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No Place Like You

Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Familie / P16 / Het
Chris Evans OC (Own Character)
24.03.2023
03.10.2023
22
92.432
10
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Dieses Kapitel
1 Review
 
19.09.2023 4.564
 
~*~ Kapitel 21 ~*~



Die Aufregung aufgrund des Gerichtstermins ließ Charlie in den folgenden Tagen kaum richtig schlafen. Sie wusste, dass es eigentlich eine gute Lösung war, da Craig ja auch immerhin der leibliche Vater von Leni und Holden war und damit natürlich ein uneingeschränktes Recht hatte, seine Kinder genauso viel zu sehen wie sie als Mutter. Trotzdem fühlte es sich für sie immer noch wie ein herber Schlag ins Gesicht an, als hätte sie einen wichtigen Kampf verloren, den sie auf den Rücken ihrer beiden Kinder ausgetragen hatte. Also sozusagen eine doppelte Niederlage. Denn das hatte sie nie tun wollen. Sie hatte solche Sachen immer von den beiden fernhalten wollen. Doch würde das für immer gutgehen? Würden sich die zwei nicht irgendwann mal fragen, was passiert war? Und würde sie dann nicht vielleicht in Erklärungsnot gelangen?

Charlie konnte nur hoffen, dass dieser Tag noch in weiter Ferne lag und sie in der Zwischenzeit so gut damit abschließen konnte, dass sie neutral auf die Trennung in die damit verbundene schwere Zeit blicken konnte. Denn wenn sie ihren Kindern davon erzählen würde, dann wollte sie auch ehrlich sein. Ganz abgesehen davon, dass Leni und Holden nicht dumm waren, würden sie jegliche Art von Unwahrheit sofort durchschauen. Da konnte sie sich solche Konstrukte gleich sparen.

Sich innerlich wappnend umklammerte Charlie den Aktenordner mit ihren für diesen Termin wichtigen Unterlagen, die auf ihrem Schoß lagen, als Chris sie mit seinem Lexus zum Gericht fuhr, wo ihr Anwalt Herbert schon auf sie wartete. Ihre Unsicherheit spürend, langte er mit seiner rechten Hand herüber zu ihr und nahm ihre verkrampften Finger sanft zwischen seine und drückte sie sacht. „Alles in Ordnung?“

Diese Frage hatte er ihr schon sooft gestellt. Und jedes Mal hatte sie sich schuldig dabei gefühlt, weil er ihre Stützte sein musste für ihr so unstetes Leben. Und irgendwie überkam sie jedes einzelne Mal wieder dieses schlechte Gewissen, ob sie ihm dies alles wirklich zumuten und von ihm verlangen konnte. Würde es ihm nicht vielleicht irgendwann zu viel werden und er würde sie wieder verlassen?

Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und machte ihr das Atmen plötzlich schwer. Sie spürte, wie ihre Nasenwurzel anfing zu brennen und ihr die Tränen in die Augen trieb. Schnell öffnete sie den Mund und zwang sich dazu, tief durchzuatmen, um dieses hässliche Gefühl wieder loszuwerden, das vermutlich zu gleichen Teilen von Chris‘ Fragen herrührte, wie von dem Stress der gesamten letzten Tage, den sie sich selbst gemacht hatte. Wenn es doch nur endlich vorbei wäre!

Sie schluchzte unkontrolliert auf, obwohl sie ihm hatte sagen wollen, dass alles okay war. Doch das ließ ihn zu ihr herübersehen und ihre Hand noch etwas fester halten. „Hey!“, machte er beruhigend. „Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut! Ich kann auf dich draußen warten, wenn du willst.“

Entschieden schüttelte sie den Kopf und seltsamerweise versiegten ihre Tränen sofort wieder, wenn sie auch nur daran dachte, dass Craig oder Natasha sehen könnten, mit wem sie sich eingelassen hatte. „Nein“, schniefte sie, „das ist nicht nötig. Ich lasse mich von Herbert ins Coffeefay fahren, wenn alles vorbei ist. Ich will nicht riskieren, dass sie sich erkennen könnten.“

