Das Licht erlöscht (Der Jahreskreis #3)
Kurzbeschreibung
Ein junger Mann trifft eine junge Frau. - Zeitrahmen: Die Geschichte spielt einige Jahre vor der ersten Episode.
GeschichteDrama / P18 / Mix
Guy of Gisburne
OC (Own Character)
23.03.2023
23.03.2023
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4.186
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23.03.2023
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Endlich war der Frühling eingekehrt und wenn das nicht bereits Grund genug dafür sein sollte, damit der junge Mann Freude empfand – den Winter hatte er nicht nur des Wetters wegen als hart erlebt - dann war es ganz bestimmt die Tatsache, dass er jetzt endlich die Gelegenheit erhalten hatte zu seiner Ehefrau zurückzukehren. Sie hatten sich seit letztem Sommer nicht mehr gesehen. Dies war jetzt fast acht Monate her, denn kurz nachdem sie geheiratet hatten wurde seine Einheit verlegt und danach war der Teufel los. Er hatte nicht die geringste Chance auch nur für ein paar Tage zu ihr zurückzukehren, obwohl er nichts lieber als das getan hätte. Er hatte noch nie jemanden so sehr vermisst wie sie.
Und dies obwohl Grâce und er sich erst vor einem Jahr kennengelernt hatten. Damals war seine Einheit noch hier in der Nähe stationiert und kaum in Kämpfe verwickelt. Diese Zeit hatte er genutzt, die Umgebung zu erkunden und dabei die junge Frau kennengelernt. Ganz entgegen seiner üblichen Gewohnheiten hatte er das Mädchen, das nur ein Jahr jünger war als er selbst, schnell an sich herangelassen. Sie hatte etwas an sich, was ihn sehr ansprach und darüber hinaus war sie auch von ihm sehr angetan. Es war daher nicht weiter verwunderlich, dass es nicht lange dauerte, bis sie ein Paar waren und nur kurze Zeit später hatten sie bereits - gemeinsam - beschlossen zu heiraten.
Das stellte sich dann aber als nicht so einfach heraus, wie sie gedacht hatten. Dies lag auch daran, dass der junge Mann im Prinzip nicht mehr war als ein Soldat, auch wenn er vor fast vier Jahren von einem Ritter als Knappe angenommen worden war. Er war dann mit dem Älteren zwei Jahre später hierher – in die Normandie – gekommen, um für König Henry II. zu kämpfen. Ihm wurde zwar allgemein bestätigt, er wäre ein guter Kämpfer und Reiter, aber dies reichte nicht aus, um den Vater von Grâce - Sieur Mathurin du Buisson, einen kampferprobten Haudegen, der sehr auf seinen Stand achtete – für sich einzunehmen. Darüber hinaus war es ihm aber auch nicht gelungen, seinen Ritter davon zu überzeugen ihm die Heirat zu erlauben. Sir Geoffrey hatte dies mit dem Hinweis darauf verweigert, mit siebzehn Jahren wäre er für einen solchen Schritt noch viel zu jung. Er hatte aber auch bemerkt, er fände es unverantwortlich, eine junge Frau an sich zu binden, wenn es durchaus wahrscheinlich war, dass er sie als mittellose Witwe zurückließ.
Der Knappe und das Mädchen, das er liebte, waren aber jung und glaubten fest daran, ihnen werde schon nichts geschehen. Sie waren auch davon überzeugt, alle Hindernisse überwinden zu können. Dagegen war Warten etwas, was sie nicht fertigbrachten. Und so kam, wie es kommen musste. Auch ohne die Erlaubnis ihres Vaters entschieden sie sich dafür, sich als Ehepaar zu betrachten, nachdem sie sich gegenseitig ewige Treue geschworen hatten – mit Gott als ihrem Zeugen – und als Folge davon teilten sie auch das Bett miteinander, wann immer sich eine Gelegenheit dafür ergab. Und fürs Erste waren sie völlig zufrieden mit dem, was sie hatten.
Doch dann erfuhr der junge Mann, dass er mit seiner Einheit abrücken würde, und da wollten sie sich doch weitergehend versichern und sie ließen sich auch noch von einem Priester aus einem der in der Nähe liegenden Dörfer trauen. Nun auch mit kirchlichem Segen waren sie der Meinung, ihnen könnte nichts mehr geschehen.
Allerdings hatte keiner der beiden damit gerechnet, dass der junge Mann seine frisch angetraute Ehefrau für fast acht Monate allein lassen musste. Da war er nur froh, dass sie weiterhin bei ihrer Familie wohnen konnte, denn er hatte ihr nicht viel Geld geben können. Er war nicht reich. Die Zeit der Trennung war ihm ewig vorgekommen, aber diese war jetzt vorbei und nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er sie wieder in die Arme schließen konnte. Er hatte zu keinem Zeitpunkt auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, sie könne nicht auf ihn gewartet haben. Dies war einfach nicht möglich, denn schließlich waren sie verheiratet.
Noch besser war, was er ihr als Neuigkeit mitbringen konnte, denn es war ihm schließlich doch gelungen Sir Geoffrey zu überreden und so trug er nun ein Schreiben des Ritters mit dessen Erlaubnis bei sich, sowie eine Bestätigung darüber, wie er sich auf dem Schlachtfeld hervorgetan hatte. Er war fest davon überzeugt, den Chevalier damit endlich überzeugen zu können. Dann war es für Grâce und ihn möglich, schon beim nächsten Osterfest – das in etwa einem Monat stattfand - in der Öffentlichkeit als Ehepaar aufzutreten. Dann konnten sie auch daran denken eine Familie zu gründen, obwohl ihm der Gedanke an eigene Kinder ein mulmiges Gefühl in der Magengegend bescherte. Er war sich nämlich nicht sicher, ob er ein guter Vater sein konnte, weil er nie ein entsprechendes Vorbild zu Gesicht bekommen hatte. Er wollte aber auf keinem Fall einem Kind zumuten, was sich bei ihm zuhause zugetragen hatte.
Auf der anderen Seite hatte er keinerlei Zweifel daran, dass er ein guter Ehemann sein würde, denn er hatte nichts von dem vergessen, was ihm kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag beigebracht worden war. Für diese Lektionen, die sich radikal von denen unterschieden, die sein Ritter für ihn bereithielt, würde er seiner Lehrerin auf ewig dankbar sein. Und Grâce wäre dies sicherlich auch, wenn sie denn von der anderen Frau wüsste. Allerdings würde sie nie von ihr erfahren, was ihn mit etwas Traurigkeit erfüllte. Aber selbst er hatte verstanden, dass es nicht gut wäre, wenn er von ihr erzählte.
Es war nicht verwunderlich, dass er vor Ungeduld fast platzte und daher hatte er sein Pferd zur Eile angetrieben. Zumindest soweit, wie er es dem Tier zumuten konnte, trotzdem hatte er die Reise immer noch als viel zu lang empfunden. Als endlich die kleine Stadt, in der Grâce lebte, in Sicht kam, konnte er daher einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken. Am liebsten hätte er nun den Rest des Weges im Galopp zurückgelegt, aber ihm war schnell bewusst geworden, dass er damit zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Dies war aber etwas, was er vermeiden wollte, denn bisher wusste ja niemand etwas von seiner Beziehung zu der jungen Frau. Er musste umsichtig vorgehen, wenn er sich jetzt nicht noch alles verderben wollte.
