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Die tote Uhr

Kurzbeschreibung
OneshotPoesie, Schmerz/Trost / P16 / Gen
19.03.2023
19.03.2023
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Ich sitze hier und es ist gleich halb 6.

Die Zeiger bewegen sich langsam über das Ziffernblatt.
Es ist eine schöne Uhr, eigentlich. Der dunkelbraune Rahmen hat schon einige Kratzer, die tief in das Holz eingeritzt sind und der Lack, der das Material einst bedeckt hatte, ist eine dünne Schicht, die nur noch ein dumpfes Glänzen erzeugt.

Auf dem Tisch steht eine Blume. Eine Lilie, Orchidee oder eine Tulpe vielleicht. Es ist egal. Sie ist nicht echt. Ihre Kunststoffblätter strahlen kein Leben aus. Aber ich nehme es ihr nicht übel. Sie kann ja auch nichts dafür.

Hinten rechts in der Ecke sind noch schwarze Kratzer auf dem gelben Linoleumboden zu sehen, die sichtbar machen, wie hier regelmäßig jemand mit seinem Stuhl hin und her gerutscht ist. Ein Stuhl steht dort nicht mehr, genau so wenig ein Tisch.

Ich kann mich undeutlich daran erinnern, dass er mal da war. Ein kleiner, klappriger Tisch, reif für den Sperrmüll, aber mir hat es nichts ausgemacht.
Was mir etwas ausgemacht haben, ist dass sie mir ihn weggenommen haben.

Seit ich keinen Stuhl mehr habe, sitze ich nur noch auf meinem Bett. Ich wache morgens in meinem Bett auf. Dann frühstücke ich in meinem Bett, dann sitze ich in meinem Bett. Dann gehe ich abends wieder schlafen...in meinem Bett. Wenn ich denn schlafen kann.

Wahrscheinlich müssen die Bezüge von meiner Bettwäsche öfter gewechselt werden, als gewöhnlich, weil ich so viel Zeit in meinem Bett verbringe.
Das müssten sie durchaus, das denke ich schon, jetzt wo ich auf meinem Bett sitze und die leicht nach Verwesung riechende Bettdecke sanft meinen Rücken streichelt.

Ich habe mal nachgedacht einfach auf dem Boden zu sitzen. Aber so verrückt bin ich nun auch wieder nicht.

Sie haben mich mit 23 verschiedenen Störungen diagnostiziert, aber das ist alles Schwachsinn.
Es gibt Menschen die draußen leben, die sind gestörter als ich.
Der Grund warum ich hier drin bin und die anderen draußen? Ich weiß es nicht.
Vielleicht hat ihnen nicht gefallen, was ich gesagt habe. Vielleicht mochten sie nicht wie ich aussah, wie ich gelebt habe, wie ich immer nett zum Abschied gelächelt habe.
Oder vielleicht ist das alles irrelevant.

Denn es gibt Menschen die draußen sind und die sind so wie ich. Wahrscheinlich.
Ich könnte es nicht wissen. Sie haben meine Fensterscheiben abgedunkelt.

Mittlerweile weiß ich nicht mehr wie es draußen aussieht. Aber wie es damals aussah, sehe ich manchmal noch ganz genau vor mir. Beschönigte Fantasie oder reale Erinnerung? Ich kann nicht unterscheiden.

Eigentlich ist die Vergangenheit nicht real, sie kann es gar nicht sein.
Alles an was wir uns erinnern, ist ein Trugbild. Beschmutzt durch die Gefühle, die wir zur Realität hatten.
Also die Vergangenheit existiert nicht, da sind wir uns einig, aber was ist mit der Zukunft?
Ich meine, natürlich existiert die Zukunft nicht, sie ist noch nicht geschehen.
Niemand kann sie sehen, planen oder steuern. Es gibt sie nicht.

Das einzige, was nun bleibt, ist dieser Moment.
Die Gegenwart. Das einzige, was ist, das einzige was existiert, wenn Vergangenheit und Zukunft nicht mehr da sind.

Das einzige was mir bleibt ist dieses leere Krankenhaus, meine alte Bettdecke und die Kratzer auf dem Boden. Das einzige, was es noch gibt ist die Einsamkeit.

Dieser Moment ist das einzig wahre.
Ich habe noch gar keine Zeit gehabt, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich ihn erinnern werde, wenn überhaupt.