Bevor er sie losließ, umschloss er ihren gesamten Handteller noch einmal vollständig, zog ihn zu seinen Lippen heran, um ihr einen Kuss auf die Rückseite zu hauchen, was sie ein wenig zusammenzucken ließ, weil sein Bart über ihre Haut kratzte. „Okay, Liebling. Aber nur ein Wort“, mahnte er, als er seinen Wagen umsichtig am hinteren Rand des Parkplatzes ausrollen ließ, wo keiner in der Nähe war, „und ich komme dich holen.“

Sie grinste ihn an, wischte sich eine letzte Träne von den geröteten Wangen. „Mein Held“, erwiderte sie und öffnete die Beifahrertür. Umständlich, mit dem dicken Hefter in der Hand, stieg sie in den Schnee hinaus und zog ihren petrolfarbenen Trench noch etwas enger zusammen. Hauchzarte Flocken fielen sachte vom Himmel zu ihnen herunter und dämpften alle Geräusche in der Umgebung etwas. Der Schein der Straßenlaternen brach sich in der kristallinen Struktur und wurde gestreut zurückgeworfen, was den Eindruck vermittelte, als hätte sie eine Brille an, die nicht ganz sauber war. Eine Gänsehaut kroch ihren Rücken hinauf bis zu ihrem Nacken, als eine harsche aber kurze Windböe unter ihren Mantelsaum fegte, und sie war froh, dass sie noch den dünnen gegen einen dickeren Pulli eingetauscht hatte, bevor sie das Haus verlassen hatte.

Ein letztes Mal beugte sie sich herunter, um ins Wageninnere zu blicken, wo Chris ihr über seine Sonnenbrille hinweg zuzwinkerte. Sein Basecap mit dem NASA-Schriftzug ruhte auf seinen zu dieser frühen Stunde noch ungekämmten Haaren. „Das ist mein Job“, scherzte er, warf ihr einen Luftkuss zu, dann schloss sie die Autotüre und stapfte zum Gerichtsgebäude, während sie hinter sich hörte, wie die Reifen des Lexus über die frische Schneedecke knirschend wieder zurückfuhren.

Herbert wartete drinnen auf sie. Er konnte noch nicht lange dort sein, denn er hatte noch ein paar weiße Pünktchen in den grauen Haaren, die gerade erst zu schmelzen begannen. „Oh, gut, dass du schon da bist!“, begrüßte er sie, nahm sie halb in den Arm, um sie an sich zu drücken, bevor er ihr seinen Aktenkoffer reichte. Er machte ein etwas verkniffenes Gesicht dabei. „Ich muss noch mal kurz wohin.“ Er wartete ihre Antwort erst gar nicht ab, sondern drehte unverzüglich auf dem Absatz und schritt entschlossen auf die Toilettenräume zu, die von hier aus ausgeschildert waren. Charlie blieb daher erst einmal nichts Anderes übrig, als sich alleine auf den Weg zu Zimmer 2.11 zu machen, wo sie sich heute treffen würden.

Vor der noch verschlossenen dicken Holztür warteten Micaela, Craig und Natasha schon auf sie. Der Verfahrensbeistand begrüßte sie zuerst, indem sie ihr eine ihrer langen, rot manikürten Hände hinhielt, die Charlie etwas ungeschickt ergriff, da sie mit Herberts Aktentasche und ihrem eigenen dicken Ordner voll beladen war. Craig und dessen Freundin schenkte sie nur ein kurzes Hallo und ein Kopfnicken, was diese ebenfalls recht kurz angebunden erwiderten. Offenbar lagen auch hier die Nerven blank.

Bis sie endlich den Raum betreten konnten, war Charlie schweißgebadet. Sie hatte es versäumt, ihren Wintermantel aufzuhängen, hatte sich aber auch irgendwie nicht im Stande gesehen, dies zu tun, weil sie keinen geeigneten Ablageort für ihre Sachen gefunden hatte. Und sie einfach auf den Boden zu legen hatte sie gar nicht erst in Betracht gezogen. Zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, sich Gedanken zu darüber zu machen, wie gut Natasha in ihrem dunkelroten Kostüm aussah, das perfekt mit ihren Haaren harmonierte. Und damit, wie Craig sie immer wieder von oben bis unten musterte, als wäre er nicht hier, um über die Zukunft seiner Kinder zu entscheiden, sondern darüber, ob er mit seiner Anwältin noch mal eben eine heiße Nummer auf dem Schreibtisch schieben wollte. Unpassender hätte es für Charlie gar nicht sein können. Und wenn der Richter jetzt nicht begriff, dass zwischen den beiden etwas lief, dann wüsste sie auch nicht mehr weiter.