Dies bedeutete leider auch, dass er nicht einfach zum Haus von Sieur Mathurin gehen und nach dessen Tochter fragen konnte. Er konnte ihr auch keinen Brief schreiben, denn dieser könnte ihrem Vater in die Hände fallen. Aus diesem Grund blieb ihm nichts anderes übrig, als sie abzupassen, wenn sie das Haus verließ, um auf dem Markt einzukaufen oder um zur Kirche zu gehen, genauso wie sie es auch zuvor gemacht hatten. Weil es nicht anders ging, sicherte er sich daher als erstes - nachdem er in der Stadt angekommen war - einen Schlafplatz in einer Taverne, die ebenfalls über einen Stall verfügte, in dem er sein Pferd unterstellen konnte.
Dies gestaltete sich aber schwieriger, als er sich das vorgestellt hatte, obwohl er, was seinen eigenen Schlafplatz anging, ziemlich anspruchslos war. Dies traf aber nicht darauf zu, was er dem Pferd zumuten wollte und deshalb fand er erst dann etwas, was ihm zusagte - und was er sich leisten konnte - als der Nachmittag bereits dem Ende zuging. Schnell wurde ihm klar, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät war, um sich noch vor dem Haus von Sieur Mathurin zu postieren. Um diese Zeit würde der Ritter seine Tochter mit Sicherheit nicht mehr aus dem Haus lassen. Der junge Mann war gezwungen, sich bis zum nächsten Tag zu gedulden.
Am nächsten Tag jedoch bekam er die junge Frau nicht zu Gesicht und auch nicht an den folgenden. Obwohl er nicht dafür bekannt war über besonders viel Geduld zu verfügen, konnte er sich bis zum fünften Tag zurückhalten. Was nicht hieß, dass er nicht zuvor schon damit begonnen hatte, sich Gedanken darüber zu machen, was er tun könnte, wenn er Grâce nicht treffen sollte. Schließlich kam er darauf, er sollte am besten damit beginnen, vorsichtig in der Nachbarschaft Erkundigungen einzuziehen. Dabei musste er natürlich darauf achten, den Ritter nicht auf sich und die Tatsache aufmerksam zu machen, dass jemand Fragen über seine Tochter stellte.
Am sechsten Tag hörte er dann auf, nur das Haus zu beobachten und begann stattdessen den Nachbarn Fragen zu stellen. Aber zuerst brachte ihn das auch nicht weiter, denn er erfuhr nur, das Mädchen wäre das letzte Mal vor einigen Monaten gesehen worden. Ganz plötzlich hatte sie nicht mehr im Haus der Familie gelebt, weil sie angeblich zu einer Tante gesandt worden war, die ihre Hilfe benötigte. Es hätte nicht seiner Erinnerung daran gebraucht, dass Grâce ihm davon erzählt hatte, die Geschwister ihrer Eltern wären bereits vor Jahren gestorben, um ihm bewusst zu machen, dass mit dieser Geschichte etwas nicht stimmte. Es lag eher daran, dass viele der Nachbarn nicht den Eindruck machten, als ob sie das selbst geglaubt hätten. Trotzdem benötigte er mehr als eine Woche, bevor ihm jemand einen Hinweis darauf gab, wer ihm vielleicht mehr sagen könnte. Bis zu diesem Zeitpunkt war von seiner Geduld praktisch nichts mehr vorhanden und er hatte mehrmals davorgestanden, Sieur Mathurin einfach aufzusuchen und mit seinen Fragen zu konfrontieren.
Damit wäre er vielleicht sogar durchgekommen, denn die kleine Stadt hatte begonnen sich mit Besuchern zu füllen, die die Einheimischen so weit ablenkten, dass sie vieles nicht mitbekommen würden. Zuerst hatte er sich gewundert, dass sich jetzt so viele Menschen hier einfanden – wobei er sein Glück pries, bereits über einen Schlafplatz zu verfügen – denn Ostern war noch einige Wochen entfernt. Außerdem konnte er sich auch nicht vorstellen, weshalb die Menschen deswegen in die Stadt kommen sollten und dies zum Teil auch von weit her. Doch dann überhörte er in der Taverne zufällig ein Gespräch, aus dem er erfuhr, die Leute in diesem – etwas abgelegenen – Teil des Landes würden immer noch daran festhalten die alten Feste zu feiern, auch wenn die Kirche schon seit längerer Zeit versuchte dies zu unterbinden. Die Menschen hier wollten aber offensichtlich nicht von ihren alten Traditionen lassen, zu denen auch dieses Fest gehörte, dass der junge Mann unter dem Namen Ostara kannte. Bei ihm zu Hause wurde es nur noch von den sächsischen Bauern und Leibeigenen gefeiert.
Er hatte aber auch nicht vergessen, dass er als Kind mehr als einmal versucht hatte an diesen Festen teilzunehmen, vor allem aus dem Grund, dass er nicht erwünscht war, wenn sein Vater Gäste einlud. Schon als er sehr jung war, hatte er sich weggeschlichen, obwohl ihm auch damals schon bewusst war, welchen Ärger er bekommen würde, sollte man ihn erwischen. Er war auch durchaus ein paarmal erwischt worden, aber ihm war mehr in Erinnerung geblieben, wie sehr er sich darüber gefreut hatte, seinem Elternhaus mal für eine kurze Zeit entkommen zu sein. Diese Ausflüge hatten sich auf jeden Fall gelohnt. Allerdings war das schon viele Jahre her, denn nachdem er als Page nach Gloucester gekommen war, hatte es eine ganze Zeitlang gedauert, bis er dort hatte herausfinden können, bei welchen Festen er willkommen war und wer ihn nicht sehen wollte.
Er gönnte es den Menschen hier durchaus zu feiern, aber er wollte in ihr Tun nicht hineingezogen werden, denn er war aus anderen Gründen hier. Er wollte seine Ehefrau finden, die Zustimmung ihres Vaters erringen und mit ihr dann das christliche Fest an Ostern feiern. Daher würde er dieses Mal darauf verzichten an diesem Fest teilzunehmen, obwohl es sehr wahrscheinlich war, dass dies auch in Zukunft gelten sollte. Schließlich war er jetzt verheiratet und außerdem war er ja auch kein Bauer. Da gehörte sich das einfach nicht mehr.
Bevor er sich aber dazu hinreißen konnte, etwas zu tun, was es ihm unmöglich machen würde zu einer Einigung mit Grâces Vater zu kommen, erfuhr er von einer jungen Frau aus der Nachbarschaft, er solle sich an die Schwestern von St. Agate wenden. Diese wären eventuell in der Lage ihm mehr sagen zu können. Bei diesem Gespräch machte sie aber eindeutig den Eindruck, sie habe Angst. Sie gab sich alle Mühe, dafür zu sorgen, dass sie niemand mit dem jungen Mann sah. Außerdem zog sie ihren fadenscheinigen Schal immer enger um sich, um ihr Gesicht zu verbergen, während sie sich gleichzeitig immer wieder verstohlen umblickte. Als er sie schließlich fragte, ob sie ihm nicht selbst etwas über Grâce erzählen könne, drehte sie sich um und verschwand in einer der engen und dunklen Gassen. Er verzichtete darauf, sie zu verfolgen, obwohl seine Ungeduld ihn fast erstickte, denn er hatte ihre Angst nicht übersehen können.
