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Ein Leben für den Tod

Kurzbeschreibung
OneshotAllgemein / P12 / Gen
Alexander Brandtner Dr. Leo Graf Rex Richard "Richie" Moser
08.03.2023
08.03.2023
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Liebe Leserschaft,
bevor es los geht, noch kurz ein kleiner (Warn-)Hinweis:
In der folgenden Geschichte spielt das Thema "Tod" eine zentrale Rolle.
Da der Oneshoot in der Rechtsmedizin spielt, ist die ein oder andere mehr oder weniger bildhafte Darstellung von Obduktionen bzw. Toten enthalten.
Sollte das Thema "Tod" für euch aktuell oder generell schwierig sein, bitte vorher selbst überlegen, ob ihr euch die Geschichte trotzdem durchlesen wollt oder nicht.

Und nun viel Spaß beim Lesen!
Leuchtboje85

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„Der Tod ist für mich nichts Außergewöhnliches.“, kommentiert Professor Steinhauer die teils neugierigen, vereinzelt auch skeptisch dreinschauenden Blicke der anwesenden Medizinstudenten, als er das Herz des auf dem Obduktionstisch liegenden toten Mannes mit beiden Händen aus dessen Brustkorb nimmt und es auf die Ablage am Fuß des Sektionstisch legt. Trocken fährt er fort: „Ich red' ja über des Sterben wie ein anderer über a Semmel.“
Leises Getuschel macht sich unter den Studierenden breit, was dem Professor nicht verborgen bleibt und er seine Aufmerksamkeit wieder in Richtung seiner Schützlinge richtet.
"Wenn`s glauben, des Zitat sei von mia, dann muss i sie leider enttäuschen. Des ist voam Thomas Bernhard."
"Ah, da Bernhard?“, wiederholt ein schlaksiger junger Mann Steinhauers Aussage.
„Des ist a soa Leichenfledderer – i mein im literarischen Sinn“
„A Leichenfledderer? Genau wie Sie, Herr Professor! ", ergänzt ein anderer breit grinsend. Ein verstohlenes Kichern geht durch die Reihen.  
„Also werte junge Kollegen, i darf doch sehr bitten!!“, erbost sich Steinhauer in gekünstelter Empörung, wobei es ihm nur mit größter Mühe gelingt, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Schlagartig herrscht wieder ehrfürchtig und konzentrierte Ruhe im Saal der Wiener Rechtsmedizin.

Unter einem deutlich hörbaren Räuspern stützt sich Steinhauer mit beiden Händen auf dem Sektionstisch ab und blickt auf das vor ihm liegende entnommene tote Organ.
„Mei Herrschoaften, komma wi zruck zuam Ernst des Lebens! Na loas, treten’s schoa naeher heran,“ fordert er seine Studenten mit einer einladenden Geste auf.
„Si saen ja sonst a net soa schüchtern“. Der Aufforderung ihres Dozenten folgend, drängen sich die Medizinstudenten sogleich um die kleine metallische Ablagefläche über dem Sektionstisch herum, wobei es einige von ihnen sichtlich vermeiden, in die menschlichen Abgründe des sich ihnen so direkt präsentierenden offenen Innenlebens der Leiche blicken zu müssen.
Professor Steinhauer nimmt seine Obduktionspinzette in die Hand, da hält er inne. Einen Augenblick schaut er schweigend über die Köpfe seiner zu rechten stehenden Studenten hinweg.  
„Darf i die beiden Herrn da hinten höflichst froagen, ob se a Interesse hättn, uns G‘sellschaft leisten zu wolln?“, fragt er an zwei junge Männer gerichtet, welche etwas abseits der Studentengruppe gähnend und sichtlich lustlos mit verschränkten Armen stehen. Ironisch ergänzt er: „Da moacht mi der Herr hier oauf`m Tisch aindeutig a leabhaft‘ren Eindruck als Sie zwoar. Gestern wieder a biss‘l zu tief ins Gloas g‘schaut, gell?“
Die Hände in die Kitteltaschen gesteckt, schlurfen die beiden sichtlich übermüdeten angehenden Mediziner zu ihren Kommilitonen.

„Guat, dann können’s wir a fortfahrn.“ Er zeigt mit der Pinzette in der Hand auf die deutlich sichtbare, etwa zwei Zentimeter breite, glattrandige Wunde im unteren Drittel des Herzens vor sich.
„Sehen’s hier?“
„Eine Stichwunde?“, fragt eine Studentin neugierig.
„Sehr guat, junge Kollegin! Sie sahn hier eindeutige Zeichen aner schoarfen G‘walteinwirkung. Wichtig is an der Stell‘ ach die Morphologie der Wundwinkel zu erwähn, welch uns Rückschlüss oauf die B‘schoaffenheit des Tatwerkzeugs, in diesem Fall a Messer, gebn.“

Der Professor nimmt ein Skalpell und schneidet in die Vorderwand des Herzens, aus dem sogleich eine dunkle Masse geronnenes Blut herausquillt. „Koann mir wer von Ihnen woas zu der hier vorliegenden Todesursache sagen?“ „Tod in Folge einer Herzbeuteltamponade?“, fragt eine Studentin zögerlich.
„Nur net so zoaghaft, werte junge Kollegin! Ihre Vermutung is schoa goanz richtig. Noch woas?“
„Eine Herztamponade entsteht durch Flüssigkeitsansammlung im Perikardraum. Es kommt zu einer mechanischen Kompression mit Behinderung der Kontraktionsbewegungen des Herzens“, ergänzt sie nun deutlich selbstsicherer. „Sehr guat! Fällt wem sonst noch was ein?“
„Die Relaxation des Herzens in der Diastole ist nicht mehr möglich, was ein Abfall der Füllung und somit ein Absinken des Herzzeitvolumens zur Folge hat. Folge ist ein Rückstau vor dem Herzen und eine Minderversorgung des Körpers mit arteriellem Blut.“
„Die klinischen Zeichen sind…“, will ein schlanker junger Student mit brauner Fliege um den Hals, ergänzen, da unterbricht ihn der Professor.
„Na danke, des brauchen’s jetzt a net mehr runterbeten, werter Kollege Graf. Dass si die klinischen Zeichen aner Herzbeuteltamponade auswendig wisse, glaub i ihnen sofort. Nur leider nutzt des dem oarmen Kerl hier jetzt a nix mehr.“ „Herr Professor?“, fragt eine andere Studentin
„Ja, bittscheen?“
„Ist die Kaiserin Elisabeth nicht ebenfalls an einer Herzbeuteltamponade gestorben?“
„Sehr guat. Da haben’s absolut Recht!“ Professor Steinhauer rückt seine schwarze Hornbrille zurecht.
„Wie sie wahrscheinlich alle wissen, war die Feil, welch der Kaiserin zum Verhängnis wurd, eigtlich für wen oanders bestimmt. Da Täter wollt eigtlich an französischen Adligen ins Jenseits befördern, hat dann aber leider unsre verehrte Kaiserin Elisabeth erwischt.“ Mitleidig seufzend zuckt Steinhauer mit den Schultern.
„Des Leben kann manchmal hart sein. Hat's wirklich Pech g‘habt, die oarme Sisi. Man woaß nie, wann‘s einen erwischt.“
„Ist wahrscheinlich auch besser so", ergänzt der junge Student Leo Graf.

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„Doktor der Medizin, Wien 14.03.1972“ steht in schlichten schwarzen Lettern auf dem bereits deutlich vergilbten Schriftstück, welches an der Wand im Büro des Pathologen Dr. Leo Graf im Wiener Institut für Rechtsmedizin hängt. Beim Blick auf seine Promotionsurkunde und die damit verbundenen Erinnerungen an seine Studien- und Doktorandenzeit muss Leo Graf verschmitzt lächeln. 1972, 32 Jahre ist es mittlerweile her - eine Ewigkeit. A biss`l zugelegt hat er in den letzten Jahrzehnten, denkt Leo und klopft sich auf den Bauch. Der ranke und schlanke Student von damals gehört eindeutig der Vergangenheit an. Nur die braune Stofffliege um seinen Hals, die er schon seit jungen Jahren trägt – die ist geblieben.

Oft musste er in den vergangenen Tagen an seine Zeit mit und beim Herrn Professor Steinhauer denken. Lehrjahre sind keine Herrenjahre – eine Devise, die sein ehemaliger Dozent und späterer Doktorvater mehr als verinnerlicht hatte. „Die Wurzeln der Bildung sind bitter, aber ihre Früchte sind süß“, sagte er oft. Überhaupt liebte es der Professor berühmte Dichter und Denker zu zitieren.

Mit seinen markanten Gesichtszügen und dem dunklen nach hinten gekämmtem Haar, hatte ihn der Professor immer auch etwas an Dr. Winkel, den Arzt aus dem bekannten Kriminalfilm „Der dritte Mann“ erinnert. Wie hatte Leo als Bub diesen Film geliebt. Tagelang musste er betteln, bis sein Vater nach anfänglichen Bedenken, ob der Film für seinen Sohn überhaupt geeignet wäre, schließlich doch einknickte und zwei Karten für die Nachmittagsvorstellung in den „Breitenseer Lichtspiele“ kaufte.

Zum Fürchten unheimlich und dennoch spannend war für den damals zehnjährigen Leo das Rätsel um den Tod von Harry Lime und die berühmten Filmszenen in den einsam verlassenen Gassen Wiens oder auf dem im Nebelschleier verhangenen Zentralfriedhof. Und dann waren da noch die dunklen, schier unendlichen Gänge der Wiener Kanalisation, durch die das mysteriöse Klackern der Schritte eines unbekannten Mannes hallten. Leo konnte damals den modrig-faulen Geruch von Fäkalien und Verwesung förmlich riechen, als er mit weit aufgerissenen Augen wie gebannt auf die Kinoleinwand starrte und alles um sich herum vergaß. Oft hatte er sich als Bub vorgestellt, selbst in den dunklen morbiden Unterwelten Wiens auf Erkundungstour zu gehen, um dort die versteckten Geheimnisse der Stadt zu ergründen. Jene Geheimnisse, welche unter dem schönen Schein der Kunst, Kaffeehauskultur und Verehrung für die vergangene Monarchie, nicht zum Vorschein kommen sollen.

Rückblickend, so denkt Dr. Graf heute, ist dieser Film neben dem Herrn Professor Steinhauer, wahrscheinlich auch einer der Gründe gewesen, warum ihn die detektivisch-wissenschaftliche Aufklärung von Gewaltverbrechen damals wie heute so faszinierte und er sich schließlich entschied, eine Laufbahn als Pathologe einzuschlagen.
Nur für ihn hörbar, beginnt Leo Graf in seinem Büro leise die berühmte Zithermelodie von Anton Karas aus dem Krimiklassiker vor sich hin zu summen.

„Herr Doktor?“, unterbricht ihn eine ihm vertrautet Stimme. Leo Graf verstummt. Er dreht sich um und sieht seinen Sektionsassistenten in der Bürotür stehen.
„Ja, Herr Meier. Was gibt’s denn?“
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber der Kommissar Hoffmann hat gerade angerufen und sich nach dem gestern aufgefunden toten jungen Madl erkundet. Wann er mit dem Befund rechnen kann, hat er g’fragt.“
„Ach ja, stimmt. Den Fall wollte ich heute auf alle Fälle noch fertigbekommen, bevor…“
Dr. Graf unterbricht kurz nachdenklich, eher er ergänzt: „Ok, Bereiten`s mir bitte das Madl vor. Ich kümmre mich gleich um den Fall.“
„In Ordnung, Herr Doktor. Wird gemacht“, erwiderte sein Kollege und verlässt das Büro seines Vorgesetzten.
Kommissar Marc Hoffmann – leitender Kriminalbeamter der Wiener Mordkommission. Ungläubig schüttelt Leo Graf mit dem Kopf. Er mag es manchmal noch immer nicht glauben, was aus seinem einstigen Schützling und Studenten von damals geworden ist.

