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Indizierter Schlafmangel

Kurzbeschreibung
OneshotFreundschaft, Schmerz/Trost / P6 / Gen
Rechtsmediziner Professor Karl Friedrich Boerne Rechtsmedizinerin Silke Haller
27.03.2023
27.03.2023
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A/N: Hieran ist Chepseh schuld. Na, und Wolfsstunde. Und mein traumatisiertes Rewatch-Murmeltier. Na gut, und vielleicht ein bisschen auch, was die liebe Chepseh so schön als „bleibende Liebe“ beschrieben hat. Ich finde, das kann einfach mal so stehenbleiben. Alles aus Alberichs PoV.


Indizierter Schlafmangel

Ein Blick auf die Uhr. Vermutlich der zehnte schon in der letzten halben Stunde. 0:40 Uhr.l Gott, verdammt warum?l Ein tiefes, beinahe wütendes Schnauben, das sie bis in ihre Zehenspitzen spüren konnte. Dann starrte sie auf dem Rücken liegend wieder die dunkle Zimmerdecke an.

Hände artig auf der Bettdecke übereinandergeschlagen wartete sie erneut ungeduldig darauf, dass ihr verfluchtes Hirn endlich Ruhe geben würde.

Man! Es war doch nur ein Satz. Ein bescheuerter, blöder Satz. Völlig lapidar und fast beiläufig dahingesagt. Nichts zu bedeuten, also auch nichts zum Auswerten für ihrer behämmerten Synapsen, die dennoch seit Stunden verzweifelt versuchten irgendwelche Verknüpfungen herzustellen, um ein verwirrtes Neuron mit einem anderen verwirrten zu verkuppeln.

Stöhnend schlug sie sich die Hände vors Gesicht. Ganz schlechtes Bild in diesem Zusammenhang, Silke. Mindestens genauso kontraproduktiv, wie sich erneut diesen einen fatalen Satz vom heutigen Nachmittag ins Gedächtnis zu rufen. Ihr amoklaufender Verstand tat es natürlich dennoch. Das Ding kannte eben momentan kein Erbarmen.

„Na, da hatte Dr. Lovechat aber ein deutlich benutzerfreundlicheres Design. Finden Sie nicht auch, Alll…?“

Unter anderen Umständen hätte sie sein perplexes Gesicht durchaus niedlich gefunden, wie er dagesessen hatte, der Mund halb geöffnet all seiner Worte beraubt. Unter anderen Umständen hätte sie wohl frech über seinen hochroten Kopf mit den weit aufgerissenen Bambiaugen gekichert. Vielleicht hätte sie seine Verlegenheit sogar mal wieder wohlwollend als putzig bezeichnet.

Aber dies waren nun mal nicht solche anderen Umstände. Also zuckte sie auch jetzt noch unwillkürlich zusammen, während sich die bizarre Szenerie erneut vor ihrem inneren Auge abspielte. Sie beide komikhaft eingefroren mitten in ihren Bewegungen, als wären sie auf frischer Tat ertappt worden. Naja, irgendwie war es ja auch so gewesen. Nur war der Überführer dieses Mal sein viel zu schnell arbeitendes Unterbewusstsein gewesen.

Es hatte ein paar quälende Sekunden gedauert, bis er nach einem hektischen Blickwechsel mit ihr aus seiner Schockstarre gefallen war, um diese verdammte Datingwebseite endlich wegzuklicken.

Was hatte er sich nur dabei gedacht? Vermutlich gar nichts. Also wie immer. Zumindest hatte sie das aus seinem nervösen Geplapper danach interpretiert. Und dann? Dann hatten sie das getan, was sie in diesen Situationen immer machten. Kurzes aufgepeitschtes, gekünsteltes Lachen. Einen kräftigen derben Spruch über irgendetwas anderes belangloses drüberbügeln und dann bitte einfach stoisch totschweigen bis so viel Gras über die Sache gewachsen war, dass man sie beim besten Willen eh nicht mehr wiederfinden würde im eigenen Gedächtnis.

Alles wie immer. Alles nach Plan. Und dennoch lag sie nun hier und glotzte ihre Zimmerdecke so intensiv an, als wäre sie das Ebenbild des Deckenfreskos der Sixtinischen Kapelle. Nur gab es hier eben absolut gar nichts Spannendes zu entdecken. Außer den Frust darüber, dass der morgige Tag mit diesem Schlafmangel eh schon wieder gelaufen war. Toll, danke für gar nichts Boerne!