Später war er froh darüber, dass er die Frau nicht weiter bedrängt hatte. Hätte sie ihm erzählt, was sie wusste, dann hätte er sich wahrscheinlich nicht mehr beherrschen können. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keine Ahnung von dem, was vorgefallen war.
Als er schließlich das Kloster von St. Agate gefunden hatte – das etwas außerhalb der kleinen Stadt lag - wollten die Schwestern zuerst nicht mit ihm sprechen. Wenn er darüber nachgedacht hätte, dann wäre er sicherlich darauf gekommen, dies liege daran, dass er ein Fremder war. Aber in seiner Verzweiflung darüber, schon wieder abgewiesen zu werden, aber auch, weil er einer Nonne gegenüber nicht ausfallend werden wollte - platzte er auf einmal damit heraus, er suche seine Ehefrau Grâce du Buisson. Der Ausdruck auf dem Gesicht der Nonne, die ihn gerade noch an der Pforte hatte abweisen wollen, veränderte sich mit einer Geschwindigkeit und auf eine Art und Weise, die ihm einen kalten Schauder den Rücken hinunterrinnen ließ, denn auf einmal kam ihm ein Verdacht. Nur wie nebenbei bekam er mit, dass sie ihn nun doch hineinbat und er ihrer Aufforderung Folge leistete. In seinem Kopf purzelten die Ideen durcheinander, wie er wieder in Ordnung bringen könnte, was geschehen war, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren, auch nur einen dieser Gedanken zu Ende zu bringen.
Er war davon ausgegangen, zur Priorin geführt zu werden, aber stattdessen fand er sich in einem Garten wieder, wo er geheißen wurde zu warten, gleich käme jemand, der mit ihm sprechen würde. Er solle sich bitte einen Moment gedulden. Wahrscheinlich hatte er als Antwort darauf genickt, aber er erinnerte sich nicht daran, nur, dass er nicht fähig war ein Wort herauszubekommen.
Schließlich erschien eine andere, ältere, Nonne. Zuerst hatte er den Eindruck, sie habe eigentlich mit ihm sprechen wollen, aber dann blickte sie ihm ins Gesicht und dachte dann offenbar, dass er ihre Worte nicht hören würde. Stattdessen bat sie ihn mit einer Handbewegung, ihr zu folgen und machte sich dann auf, den Garten zu durchqueren. An dessen anderem Ende blieb sie dann vor einer kleineren Pforte stehen, die in die efeuüberwachsene Mauer eingelassen worden war.
„Wie alt seid Ihr, junger Mann?“, wollte sie ganz unerwartet von ihm wissen.
Er verstand nicht, wieso sie ihn das fragte, dennoch gab er ihr eine Antwort: „Ich bin siebzehn, Schwester.“
Sie blickte ihm noch einmal prüfend ins Gesicht, nickte dann, als wenn dies einiges erklärte, bevor sie die Pforte mit einem Schlüssel aufsperrte, den sie aus einer Tasche ihrer Schwesterntracht geholt hatte, um ihm dann erneut vorauszugehen.
Nachdem er die Öffnung in der Mauer ebenfalls passiert hatte, stellte er fest, dass er sich auf einem kleinen Friedhof befand, auf dem die Gräber durch einfache Holzkreuze gekennzeichnet worden waren. Die Nonne wartete neben einem von ihnen auf ihren Besucher.
Als er dann bei ihr ankam, zeigte sie auf das Grab, neben dem sie sich befanden. „Hier, mein Sohn“, war alles, was sie sagte.
Er runzelte die Stirn, weil er nicht wusste, was sie ihm damit sagen wollte.
Sie erbarmte sich weiterzusprechen, als sie seiner Verwirrung gewahr wurde. „Hier liegt diejenige, die Ihr gesucht habt“, führte sie aus.
„Aber …“, stammelte er. Das konnte nicht sein. Als die Nonne an der Eingangspforte ihn derart mitleidig anblickte, war er davon ausgegangen Sieur Mathurin habe seine Tochter dazu gezwungen, in das Kloster einzutreten. Nun wurde ihm ein Grab gezeigt. Er verstand nicht, wie das zusammenpassen sollte.
„Das kann nicht sein!“, platzte es schließlich aus ihm heraus. „Sie ist nicht tot!“ Das wollte er nicht glauben.
„Es tut mir leid, mein Sohn“, antwortete ihm die Nonne mit leiser, ruhiger Stimme.
„Aber wie …?“ Er schüttelte den Kopf. Dies konnte nicht sein, dies musste ein Alptraum sein und er würde gleich erwachen.
Stattdessen fand er sich plötzlich auf dem Boden wieder, wobei er nicht wusste, wie er dahingekommen war. Voller Verzweiflung hob er seinen Kopf und blickte die Nonne an.
„Wie?“, stellte er seine Frage noch einmal.
„Sie ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben“, antwortete sie ihm.
Kind? Was für ein Kind? Sein Kind?
„Das Kind …“, mehr brachte er nicht heraus.
„Sie war allein, als sie starb. Niemand hat sich um das Kind gekümmert. Es ist auch gestorben.“ Die Worte erreichten ihn wie aus weiter Ferne.
Tot! Seine geliebte Grâce tot. Ihr Kind, sein Kind, ebenfalls tot. Das konnte doch nur ein Alptraum sein.
Und allein! Allein? Dieses eine Wort schaffte es, durch den Nebel zu dringen, der ihn umgab. Allein!
Wut durchflutete ihn und gab ihm die Kraft, sich wieder zu erheben.
„Wieso war sie allein? Sie hatte eine Familie, einen Vater. Wieso war sie allein, als sie mein Kind zur Welt brachte?“ Seine Stimme überschlug sich.
Die Nonne betrachtete ihn lange, bevor sie ihm antwortete und er spürte, wie die Wut, die er verspürte, immer größer wurde.
„Als ihre Familie, als ihr Vater entdeckte, dass sie ein Kind erwartete, hat er sie aus dem Haus geworfen. Er hat sie eine Hure genannt und sie davongejagt. Niemand wollte sie aufnehmen, obwohl ihr einige Menschen wohl zumindest Essen gegeben haben. Wäre sie direkt zu uns gekommen, dann …“, sie brachte den Satz nicht zu Ende.
„Sie war keine Hure!“, brüllte er. „Sie war meine Ehefrau.“
Die Nonne blickte ihm ohne Furcht ins Gesicht, aber äußerte sich nicht mehr. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, aber dann wurde ihm auf einmal bewusst, dass sie nicht mehr mit ihm sprach, weil er laut geworden war. Er musste sich beruhigen, auch wenn ihm das schwerfiel. Er machte sich bewusst, dass die Nonnen nichts dafürkonnten, dass seine Grâce tot war. Er holte tief Luft.
„Es tut mir leid, Schwester“, schaffte er es schließlich sich zu entschuldigen.
