Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Gesegnet

Kurzbeschreibung
KurzgeschichteDrama / P18 / Gen
25.03.2023
25.03.2023
1
780
 
Alle Kapitel
1 Review
Dieses Kapitel
1 Review
 
 
 
25.03.2023 780
 
Schmerz und Leid. Kaum einer kennt sie besser als ich. Schon als Kind hatte ich sie verdient. Und nun ist es an der Zeit, dass ich sie ertrage. Jede Beschimpfung, jede Demütigung und jeden Schlag. Sie sind meine Strafe, denn ich habe große Schuld auf mich geladen. Damals wusste ich noch nicht, was dieses Gefühl in mir zu bedeuten hat. Ich hatte gerade meine Eltern verloren. Es war ein Autounfall, den ich als einziger überlebte. Ich war gerade mal fünf Jahre alt und von da an auf mich allein gestellt. Die Trauer, die ich empfand, war noch zu frisch. Und sie war so überwältigend, dass sie die Schuld einfach überdeckte. Doch mit jedem Jahr, das verging, verblasste die Trauer und offenbarte meine Schuld immer deutlicher. Selbst mein Großvater, neben meinen Eltern die wichtigste Person in meinem Leben, wandte sich von mir ab. Ich hatte ihm schließlich seinen geliebten Sohn und seine Schwiegertochter genommen. Er hatte meine Schuld damals als einiger erkannt. Ich war einfach noch zu jung, um es zu verstehen. Ich spürte nur die tiefe Trauer darüber, dass meine Eltern verstorben waren und mein Großvater mich verstoßen hatte. Fünf Jahre alt und plötzlich ganz allein auf der Welt. Das war jetzt zehn Jahre her. Und wenn Großvater damals nicht zugelassen hätte, dass man mich zu einem Namenlosen machte, wer weiß, was dann aus mir geworden wäre. Vielleicht wäre ich schon lange nicht mehr hier und könnte für meine Schuld sühnen. Ich habe viel Schuld auf mich geladen. So viel, dass wahrscheinlich mein restliches Leben nicht reichen wird, um sie zu sühnen. Aber damals war es für mich die einzige Chance. Deswegen bin ich jetzt hier als einer der Gesegneten. Ich gab damals all meine Rechte auf und legte meinen Namen ab, um einer von ihnen zu werden. Meinen richtigen Namen habe ich schon vor Jahren vergessen. Ich kannte nur noch das Leben als zukünftiger Gesegneter. Und seit ein paar Tagen hatte ich dieses Leben offiziell. Denn vor einigen Tagen war mein fünfzehnter Geburtstag, ab dem ich offiziell ein Gesegneter werden durfte. Und so kam es auch.
Die letzten zehn Jahre waren Vorbereitung auf mein Leben als vollwertiger Gesegneter gewesen. Der andere war nun auch bereit, diesen Platz abzugeben, hatte er doch ein langes Leben geführt und viele Jahre diesem Haus gedient. Es war ein schöner Tag. Ich sah den blauen Himmel über mir und ein paar vereinzelte Schäfchenwolken, während ich zum Platz der Sühne geführt wurde. Mein Vorgänger war schon da und kniete auf dem Ritualplatz. Ich erinnere mich noch an sein Lächeln, als er mich das erste Mal sah. Eine Wache, die das Ritual beaufsichtigen sollte, hielt ein rotes Kissen in seinen Händen und hielt es mir entgegen. Darauf lag der Ritualstein, mit dem die Übergabe vollzogen wurde. Als ich ihn in die Hand nahm, fühlte er sich für mich tonnenschwer an, trotz seiner geringen Größe. Und da traf mich dieses Lächeln mit voller Wucht, so voller Hoffnung und Erleichterung. Ich weiß nicht, was mein Vorgänger getan hatte, wie viel Schuld er auf sich geladen hatte. Doch egal wie viel davon noch übrig war, ich würde die Schuld auf mich nehmen. Ich musste es tun. Es war schließlich der Tag, an dem ich offiziell zum Gesegneten des Hauses wurde. Also fasste ich den Stein fester und schlug zu. Immer und immer wieder. Wie lange es gedauert hat, weiß ich nicht. Ich hatte einfach abgeschaltet. Meine Gefühle, mein Ich einfach in meinem Inneren eingesperrt. Das einzige, was ich wahrnahm, war das viele Rot. Es war überall, besonders an meinen Händen. Aber nur so konnte ich die Restschuld meines Vorgängers auf mich nehmen. Noch ein Menschenleben, welches ich genommen hatte. Aber das wurde mir erst später bewusst. Während des Rituals hatte ich nichts um mich herum bemerkt. Für mich war es totenstill. Keine dumpfen Schläge, keine schmerzverzerrten Schreie oder irgendwelche Rufe. Einfach nichts. Erst nach einer ganzen Weile in meinem neuen Quartier kam ich wieder zu mir. Man hatte mich wohl gewaschen und meine Kleider gewechselt. Denn ich trug nicht mehr die Fetzen, die die letzten Jahre meine Bekleidung waren und auch kein Blut war mehr an mir zu sehen. Doch ich sah es noch an meinen Händen. Selbst jetzt noch sehe ich es vor meinem inneren Auge. Und ich kann die Schwere des Blutes spüren, wie sie versucht mich herunterzuziehen. Aber das bedeutet nur, dass ich jetzt endlich damit beginnen kann für meine Schuld zu sühnen.
So begann also mein neuer Lebensabschnitt. Und er würde erst enden, wenn mein Nachfolger meine restliche, ungesühnte Schuld im Ritual auf sich nehmen würde. Und so lange stehe ich hier an meinem Platz und ertrage jede Beschimpfung, jede Demütigung und jeden Schlag.
Review schreiben
 
 
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast