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Schutzengel

Kurzbeschreibung
OneshotDrama, Schmerz/Trost / P12 / Div
Kriminalhauptkommissar Frank Thiel Rechtsmediziner Professor Karl Friedrich Boerne Rechtsmedizinerin Silke Haller
01.03.2023
01.03.2023
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A/N: Limbus, Limbus, Limbus. Das muss in einer Woche wie dieser einfach sein. Entstanden ist die Idee aus einem einzigen Satz. Boerne sagt in einer Nebenszene, dass er doch allein im Auto gewesen sei. Zudem gibt es diese schöne Aufnahme von einem Anhänger, der vermutlich die Abbildung des Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden, zeigt. Und Thiel betont später in der Rechtsmedizin, dass es ein Wunder ist, dass Boerne überhaupt noch lebt.

Aber was oder wer hat dieses Wunder möglich gemacht? Wirklich nur Boernes hartnäckiger Überlebenswille? Einzig sein betonfester sturer Dickschädel? Ich glaube kaum. Aber wer hat ihm dann geholfen und wie? Das fand ich spannend und habe, Was-Wäre-Wenn mit gezinkten Karten gespielt.

Was wäre, wenn Boerne nicht allein im Auto gewesen wäre nach seiner Vorstellung. Was wäre, wenn dieser kleine Glücksbringer tatsächlich seine Wirkung entfaltet hätte. Und wer sagt denn, dass es immer ein physischer Schutzengel sein muss.

In Limbus war und ist alles möglich und der Phantasie wenig Grenzen gesetzt, auch der unseres lieben Professors. Wen hätte er sich also wohl herbeigewünscht, um seine Überlebenskräfte zu aktivieren? Ihr ahnt meine Antwort. Aber nicht so schnell. Thiel-Fans und sogar ThielxBoerne-Shipper kommen hier auch ein bisschen auf ihre Kosten. Viel Spaß!



Schutzengel

„Woran denkst du?“ Es war nur ein Hauch. Die Silben hielten sich kaum in der Luft. Wenn sie nicht so dicht beieinander lägen, hätte er sie wohl gar nicht verstanden.

Das war eine gute Frage. Woran dachte er? Warum starrte er sie seit einer gefühlten Ewigkeit schweigend an? Hatte er nichts mehr zu sagen? Hatte er sich wirklich endlich leer geredet? Bewegte ihn denn überhaupt noch irgendetwas außer diese azurblauen Augen, die ihn geduldig betrachteten? Eigentlich nicht. Die Antwort war nur konsequent in dieser Lage.

„Gar nichts.“ Das fühlte sich komisch an. So rau, so kratzig. Als hätte er seine Stimme noch nie verwendet. Als fehlte ihr das nötige Öl, das Training. Oder als hätte er stundenlang nur geschrien. Vielleicht ein bisschen von beidem. Wie lange lagen sie eigentlich schon hier?

„Gelogen.“ Die Antwort kam wie ein Pfeil mit abgestumpfter Spitze. Nicht um zu verletzen oder um wirklich Schaden anzurichten. Sondern nur, um ihn unsanft an der richtigen Stelle zu pieken. Damit traf sie wie so oft mühelos ins Schwarze.

Denn jetzt merkte er es schon. Seine Gedanken waren nicht völlig leer. Sie hatten durchaus ein Ziel.

„An Thiel. Und…ahm…an dich. Ich denk‘ an euch und was ich euch noch sagen wollte.“ Hätte er seine Hände frei, hätte er sie sich spätestens jetzt grob auf die verräterischen Lippen geschlagen. Was redete er da nur? Tja, außergewöhnliche Umstände lockerten tatsächlich die Zunge wie nichts anderes. Aber seine treuen Helferlein waren eben nicht frei verfügbar im Moment. Genau genommen spürte er sie kaum noch. Das war nicht gut.

„Ach so. Was denn? Was will uns der große Professor Doktor Doktor Karl-Friedrich Boerne noch sagen?“ Riss ihn ein anderer spitzer Mund mit einem frechen Grinsen aus seinen Gedanken.

„Das weißt du doch.“ Grimmig zog er die Augenbrauen zusammen. „Nein, weiß ich nicht.“ Spielte sie weiter die Ahnungslose und vertiefte ihr keckes Grinsen.

„Wer lügt jetzt?“ Schoss er erbost zurück. Zu gern hätte er sie mit einem scharfen Blick über den Rand seiner Brille in die Schranken gewiesen. Aber der Aufprall hatte das blöde fast zerlegt. Die kläglichen Überreste hingen ihm zwar noch gerade so auf der Nasenspitze. Aber der Rahmen war völlig verbogen und das rechte Glas hatte einen gewaltigen Sprung in der Mitte.