Sie ließen sich an gegenüberliegenden Seiten des rechteckigen Tisches nieder, der Richter als erstes natürlich vor Kopf. Und da es sich um ein offizielles Treffen handelte, hatte er dieses Mal eine Schreibkraft mitgebracht, die mithilfe von Stenographie ein ausführliches Protokoll schrieben würde. Das bedeutete, dass sie sich dieses Mal benehmen mussten.

Irritiert sah sich der Richter um, als sie sich alle gesetzt hatten. „Mrs Sawyer, wo ist denn Ihr Anwalt?“

„Ich, ähm“, machte sie unsicher, wobei sie sich zum Eingang umdrehen musste, den sie im Rücken hatte, in der Hoffnung, Herbert würde jede Sekunde darin auftauchten. „Er sagte, er müsse noch mal wohin.“ Ihr schoss augenblicklich die Röte in die Wangen, die nichts mit der Kälte draußen zu tun hatte, und sie wünschte sich ein Erdloch, das sich auftun und sie verschlingen würde. Unnötig zu erwähnen, dass sie dieses Glück nicht hatte.

Stattdessen räusperte sich der Vorsitzende und schob seine Unterlagen etwas weiter zusammen, um noch etwas Zeit zu schinden. „Nun, ich würde vorschlagen“, er warf ebenfalls noch einen Blick zur Türe, „dass wir trotzdem schon mal damit beginnen, das Protokoll der letzten Sitzung vorzulesen, damit wir alle auf dem neusten Stand sind. Muriel, wären Sie so freundlich?“ Er sprach damit direkt die Schreiberin an, die schräg hinter ihm an einem eigenen kleinen Tisch saß, auf dem sie einen fast schon winzig zu nennenden Laptop aufgebaut hatte.

Die streng aussehende Mittvierzigerin nickte ihm kurz zu, rückte sich noch einmal auf dem Stuhl zurecht und fasste dann die letzten Termine noch einmal für alle zusammen. In kurzen Worten berichtete sie: „Es wurde sich darauf geeinigt, dass eine Möglichkeit der 50:50-Regelung in Betracht gezogen wird, sodass die Kinder eine Woche lang bei dem Vater und anschließend eine Woche bei der Mutter verbringen.“

„Hat sich an diesem Wunsch in der Zwischenzeit etwas geändert, Mr Sawyer?“, fragte der Richter an Craig gewandt, der sofort den Kopf schüttelte. „Nein“, bestätigte Charlies Exmann, „ich möchte immer noch gern dieses Modell für den Umgang.“

„Gut. Mrs Sawyer, wie denken Sie inzwischen darüber? Hatten Sie genug Zeit, sich diese Möglichkeit durch den Kopf gehen zu lassen und sich zu entscheiden, ob das für Sie ebenfalls in Frage kommt?“ Als der Richter ihr diese Frage stellte, schaute er sie nicht einmal wirklich an. Und Charlie wurde das Gefühl nicht los, dass für ihn die Antwort eigentlich schon klar war. Innerlich sträubte sich mit einem Mal alles in ihr, ihm diese Genugtuung zu geben und Ja dazu zu sagen, dass sie ihm am liebsten etwas an den Kopf geworfen hätte. Doch sie riss sich zusammen. Sie wusste, dass es hier nicht um sie und ihre vielleicht verletzten Gefühle ging oder ihr Ego. Hier ging es um Leni und Holden, und wie die beiden in Zukunft Kontakt zu ihren beiden Elternteilen hatten.

Zu ihrer großen Erleichterung ging just in diesem Augenblick hinter ihr die Türe auf und Herbert betrat den Raum. Seine Stirn war schweißnass und er wirkte ein wenig blass, was bei ihr den Eindruck erweckte, dass er nicht ganz gesund war. Umso dankbarer war sie ihm, dass er sich trotzdem hierhergeschleppt hatte, um diesen Termin gemeinsam mit ihr durchzustehen.