Die Begeisterung für die forensische Medizin; den Ehrgeiz und die Besessenheit jenes noch so scheinbar kleine Beweismittel zu finden, welches einen Verdächtigen zu einem Täter werden lässt und ihn schließlich des Mordes überführt – all das, was ihm einst der Herr Professor vermittelte, wollte er als promovierter Pathologe nun selbst an seine Studenten weitergeben.
Im Laufe seiner Karriere als Dozent an der Universität hatte er viele Studenten kommen und gehen gesehen. Viele waren hoch motiviert, andere hatten dagegen eher eine, vorsichtig ausgedrückt, entspanntere Einstellung zu der Fülle an Stoff, den es zu lernen und vor allem auch zu behalten gab. An die meisten seiner Studenten konnte sich Dr. Graf nicht mehr erinnern. Aber da war dieser eine. Meist saß er im Hörsaal mittig in der zweiten oder dritten Reihe. Ob es nun an seiner zentralen Sitzposition im Blickfeld von Dr. Graf oder doch an den durchdachten Zwischenfragen lag, dass Leo sich auch Jahre später noch an jenen jungen Mann erinnern konnte, das wusste er nicht.

Groß war die Überraschung, noch größer die Freude, als er seinen ehemaligen Studenten von damals viele Jahre später wiedertraf – diesmal nicht im Unihörsaal, sondern an einem Tatort - als leitender Kriminalbeamter der Wiener Mordkommission. „Na, da konnte ich Ihnen ja anscheinend doch etwas beibringen, wie es ausschaut!“, hatte er Marc Hoffmann beim Wiedersehen mit einem verschmitzten Lächeln begrüßt.

„Herr Doktor, das Madl liegt jetzt auf dem Tisch bereit“, ertönt es aus dem Nebenraum.
„Danke, ich komme!“ Leo Graf macht sich auf den Weg in den Obduktionssaal. In der Mitte des Raumes auf einem der Sektionstische liegt die, von einem weißen Tuch bedeckte tote junge Frau. Nur ihre Füße, an denen ein mit ihren Daten beschriftetes Schild baumelt, schauen unter dem Leichentuch hervor. Dr. Graf zieht sich seinen Arztkittel an, streift sich die Gummihandschuhe und Schuhüberzieher über. Er entfernt das weiße Tuch.

Dann nimmt er sein Diktiergerät. In gewohnt nüchtern wissenschaftlichem Ton spricht er die Daten der Verstorbenen in das Gerät, inspiziert die Leiche von außen. Fotografiert und dokumentiert die deutlich am Hals sichtbaren lilafarbenen Striemen. Nach der äußeren Leichenschau erfolgt die innere – die Öffnung der drei Körperhöhlen: Brust, Bauch und Kopf. Als wäre es ein Kugelschreiber, nimmt Leo Graf das Skalpell wie selbstverständlich in die rechte Hand und setzt es am linken Schlüsselbein der vor ihm liegenden toten Frau an. Ohne Unterbrechung schneidet er tief in die Haut. Geradlinig gleitet das Skalpell wie von selbst bis zum Brustbein der Leiche. Dann das Gleiche nochmal auf der anderen Seite. Ein weiterer Schnitt, jetzt vom Brustbereich zum Schambein. Routiniert entfernt er das Sternum und die Rippen, sodass die darunter liegenden inneren Organe zum Vorschein kommen. Der Pathologe entnimmt die Lunge und legt diese auf den Seziertisch neben sich. Mit einem Maßband misst er die Länge und Breite des Organs. Es erfolgt die Ermittlung des Gewichts sowie die Fotografie der äußeren und inneren Beschaffenheit. Gibt es irgendwelche sichtbaren Auffälligkeiten? Gewebeproben werden für die mikroskopische und toxikologische Analyse entnommen und sicher in einem Plastikröhrchen verschlossen. Alles wird von ihm in Papierform und mittels Diktiergerät bis ins Kleinste festgehalten. Kein so winziges, scheinbar unwichtiges Detail darf ihm entgehen. Kein Teilchen im großen Puzzle eines Kriminalfalls darf im Zuge einer Unaufmerksamkeit verloren gehen.