„Nein, mir tut es leid, mein Sohn“, erwiderte sie. „Als sich jemand dazu durchringen konnte uns Bescheid zu geben, war es bereits zu spät. Wir haben versucht herauszufinden, was geschehen ist, aber zuerst wollte uns niemand etwas sagen. Erst nach und nach haben wir erfahren, wer sie war und wieso sie allein war. Und …“, sie machte eine kurze Pause, „sie hat wohl immer beteuert, sie wäre verheiratet, aber sie konnte das nicht beweisen. Daher hat ihre Familie sie verstoßen.“
Mit Schrecken fiel ihm ein, dass er die Bescheinigung an sich genommen hatte, mit der die Eheschließung bestätigt worden war. Genaugenommen hatte er diese selbst erstellt und der Priester hatte nur sein Zeichen darunter gekrakelt, denn er war kaum fähig dazu, seinen eigenen Namen zu schreiben. So wie die meisten Priester, die man in die Dörfer sandte.
„Hier“, er zerrte das Dokument aus seiner Tasche und hielt es der Nonne hin. „Hier steht es.“
Die Frau nahm ihm das Pergament aus der Hand und studierte es gründlich, dann blickte sie ihn erneut an. „Guy of Gisburne? Seid Ihr das?“
Er nickte.
„Also hat sie nicht gelogen.“ Die Nonne sprach so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen konnte. Dann wandte sie sich um und schaute auf das Grab. „Dies reicht mir aus, um Eure Frau und Euer Kind auf einem richtigen Gottesacker bestatten zu lassen und nicht hier bei uns, wo nur die Sünder liegen.“ Sie reichte ihm das Dokument zurück.
Er starrte darauf, ohne wirklich zu verstehen, was er jetzt damit anfangen sollte. Seine Frau war tot, er brauchte es nicht mehr. Doch dann fiel ihm auf einmal etwas ein.
„Der Priester. Wieso hat niemand den Priester gefragt?“, wollte er auf einmal wissen.
„Der Priester ist tot. War es bereits, als man nach ihm sandte. Und im Dorf konnte sich niemand daran erinnern, dass Eure Ehefrau schon einmal da war.“
Natürlich nicht. Sie hatten darauf geachtet, von niemandem gesehen zu werden. Sie waren nicht auf die Idee gekommen, dass ihr das das Leben kosten könnte. Hatte es aber.
„Was soll ich jetzt tun?“ Er blickte die Nonne hilfesuchend an.
„Es ist nicht an mir, das zu entscheiden, mein Sohn. Aber als erstes solltet Ihr morgen wieder hierherkommen, dann werden wir Eure Ehefrau und das Kind so beerdigen, wie es ihnen zusteht. Werdet Ihr das tun?“
Erneut nickte er und dann ließ er sich aus dem Kloster führen. Was er in den nächsten Stunden und während der Nacht getan hatte, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Aber am nächsten Morgen wurde ihm klar, dass er nicht so schmutzig und ungepflegt am Grab seiner geliebten Ehefrau stehen wollte und er fand den Weg in die Taverne, wo er sich wusch und umzog, bevor er sich wieder zum Kloster aufmachte.
Die nächsten Stunden verschwammen erneut in seiner Erinnerung, aber irgendwann stellte er fest, dass er an einem Grab stand, in dem ein in ein Leichentuch gehüllter Körper lag. Er widerstand dem Drang, den Stoff zu zerreißen, um noch einmal einen Blick auf Grâce zu werfen, bevor sie erneut mit Erde bedeckt wurde. Das Kind nahm offenbar so wenig Platz ein, dass von ihm noch nicht einmal ein Umriss zu erkennen war.
Er ging davon aus, er habe sich bei den Nonnen für das bedankt, was sie getan hatten, bevor er wieder ging. Irgendwann fand er sich in einer Kaschemme wieder, in der er dann Bier in sich hineinkippte, bis er erneut nicht mehr wusste, was er tat. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er versucht, seinen Kummer zu ertränken, aber dies war ihm wohl nur zum Teil gelungen. Auf jeden Fall wachte er am nächsten Morgen an seinem Schlafplatz auf, ohne sich erinnern zu können, wie er dahin gekommen war.
Es war der Tag, an dem die Menschen Ostara feierten und in der ganzen Stadt herrschte eine ausgelassene und freudige Stimmung. Seine eigene Stimmung sah dagegen völlig anders aus. Er war sich sicher, er habe versucht, seine Erinnerung im Bier zu ertränken, aber dabei keinen Erfolg gehabt. Aber inzwischen war ihm klar geworden, was er stattdessen tun musste, um seinen Kummer und seine Wut loszuwerden. Dabei wollte er allerdings auf keinen Fall betrunken sein.
Bis zum Abend hatte er alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Schließlich nahm er seine Sachen und sein Pferd und verließ die Stadt, aber er entfernte sich nicht weit. In einem kleinen Wäldchen, in dessen Nähe bereits eine große Gruppe Menschen feierte, dass der Frühling Einzug hielt, wobei sie wahrscheinlich auch einige Opfer in der Form von Bier oder Wein brachten, damit das Land auch in diesem Jahr fruchtbar war.
Er hatte ebenfalls vor, in dieser Nacht den Boden mit einer Opfergabe zu tränken, aber er dachte dabei nicht an Bier oder Wein. Als es dunkel wurde, kehrte er in die Stadt zurück, nachdem er sich zuvor einen Karren ausgeborgt hatte, den ein unvorsichtiger – oder betrunkener – Bauer unbewacht hatte stehen lassen. Dieser Karren ermöglichte ihm eine einfachere Durchführung seines Vorhabens. Inzwischen war er auch wieder völlig nüchtern, was genauso war, wie er es haben wollte, um sich ganz genau daran zu erinnern, was nun geschehen sollte.
In dieser Nacht würde die Familie du Buisson ein weiteres Mitglied verlieren, aber im Gegensatz zu seiner Tochter und seinem Enkelkind würde der Chevalier seine letzte Ruhe nicht in geweihter Erde finden. Gisburne war sich allerdings ganz sicher, dass er das Ende schließlich herbeigesehnt hatte. Seine Schreie waren in dem Lärm untergegangen, den die Feiernden verursachten, ganz so wie der junge Mann sich das vorgestellt hatte. Zum Sterben ließ er den anderen dann allein, denn er wollte ihm nicht gewähren, was seiner Ehefrau und seinem Kind verwehrt worden war. Den nackten Leichnam ließ er einfach liegen, denn er war davon überzeugt, niemand würde erkennen können, um wen es sich handelte. Die blutige Kleidung des Ritters, aber auch seine eigene hatte er verbrannt und auch das Dokument seiner Eheschließung sowie Sir Geoffreys Erlaubnis in die Flammen geworfen. All dies war ihm von keinem Nutzen mehr, nachdem er den Ritter gezwungen hatte es zu lesen.
Schließlich sattelte er sein Pferd und machte sich dann auf den Rückweg zu seiner Einheit und Sir Geoffrey. Während er unterwegs war, hatte er ausreichend Zeit über alles nachzudenken und ihm wurde klar, es wäre für ihn besser, wenn er vergessen könnte jemals verheiratet gewesen zu sein. Und wenn er schon mal dabei war, dann sollte er auch vergessen, was mit Sieur Mathurin geschehen war, trotz der Befriedigung, die ihm dessen Tod verschafft hatte. Aber dabei wollte er es nicht belassen. Er wollte auch die Frau vergessen, die ihm drei Jahre zuvor gezeigt hatte, wozu er fähig sein konnte. Er wollte jeden vergessen, der ihm zugetan war, denn von denen war ihm niemand geblieben. Sie hatten ihn alle verlassen.
