Als die Vögel nicht mehr sangen
von LottaCharlene
Kurzbeschreibung
Als Paul von einem Auto angefahren wird und im Krankenhaus landet, sind alle heilfroh, dass er nur leichte Verletzungen davon getragen hat. Noch erleichterter sind sie, als Paul schließlich aufwacht - nur fangen da die Probleme erst an. Alle sind erschüttert - und am härtesten von ihnen trifft es Richard.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / MaleSlash
Paul Landers
Richard Kruspe
15.03.2023
27.03.2023
4
7.618
9
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Dieses Kapitel
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18.03.2023
1.978
Das Piepsen der Maschinen neben mir treibt mich langsam in den Wahnsinn. Meine Augen sind heiß und fangen an zu tränen und das Bedürfnis, kotzen zu müssen, ist zurück.
Wie von sehr weit her höre ich eine Tür aufgehen und öffne mühsam ein Auge. Ein älterer Mann in einem Arztkittel steht an meinem Bett. Draußen ist es mittlerweile taghell, also habe ich wohl länger als gefühlt fünf Minuten geschlafen, aber ich fühle mich null erholt.
Der Mann hat silbergraues Haar, eine scharfe Hakennase und ein Grübchen am Kinn. „Ah, Herr Hiersche, gut, dass Sie wach sind. Mein Name ist Dr. Pätzolt; ich bin Ihr behandelnder Arzt. Wie geht es Ihnen?“
Ich versuche, mich etwas in meinem Bett aufzurichten. Zwar fühle ich mich immer noch benommen, aber das Dröhnen in meinem Schädel ist wundersamerweise etwas leiser geworden und das Licht tut mir nicht mehr ganz so sehr in den Augen weh. So langsam legt sich auch die Übelkeit und macht einem überraschenden Hunger Platz. „Jeht einigermaßen.“
Er nickt und beginnt mich kurz zu untersuchen. „Sie hatten einen Unfall, wie Ihnen Rebecca sicherlich schon mitgeteilt hat.“
Wer? Ach, Frau Seidler. Ich nicke und lasse mir in die Augen leuchten.
„Bitte folgen Sie meinem Zeigefinger mit Ihren Augen. Sie hatten Glück im Unglück. Bis auf ein paar Prellungen und Abschürfungen ist Ihnen nichts weiter passiert. Leider hatten Sie jedoch eine Gehirnerschütterung und waren bewusstlos, weshalb wir Sie lieber hier behalten haben. Sehr gut.“
Er notiert sich etwas und die Tür geht erneut auf. Frau Seidler erscheint mit einem Tablett, das sie auf das kleine Tischchen an meinem Bett abstellt. Viel ist nicht drauf, aber mein Blick fällt sofort auf den Vanillepudding.
Dr. Pätzolt bemerkt es und lächelt aufmunternd. „Nur zu!“
Ich falle regelrecht über die Süßspeise her, zwinge mich aber dazu, langsam zu essen. So ganz traue ich meinem rebellischen Magen noch nicht. „Wann kann ick denn nach Hause?“, frage ich zwischen zwei Löffeln. Der Pudding gibt mir neue Energie und ich hänge nicht mehr ganz so arg in den Seilen.
Als ich jedoch Dr. Pätzolts ernsten Blick sehe, bereue ich es, den Pudding überhaupt angefasst zu haben. Dieser Blick verheißt nichts Gutes. „Soweit ich das schon beurteilen kann, sieht es sehr gut aus. Ihre leichten Verletzungen verheilen sehr gut und Ihr Sprachzentrum wie auch ihre Reflexe und Motorik sind in keiner Weise beeinträchtigt.“
Das soll mich wohl beruhigen, tut es aber nicht. Ein dickes, fettes Aber schwebt im Raum über seinem Kopf.
„Ich würde Sie trotzdem gern noch ein wenig hier behalten, bis wir ganz sicher sind. Sie haben einen schweren Schlag auf den Kopf erlitten und einige Folgen zeigen sich mitunter leider erst später. Von daher muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie vorerst noch nicht nach Hause können.“
Ich nehme langsam den Löffel wieder auf. „Oh. Dit ist … ja, dit versteht ick natürlich.“
Dr. Pätzolt lächelt. „Vielleicht lenkt Sie Ihr Besuch ja ein wenig ab.“
Der Löffel mit Pudding verharrt in der Luft, als ich ihn ungläubig anstarre. „Besuch?“
Wer soll mich denn besuchen? Meine Ex-Frau sicher nicht; die spielt heile Welt mit ihrer neuen Familie am anderen Ende von Deutschland. Ein Anruf ist das Maximum, was ich von ihr erwarte und mehr will ich ehrlich gesagt von ihr auch nicht. Es ist gut so, wie es jetzt ist.
Wer bleibt da noch? Clausi würde sich sicher Sorgen machen, wenn er denn wüsste, dass ich hier liege, aber ob es reicht, dass er extra vorbeikommt? Mein Chef vielleicht noch oder besser, Frau Erkner, seine Sekretärin. Die würden mit Sicherheit aber nicht vorbeikommen, sondern mir einen von Frau Erkner organisierten Blumenstrauß mit Karte schicken.
Dr. Pätzolt wendet sich zum Gehen. „Ja. Ihre Freunde sind da. Ich kann ihnen aber auch gern ausrichten, dass Sie noch keinen Besuch empfangen können, wenn Sie das möchten?“
Mein Mund steht immer noch ein wenig offen, also schiebe ich kurzerhand den Löffel mit Pudding hinein und schüttle den Kopf. „Ne, dit ist schon okay. Wissen Se, wo ist meen Handy ist?“, frage ich noch schnell, bevor er verschwinden kann.
„Ihre Wertsachen sind in der Schublade in dem Tisch neben Ihnen.“
„Oh, jut.“
Dr. Pätzolt nickt und verlässt mein Zimmer. Schnell ziehe ich die Schublade auf und krame nach meinem Telefon. Es hat ordentlich was abgekommen. Das Display ist gerissen und die Ecken sind eingedellt. Ich tippe auf den Bildschirm – nichts passiert, aber das war fast zu erwarten. Dann stutze ich und runzele verwirrt die Stirn. Das ist nicht mein Handy. Ich hatte irgend so ein Windows-Phone in einer schrillen Farbe, weil das billiger war als eins in simplem Schwarz. Das Gerät, was ich jetzt in der Hand halte, ist größer, metallisch-dunkelgrau und sieht sehr edel aus. Trotzdem ist das nicht mein Handy. Nachdenklich drehe ich es um und betrachte es genauer. Nein, definitiv hatte ich kein iPhone! Dieser überteuerte Mist, schlimm genug, dass man nicht mehr ohne diese Dinger auskommt!
Wieder tippe ich auf den Bildschirm, aber er bleibt hartnäckig dunkel. Ich entdecke ein Ladekabel, aber für die nächste Steckdose müsste ich aufstehen und dafür fühle ich mich noch nicht fit genug.
Es klopft und die Tür wird geöffnet. Nach einem Moment steht plötzlich ein Mann vor mir, den ich sofort wiedererkenne, obwohl ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Mein Kiefer fällt nach unten.
„Flake?“ Obwohl ich ehrlich gesagt geschockt bin, breitet sich wie von selbst ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Flake, mein alter Kumpel aus meiner Jugend! Was hatten wir für wilde Zeiten! Ich erinnere mich gern daran zurück, denn irgendwie war damals alles leichter gewesen. Unbeschwerter. Freier. Ich vermisse diese Zeiten manchmal schmerzhaft. Aber dass er jetzt hier vor mir steht, damit hätte ich als allerletztes gerechnet. „Wie lang is’n ditte her? Wat machst du hier?“
Flake sieht aus, wie ich mich an ihn erinnere von unseren Tagen auf Hiddensee und auch wieder nicht. Er ist noch genauso schlaksig und dünn wie damals, trägt immer noch eine Brille und seine Kleidung ist nach wie vor locker-lässig. Ich habe ihn damals schon dafür bewundert, dass ihn das nie wirklich interessiert hat, wie er rumlief und ob er optisch zu der Subkultur passte, zu der er sich hingezogen fühlte. Jetzt hat er jedoch ein paar Falten mehr als damals und seine Haare sind nicht mehr platinblond, sondern von grauen Strähnen durchzogen.
Er lächelt schwach und hebt die Hand. „Hallo, Paul.“
Ich lache auf und lege das Handy zur Seite. „Paul? Gott, stimmt! Ick wollte damals, dat mich alle so nennen! Total bescheuert eigentlich!“ Mein Blick fällt auf den Mann, der hinter Flake den Raum betritt. Er ist breit wie ein Schrank, hat schlohweiß gefärbte Haare und trägt mehrere Piercings im Gesicht. Er kommt mir schrecklich bekannt vor …
„Till …?“, frage ich zaghaft.
Der bullige Mann lächelt.
„Till Lindemann? Von First Arsch? Ick glaub’s ja nich!“, lache ich ungläubig auf und blicke zu Flake. „Ick wusste gar nich, dass ihr befreundet seid! Wie habt ihr mich denn jefunden? Und wieso besucht ihr mich?“
Flake sieht ein wenig unschlüssig aus. „Ja, wie lange is’n ditte her, hm?“, stellt er mir meine eigene Frage zurück.
Ich kratze mich am Kopf und versuche mich zu erinnern. Genau kann ich das gar nicht mehr sagen. „Na, seit der Wende jedenfalls. Ick weeß jar nich mehr so genau, wir hatten ein paar Konzerte mit unserer damaligen Band jespielt, weeßte noch, und dann haben wir jar nich mitjekriegt, dat die Mauer jefallen ist!“ Herrje, wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht! Was für eine turbulente Zeit! Die Platten von uns muss ich auch noch irgendwo haben. Sybille hat das Geschrammel gehasst und sie in den Keller verbannt, aber sie wegzuschmeißen hat sie sich dann doch nicht getraut. Ich glaube, wenn ich wieder zuhause bin, muss ich die mal wieder raussuchen.
Dass Flake jetzt wie aus dem Nichts hier vor mir steht, kann ich aber einfach nicht fassen. Und Till auch noch! So viel hatte ich gar nicht mit ihm zu tun gehabt, aber natürlich kenne ich noch seine Band. Für den Namen habe ich sie ja immer sehr beneidet; First Arsch, so viele Eier musste man erstmal in der Hose haben, um das dann auch im Antrag für die Spielerlaubnis so einzutragen.
Die Tür geht auf und noch jemand kommt in mein Zimmer. Der Mann ist sehr groß und sportlich-schlank und lächelt mich warm an. „Hallo, Paul.“
Ich habe keine Ahnung, wer das ist. Mir wird heiß und kalt gleichzeitig und der Pudding will unbedingt meinen Magen verlassen.
Flake sieht wohl meinen Gesichtsausdruck, denn er stellt den Mann als Oliver Riedel vor. Der tauscht einen schnellen Blick mit Till, lässt sich aber ansonsten nicht aus der Ruhe bringen.
„Ähm, hat der Doktor mit dir jesprochen?“, fragt Flake in die unangenehme Stille hinein.
Ich lasse meine Augen von einem zum anderen springen. Irgendwas stimmt hier nicht. „Jaaa“, antworte ich gedehnt. So langsam reicht es mir. „Könnt ihr mir mal sagen, wat los ist?“
„Was hat er denn gesagt?“, meldet sich Till nun auch zu Wort. Ich hatte ganz vergessen, was für eine schöne sonore Stimme er hat.
„Mir jeht’s soweit jut. Hab was abbekommen, aber nüscht Tragisches. Wieso wollt ihr dit wissen?“, frage ich. Entweder, das ist ein wirrer Traum oder ich stehe unter Drogen. Das alles ergibt keinen Sinn und diese Heimlichtuerei ist nervtötend. „Wieso seid ihr hier?“, setze ich in ungewohnt scharfem Tonfall nach.
Till seufzt und reibt sich die Hände. Dann sieht er mich ganz ruhig an und sagt: „Du hast ein paar Sachen vergessen, Paulchen. Wahrscheinlich durch den Unfall.“
„Vergessen? Wat denn vergessen?“ So langsam werde ich sauer und bin echt versucht, sie rauszuwerfen. Verarschen kann ich mich selber, da brauche ich keine Gestalten aus meiner Vergangenheit, die plötzlich hier auftauchen und Behauptungen aufstellen. „Und meen Name ist Heiko!“
Till zieht eine gepiercte Augenbraue hoch. Zwei oder drei Stecker hat er dort. Dafür, dass er auch kein Jungspund mehr ist, finde ich das fast schon obszön-abstoßend. „Ach ja? Seit ich dich kenne, hast du jedem, der dich Heiko genannt hat, die Augen ausgekratzt.“
„Dit war vor Jahren! So ‘ne dämliche Schnapsidee, die man nun mal hat, wenn man jung ist!“
„Ick fand, dit hat immer viel besser zu dir jepasst als Heiko“, wirft Flake ein und fällt mir damit prompt in den Rücken.
Ich habe keine Lust mehr. Mein Kopf hat wieder angefangen zu pochen und ich will meine Ruhe. Hätte ich doch bloß Dr. Pätzolt gesagt, er solle meinen ominösen Besuch wegschicken! „Ick will jetzt schlafen!“, verkünde ich und lasse mich demonstrativ in das Kissen fallen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Flake und dieser Oliver langsam den Rückzug antreten. Till leider nicht, der macht genau das Gegenteil und steht plötzlich neben meinem Bett. Seine Erscheinung fand ich vor all den Jahren schon schrecklich imposant und er ist jetzt nicht weniger einschüchternd als damals, wie er da so über mir thront.
„Dein Name ist Paul Landers. Wir sind deine Freunde, seit Jahren. Wir sind übrigens auch deine Arbeitskollegen; wir und noch zwei andere.“
Ich starre ihn mit großen Augen an.
Flake zischt seinen Namen, aber Till denkt gar nicht daran, aufzuhören. „Flake hast du nicht zuletzt zur Wende gesehen, sondern vor sechs Tagen im Studio. Mich und Olli auch, genauso wie Schneider und Richard.“
„Till!“, zischt Flake jetzt lauter.
Der Monitor neben mir rastet völlig aus und fängt lautstark an zu piepsen.
Till will noch mehr sagen, aber da fliegt schon die Tür auf und Dr. Pätzolt gefolgt von Frau Seidler marschieren herein. Ich bekomme vom verbalen Schlagabtausch nicht wirklich etwas mit, sondern starre immer noch belämmert Till an, der jetzt von meinem Arzt eindringlich zurechtgewiesen wird. Derweilen drückt mir Frau Seidler etwas in die Venen und mein matschiger Kopf wird schwer und angenehm leer. Meine Lider fallen zu und ich kippe in mein Kissen, bevor ich weiß, was ich eigentlich denken soll.
Wie von sehr weit her höre ich eine Tür aufgehen und öffne mühsam ein Auge. Ein älterer Mann in einem Arztkittel steht an meinem Bett. Draußen ist es mittlerweile taghell, also habe ich wohl länger als gefühlt fünf Minuten geschlafen, aber ich fühle mich null erholt.
Der Mann hat silbergraues Haar, eine scharfe Hakennase und ein Grübchen am Kinn. „Ah, Herr Hiersche, gut, dass Sie wach sind. Mein Name ist Dr. Pätzolt; ich bin Ihr behandelnder Arzt. Wie geht es Ihnen?“
Ich versuche, mich etwas in meinem Bett aufzurichten. Zwar fühle ich mich immer noch benommen, aber das Dröhnen in meinem Schädel ist wundersamerweise etwas leiser geworden und das Licht tut mir nicht mehr ganz so sehr in den Augen weh. So langsam legt sich auch die Übelkeit und macht einem überraschenden Hunger Platz. „Jeht einigermaßen.“
Er nickt und beginnt mich kurz zu untersuchen. „Sie hatten einen Unfall, wie Ihnen Rebecca sicherlich schon mitgeteilt hat.“
Wer? Ach, Frau Seidler. Ich nicke und lasse mir in die Augen leuchten.
„Bitte folgen Sie meinem Zeigefinger mit Ihren Augen. Sie hatten Glück im Unglück. Bis auf ein paar Prellungen und Abschürfungen ist Ihnen nichts weiter passiert. Leider hatten Sie jedoch eine Gehirnerschütterung und waren bewusstlos, weshalb wir Sie lieber hier behalten haben. Sehr gut.“
Er notiert sich etwas und die Tür geht erneut auf. Frau Seidler erscheint mit einem Tablett, das sie auf das kleine Tischchen an meinem Bett abstellt. Viel ist nicht drauf, aber mein Blick fällt sofort auf den Vanillepudding.
Dr. Pätzolt bemerkt es und lächelt aufmunternd. „Nur zu!“
Ich falle regelrecht über die Süßspeise her, zwinge mich aber dazu, langsam zu essen. So ganz traue ich meinem rebellischen Magen noch nicht. „Wann kann ick denn nach Hause?“, frage ich zwischen zwei Löffeln. Der Pudding gibt mir neue Energie und ich hänge nicht mehr ganz so arg in den Seilen.
Als ich jedoch Dr. Pätzolts ernsten Blick sehe, bereue ich es, den Pudding überhaupt angefasst zu haben. Dieser Blick verheißt nichts Gutes. „Soweit ich das schon beurteilen kann, sieht es sehr gut aus. Ihre leichten Verletzungen verheilen sehr gut und Ihr Sprachzentrum wie auch ihre Reflexe und Motorik sind in keiner Weise beeinträchtigt.“
Das soll mich wohl beruhigen, tut es aber nicht. Ein dickes, fettes Aber schwebt im Raum über seinem Kopf.
„Ich würde Sie trotzdem gern noch ein wenig hier behalten, bis wir ganz sicher sind. Sie haben einen schweren Schlag auf den Kopf erlitten und einige Folgen zeigen sich mitunter leider erst später. Von daher muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie vorerst noch nicht nach Hause können.“
Ich nehme langsam den Löffel wieder auf. „Oh. Dit ist … ja, dit versteht ick natürlich.“
Dr. Pätzolt lächelt. „Vielleicht lenkt Sie Ihr Besuch ja ein wenig ab.“
Der Löffel mit Pudding verharrt in der Luft, als ich ihn ungläubig anstarre. „Besuch?“
Wer soll mich denn besuchen? Meine Ex-Frau sicher nicht; die spielt heile Welt mit ihrer neuen Familie am anderen Ende von Deutschland. Ein Anruf ist das Maximum, was ich von ihr erwarte und mehr will ich ehrlich gesagt von ihr auch nicht. Es ist gut so, wie es jetzt ist.
Wer bleibt da noch? Clausi würde sich sicher Sorgen machen, wenn er denn wüsste, dass ich hier liege, aber ob es reicht, dass er extra vorbeikommt? Mein Chef vielleicht noch oder besser, Frau Erkner, seine Sekretärin. Die würden mit Sicherheit aber nicht vorbeikommen, sondern mir einen von Frau Erkner organisierten Blumenstrauß mit Karte schicken.
Dr. Pätzolt wendet sich zum Gehen. „Ja. Ihre Freunde sind da. Ich kann ihnen aber auch gern ausrichten, dass Sie noch keinen Besuch empfangen können, wenn Sie das möchten?“
Mein Mund steht immer noch ein wenig offen, also schiebe ich kurzerhand den Löffel mit Pudding hinein und schüttle den Kopf. „Ne, dit ist schon okay. Wissen Se, wo ist meen Handy ist?“, frage ich noch schnell, bevor er verschwinden kann.
„Ihre Wertsachen sind in der Schublade in dem Tisch neben Ihnen.“
„Oh, jut.“
Dr. Pätzolt nickt und verlässt mein Zimmer. Schnell ziehe ich die Schublade auf und krame nach meinem Telefon. Es hat ordentlich was abgekommen. Das Display ist gerissen und die Ecken sind eingedellt. Ich tippe auf den Bildschirm – nichts passiert, aber das war fast zu erwarten. Dann stutze ich und runzele verwirrt die Stirn. Das ist nicht mein Handy. Ich hatte irgend so ein Windows-Phone in einer schrillen Farbe, weil das billiger war als eins in simplem Schwarz. Das Gerät, was ich jetzt in der Hand halte, ist größer, metallisch-dunkelgrau und sieht sehr edel aus. Trotzdem ist das nicht mein Handy. Nachdenklich drehe ich es um und betrachte es genauer. Nein, definitiv hatte ich kein iPhone! Dieser überteuerte Mist, schlimm genug, dass man nicht mehr ohne diese Dinger auskommt!