Es folgt das Herz, die Leber, der Darm - bis jedes Organ der Verstorbenen einmal in den Händen des Pathologen lag. Fachmännisch, routiniert, akribisch, konzentriert ohne Gedanken über das dahinterstehende Schicksal der jungen Frau. War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Was waren ihre Wünsche und Träume? Was dachte sie in dem Moment als sie starb? Darüber macht Leo Graf sich keine Gedanken. Oder er versucht es zu mindestens.

So, lief es tagein tagaus für ihn- seit fast 35 Jahren. Dass dies hier gerade seine letzte Obduktion als Pathologe in der Rechtsmedizin sein wird, bevor ab morgen für ihn ein neuer Lebensabschnitt, der Ruhestand, beginnt, spielt momentan keine Rolle. Es hat für ihn momentan keine Rolle zu spielen. Gefühle, nein genauer gesagt SEINE Gefühle haben im Obduktionsssaal nichts zu suchen.

„Ob er zwischen all den Muskeln, Knochen und Organen nicht schonmal die Seele eines Menschen gefunden hätte?“, wurde Dr. Graf schon oft gefragt.
„Nein!“, hatte er stets etwas amüsiert, mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen über die Frage geantwortet. Seele? Was ist die Seele und wo im Körper sitzt sie? Klar, hatte er sich auch im Laufe seines Lebens diese Frage gestellt. Welcher Mensch tut das nicht? Aber was würde ihm eine Antwort für seine Arbeit als Pathologe bringen? Er ist Arzt. Er ist Naturwissenschaftler. Für ihn zählt das, was sichtbar und nachweisbar ist. Fakten und Tatsachen. In dem Moment, wo ein Toter vor ihm auf dem Tisch liegt, interessiert er sich ausschließlich für den Verlauf und die Farbe der Totenflecke, Hinweise auf äußere Gewalteinwirkungen, Auffälligkeiten und Veränderungen an den Augen oder Schleimhäuten und dergleichen. Sonst nichts. Sich über die Seele eines Verstorbenen und deren Verbleib nach dem Tod Gedanken zu machen, bringt einen potentiellen Gewaltverbrecher nicht hinter Gittern. Über tiefsinnige Fragen wie diese sollen sich andere kluge Menschen die Köpfe zerbrechen– Pfarrer, Philosophen oder Psychologen.

Die Obduktion ist beendet. Die Diagnose gestellt. Ein Fall von Tausenden in seinem Berufsleben. Mit einem weißen Tuch verdeckt Leo Graf wieder den Körper der Toten. Für einen kurzen Moment schaut er noch einmal in das leblose Gesicht der jungen Frau, bevor auch ihr Kopf vollständig unter dem Baumwolltuch verschwindet. Mehr kann er nicht mehr für sie tun.
Sorgfältig wäscht sich Leo Graf die Hände und streift sich die Einweghandschuhe und Schuhüberzieher ab.
„Herr Meier, bringen`s die junge Frau doch bitte wieder rüber“, bittet er seinen Kollegen, während er seinen Arztkittel auszieht und zurück in sein Büro gehen will.

Auf dem Weg dorthin fällt sein Blick auf die Glasvitrine mit den ausgestellten Exponaten an Knochen und in Alkohol eingelegten Organen. Darunter auch ein Wolfsschädel.
Dr. Graf bleibt stehen und betrachtet den Raubtierschädel einen Moment lang. Er erinnert sich noch gut an den Fall. Der von der Presse betitelte vermeintlich „beißwütige Hund“, welche scheinbar im Stadtpark sein Unwesen trieb, entpuppte sich schnell als der Vertreter einer bereits ausgestorbenen Wolfsart.  Der Täter, ein alleinstehender älterer Herr, hatte mit einem Tierschädel nachts Parkbesucher angegriffen, in der Hoffnung die Anwohner würden die Vorfälle für die Attacke eines streunenden Hundes halten und deshalb den Park meiden. Die Ermittlungen wurden damals noch von Kommissar Alex Brandtner geleitet und seine guten Kenntnisse über das Verhalten und die Anatomie von Hunden führten schnell auf die richtige Spur des Mörders.