Als er schließlich wieder bei Sir Geoffrey ankam, schaute dieser seinen Knappen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Aber er blieb stumm und daran war mit Sicherheit das versteinerte Gesicht des Jüngeren schuld. Er nahm sich zwar vor, Guy später danach zu fragen, was auf seiner Reise geschehen war, aber dazu sollte er niemals den richtigen Zeitpunkt finden. Und dann war es zu spät.
Und dies obwohl Grâce und er sich erst vor einem Jahr kennengelernt hatten. Damals war seine Einheit noch hier in der Nähe stationiert und kaum in Kämpfe verwickelt. Diese Zeit hatte er genutzt, die Umgebung zu erkunden und dabei die junge Frau kennengelernt. Ganz entgegen seiner üblichen Gewohnheiten hatte er das Mädchen, das nur ein Jahr jünger war als er selbst, schnell an sich herangelassen. Sie hatte etwas an sich, was ihn sehr ansprach und darüber hinaus war sie auch von ihm sehr angetan. Es war daher nicht weiter verwunderlich, dass es nicht lange dauerte, bis sie ein Paar waren und nur kurze Zeit später hatten sie bereits - gemeinsam - beschlossen zu heiraten.
Das stellte sich dann aber als nicht so einfach heraus, wie sie gedacht hatten. Dies lag auch daran, dass der junge Mann im Prinzip nicht mehr war als ein Soldat, auch wenn er vor fast vier Jahren von einem Ritter als Knappe angenommen worden war. Er war dann mit dem Älteren zwei Jahre später hierher – in die Normandie – gekommen, um für König Henry II. zu kämpfen. Ihm wurde zwar allgemein bestätigt, er wäre ein guter Kämpfer und Reiter, aber dies reichte nicht aus, um den Vater von Grâce - Sieur Mathurin du Buisson, einen kampferprobten Haudegen, der sehr auf seinen Stand achtete – für sich einzunehmen. Darüber hinaus war es ihm aber auch nicht gelungen, seinen Ritter davon zu überzeugen ihm die Heirat zu erlauben. Sir Geoffrey hatte dies mit dem Hinweis darauf verweigert, mit siebzehn Jahren wäre er für einen solchen Schritt noch viel zu jung. Er hatte aber auch bemerkt, er fände es unverantwortlich, eine junge Frau an sich zu binden, wenn es durchaus wahrscheinlich war, dass er sie als mittellose Witwe zurückließ.
Der Knappe und das Mädchen, das er liebte, waren aber jung und glaubten fest daran, ihnen werde schon nichts geschehen. Sie waren auch davon überzeugt, alle Hindernisse überwinden zu können. Dagegen war Warten etwas, was sie nicht fertigbrachten. Und so kam, wie es kommen musste. Auch ohne die Erlaubnis ihres Vaters entschieden sie sich dafür, sich als Ehepaar zu betrachten, nachdem sie sich gegenseitig ewige Treue geschworen hatten – mit Gott als ihrem Zeugen – und als Folge davon teilten sie auch das Bett miteinander, wann immer sich eine Gelegenheit dafür ergab. Und fürs Erste waren sie völlig zufrieden mit dem, was sie hatten.
Doch dann erfuhr der junge Mann, dass er mit seiner Einheit abrücken würde, und da wollten sie sich doch weitergehend versichern und sie ließen sich auch noch von einem Priester aus einem der in der Nähe liegenden Dörfer trauen. Nun auch mit kirchlichem Segen waren sie der Meinung, ihnen könnte nichts mehr geschehen.
Allerdings hatte keiner der beiden damit gerechnet, dass der junge Mann seine frisch angetraute Ehefrau für fast acht Monate allein lassen musste. Da war er nur froh, dass sie weiterhin bei ihrer Familie wohnen konnte, denn er hatte ihr nicht viel Geld geben können. Er war nicht reich. Die Zeit der Trennung war ihm ewig vorgekommen, aber diese war jetzt vorbei und nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er sie wieder in die Arme schließen konnte. Er hatte zu keinem Zeitpunkt auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, sie könne nicht auf ihn gewartet haben. Dies war einfach nicht möglich, denn schließlich waren sie verheiratet.
Noch besser war, was er ihr als Neuigkeit mitbringen konnte, denn es war ihm schließlich doch gelungen Sir Geoffrey zu überreden und so trug er nun ein Schreiben des Ritters mit dessen Erlaubnis bei sich, sowie eine Bestätigung darüber, wie er sich auf dem Schlachtfeld hervorgetan hatte. Er war fest davon überzeugt, den Chevalier damit endlich überzeugen zu können. Dann war es für Grâce und ihn möglich, schon beim nächsten Osterfest – das in etwa einem Monat stattfand - in der Öffentlichkeit als Ehepaar aufzutreten. Dann konnten sie auch daran denken eine Familie zu gründen, obwohl ihm der Gedanke an eigene Kinder ein mulmiges Gefühl in der Magengegend bescherte. Er war sich nämlich nicht sicher, ob er ein guter Vater sein konnte, weil er nie ein entsprechendes Vorbild zu Gesicht bekommen hatte. Er wollte aber auf keinem Fall einem Kind zumuten, was sich bei ihm zuhause zugetragen hatte.
Auf der anderen Seite hatte er keinerlei Zweifel daran, dass er ein guter Ehemann sein würde, denn er hatte nichts von dem vergessen, was ihm kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag beigebracht worden war. Für diese Lektionen, die sich radikal von denen unterschieden, die sein Ritter für ihn bereithielt, würde er seiner Lehrerin auf ewig dankbar sein. Und Grâce wäre dies sicherlich auch, wenn sie denn von der anderen Frau wüsste. Allerdings würde sie nie von ihr erfahren, was ihn mit etwas Traurigkeit erfüllte. Aber selbst er hatte verstanden, dass es nicht gut wäre, wenn er von ihr erzählte.
Es war nicht verwunderlich, dass er vor Ungeduld fast platzte und daher hatte er sein Pferd zur Eile angetrieben. Zumindest soweit, wie er es dem Tier zumuten konnte, trotzdem hatte er die Reise immer noch als viel zu lang empfunden. Als endlich die kleine Stadt, in der Grâce lebte, in Sicht kam, konnte er daher einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken. Am liebsten hätte er nun den Rest des Weges im Galopp zurückgelegt, aber ihm war schnell bewusst geworden, dass er damit zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Dies war aber etwas, was er vermeiden wollte, denn bisher wusste ja niemand etwas von seiner Beziehung zu der jungen Frau. Er musste umsichtig vorgehen, wenn er sich jetzt nicht noch alles verderben wollte.
Dies bedeutete leider auch, dass er nicht einfach zum Haus von Sieur Mathurin gehen und nach dessen Tochter fragen konnte. Er konnte ihr auch keinen Brief schreiben, denn dieser könnte ihrem Vater in die Hände fallen. Aus diesem Grund blieb ihm nichts anderes übrig, als sie abzupassen, wenn sie das Haus verließ, um auf dem Markt einzukaufen oder um zur Kirche zu gehen, genauso wie sie es auch zuvor gemacht hatten. Weil es nicht anders ging, sicherte er sich daher als erstes - nachdem er in der Stadt angekommen war - einen Schlafplatz in einer Taverne, die ebenfalls über einen Stall verfügte, in dem er sein Pferd unterstellen konnte.