Wieder tippe ich auf den Bildschirm, aber er bleibt hartnäckig dunkel. Ich entdecke ein Ladekabel, aber für die nächste Steckdose müsste ich aufstehen und dafür fühle ich mich noch nicht fit genug.
Es klopft und die Tür wird geöffnet. Nach einem Moment steht plötzlich ein Mann vor mir, den ich sofort wiedererkenne, obwohl ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Mein Kiefer fällt nach unten.
„Flake?“ Obwohl ich ehrlich gesagt geschockt bin, breitet sich wie von selbst ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Flake, mein alter Kumpel aus meiner Jugend! Was hatten wir für wilde Zeiten! Ich erinnere mich gern daran zurück, denn irgendwie war damals alles leichter gewesen. Unbeschwerter. Freier. Ich vermisse diese Zeiten manchmal schmerzhaft. Aber dass er jetzt hier vor mir steht, damit hätte ich als allerletztes gerechnet. „Wie lang is’n ditte her? Wat machst du hier?“
Flake sieht aus, wie ich mich an ihn erinnere von unseren Tagen auf Hiddensee und auch wieder nicht. Er ist noch genauso schlaksig und dünn wie damals, trägt immer noch eine Brille und seine Kleidung ist nach wie vor locker-lässig. Ich habe ihn damals schon dafür bewundert, dass ihn das nie wirklich interessiert hat, wie er rumlief und ob er optisch zu der Subkultur passte, zu der er sich hingezogen fühlte. Jetzt hat er jedoch ein paar Falten mehr als damals und seine Haare sind nicht mehr platinblond, sondern von grauen Strähnen durchzogen.
Er lächelt schwach und hebt die Hand. „Hallo, Paul.“
Ich lache auf und lege das Handy zur Seite. „Paul? Gott, stimmt! Ick wollte damals, dat mich alle so nennen! Total bescheuert eigentlich!“ Mein Blick fällt auf den Mann, der hinter Flake den Raum betritt. Er ist breit wie ein Schrank, hat schlohweiß gefärbte Haare und trägt mehrere Piercings im Gesicht. Er kommt mir schrecklich bekannt vor …
„Till …?“, frage ich zaghaft.
Der bullige Mann lächelt.
„Till Lindemann? Von First Arsch? Ick glaub’s ja nich!“, lache ich ungläubig auf und blicke zu Flake. „Ick wusste gar nich, dass ihr befreundet seid! Wie habt ihr mich denn jefunden? Und wieso besucht ihr mich?“
Flake sieht ein wenig unschlüssig aus. „Ja, wie lange is’n ditte her, hm?“, stellt er mir meine eigene Frage zurück.
Ich kratze mich am Kopf und versuche mich zu erinnern. Genau kann ich das gar nicht mehr sagen. „Na, seit der Wende jedenfalls. Ick weeß jar nich mehr so genau, wir hatten ein paar Konzerte mit unserer damaligen Band jespielt, weeßte noch, und dann haben wir jar nich mitjekriegt, dat die Mauer jefallen ist!“ Herrje, wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht! Was für eine turbulente Zeit! Die Platten von uns muss ich auch noch irgendwo haben. Sybille hat das Geschrammel gehasst und sie in den Keller verbannt, aber sie wegzuschmeißen hat sie sich dann doch nicht getraut. Ich glaube, wenn ich wieder zuhause bin, muss ich die mal wieder raussuchen.
Dass Flake jetzt wie aus dem Nichts hier vor mir steht, kann ich aber einfach nicht fassen. Und Till auch noch! So viel hatte ich gar nicht mit ihm zu tun gehabt, aber natürlich kenne ich noch seine Band. Für den Namen habe ich sie ja immer sehr beneidet; First Arsch, so viele Eier musste man erstmal in der Hose haben, um das dann auch im Antrag für die Spielerlaubnis so einzutragen.
Die Tür geht auf und noch jemand kommt in mein Zimmer. Der Mann ist sehr groß und sportlich-schlank und lächelt mich warm an. „Hallo, Paul.“
Ich habe keine Ahnung, wer das ist. Mir wird heiß und kalt gleichzeitig und der Pudding will unbedingt meinen Magen verlassen.