„Komm schon. Für mich. Ich verrat’s auch keinem. Zwergenehrenwort.“ Kichernd streckte sie Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand in die Luft wie um einen Schwur abzulegen. Grimmig blickte er sie an. Sie konnte sich ja immerhin bewegen.

„Du und deine Witze über dich selbst.“ Raunte er augenrollend und versuchte sich selbst nochmal daran, seine Arme und Hände zu befreien. Aber es half nichts. Sie klemmten fest zwischen einem Wirrwarr aus Gurt, Lenkrad und zerstörtem Airbag.

Dazu fielen ihm immer wieder seine völlig zerwühlten Haare ins Gesicht. Ruckartig zuckte er mit dem Kopf hin und her, um die lästigen Strähnen aus dem Gesicht zu bekommen. Er hätte längst wieder zum Friseur gemusst. Aber vor seinem Urlaub war so viel zu erledigen gewesen. Außerdem hatte ihn dieser kleine Funke von Anerkennung in Alberichs Augen so gut gefallen, dass er jeden Morgen seinem Spiegelbild gesagt hatte: „Ach, ein Tag geht das noch.“

„Irgendwer muss sie ja machen.“ Flötete sie vergnügt. Beherzt griff sie nach seinem Gesicht, nahm ihm erst die zerstörte Brille ab und wischte ihm dann sein widerspenstiges Haar behutsam zurück. „Also?“ Hakte sie nochmal mit erhobener Augenbraue nach. Ah, sein kleiner Zwerg Naseweis hatte aufgepasst und durchschaut, dass er eigentlich nur ablenken wollte. Nun, sie kannte ihn besser als irgendwer sonst. Ihr machte er schon lange nichts mehr vor.

„Na schön.“ Seufzend er ergab er sich und bedankte sie mit einem Nicken für ihre Hilfe. Schweratmend sah er sie an. Zunehmend wurde es schwieriger, sich auf sie zu fokussieren. „Ich…Also ich…“ Sein Atem rasselte in seiner Lunge. Lange würde er sich nicht mehr bei Bewusstsein halten können. Also war es noch dringlicher, dass er ihr das Wichtigste mitteilte.

„Es tut mir leid.“ Flüsterte er heiser. Sie lächelte nur milde. Dieses ganz besondere Lächeln, das er so liebte. Das, bei dem ihre Augen ein bisschen schelmisch glänzten und doch vor Fürsorge und Zuneigung nur so strotzten. Das, bei dem selbst Thiel weich wie Butter wurde und so absurde Dinge sagte wie. „Man, man, man. Da wird einem ja ganz wohlig warm ums Herz. Ist so viel Geborgenheit auf einen Schlag überhaupt gesund für Sie, Boerne?“

Wenn er es gut machte, wenn er sich zusammenriss, dann durfte er diese besonders schöne Verzierung auf ihren Lippen mindestens einmal die Woche bewundern. Das Alberich-Lächeln. So konnte nur sie das. Der Titel war also keineswegs übertrieben.

„Was tut dir leid?“ Holte sie ihn mit ihrer sanften Stimme aus seinen Tagträumen. Jetzt grinste sie noch mehr und ihm schwante, welch dusseligen Gesichtsausdruck er gerade der Welt präsentiert haben musste.

Egal. Hier gab es ja nur noch sie zwei (oder zumindest fast). Nah genug. Am Ende aller Dinge. Was spielte das noch für eine Rolle. Hier war er doch sicher vor dem Gerede, vor dem Urteil von Gott und der Welt. So hatte er das doch immer gewollt. Wenn es enden musste, dann doch bitte so. Mit Alberich an seiner Seite. Wenn schon nicht als Schutzengel, dann lieber so. So war er immerhin nicht allein.

Gut, er hätte Thiel gern nochmal gesehen und ihm gesagt, was ihm diese erzwungene Kameradschaft, diese Schicksalsgemeinschaft all die Jahre wirklich bedeutet hatte. Wie wichtig, wie entscheidend sie so oft gewesen war. Er hätte seinem Kollegen und Nachbarn gern gesagt, dass er bei allen Unterschieden zwischen ihnen niemals mehr auf ihn verzichten wollte. Dass er einer der beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben war und sein einziger wahrer Freund, den er schrecklich vermissen würde, dort, wo er jetzt hinging, wo immer das auch sein mochte.