Dies gestaltete sich aber schwieriger, als er sich das vorgestellt hatte, obwohl er, was seinen eigenen Schlafplatz anging, ziemlich anspruchslos war. Dies traf aber nicht darauf zu, was er dem Pferd zumuten wollte und deshalb fand er erst dann etwas, was ihm zusagte - und was er sich leisten konnte - als der Nachmittag bereits dem Ende zuging. Schnell wurde ihm klar, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät war, um sich noch vor dem Haus von Sieur Mathurin zu postieren. Um diese Zeit würde der Ritter seine Tochter mit Sicherheit nicht mehr aus dem Haus lassen. Der junge Mann war gezwungen, sich bis zum nächsten Tag zu gedulden.
Am nächsten Tag jedoch bekam er die junge Frau nicht zu Gesicht und auch nicht an den folgenden. Obwohl er nicht dafür bekannt war über besonders viel Geduld zu verfügen, konnte er sich bis zum fünften Tag zurückhalten. Was nicht hieß, dass er nicht zuvor schon damit begonnen hatte, sich Gedanken darüber zu machen, was er tun könnte, wenn er Grâce nicht treffen sollte. Schließlich kam er darauf, er sollte am besten damit beginnen, vorsichtig in der Nachbarschaft Erkundigungen einzuziehen. Dabei musste er natürlich darauf achten, den Ritter nicht auf sich und die Tatsache aufmerksam zu machen, dass jemand Fragen über seine Tochter stellte.
Am sechsten Tag hörte er dann auf, nur das Haus zu beobachten und begann stattdessen den Nachbarn Fragen zu stellen. Aber zuerst brachte ihn das auch nicht weiter, denn er erfuhr nur, das Mädchen wäre das letzte Mal vor einigen Monaten gesehen worden. Ganz plötzlich hatte sie nicht mehr im Haus der Familie gelebt, weil sie angeblich zu einer Tante gesandt worden war, die ihre Hilfe benötigte. Es hätte nicht seiner Erinnerung daran gebraucht, dass Grâce ihm davon erzählt hatte, die Geschwister ihrer Eltern wären bereits vor Jahren gestorben, um ihm bewusst zu machen, dass mit dieser Geschichte etwas nicht stimmte. Es lag eher daran, dass viele der Nachbarn nicht den Eindruck machten, als ob sie das selbst geglaubt hätten. Trotzdem benötigte er mehr als eine Woche, bevor ihm jemand einen Hinweis darauf gab, wer ihm vielleicht mehr sagen könnte. Bis zu diesem Zeitpunkt war von seiner Geduld praktisch nichts mehr vorhanden und er hatte mehrmals davorgestanden, Sieur Mathurin einfach aufzusuchen und mit seinen Fragen zu konfrontieren.
Damit wäre er vielleicht sogar durchgekommen, denn die kleine Stadt hatte begonnen sich mit Besuchern zu füllen, die die Einheimischen so weit ablenkten, dass sie vieles nicht mitbekommen würden. Zuerst hatte er sich gewundert, dass sich jetzt so viele Menschen hier einfanden – wobei er sein Glück pries, bereits über einen Schlafplatz zu verfügen – denn Ostern war noch einige Wochen entfernt. Außerdem konnte er sich auch nicht vorstellen, weshalb die Menschen deswegen in die Stadt kommen sollten und dies zum Teil auch von weit her. Doch dann überhörte er in der Taverne zufällig ein Gespräch, aus dem er erfuhr, die Leute in diesem – etwas abgelegenen – Teil des Landes würden immer noch daran festhalten die alten Feste zu feiern, auch wenn die Kirche schon seit längerer Zeit versuchte dies zu unterbinden. Die Menschen hier wollten aber offensichtlich nicht von ihren alten Traditionen lassen, zu denen auch dieses Fest gehörte, dass der junge Mann unter dem Namen Ostara kannte. Bei ihm zu Hause wurde es nur noch von den sächsischen Bauern und Leibeigenen gefeiert.
Er hatte aber auch nicht vergessen, dass er als Kind mehr als einmal versucht hatte an diesen Festen teilzunehmen, vor allem aus dem Grund, dass er nicht erwünscht war, wenn sein Vater Gäste einlud. Schon als er sehr jung war, hatte er sich weggeschlichen, obwohl ihm auch damals schon bewusst war, welchen Ärger er bekommen würde, sollte man ihn erwischen. Er war auch durchaus ein paarmal erwischt worden, aber ihm war mehr in Erinnerung geblieben, wie sehr er sich darüber gefreut hatte, seinem Elternhaus mal für eine kurze Zeit entkommen zu sein. Diese Ausflüge hatten sich auf jeden Fall gelohnt. Allerdings war das schon viele Jahre her, denn nachdem er als Page nach Gloucester gekommen war, hatte es eine ganze Zeitlang gedauert, bis er dort hatte herausfinden können, bei welchen Festen er willkommen war und wer ihn nicht sehen wollte.
Er gönnte es den Menschen hier durchaus zu feiern, aber er wollte in ihr Tun nicht hineingezogen werden, denn er war aus anderen Gründen hier. Er wollte seine Ehefrau finden, die Zustimmung ihres Vaters erringen und mit ihr dann das christliche Fest an Ostern feiern. Daher würde er dieses Mal darauf verzichten an diesem Fest teilzunehmen, obwohl es sehr wahrscheinlich war, dass dies auch in Zukunft gelten sollte. Schließlich war er jetzt verheiratet und außerdem war er ja auch kein Bauer. Da gehörte sich das einfach nicht mehr.
Bevor er sich aber dazu hinreißen konnte, etwas zu tun, was es ihm unmöglich machen würde zu einer Einigung mit Grâces Vater zu kommen, erfuhr er von einer jungen Frau aus der Nachbarschaft, er solle sich an die Schwestern von St. Agate wenden. Diese wären eventuell in der Lage ihm mehr sagen zu können. Bei diesem Gespräch machte sie aber eindeutig den Eindruck, sie habe Angst. Sie gab sich alle Mühe, dafür zu sorgen, dass sie niemand mit dem jungen Mann sah. Außerdem zog sie ihren fadenscheinigen Schal immer enger um sich, um ihr Gesicht zu verbergen, während sie sich gleichzeitig immer wieder verstohlen umblickte. Als er sie schließlich fragte, ob sie ihm nicht selbst etwas über Grâce erzählen könne, drehte sie sich um und verschwand in einer der engen und dunklen Gassen. Er verzichtete darauf, sie zu verfolgen, obwohl seine Ungeduld ihn fast erstickte, denn er hatte ihre Angst nicht übersehen können.
Später war er froh darüber, dass er die Frau nicht weiter bedrängt hatte. Hätte sie ihm erzählt, was sie wusste, dann hätte er sich wahrscheinlich nicht mehr beherrschen können. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keine Ahnung von dem, was vorgefallen war.