Flake sieht wohl meinen Gesichtsausdruck, denn er stellt den Mann als Oliver Riedel vor. Der tauscht einen schnellen Blick mit Till, lässt sich aber ansonsten nicht aus der Ruhe bringen.
„Ähm, hat der Doktor mit dir jesprochen?“, fragt Flake in die unangenehme Stille hinein.
Ich lasse meine Augen von einem zum anderen springen. Irgendwas stimmt hier nicht. „Jaaa“, antworte ich gedehnt. So langsam reicht es mir. „Könnt ihr mir mal sagen, wat los ist?“
„Was hat er denn gesagt?“, meldet sich Till nun auch zu Wort. Ich hatte ganz vergessen, was für eine schöne sonore Stimme er hat.
„Mir jeht’s soweit jut. Hab was abbekommen, aber nüscht Tragisches. Wieso wollt ihr dit wissen?“, frage ich. Entweder, das ist ein wirrer Traum oder ich stehe unter Drogen. Das alles ergibt keinen Sinn und diese Heimlichtuerei ist nervtötend. „Wieso seid ihr hier?“, setze ich in ungewohnt scharfem Tonfall nach.
Till seufzt und reibt sich die Hände. Dann sieht er mich ganz ruhig an und sagt: „Du hast ein paar Sachen vergessen, Paulchen. Wahrscheinlich durch den Unfall.“
„Vergessen? Wat denn vergessen?“ So langsam werde ich sauer und bin echt versucht, sie rauszuwerfen. Verarschen kann ich mich selber, da brauche ich keine Gestalten aus meiner Vergangenheit, die plötzlich hier auftauchen und Behauptungen aufstellen. „Und meen Name ist Heiko!“
Till zieht eine gepiercte Augenbraue hoch. Zwei oder drei Stecker hat er dort. Dafür, dass er auch kein Jungspund mehr ist, finde ich das fast schon obszön-abstoßend. „Ach ja? Seit ich dich kenne, hast du jedem, der dich Heiko genannt hat, die Augen ausgekratzt.“
„Dit war vor Jahren! So ‘ne dämliche Schnapsidee, die man nun mal hat, wenn man jung ist!“
„Ick fand, dit hat immer viel besser zu dir jepasst als Heiko“, wirft Flake ein und fällt mir damit prompt in den Rücken.
Ich habe keine Lust mehr. Mein Kopf hat wieder angefangen zu pochen und ich will meine Ruhe. Hätte ich doch bloß Dr. Pätzolt gesagt, er solle meinen ominösen Besuch wegschicken! „Ick will jetzt schlafen!“, verkünde ich und lasse mich demonstrativ in das Kissen fallen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Flake und dieser Oliver langsam den Rückzug antreten. Till leider nicht, der macht genau das Gegenteil und steht plötzlich neben meinem Bett. Seine Erscheinung fand ich vor all den Jahren schon schrecklich imposant und er ist jetzt nicht weniger einschüchternd als damals, wie er da so über mir thront.
„Dein Name ist Paul Landers. Wir sind deine Freunde, seit Jahren. Wir sind übrigens auch deine Arbeitskollegen; wir und noch zwei andere.“
Ich starre ihn mit großen Augen an.
Flake zischt seinen Namen, aber Till denkt gar nicht daran, aufzuhören. „Flake hast du nicht zuletzt zur Wende gesehen, sondern vor sechs Tagen im Studio. Mich und Olli auch, genauso wie Schneider und Richard.“
„Till!“, zischt Flake jetzt lauter.
Der Monitor neben mir rastet völlig aus und fängt lautstark an zu piepsen.
Till will noch mehr sagen, aber da fliegt schon die Tür auf und Dr. Pätzolt gefolgt von Frau Seidler marschieren herein. Ich bekomme vom verbalen Schlagabtausch nicht wirklich etwas mit, sondern starre immer noch belämmert Till an, der jetzt von meinem Arzt eindringlich zurechtgewiesen wird. Derweilen drückt mir Frau Seidler etwas in die Venen und mein matschiger Kopf wird schwer und angenehm leer. Meine Lider fallen zu und ich kippe in mein Kissen, bevor ich weiß, was ich eigentlich denken soll.