Mit seiner Unterstützung gelang es ihr, die folgenden anderthalb Stunden einigermaßen durchzustehen, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Sie wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte, dass Craig so ein großes Interesse an seinen Kindern hatte und aktiv Anteil an deren Leben nehmen wollte. Wie oft war es eben nicht so und der Kindsvater nutzte jede sich bietende Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen und sich vor seiner Verantwortung zu drücken. Trotz allem fühlte Charlie sich nicht glücklich, sie fühlte sich wie mit einer Dampfwalze überrollt, als sie anschließend den Terminkalender gemeinsam durchgingen und als grobe Regelung festhielten, dass die Kinder eben jede Woche montags den Familienwechsel vollziehen würden. Dabei würde das eine Elternteil sie morgens zur Pre-School bringen und das andere Elternteil würde sie dann nachmittags dort wieder abholen. Und so würden sie dieses Wechselmodell jede Woche vollziehen. Es sei denn, es gab Ausnahmen, die man vorher miteinander absprach.

Micaela stellte die Bedingung, dass die Kinder in den Wohneinheiten der jeweiligen Elternteile zwingend zumindest ein Zimmer haben mussten, in das sie sich gegebenenfalls zurückziehen konnten, was in Charlies Fall kein Problem darstellte, für Craig, der inzwischen bei Natasha ja fest eingezogen war, aber noch erhebliche Umräumarbeiten nach sich ziehen würde, da die Kinder dort bisher eher provisorisch in Natashas Gästezimmer genächtigt hatten. Das würden sie dann zum Kinderzimmer umbauen müssen. Craigs Familienanwältin Schrägstrich Freundin nahm dies mit einem eher gekünstelt wirkenden Lächeln zur Kenntnis.

Als sie anschließend draußen auf den Stufen des Gerichtsgebäudes im dichter fallenden Schnee standen, schlug Craig noch vor, sich zum gemeinsamen Mittagessen irgendwo zusammenzufinden. Doch Charlie winkte ab. „Nein, danke“, gab sie zurück und klappte den Kragen ihres Mantels gegen die Kälte nach oben. „Ich muss noch ins Café, Toni ablösen zur Nachmittagsschicht.“

Die Kinder würden später von Craig abgeholt werden, der mit ihnen ins Schwimmbad hatte gehen wollen, um wohlmöglich seinen Erfolg mit ihnen zu feiern. Charlie hatte ihm die Erlaubnis erteilt, den beiden davon zu berichten, was sie eben im Gericht beschlossen hatten. Immerhin betraf die Änderung vor allem ihn, hatte er erklärt.

Das sah die Mutter von Leni und Holden etwas anders. Zwar schenkte man Craig mehr Zeit mit seinen Kindern, nahm dafür aber Charlie als Mutter einen gehörigen Teil davon auch andererseits weg. Und sie wusste noch nicht so genau, wie ihre beiden Sprösslinge das auffassen würden. Vermutlich war es aber tatsächlich besser, wenn Craig ihnen sagte, was er und gleichzeitig auf die Kids gewannen, anstatt dass Charlie ihnen beichtete, was sie alles verloren. Psychologisch gesehen also wohl die bessere Wahl.

„Dann fahren wir dahin.“ Craig zuckte die Schultern, die inzwischen weiß bepudert waren. „Dort hast du doch auch eine Kleinigkeit zum Essen. Und wir könnten uns aufwärmen. Wir nehmen dich mit.“ Er hatte seinen letzten Satz noch gar nicht zu Ende gesprochen, als er auch schon losmarschierte und sie zu seinem Volvo führte, den er in erster Reihe geparkt hatte. Und weil Charlie in diesem Moment wieder zurück in ihr altes Beziehungsmuster mit ihm fiel, folgte sie ihm einfach. Erst, als sie auf der Rückbank zwischen den leeren Kindersitzen Platz nahm, wurde ihr bewusst, was sie da gerade getan hatte.