Natürlich war ER schuld. Das war einfach und vor allem bequem. Was musste er auch wieder so unbedacht daherreden, wie ihm der Mund gewachsen war? Aber der werte Herr hatte das sicher längst abgehakt. Vermutlich lag er beseelt von einer halben Flasche Rotwein oder auch einer ganzen in seinem sündhaft teuren Designerbett und ratzte diesen kleinen Patzer seines Verstandes einfach in aller Seelenruhe weg.

Wieder schnaubte sie zornig auf und riss die Hände vom Gesicht, um sie zu kleinen festen Fäusten zusammenzuballen. Das war doch nicht fair. Das war ganz und gar nicht gerecht.

Aber nicht mit ihr. Verstohlen blickte sie erneut zur Seite. Ja, warum eigentlich nicht? Die Idee war gut. Ein bisschen perfide vielleicht, aber warum das nicht mal ausnutzen, dass sie ihn so in- und auswendig kannte. Dass sie genau wusste, dass er nach einem solchen Tag gern mal vergaß sein Handy auszuschalten. Wenn es gut lief, dann hatte sie wenigstens die Genugtuung mit ihrem Schlafdefizit nicht allein zu sein.

Entschlossen ihren Gedanken Taten folgen zu lassen, setzte sie sich auf. Rasch griff sie nach ihrem Handy. Kurz kam sie ins Stocken. Ja, aber was sollte sie ihm denn jetzt schreiben? Was würde ihn, wenn er es denn las, lang genug beschäftigen. So sehr beschäftigen, dass es ihn ebenfalls um den Schlaf bringen würde?

Sie ging alles durch. Knifflige Fallfragen verwarf sie sofort. Dafür würde er sie nur sofort anrufen und ihr ein Ohr abkauen. Ein banales Rätsel, an dem er sich abarbeiten konnte, fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. Bevor sie sich frustriert, wieder aufs Bett warf, tippten ihre Finger fast schon von allein ein, was sie doch eigentlich wirklich wissen wollte.

‚Was war das heute? Denken Sie manchmal noch an Tristan?‘

Verdutzt blickte sie auf diese beiden Sätze. Das konnte sie nicht absenden. Nein, das ging nicht. Das brach doch völlig ihre seit Jahren etablierte eiserne Regel. Die gab es ja nicht ohne Grund.

Es passierte so schnell, als hätten ihre Finger ein Eigenleben entwickelt und sich mit ihrem hinterhältigen Unterbewusstsein gegen sie verbrüdert. Und dann war die Nachricht auch schon verschickt.

Sie zwang sich nicht panisch zu werden. Oder etwas Kindisches zu unternehmen, wie etwa die Nachricht sofort wieder zu löschen. Dennoch musste sie arg gegen den Impuls ankämpfen, nicht wie ein verschüchtertes Schulmädchen das Handy flink in die Ecke zu werfen. Wenn sie Glück hatte, schlief er so tief, wie sie es vermutete. Dann las er das maximal nach dem Aufwachen und dann…

Damit flog das Handy dann doch schnell aus ihrer Hand an das andere Ende des Betts, während sie sich mit einem stummen Schrei erneut die Hände vors Gesicht hielt. Was hatte sie nur getan? Wie zum Teufel war sie nur auf diese Idee gekommen und hatte sie für gut befunden? Langsam, aber sicher zweifelte sie an ihrer eigenen Intelligenz.

Das plötzliche Aufleuchten eines Displays im dunklen Zimmer ließ ihr jedoch keine Zeit dies weiter zu analysieren. Durch ihre Finger sickerte das grelle Licht zu ihren Augen hindurch. Für einen Moment starrte sie das helle Etwas nur verständnislos an. Dann riss sie sich zusammen und nahm mit pochendem Herzen das kleine Gerät wieder in die Hand.

1 Nachricht von Karl-Friedrich Boerne. - 0:58 Uhr.

Es war, als wenn sie diese winzige Information verhöhnen wollte. Sie musste sofort nach ihrer eigenen gekommen sein. Also wäre Löschen eh sinnlos gewesen. Flüchtig fragte sie sich, ob er selbst kurz davor gewesen war, sie zu kontaktieren. Anders konnte sie sich diese rasante Reaktion nicht erklären. Außerdem. Mit nächtlichem Schreiben bis in die Morgenstunden hatten sie ja Übung, auch wenn diese Jahre zurücklag.