Und er hätte Thiel gern gesagt, dass es ihm leidtat, dass er jetzt so ging. Ausgerechnet so. Bei einem verfluchten Autounfall. Das war doch die Krönung der Lächerlichkeit. Vielleicht hätte er doch lieber Alberich den Schutzengel genommen statt Alberich, die den Tod ein bisschen süßer, ein bisschen weniger bedrohlich machte.

Aber er zwang sich rasch wieder zur Ruhe. Beherrschte seinen Groll gegen das Schicksal, das ihn vermutlich gerade herzlich auslachte. Das war jetzt nicht wichtig, nichts war mehr wichtig. Außer vielleicht, dass er einmal ehrlich war. Wenn er es schon nicht mehr direkt tun konnte. Wenn er es schon Thiel nicht mehr sagen konnte, dann doch wenigstens ihr.

Vielleicht würde sie es ja doch irgendwie…hören. Er traute seinem besseren Viertel sogar durchaus zu, dass sie sowas konnte. Distanzen überwinden, die niemand überwand. Waren sie nun echt oder nur in seinem Kopf. Ja, das passte. Das klang nach ihr. Das Unmögliche möglich machen. Das konnte seine Alberich.

Also nahm er nochmal all seine Kraft zusammen für diesen kleinen Hoffnungsschimmer.

„Mir…“ Sein Atem ging immer schwerer. Ihm wurde leicht schwummrig. Schwarze bedrohliche Ränder drängten sich in seinen Blick. Doch er blinzelte sie stur beiseite. Tief holte er Luft. Presste alles aus seinen Lungen heraus, was nur irgendwie ging. „Mir…Das…das hier. Das tut mir leid. Und dass…dass ich...ich es dir nie gesagt habe.“

„Was?“ Wisperte sie und rutschte noch etwas näher an ihn. Dicht bettete sie ihren Kopf an seinen, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Sie war so nah, dass er die Augen schließen musste.

„Wie viel…du mir…bedeutest.“ Seine abgekämpften Lungen ließen nur noch abgehakte Sätze zu. Es flimmerte hinter seinen Augenlidern. Aber er würde um jede Sekunde kämpfen. Um jede einzelne gottverdammte Sekunde würde er ringen.

Sie schwieg. Ließ sein halbgares Geständnis einfach so zwischen ihnen stehen. Das irritierte ihn schon. Hatte sie denn nichts dazu zu sagen? Doch dann spürte er etwas Kleines, Warmes auf seiner Brust. Vorsichtig knöpfte er die Augen wieder auf. Sie hatte ihre Hand unter sein Jackett geschoben.

„Es schlägt.“ Flüsterte sie. Ihre Augen schimmerten tiefblau vor Erstaunen. Als könnte sie nicht fassen, was sich da unter ihrer Hand wand und quälte und pochte und einen aussichtslosen Kampf gegen das Versagen seines Körpers führte.

„Ja…Noch…Ich schätze, ich…ich habe noch eine knappe Stunde, bevor…bevor...“ Versuchte er mühsam zu erklären. Jedes Wort eine Schlacht für sich. Aber sie schüttelte nur den Kopf.

„Nein, Thiel wird kommen.“ Sagte sie bestimmt. Ihre Stimme voller inbrünstiger Überzeugung, die keine Widerworte duldete. Er kam nicht mehr dagegen an.

„Glaubst du?“ Fragte er daher nur unsicher. Er wollte ja glauben. Wollte vertrauen und hoffen wie sie, allein die Kraft reichte nicht mehr.

„Ja. Ganz sicher. Er liebt dich. Er würde niemals zulassen, dass dir etwas passiert.“ Postulierte sie knapp und deutlich, als wäre das ein Naturgesetz. Skeptisch schaffte er es noch die linke Augenbraue hochzuziehen.

„Na, jedenfalls nichts Irreversibles. Außerdem…er hat mich. Er hat seinen tatkräftigen neuen Assistenten. Wir finden dich schon.“ Er sah noch, wie sie sich einmal selbstbestätigend zunickte, dann klappten seine Lider einfach runter. Er musste dringend seine Kräfte schonen.

„Heute stirbst du nicht, Karl-Friedrich Boerne. Heute nicht.“ Ihre Stimme verschwamm am Ende leicht. Müde zuckten seine Mundwinkel nach oben über so viel Sturheit und Hartnäckigkeit. Er wollte und konnte ihr das nicht nehmen. Konnte ihr nicht sagen, dass sie das vielleicht beide nicht mehr zu entscheiden hatten.