Mit einem Grummeln im Magen, das rein gar nichts mit Hunger zu tun hatte, führte sie wenig später Craig und Natasha ins Café und wies auf einen Tisch in der Ecke, wo die beiden schon mal Platz nahmen, während Charlie ihre Sachen nach hinten brachte. Dabei warf Toni ihr einen fragenden Blick unter seinen buschigen roten, hochgezogenen Augenbrauen zu. Doch seine Chefin rollte nur mit ihren blauen Augen und zischte: „Frag nicht.“ Sie zog sich Schal und Mütze aus. „Machst du den beiden schon mal einen Latte und einen Macha Latte?“

„Soll ich reinspucken?“, fragte er ernst, als er damit begann, die Kaffeebohnen in die Mühle einzufüllen, wo sie vorsichtig zu feinem Mehl gemahlen wurden.

„Bring mich nicht auf Ideen“, murmelte Charlie zurück. „Aber du kannst ja für sie die Vollfett-Milch nehmen, anstatt die fettfreie.“ Das diabolische Grinsen, das ihr Cousin daraufhin zeigte, ließ sie ihre Worte noch in derselben Sekunde bereuen und sie schickte ihn lieber in die Küche, um für sie, Craig und Natasha drei Paninis aufzubacken. Was er mit den belegten Weißbrotscheiben getan hatte, fragte sie lieber gar nicht erst, als er sie ihnen wenig später an den Tisch brachte. Aus Sicherheitsgründen vermied sie sogar den Blickkontakt mit ihm, nur für den Fall, dass er ihr zuzwinkerte oder ähnliches. Dann wollte sie lieber in Unwissenheit sterben.

Charlie biss gerade genüsslich in ihr Mittagessen, als Craig fragte: „Und, wer ist er?“

Fast verschluckte sich die Zweifachmama an ihrem Happen, spuckte einen Teil des Rucola vor sich auf den Tisch und versuchte den Rest in einem Hustenanfall irgendwie halb zerkaut herunterzuwürgen, ohne daran zu ersticken. Dabei stiegen ihr die Tränen in die Augen, sie lief puterrot an und alle Blicke in dem kleinen Raum wandten sich ihr zu, was sie nur noch mehr in Verlegenheit brachte. Der zweite Augenblick an diesem Tag, bei dem sie sich wünschte, durch einen Kaninchenbau zu stürzen und nie wiederaufzutauchen.

Natasha machte große Augen ob Charlies Reaktion und stellte ihr hohes Glas mit dem grün-weißen Getränk interessiert ab. „Oh“, machte sie, wobei sich ihre vollen Lippen tatsächlich zu diesem runden Buchstaben formten, zu zwar in einer perfekten Art und Weise, „also gibt es tatsächlich jemand Neues in deinem Leben. Das ist doch großartig! Woher kennst du ihn? Wie habt ihr euch kennengelernt?“

Charlie, die ihre Stimme wiedergefunden hatte, zog nur nonchalant ihre Augenbrauen nach oben. „Wer sagt denn, dass es ein Er ist?“

Fast verschluckte sich Craig dieses Mal an seinem Essen, bevor man sie aber noch weiter hätte ausfragen können, stand die Café-Besitzerin auf. Sie griff nach ihrem Teller und ihrem Heißgetränk, nickte den beiden kurz zu und sagte: „Es tut mir leid, aber ich habe noch viel zu tun heute. Ich wünsche euch einen schönen Nachmittag mit den Kindern. Auf Wiedersehen.“

Später am Abend, als sie neben Chris im Bett lag und ihm davon berichtete, grinste er sie verschlagen an. Er hatte sich auf die Seite gedreht, den Arm angewinkelt und den Kopf in die Hand gestützt, sodass er sie etwas von oben betrachten konnte, wie sie neben ihm auf dem Rücken lag und an die Decke starrte. „Das war wirklich knapp“, kommentierte er nur und musste sich dabei ein Lachen verkneifen, weil er sich die dummen Gesichter der beiden anderen fast buchstäblich vorstellen konnte. „Vielleicht sollte ich ihnen mein Portfolio schicken, dann können sie sich selbst ein Bild machen.“

„Untersteh dich!“ Sie schlug spielerisch nach ihm, streifte seine Haut aber nur hauchzart. „Wenn es nach mir geht, erfährt Craig überhaupt nichts von dir.“

Nach einem kurzen Moment der Stille, die für beide irgendwie plötzlich unangenehm wurde und Charlie sich aufrichten ließ, um ihm in die Augen zu schauen, meinte er: „Autsch.“ Anschließend unterbrach er den Augenkontakt und ließ er sich auf sein Kissen zurücksinken, um nun seinerseits nach oben zu blicken, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben.