Jetzt existiere ich, davor habe ich es nie getan und danach werde ich es auch nicht tun.
An diesen Gedanken klammere ich mich jetzt, wo ich versuche mit einem abgebrochenen Bein meines Bettes die Fensterscheibe zu zertrümmern.

Wenn mir nicht vollständig bewusst wäre, dass ich nur jetzt existiere, würde ich so etwas nie wagen.
Ich hätte viel zu sehr Angst vor den Dingen, die früher passiert sind und davor, dass sie noch einmal passieren.
Doch die Zeit hat keinerlei Macht über mich, nicht als die erste Scheibe des Doppelglases einen Sprung bekommt und nicht als ein Stück von ihr herausbricht.
Dieser Moment hat keine Konsequenzen für die Zukunft und kann niemals eine Wiederholung der Vergangenheit sein.

Seit einem halben Jahr bin ich hier und ich habe mich von nichts ernährt außer den Krabblern, die von der Kanalisation durch meinen Abfluss nach oben kommen.
Ich weiß auch nicht, wie das so lange möglich war, doch so wahr das Tageslicht durch das Loch in dem Fensterglas bricht, so wahr existiere ich noch.

Das Licht und ich treffen sich, während wir beide versuchen in die Welt des anderen einzudringen.
Ich, in die helle Außenwelt, das Licht, in mein dämmriges Zimmer.

Ich beachte das Freie noch nicht, als ich meine Bettdecke über die spitzen hervorstehenden Kanten der abgebrochenen Fensterscheibe lege. Ich kann sie schließlich nicht sehen, das Licht blendet mich. Vielleicht blende ich das Licht auch.

Als ich mich über die Kante schwinge, schneidet das Glas in mein Bein. Selbst meine versiffte Bettdecke konnte mich hiervor nicht schützen. Ich blicke nach hinten in die Dunkelheit, in mein Zimmer, ein letztes Mal. Die Nerven in meinem Körper schreien vor Schmerz.
Aber jetzt kann ich ja nicht mehr zurück, mein Bett ist schließlich zerstört.
Wo würde ich sein?

Überhaupt, das was hinter mir ist, ist Vergangenheit.

Ich falle herunter. Eins, zwei, drei, vier Stockwerke.
Mein Körper ächzt ein wenig, als ich unten lande. Aber er ist es gewöhnt, er beschwert sich nicht mehr.

Es dauerte lange für mich zu akzeptieren, was ich vor mir sah. Nichts von dem was ich sah, war Gegenwart.
Und ich dachte ich hätte sie hinter mir gelassen.

Ich dachte, sie wäre hinter mir gewesen, aber anscheinend, war sie immer vor mir. Die Vergangenheit, war mir immer einen Schritt voraus.

Sie lacht mich an und dreht ihren Hals zu mir um, wann auch immer ich meine Augen öffne und sie sehe. Denn sie weiß es und ich weiß es jetzt auch.
Die Zeit hat sehr wohl eine Macht über mich, jetzt in diesem Moment.

Hinter mir ist meine Bettdecke, die nach mir nach unten gefallen war. Ich will sie nicht, sie existiert nicht, doch ich nehme sie dennoch.

Denn es ist kalt.

Der Schmerz ist das einzige, was mir Kraft gibt, jetzt wo auch die letzten Krabbler vollständig verdaut sind.
Doch er nährt gut.

Ich wandere durch die leere Stadt. Es war wohl nicht nur mein Krankenhaus, was sich so leer angefühlt hatte.
Und die anderen Menschen von denen ich fantasierte, hatte es nie gegeben.

Die Häuser gleichen verwelkten Pflanzen, die zerbröseln, wenn man sie berührt.
Der Schein ist noch da, doch nichts ist mehr lebendig, nichts kann mehr wachsen. Nichts existiert in diesem Moment.

Außer mir selbst, wahrscheinlich.

Ich habe einen Affen getroffen einen Kilometer weiter, mit schwarzem Fell und einer großen Nase, aus der sein Atem gehaucht wird.
Er ist groß, ziemlich groß. An seinem Kopf müssen es vom Boden aus 20 Meter sein und er sitzt noch. Es ist ein Gorilla, glaube ich zumindest.

Und er spricht.
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