Sie zögerte nur einen Moment. Dann öffnete sie mit zittrigen Fingern den Chatverlauf mit ihrem Chef.

‚Nein.‘

Nur ein einziges Wort. Kein Wunder also, dass er so schnell gewesen war. Ok. Das war eindeutig und es stach dennoch überraschend stark in ihrer Brust. Ihr war auch nicht entgangen, dass er ihre erste Frage glatt ignorierte mit dieser Antwort.

Aber was hatte sie erwartet? Hatte sie wirklich auf eine andere Antwort gehofft? Eigentlich war diese doch recht passabel…für seine Verhältnisse sogar irgendwie…nett. Kein dummer Spruch. Kein Verspotten. Kein boernescher Ausraster, was ihr denn einfiel. Kein Ja. Was wieder ganz andere Komplikationen mit sich gebracht hätte. Alles in allem war das also durchaus positiv…und doch.

In ihrer ganzen Grübelei hatte sie dummerweise übersehen, dass er immer noch tippte. Oder vielleicht auch schon wieder. Die zweite Nachricht überraschte sie daher und erwischte sie eiskalt.

‚Aber ich denke oft an Zaunkönig.‘

Scharf zog sie einmal die Luft ein. Ihr Puls schoss erneut nach oben und ihr brach der Schweiß aus. Was sollte sie denn jetzt damit machen? Was sollte sie nur antworten? Andererseits…musste sie das überhaupt? Er hatte ihre Frage beantwortet. Seinerseits keine eigene gestellt. Sie könnten es einfach dabei belassen und wieder zum stoischen Schweigen übergehen. Altes vertrautes Spiel mit den gewohnten Regeln.

Doch sie hatte genau diese heute auch schon einmal gebrochen. Warum sollte er das nicht auch tun? Was er prompt unter Beweis stellte.

‚Und Sie?‘

Wie viel Überwindung ihn diese zwei schlichten Worte wohl gekostet hatten? Jetzt hatte sie die Wahl. Option 1. Sie könnte einfach das Handy beiseitelegen und die alte Ordnung eigenmächtig wieder einführen. Vermutlich würde er sich dem sogar ohne viele Widerworte beugen. Das aber erschien ihr reichlich ungerecht. Sie hatte das hier angefangen, also musste sie es jetzt auch zu Ende bringen. Außerdem. Er hatte sich eine Antwort verdient…irgendwie.

Option 2. Sie könnte lügen und es herunterspielen. Dann noch ein abgekühlter Nachtgruß und die Sache wäre erledigt. Ein für alle Mal. Der Schlussstrich in dieser Sache, der seit nun mehr 15 Jahren darauf wartete, dass man ihn endlich zog, er könnte aus ihrer Feder kommen.

Aber wollte sie das wirklich? War das ihre ganze Motivation gewesen? Wollte sie tatsächlich nur diesen Schlussstreich setzen? Und was war mit ihm? Er hatte so schnell geantwortet, als hätte ihre Nachricht ihn irgendwie selbst aus seinem eigenen Dilemma befreit.

Als hätte er auch nicht gewusst, wie nun zu verfahren war. Und nun da sie ihm die Tür einen Spalt geöffnet hatte, hatte er sie in gewohnter Manier gleich ganz aufgerissen, um herauszufinden, was sich noch dahinter verbergen könnte, was es zu entdecken gab.

Ein kleines, wehmütiges Lächeln huschte ihr über das blasse Gesicht. Im Herzen war und blieb er eben doch dieser neugierige, wissbegierige Kindskopf, dem jedes zu lösende Rätsel wie ein abenteuerliches Wunder vorkam. Aber genau das hatte sie doch gewollt. Sie hatte ihm etwas geben wollen, das ihn beschäftigte. Mission erfüllt.

Kurz stellte sie sich ihn vor. Wie er da saß in seinem Bett oder vielleicht auch auf seiner Coach noch in Schlips und Hemd. Wie er erwartungsvoll, vielleicht sogar ein bisschen hoffend auf das kleine Gerät in seiner Hand starrte. Sie sah, wie er sich nervös über den Bart fuhr, dann die Brille zurechtrückte und immer wieder blinzelte, um ja nicht ihre Antwort zu verpassen.