„Nein“, lenkte Charlie schnell ein, „so war das doch überhaupt nicht gemeint! Natürlich will ich dich nicht verstecken. Es geht dabei nicht um dich, sondern um Craig. Ich will ihm nichts von dir erzählen, weil es ihn nichts angeht. Er soll nur noch den minimalsten Anteil an meinem Leben haben. Alles, was sein muss, so wie der Kontakt wegen der Kinder, aber nichts, was sein kann, so wie…“ Sie zögerte, weil sie nach den richtigen Worten suchen musste. Etwas, das bei ihnen bisher noch nie vorgekommen war, weil sie sich immer auch ohne große Erklärung verstanden hatten. Das machte sie unsicher. „Wie ein neues Sofa oder eben ein neuer Freund.“

Chris‘ Stirn legte sich in Falten und er verzog die Mundwinkel ein Stück weit nach unten, was seine Nasenflügel leicht aufgebläht wirken ließ. „Du vergleichst mich mit einem neuen Sofa?“ Seine Stimme schraubte sich dabei eine Oktave nach oben und ließ sie fast schrill klingen. Sofort stellten sich Charlie die feinen Härchen auf ihren Unterarmen auf. Was passierte hier? War das ihr erster Streit? Beruhigend versuchte sie eine Hand nach ihm auszustrecken und ihm über die Brust zu streicheln, aber er drehte sich von ihr weg, warf das Laken zu Boden, das er sich über seinen entblößten Unterkörper gelegt hatte, und stand schwungvoll aus dem Bett auf. Nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte, trat er an die große Fensterfront, die zu seinem Glück verspiegelt war, sodass man draußen hoffentlich nichts sehen konnte, was nicht für fremde Augen bestimmt war. Eine Hand hatte er in die Hüfte gestemmt, die andere lag irgendwo an seinem Kinn, doch genau konnte sie das nicht erkennen, weil er ihr nun den Rücken zudrehte.

Bemüht, irgendetwas zu tun, was die Situation wieder entspannen würde, erhob sie sich ebenfalls, traute sich jedoch nicht, zu ihm zu gehen. Es war seltsam. So einfach es bisher zwischen ihnen gelaufen war, so reserviert war es mit einem Mal. Hatte sie wirklich derartig die falschen Worte gewählt?

„Du bist kein Sofa“, sprach sie leise auf ihn ein und wagte sich nun doch einen vorsichtigen Schritt in seine Richtung. „Natürlich bist du das nicht. Das war ein dummer Vergleich. Du bist viel wichtiger für mich, als ein schnödes Möbelstück. Ich hoffe, das weißt du auch.“

Seine Schultern hoben und senkten sich auf eine ganz bestimmte Art und Weisen, die ihr verriet, dass er mit sich kämpfte. Als er sich kurz darauf zu ihr umwandte, sah sie einen feuchten Film auf seinen Augäpfeln schimmern. Seine Unterlippe klemmte zwischen seinen Zähnen, als versuche er sich davon abzuhalten, loszuheulen wie ein kleines Kind. Sofort ging sie auf ihn zu und schloss ihn in eine Umarmung ein, drückte seinen Kopf gegen ihre Schulter, was nicht so leicht war, da er fast einen Kopf größer war als sie, doch er ließ es geschehen, lehnte sich zumindest soweit an sie, wie sie sein Gewicht aushalten konnte, und atmete ein paar Mal tief und zitternd durch.

Nachdem er sich wieder gefangen hatte, sanken sie zusammen zurück aufs Bett, halbsitzend, halb aneinander gelehnt. Liebevoll strich sie ihm durch seine zerzausten und immer noch leicht verschwitzten Haare über der Stirn. „Ist alles in Ordnung?“, wisperte sie fast lautlos, womit sie ihn dazu brachte, sich wiederaufzurichten und sie anzusehen.

