zeigen.
Ansonsten ist Marie-Jeanne Vallet auch heute noch in Südfrankreich zu finden, da ein Künstler im 20. Jahrhundert ihren Kampf mit der Bestie verewigte. Die Skulptur findet sich heute in Auvers und ist ein beliebter Touristenspot.
Wer noch ein wenig mehr über die echte Marie-Jeanne Vallet erfahren möchte und des Französchen mächtig ist (oder eine Übersetzungssoftware bemühen möchte), dem empfehle ich den Eintrag auf Wikipedia France zu ihrer Person: https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Marie-Jeanne_Vallet
Übrigens, nicht wundern, in englischsprachigen Suchergebnissen wird sie "Valet" geschrieben. Da sie Wikipedia France aber unter Vallet führt und die es in diesem Fall besser wissen müssten, habe ich die Schreibweise mit Doppel-L übernommen.