Dann packte ihn plötzlich die Furcht aus heiterem Himmel. Was, wenn sie das verletzte? Oder sie einfach verschwand, weil er nicht an ein Wunder glaubte wie sie? Was, wenn er dann ganz allein hier liegen musste, um auf das unvermeidbare Ende zu warten? Er erzitterte bei dem Gedanken.

„Aber du…du bleibst…oder?“ Fragte er unsicher. Seine Stimme so zerbrechlich und klein. Sie erlöste ihn sofort und zerstreute seine Angst. „Natürlich. Solang du willst.“ Dann spürte er, wie sie ihm einmal mit der anderen Hand beruhigend durchs Haar strich.

„Schön.“ Zufrieden lächelte er nochmal.

Für ein paar Sekunden schwiegen sie. Seine Augen fest geschlossen hörte er nichts als ihre sanften Atemzüge. Er blendete seine eigenen schwerfälligen Luftschübe aus und fokussierte sich nur auf ihre und die kleine Hand auf seiner Brust. Gott, wie gern hätte er seine eigene einfach darübergelegt. Nur dieses eine Mal.

So wäre das doch ganz ok eigentlich. Ruhig, friedlich. Er spürte keinen Schmerz mehr. So wäre das doch ganz erträglich. Doch dann viel ihm ein, dass er ja noch eine Frage hatte. Eine sehr wichtige.

„Tust du’s auch?“ Nuschelte er ihr zu, ohne die Augen zu öffnen.

„Was?“ Hauchte sie ihm zu, sodass er dieses eine Wort sogar auf seiner Haut spüren konnte. Er hatte keine Energie mehr für große Erklärungen. Vermutlich wusste sie eh, was er meinte, und spielte auf Zeit.

„Was wohl?“ Brummte er zurück und wartete ab. Würde sie sich jetzt weiterzieren? Er hoffte nicht. Ihnen lief die Zeit davon. Eine Weile trat Stille ein und er dachte schon, dass sie nicht antworten würde. Dass er diese eine Frage eben nie klären würde. Dass er sie mitnehmen musste, als das letzte große Mysterium zwischen ihnen beiden. Ihr letztes kleines Geheimnis.

„Ja, tu ich.“ Überraschte sie ihn dann doch noch. Aber vor allem damit, wie verlegen sie dabei klang. Da war doch nichts dabei. Das war doch… „Schon eine ganz Weile.“ Ah, da lag der Hase also im Pfeffer. Das tat ihm irgendwie leid. Aber sie war noch gar nicht fertig. „…und ziemlich…“ Zögernd brach sie mitten im Satz ab.

Nanu, was sollte es denn da noch zu ergänzen geben, dass ihr so auf der kleinen Seele lastete, dass sie sich ausgerechnet jetzt nicht traute damit herauszurücken? Es war doch nur er. Und dieses Mal würde er es tatsächlich buchstäblich mit ins Grab nehmen.

„Ziemlich?“ Hakte er daher neugierig nach. Die Augen noch immer vor Erschöpfung geschlossen, dabei hätte er sie durchaus gerade jetzt gern angesehen, um ihr Mut zu machen. Aber nachgeben konnte er auch schlecht. Er musste es wissen, jetzt wo er so nah dran war, an der ganzen Wahrheit.

„Ziemlich alternativlos.“ Beendete sie schließlich den Satz und klang mit einmal wie befreit. Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen. Was sollte das denn heißen?

„Alternativlos!?“ Presste er leicht echauffiert hervor. Was war das überhaupt für ein Wort? Alternativlos. Stark, innig, bedingungslos. Das waren eigentlich so grob die Adjektive und Adverbien, die er erwartet hätte. Aber doch nicht so ein negatives wie…

„Ja. Alternativlos.“ Betonte sie das grässliche Ding nochmal. Irgendwie kränkte ihn das. Dass sie ihre Gefühle nun unbedingt so beschreiben musste. Und überhaupt. Warum machte sie das? Sollte sie nicht liebevoll zu ihm sein in seinen finalen Augenblicken?

„Was denn? Bist du jetzt ernsthaft beleidigt? Wie typisch.“ Sie klang so belustigt. Es fehlte nur noch, dass sie lachte. Was sie dann prompt tat. Wenn er es gekonnt hätte, hätte er spätestens jetzt eingeschnappt die Arme vor der Brust verschränkt.

„Jetzt du.“ Forderte sie keck. Empört riss er einmal den Mund auf und schnappte trotz seiner akuten Atemnot nach Luft. Was viel diesem dreisten kleinen Monster eigentlich ein? Das war doch die Höhe.