Nein, das konnte sie nicht einfach aus purem Selbstschutz zerstören dieses ganze Hoffen und Bangen. Selbst, wenn sie sich irrte, wenn es nicht so war. Irgendetwas tief in ihm hing noch an dieser einen Sache und dem war sie eine ehrliche Antwort schuldig.

Also Option 3. Ihr Finger zitterten immer noch so heftig, während sie tippte, dass sie gleich mehrmals korrigieren musste.

‚Ja, ich denke auch sehr oft an Tristan.‘ Sie zögerte nur einen winzigen Augenblick. Dann ergänzte sie. ‚Er fehlt mir manchmal sehr.‘

Am nächsten Morgen hatten sie beide Augenringe, die kein Make-Up dieser Welt hätte verdecken können. Selbst hinter seiner Brille konnte er die dunklen Schatten kaum verbergen. Auf sehr leisen Sohlen schleppten sie sich so durch den Tag. Sie sprachen wenig, kommunizierten wie so oft nur über Blicke und die Routine, die ihnen nach 20 Jahren so eigen war.

Der Triumpf, ihm erfolgreich den Schlaf geraubt zu haben, hielt sich zwar damit erheblich in Grenzen. Aber das machte gar nichts. Der Gewinn dieser Nacht war eh ein ganz anderer, gänzlich unverhoffter.

Thiel zog Boerne gnadenlos mit seiner offensichtlichen Übermüdung auf und fragte ihn nach seiner nächtlichen Beschäftigung aus. Was den Professor denn wachgehalten hatte, wo doch gerade alles so herrlich ruhig war. Der Rechtsmediziner ließ es über sich ergehen und schwieg stoisch. Darin hatte er ja mehr als genug Erfahrung.

Stattdessen warf er ihr immer wieder ein paar Blicke zu, die eh so viel mehr ausdrückten, als sie eigentlich sollten. Meist begleitet von diesem kleinen, zufriedenen Lächeln, das sagte. Ich freu‘ mich auf heute Abend. Ich freue mich so sehr darauf, von dir zu lesen, dir zu schreiben. Über Gott und die Welt mit dir zu diskutieren. Dir all meine Sorgen und Gedanken anzuvertrauen.

Sie räusperte sich möglichst dezent bei jedem einzelnen dieser Momente. Oha, da war der erneute Schlafmangel wohl schon indiziert. Nun, sie hatte rein gar nichts dagegen ein paar Stunden Schlaf zu opfern, wenn es denn der Sache dienlich war und ihr solch ein schönes Gefühl von Geborgenheit bescherte.

Und wenn ihr Chatverlauf mit ihrem Chef plötzlich seit gestern Nacht ein paar dutzend Nachrichten mehr aufwies als noch zuvor, die erst gegen 4 Uhr morgens ein widerwilliges Ende gefunden hatten. Na, dann ging das neugierige Kriminalhauptkommissare so überhaupt nichts an. Noch nicht. Also lächelte sie nur heimlich hinter Thiels Rücken zurück und dachte still. Ich freu‘ mich auch auf dich, Tristan.


A/N: Ich weiß, kein Meisterstück. Entstanden innerhalb einer Nachtschicht. Aber der Gedanke war einfach zu schön, wie die beiden das wieder aufnehmen - dieses nächtliche Chatten. Völlig losgelöst und ein Stück weit auch befreit von den Rollen, die sie am Tag spielen (müssen). Das hatte auch irgendwie so etwas Intimes. Ich fand die Frage reizvoll. Was, wenn sie das "Rollenspiel" zwischen Zaunkönig und Tristan einfach irgendwann fortsetzen? Dieses Mal in dem Wissen, wer da am anderen Ende sitzt. Und was, wenn das die Freiheit bringt, die sie sich im realen Leben niemals erlauben würden? Das könnte doch auch einfach nur sehr heilsam sein, zu wissen, da hört mir jemand zu. Da ist jemand da, dem ich meine Gedanken anvertrauen kann. Das muss man doch gar nicht gleich mit der großen Romantik und dem ganzen Kram überfrachten.

Vielleicht ist das auch alles Blödsinn und nur Teil meiner "Therapie". Wer weiß das schon?
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