Seine blauen Augen wirkten noch immer leicht beschlagen, aber sein Atem ging wieder normal, und fast hätte es Charlie an so etwas wie eine Panikattacke denken lassen. Um noch etwas besser klarzukommen, fuhr Chris sich einmal mit der flachen Hand übers Gesicht, schloss kurz die Lider, um sich zu sammeln und meinte dann: „Auch ein Captain America ist nicht perfekt.“

Verwirrt zog Charlie ihre Augenbrauen zusammen, wobei sich eine steile Falte genau über ihrer Nasenwurzel bildete. „Was genau willst du mir damit sagen? Niemand ist perfekt.“

„Offensichtlich nicht, denn sonst hätte ich deinen Witz als solchen verstanden: als einen Witz. Und es nicht direkt als Beleidigung aufgefasst und als Gelegenheit, in Tränen auszubrechen, wie ein Kindergartenkind, dem man gesagt hat, dass man seine schicken Schuhe doof findet.“

Nun vollends verwirrt rückte Charlie ein Stück von ihm ab. Nicht zu viel, um ihm das Gefühl zu geben, dass sie sich von ihm distanzieren wollte, aber noch genug, um ihm zu signalisieren, dass dies ein ernstes Gespräch war. Und nicht etwa etwas, worüber man Scherze machte. „Jetzt hör mal“, gab sie daher entschieden zurück, „wenn du etwas als Beleidigung auffasst, dann ist es eine für dich. Wer bin ich, dir deine Gefühle abzusprechen? Ich muss mich ja wohl bei dir entschuldigen für meine blöde Wortwahl. Ich wollte dir lediglich klarmachen, dass deine Anwesenheit in meinem Leben einen höheren Stellenwert einnimmt, als Craigs Meinung über selbiges. Ich will dich einfach nur nicht teilen.“ Unbeholfen zuckte sie mit den Schultern. „Das ist alles.“

„Ich weiß“, gab er zu, „und so hatte ich es auch eigentlich verstanden. Es ist nur…“

„Was?“, hakte sie behutsam nach, legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. Sie ließ ihm Zeit, beobachtete, was in seinem Gesicht vor sich ging, als er damit rang, ihr etwas anzuvertrauen, was er scheinbar noch nicht oft ausgesprochen hatte. Und einerseits wollte sie natürlich wissen, was los war, wollte ihn aber auch auf der anderen Seite auf keinen Fall zu etwas drängen. Das hatte er schließlich auch nie getan. Er war einfach nur für sie da gewesen. Und das wollte sie ihm nun zurückgeben.

Sie kannten sich erst seit etwa acht Monaten, dateten gerade mal fünf davon. Trotzdem fühlte es sich schon an wie eine kleine Ewigkeit. Und irgendwie hatte sie die ganz winzig kleine Hoffnung, dass es tatsächlich eines Tages darauf hinauslaufen würde. Wenn sie nur ehrlich zueinander waren.

Mit einem tiefen Seufzer straffte er sich nach ein paar Minuten des Schweigens und legte die seine Finger auf ihre. „Ich leide unter Angststörungen“, gab er schließlich zu, vermied es aber dabei, ihr in die Augen zu sehen. „Deswegen bin ich auch schon in Therapie. Und meistens läuft es ganz gut. Morgens zum Beispiel. Ich liebe es, früh aufzustehen und Dinge zu tun. Aber abends, wenn ich im Bett liege und meine Gedanken sich anfangen zu drehen wie in einem Karussell, dann male ich mir Dinge aus, überdenke Situationen, analysiere alles tot und muss dabei immer wieder darüber grübeln, wie jemand wie du es gut mit jemandem wie mir meinen könntest.“

Ein ungläubiges Schnauben von Charlie brachte ihn dazu, sie wieder anzuschauen. „Entschuldige bitte“, warf sie ein und tippte sich mit ihrem rechten Zeigefinger selbst auf ihr Brustbein. „Jemand wie ich? Was meinst du damit? Dass du dich für nicht gut genug betrachtest, mit mir zusammen zu sein? Wenn, dann ist es doch wohl eher andersrum. Ich meine,“ sie machte eine Geste mit der flachen Hand, die ihn von oben bis unten beschrieb, „sieh dich doch mal an! Du bist Mr Hollywood!“

Auch wenn er es anders eingeschätzt und vielleicht noch schlimmer befürchtet hatte, brachte Chris diese Reaktion von ihr tatsächlich zum Schmunzeln. Geräuschvoll zog er die Nase hoch. „Du findest das nicht schlimm?“, wollte er zur Sicherheit noch einmal wissen. Doch sie winkte nur lapidar ab.