Als er schließlich das Kloster von St. Agate gefunden hatte – das etwas außerhalb der kleinen Stadt lag - wollten die Schwestern zuerst nicht mit ihm sprechen. Wenn er darüber nachgedacht hätte, dann wäre er sicherlich darauf gekommen, dies liege daran, dass er ein Fremder war. Aber in seiner Verzweiflung darüber, schon wieder abgewiesen zu werden, aber auch, weil er einer Nonne gegenüber nicht ausfallend werden wollte - platzte er auf einmal damit heraus, er suche seine Ehefrau Grâce du Buisson. Der Ausdruck auf dem Gesicht der Nonne, die ihn gerade noch an der Pforte hatte abweisen wollen, veränderte sich mit einer Geschwindigkeit und auf eine Art und Weise, die ihm einen kalten Schauder den Rücken hinunterrinnen ließ, denn auf einmal kam ihm ein Verdacht. Nur wie nebenbei bekam er mit, dass sie ihn nun doch hineinbat und er ihrer Aufforderung Folge leistete. In seinem Kopf purzelten die Ideen durcheinander, wie er wieder in Ordnung bringen könnte, was geschehen war, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren, auch nur einen dieser Gedanken zu Ende zu bringen.
Er war davon ausgegangen, zur Priorin geführt zu werden, aber stattdessen fand er sich in einem Garten wieder, wo er geheißen wurde zu warten, gleich käme jemand, der mit ihm sprechen würde. Er solle sich bitte einen Moment gedulden. Wahrscheinlich hatte er als Antwort darauf genickt, aber er erinnerte sich nicht daran, nur, dass er nicht fähig war ein Wort herauszubekommen.
Schließlich erschien eine andere, ältere, Nonne. Zuerst hatte er den Eindruck, sie habe eigentlich mit ihm sprechen wollen, aber dann blickte sie ihm ins Gesicht und dachte dann offenbar, dass er ihre Worte nicht hören würde. Stattdessen bat sie ihn mit einer Handbewegung, ihr zu folgen und machte sich dann auf, den Garten zu durchqueren. An dessen anderem Ende blieb sie dann vor einer kleineren Pforte stehen, die in die efeuüberwachsene Mauer eingelassen worden war.
„Wie alt seid Ihr, junger Mann?“, wollte sie ganz unerwartet von ihm wissen.
Er verstand nicht, wieso sie ihn das fragte, dennoch gab er ihr eine Antwort: „Ich bin siebzehn, Schwester.“
Sie blickte ihm noch einmal prüfend ins Gesicht, nickte dann, als wenn dies einiges erklärte, bevor sie die Pforte mit einem Schlüssel aufsperrte, den sie aus einer Tasche ihrer Schwesterntracht geholt hatte, um ihm dann erneut vorauszugehen.
Nachdem er die Öffnung in der Mauer ebenfalls passiert hatte, stellte er fest, dass er sich auf einem kleinen Friedhof befand, auf dem die Gräber durch einfache Holzkreuze gekennzeichnet worden waren. Die Nonne wartete neben einem von ihnen auf ihren Besucher.
Als er dann bei ihr ankam, zeigte sie auf das Grab, neben dem sie sich befanden. „Hier, mein Sohn“, war alles, was sie sagte.
Er runzelte die Stirn, weil er nicht wusste, was sie ihm damit sagen wollte.
Sie erbarmte sich weiterzusprechen, als sie seiner Verwirrung gewahr wurde. „Hier liegt diejenige, die Ihr gesucht habt“, führte sie aus.
„Aber …“, stammelte er. Das konnte nicht sein. Als die Nonne an der Eingangspforte ihn derart mitleidig anblickte, war er davon ausgegangen Sieur Mathurin habe seine Tochter dazu gezwungen, in das Kloster einzutreten. Nun wurde ihm ein Grab gezeigt. Er verstand nicht, wie das zusammenpassen sollte.
„Das kann nicht sein!“, platzte es schließlich aus ihm heraus. „Sie ist nicht tot!“ Das wollte er nicht glauben.
„Es tut mir leid, mein Sohn“, antwortete ihm die Nonne mit leiser, ruhiger Stimme.
„Aber wie …?“ Er schüttelte den Kopf. Dies konnte nicht sein, dies musste ein Alptraum sein und er würde gleich erwachen.
Stattdessen fand er sich plötzlich auf dem Boden wieder, wobei er nicht wusste, wie er dahingekommen war. Voller Verzweiflung hob er seinen Kopf und blickte die Nonne an.
„Wie?“, stellte er seine Frage noch einmal.
„Sie ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben“, antwortete sie ihm.
Kind? Was für ein Kind? Sein Kind?
„Das Kind …“, mehr brachte er nicht heraus.
„Sie war allein, als sie starb. Niemand hat sich um das Kind gekümmert. Es ist auch gestorben.“ Die Worte erreichten ihn wie aus weiter Ferne.
Tot! Seine geliebte Grâce tot. Ihr Kind, sein Kind, ebenfalls tot. Das konnte doch nur ein Alptraum sein.
Und allein! Allein? Dieses eine Wort schaffte es, durch den Nebel zu dringen, der ihn umgab. Allein!
Wut durchflutete ihn und gab ihm die Kraft, sich wieder zu erheben.
„Wieso war sie allein? Sie hatte eine Familie, einen Vater. Wieso war sie allein, als sie mein Kind zur Welt brachte?“ Seine Stimme überschlug sich.
Die Nonne betrachtete ihn lange, bevor sie ihm antwortete und er spürte, wie die Wut, die er verspürte, immer größer wurde.
„Als ihre Familie, als ihr Vater entdeckte, dass sie ein Kind erwartete, hat er sie aus dem Haus geworfen. Er hat sie eine Hure genannt und sie davongejagt. Niemand wollte sie aufnehmen, obwohl ihr einige Menschen wohl zumindest Essen gegeben haben. Wäre sie direkt zu uns gekommen, dann …“, sie brachte den Satz nicht zu Ende.
„Sie war keine Hure!“, brüllte er. „Sie war meine Ehefrau.“
Die Nonne blickte ihm ohne Furcht ins Gesicht, aber äußerte sich nicht mehr. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, aber dann wurde ihm auf einmal bewusst, dass sie nicht mehr mit ihm sprach, weil er laut geworden war. Er musste sich beruhigen, auch wenn ihm das schwerfiel. Er machte sich bewusst, dass die Nonnen nichts dafürkonnten, dass seine Grâce tot war. Er holte tief Luft.
„Es tut mir leid, Schwester“, schaffte er es schließlich sich zu entschuldigen.
„Nein, mir tut es leid, mein Sohn“, erwiderte sie. „Als sich jemand dazu durchringen konnte uns Bescheid zu geben, war es bereits zu spät. Wir haben versucht herauszufinden, was geschehen ist, aber zuerst wollte uns niemand etwas sagen. Erst nach und nach haben wir erfahren, wer sie war und wieso sie allein war. Und …“, sie machte eine kurze Pause, „sie hat wohl immer beteuert, sie wäre verheiratet, aber sie konnte das nicht beweisen. Daher hat ihre Familie sie verstoßen.“
Mit Schrecken fiel ihm ein, dass er die Bescheinigung an sich genommen hatte, mit der die Eheschließung bestätigt worden war. Genaugenommen hatte er diese selbst erstellt und der Priester hatte nur sein Zeichen darunter gekrakelt, denn er war kaum fähig dazu, seinen eigenen Namen zu schreiben. So wie die meisten Priester, die man in die Dörfer sandte.