Kurze Zeit später hatte sich Alex dann auf Anraten seines Vorgesetzten für ein einjähriges Austauschprogramm bei der Interpol in Lyon beworben. Die Entscheidung für das Jobangebot, in Anbetracht der Tatsache, dass Rex in Wien bleiben musste, ist ihm damals mehr als schwergefallen. Letztlich hatte er aber doch die sich ihm bietende einmalige Chance genutzt. Während seines Aufenthaltes in Frankreich kam es dann, wie es kommen musste. Alex hatte sich in eine französische Kollegin verliebt, eine unbefristete Stelle angeboten bekommen und sich letztlich dazu entschlossen, ganz in Frankreich zu bleiben. Da seine, mittlerweile Ehefrau an einer Hundehaarallergie leidet, konnte Alex leider Rex nicht nach Frankreich nachholen. Mittlerweile sind Alex und seine Frau Eltern eines kleinen Jungen geworden. Zweimal war Alex zwischenzeitlich mit seiner Familie wieder in Wien, um neben seinen Eltern auch Rex zu besuchen. Die Wiedersehensfreude auf beiden Seiten war jedes Mal riesig.

`Ja, alles richtig gemacht hat er, der Alex`, denkt sich Leo Graf. Was bleibt einem vom Leben übrig, wenn man alt wird und bis dahin nur für die Arbeit gelebt hat? Irgendwann gehört diese der Vergangenheit an und dann sitzt man da. Zuhause. Alt und einsam, zwischen einem Haufen ungelesener und verstaubter Bücher, die teilweise so alt sind, wie man selbst. Ja manchmal da kommt er doch in Leo Graf hoch. Der stille Zweifel. Wenn er abends alleine zuhause sitzt und denkt, ob er sich nicht manchmal doch hätte mehr den lebenden Menschen zuwenden sollen, als sein eigenes Leben ganz dem Tod zu verschreiben.

Beim Blick auf den Wolfschädel in der Vitrine, sieht Dr. Graf plötzlich Rex vor seinem inneren Auge. Leo erinnert sich noch gut an jenen Moment, als sie beide sich zum ersten Mal begegnet sind. Nicht schlecht gestaunt hatte er damals, als Kommissar Richard Moser plötzlich mit dem Hund an einem Tatort im Wiener Wald auftauchte und Rex als neues Teammitglied vorstellte. Seitdem konnte der Pathologe sich die Kollegen der Mordkommission gar nicht mehr ohne den Rüden an ihrer Seite vorstellen, der bei allen Flausen und Streichen, die er in seinem Hundekopf so hatte, stets auch den Polizeibeamten und Dr. Graf in vielen Fälle bei der Beschaffung von Beweismitteln eine unersetzbare Hilfe gewesen ist. Wie wird Leo die stets überschwänglich freudige Begrüßung des Schäferhundes vermissen, wenn er zu einem Tatort gerufen wurde. Ach ja, der Rex. Der ist schon was ganz Besonderes. Leo Graf muss erneut vor sich hinlächeln.

So, genug der Sentimentalitäten. Die Arbeit ruft. Er will seinen letzten Fall heute noch zu Ende bringen, bevor sich die Türen des Instituts für immer hinter seinem Rücken schließen werden und zuhause, neben all den einsam verstaubten Büchern, auch eine gute Flasche Rotwein auf ihn wartet.
Zurück im Büro, macht Leo sich umgehend an die Erstellung des vorläufigen Obduktionsberichtes. Konzentriert füllt Dr. Graf Punkt für Punkt der Berichtvorlage aus.
„Zusammenfassend ist nach Durchführung der äußeren und inneren Obduktion von einem nicht natürlichen Tod in Folge einer cerebralen Ischämie durch Strangulation der Halsgefäße auszugehen. Eine histopathologische und toxikologische Analyse folgt in den nächsten Tagen. Wien, den 25.05.2004, gez. Dr. Leo Graf.“
Der Pathologe atmet erleichtert durch und schaltet den Computer aus. Das wäre geschafft.