„Du hast in den letzten Monaten schon so viel Schlimmes mit mir durchgemacht, hast mein Geheule wegen der Scheidung ertragen, meine kurzfristig abgesagten Dates, meine Stimmungsschwankungen. Jetzt bin ich dran.“ Liebevoll knuffte sie ihn mit ihrer lockeren Faust gegen den Oberarm. „Wie du selbst gesagt hast: wenn das hier funktionieren soll, dann geht das nur, wenn wir ehrlich miteinander sind. Und wenn du in Zukunft das Gefühl hast, dass du dich nicht geliebt fühlst von mir, dann frag mich einfach.“ Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, was er mit einem Kuss erwiderte.

Ein paar Minuten später kuschelten sich beide aneinander unter ihren Decken ein, wobei Chris ihr seinen Arm um die Schultern legte und sie sanft an sich zog, sodass sie ihr Ohr auf seine durchtrainierte Brust ablegen und seinem Herzschlag lauschen konnte. Um der vorherigen Dramatik etwas die Spannung zu nehmen, schaltete er den Fernseher ein.

„Oh Gott!“, rief er gleich darauf empört aus, als das Gesicht des Präsidenten auf dem Bildschirm erschien, wie er vor dem Rednerpult im Weißen Haus stand und verkniffen aus seinen kleinen Augen in die Kameras der Fernsehsender lugte. „Ich glaub, ich schalte doch gleich wieder aus.“

„Findest du ihn wirklich so grausam?“, lachte Charlie und langte nach der Fernbedienung, weil sie in der Tat hören wollte, was er zu sagen hatte. Nicht, weil sie eine Anhängerin seiner Republikaner-Partei war, sondern weil sie interessiert an den neusten Entwicklungen war. Aufgrund des Gerichtstermins hatte sie kaum Zeit und Interesse gehabt, die aktuellen Nachrichten zu verfolgen.

Chris stieß verärgert die Luft aus. „Meinst du das ernst? Diesem Land ist bisher nichts Schlimmeres passiert als Donald Trump. Du hast ihn doch nicht etwa gewählt, oder? Dann müsste ich auf der Stelle Schluss machen.“

Empört riss sie ihre Augen auf. „Was denkst du von mir?! Natürlich hab ich ihn nicht gewählt. Trotzdem wüsste ich gerne, was eine Pressekonferenz rechtfertigt. Also: psst!“ Ergeben warf er die Arme in die Luft, was die Fernbedienung ans Fußende des Bettes und außerhalb ihrer Reichweite segeln ließ. So konnten die beiden ungestört vernehmen, dass es am gestrigen Tag tatsächlich einen ersten bestätigten Fall von COVID-19 aus dem Staate Washington gegeben hatte, der Präsident aber natürlich jedem, der es hören – und vor allem jedem, der es nicht hören – wollte, versicherte, dass die Situation völlig unter Kontrolle war. „Es ist eine Person, die aus China kommt“, gab er in seinem näselnden Tonfall von sich, wobei er die Lippen so seltsam spitzte, dass es fast aussah wie ein Entenschnabel. „Wir haben es unter Kontrolle. Es wird gut.“

„Nichts hat dieser Knilch unter Kontrolle!“, empörte sich Chris jäh und deutete mit einem ausgestreckten Arm Richtung Flimmerkiste. „Er hätte gar nicht erst an die Macht gedurft. Wenn ich könnte, würde ich lieber selbst nach Washington gehen, als den noch weiter seine Machtposition ausnutzen zu lassen.“

Charlie, die währenddessen Chris‘ steigende Angespanntheit gespürt hatte, erhob sich nun augenverdrehend und kroch auf allen Vieren ans andere Bettende, um den Fernseher wieder auszuschalten. Dabei präsentierte sie ihm ihre blanke Kehrseite, was ihn genug davon ablenkte, dass er noch eine weitere Schimpftriade gegen das Staatsoberhaupt hatte ablassen wollen, und sich stattdessen von hinten auf seine Freundin warf, um ihr mit kleinen federleichten Küssen in den Nacken klarzumachen, dass er trotz der vorgerückten Stunde noch nicht daran dachte, schlafen zu gehen.


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Anmerkung der Autorin:
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