„Hier“, er zerrte das Dokument aus seiner Tasche und hielt es der Nonne hin. „Hier steht es.“
Die Frau nahm ihm das Pergament aus der Hand und studierte es gründlich, dann blickte sie ihn erneut an. „Guy of Gisburne? Seid Ihr das?“
Er nickte.
„Also hat sie nicht gelogen.“ Die Nonne sprach so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen konnte. Dann wandte sie sich um und schaute auf das Grab. „Dies reicht mir aus, um Eure Frau und Euer Kind auf einem richtigen Gottesacker bestatten zu lassen und nicht hier bei uns, wo nur die Sünder liegen.“ Sie reichte ihm das Dokument zurück.
Er starrte darauf, ohne wirklich zu verstehen, was er jetzt damit anfangen sollte. Seine Frau war tot, er brauchte es nicht mehr. Doch dann fiel ihm auf einmal etwas ein.
„Der Priester. Wieso hat niemand den Priester gefragt?“, wollte er auf einmal wissen.
„Der Priester ist tot. War es bereits, als man nach ihm sandte. Und im Dorf konnte sich niemand daran erinnern, dass Eure Ehefrau schon einmal da war.“
Natürlich nicht. Sie hatten darauf geachtet, von niemandem gesehen zu werden. Sie waren nicht auf die Idee gekommen, dass ihr das das Leben kosten könnte. Hatte es aber.
„Was soll ich jetzt tun?“ Er blickte die Nonne hilfesuchend an.
„Es ist nicht an mir, das zu entscheiden, mein Sohn. Aber als erstes solltet Ihr morgen wieder hierherkommen, dann werden wir Eure Ehefrau und das Kind so beerdigen, wie es ihnen zusteht. Werdet Ihr das tun?“
Erneut nickte er und dann ließ er sich aus dem Kloster führen. Was er in den nächsten Stunden und während der Nacht getan hatte, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Aber am nächsten Morgen wurde ihm klar, dass er nicht so schmutzig und ungepflegt am Grab seiner geliebten Ehefrau stehen wollte und er fand den Weg in die Taverne, wo er sich wusch und umzog, bevor er sich wieder zum Kloster aufmachte.
Die nächsten Stunden verschwammen erneut in seiner Erinnerung, aber irgendwann stellte er fest, dass er an einem Grab stand, in dem ein in ein Leichentuch gehüllter Körper lag. Er widerstand dem Drang, den Stoff zu zerreißen, um noch einmal einen Blick auf Grâce zu werfen, bevor sie erneut mit Erde bedeckt wurde. Das Kind nahm offenbar so wenig Platz ein, dass von ihm noch nicht einmal ein Umriss zu erkennen war.
Er ging davon aus, er habe sich bei den Nonnen für das bedankt, was sie getan hatten, bevor er wieder ging. Irgendwann fand er sich in einer Kaschemme wieder, in der er dann Bier in sich hineinkippte, bis er erneut nicht mehr wusste, was er tat. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er versucht, seinen Kummer zu ertränken, aber dies war ihm wohl nur zum Teil gelungen. Auf jeden Fall wachte er am nächsten Morgen an seinem Schlafplatz auf, ohne sich erinnern zu können, wie er dahin gekommen war.
Es war der Tag, an dem die Menschen Ostara feierten und in der ganzen Stadt herrschte eine ausgelassene und freudige Stimmung. Seine eigene Stimmung sah dagegen völlig anders aus. Er war sich sicher, er habe versucht, seine Erinnerung im Bier zu ertränken, aber dabei keinen Erfolg gehabt. Aber inzwischen war ihm klar geworden, was er stattdessen tun musste, um seinen Kummer und seine Wut loszuwerden. Dabei wollte er allerdings auf keinen Fall betrunken sein.
Bis zum Abend hatte er alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Schließlich nahm er seine Sachen und sein Pferd und verließ die Stadt, aber er entfernte sich nicht weit. In einem kleinen Wäldchen, in dessen Nähe bereits eine große Gruppe Menschen feierte, dass der Frühling Einzug hielt, wobei sie wahrscheinlich auch einige Opfer in der Form von Bier oder Wein brachten, damit das Land auch in diesem Jahr fruchtbar war.
Er hatte ebenfalls vor, in dieser Nacht den Boden mit einer Opfergabe zu tränken, aber er dachte dabei nicht an Bier oder Wein. Als es dunkel wurde, kehrte er in die Stadt zurück, nachdem er sich zuvor einen Karren ausgeborgt hatte, den ein unvorsichtiger – oder betrunkener – Bauer unbewacht hatte stehen lassen. Dieser Karren ermöglichte ihm eine einfachere Durchführung seines Vorhabens. Inzwischen war er auch wieder völlig nüchtern, was genauso war, wie er es haben wollte, um sich ganz genau daran zu erinnern, was nun geschehen sollte.
In dieser Nacht würde die Familie du Buisson ein weiteres Mitglied verlieren, aber im Gegensatz zu seiner Tochter und seinem Enkelkind würde der Chevalier seine letzte Ruhe nicht in geweihter Erde finden. Gisburne war sich allerdings ganz sicher, dass er das Ende schließlich herbeigesehnt hatte. Seine Schreie waren in dem Lärm untergegangen, den die Feiernden verursachten, ganz so wie der junge Mann sich das vorgestellt hatte. Zum Sterben ließ er den anderen dann allein, denn er wollte ihm nicht gewähren, was seiner Ehefrau und seinem Kind verwehrt worden war. Den nackten Leichnam ließ er einfach liegen, denn er war davon überzeugt, niemand würde erkennen können, um wen es sich handelte. Die blutige Kleidung des Ritters, aber auch seine eigene hatte er verbrannt und auch das Dokument seiner Eheschließung sowie Sir Geoffreys Erlaubnis in die Flammen geworfen. All dies war ihm von keinem Nutzen mehr, nachdem er den Ritter gezwungen hatte es zu lesen.
Schließlich sattelte er sein Pferd und machte sich dann auf den Rückweg zu seiner Einheit und Sir Geoffrey. Während er unterwegs war, hatte er ausreichend Zeit über alles nachzudenken und ihm wurde klar, es wäre für ihn besser, wenn er vergessen könnte jemals verheiratet gewesen zu sein. Und wenn er schon mal dabei war, dann sollte er auch vergessen, was mit Sieur Mathurin geschehen war, trotz der Befriedigung, die ihm dessen Tod verschafft hatte. Aber dabei wollte er es nicht belassen. Er wollte auch die Frau vergessen, die ihm drei Jahre zuvor gezeigt hatte, wozu er fähig sein konnte. Er wollte jeden vergessen, der ihm zugetan war, denn von denen war ihm niemand geblieben. Sie hatten ihn alle verlassen.
Als er schließlich wieder bei Sir Geoffrey ankam, schaute dieser seinen Knappen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Aber er blieb stumm und daran war mit Sicherheit das versteinerte Gesicht des Jüngeren schuld. Er nahm sich zwar vor, Guy später danach zu fragen, was auf seiner Reise geschehen war, aber dazu sollte er niemals den richtigen Zeitpunkt finden. Und dann war es zu spät.