Dann öffnet er die Schublade seines Schreibtisches, in der er seit Jahren stets eine Schachtel Zigarren auf Vorrat liegen hat. Dr. Graf nimmt die letzte übrig gebliebene Havanna aus der Schachtel. Extra für den heutigen Tag hatte er sich diese aufgehoben, um sie zum Abschied genüsslich in seinem Büro rauchen zu können. Leo will sie anzünden, da wird er nachdenklich. Havanna. Damit hatte Richard seinerzeit regelmäßig versucht, ihn zu der ein oder anderen Spätschicht zu überreden, um schnell an die Obduktionsergebnisse seiner aktuellen Fälle zu gelangen. Zum Leidwesen von Dr. Graf waren die Bestechungsversuche des Kommissars meist von Erfolg gekrönt. Leo muss schmunzeln. Und doch ist es da auf einmal wieder. Dieses aufkommende Kloßgefühl in seinem Hals, was ihn seither immer noch hin und wieder einholt.

Noch genau, als wäre es gestern gewesen, erinnert er sich an jenen Tag vor sieben Jahren. Gerade hatte er die Obduktion eines vermeintlichen Selbstmörders abgeschlossen, als das Telefon klingelte. Es sei dringend, sagte sein Kollege und brachte ihm sein Handy in den Sektionssaal. Es war Böck. Mit leiser und belegter Stimme sagte er, dass Richard in eine Schießerei geraten sei und er, Leo, so schnell wie möglich ins „West Spital“ kommen sollte. Mehrere Stunden hatten sie sechs schweigend auf dem Flur vor dem OP-Trakt gewartet und auf eine erlösende Nachricht gehofft. Als schließlich ein Arzt kam, sie mit ernster Miene anschaute und wortlos mit dem Kopf schüttelte, war das Fünkchen Hoffnung, an das sie alle sich geklammert hatten, mit einem Schlag zu Nichte gemacht. Die Welt hörte von einem Moment auf den anderen auf, sich zu drehen.

Leo blickt für einige Sekunden schweigend auf das Foto der letzten gemeinsamen Weihnachtsfeier, welche er einige Monate zuvor mit den Kollegen der Mordkommission in dessen Büro gefeiert hatte. Eine Erinnerung an glücklichere Zeiten. Er hatte das Bild nach Richards Tod auf seinen Schreibtisch aufgestellt.

Dann fällt sein Blick wieder auf die Zigarre in seiner Hand, die er nachdenklich zwischen beiden Daumen und Zeigefinger hin und her rollt. Draußen ist es mittlerweile schummrig geworden. Der Pathologe blickt aus dem Fenster. Es ist an der Zeit, zu gehen. Für immer. Unter einem leisen Seufzer steht er auf und stellt seine lederne Aktentasche auf den Schreibtisch. Dann holt er ein sauberes Stofftaschentuch heraus, wickelt darin vorsichtig sorgsam die Zigarre ein und legt diese, zusammen mit dem Foto von der Weihnachtsfeier in seine Tasche. Die Promotionsurkunde, welche heute Morgen noch an der Wand hinter seinem Schreibtisch thronte, klemmt er sich jetzt unter seinen linken Arm.

Bepackt mit der Urkunde und der Ledertasche in seiner Hand, verlässt Leo Graf sein Büro. Nachdenklich geht er durch den mittlerweile gespenstig einsamen Obduktionssaal, vorbei an den leeren und blankgeputzten Seziertischen. An der Tür angekommen, blickt er ein letztes Mal in den Raum, der mehr als drei Jahrzehnte sein Lebensmittelpunkt war. Dann schaltet er das Licht aus und schließt die Tür. Leo Graf lässt die Toten und ihre Geschichten hinter sich. Jetzt wartet das Leben auf ihn.


--ENDE--
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