„Wie bitte?“ Keifte er so gut es eben noch ging in seinem geschwächten Zugang. Gern hätte er sich einmal gekniffen. Taten sie das jetzt hier wirklich? Waren das seine letzten Augenblicke? Sie beide zankend über ein paar merkwürdig gewählte Worte. Das…also das hatte er sich wirklich, wirklich anders vorgestellt.

„Jetzt muss du es auch sagen.“ Provozierte ihn sein kleines Biest einfach weiter. Sie dachte scheinbar gar nicht daran lockerzulassen, um ihn endlich seinen wohlverdienten Seelenfrieden zu gönnen.

„Du hast doch gar nichts…“ Fing er schon an sich zu beschweren. Aber weit kam er damit nicht. „Details, Details.“ Gab sie trocken zurück und er spürte ihr Augenrollen, statt dass er es sah.

Also wirklich. Das war der Gipfel. Nicht mal auf seinem Sterbebett oder besser in seinem Sterbemoment konnte sie nachgeben. Musste immer das letzte Wort haben. Nun, zugegeben das hatte sie wohl vom Besten gelernt. Und das letzte Wort war in dieser Situation schon recht symbolträchtig.

Außerdem. Das vorhin. Ja, das war schon irgendwie schön gewesen. Aber das hier. Das entsprach doch er ihrem Naturell. Ihrem natürlichen Habitat. Das waren sie beiden durch und durch. Liebevolle Kabbeleien in stetigem Tanz aus Wort und Widerwort für immer verbunden. Ja, das passte doch viel besser zu ihnen. Das war ein viel einzigartigeres Ende.

Und vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, dass sie das richtig machten. Dass sie sich auf der richtigen Note im konkreten Ton mit den einzig wahren Worten voneinander verabschiedeten. Den einzigen, die noch zählten. Die, die er so unbedingt noch loswerden wollte. Aber dafür wollte er sie sehen. Ein allerletztes Mal.

Sekundenlang quälte er sich. Es kostete ihm fast alle Kraftreserven, die er noch hatte. Aber das hier war wichtig. So, so wichtig. Als er es endlich geschafft hatte und seine kieferngrünen Augen nochmal auf azurblaue trafen, war er eigentlich schon völlig am Ende. Kurz fragte er sich, ob das nicht vielleicht schon reichte. Vielleicht würde sie es ihm ja direkt aus den Augen lesen.

Aber nein. Das wollte er nicht. Er wollte, dass sie es hörte aus seinem eigenen Mund. Wenigstens ein einziges Mal.

„Ich liebe dich, Alberich.“ Es war ganz leicht. Plötzlich war alles verschwunden. Diese bleierne Erschöpfung. Seine atemraubende Luftnot. Es war, als wären sie gar nicht hier in diesem verunglückten Autowrack irgendwo auf einer Landstraße. Als lägen sie stattdessen irgendwo anders in der Sonne im Gras.

Er blickte in ihre strahlenden Augen und sie begann leise zu lachen. Er konnte nicht anders. Er stimmte mit ein, auch wenn er gar nicht wusste warum.

„Was?“ Fragte er immer noch feixend. Er wollte sie berühren. Er wollte sie so gern nochmal spüren, in den Arm nehmen, sein Gesicht an ihrem Hals verstecken. Er wollte es so gern. Aber trotz aller Leichtigkeit gehorchten ihm seine Arme noch immer nicht. Stattdessen nahm sie die Hand von seiner Brust und presste ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen.

„Psssst.“ Zischte sie ihm vergnügt zu. Verwundert runzelte er die Stirn. Was hatte sie denn? Er hatte ihr immerhin gerade ein sehr großes Geständnis gemacht. Er erwartete ja gar nicht, dass sie es erwiderte. Aber so ein bisschen Anerkennung dessen, was er sich gerade getraut hatte, wäre durchaus angebracht.

„Alberich, was zum Teu…“ Murmelte er gegen ihren Finger, aber sie schüttelte rasch den Kopf.

„Ssssscccchhhh. Den würde ich noch nicht so schnell rufen. Der kommt eher, als dir lieb ist. Aber mit dem wirst du schon fertig.“ Das ließ seine Falte auf der Stirn nur tiefer werden. Was redete sie denn da für einen Unfug? Aber sie zwinkerte ihm nur unverfroren einmal zu.

„Hör doch mal.“ Forderte sie ihn stattdessen auf und nahm ihren Finger von seinen Lippen.

„Was denn? Ich höre überhaupt nichts.“ Platzte es nun ziemlich ungehalten aus ihm heraus. Langsam wurde es ihm zu bunt.

„Eben. Es ist alles noch beim Alten. Kein Erdbeben, kein Meteoriteneinschlag, kein Blitz, der dich trifft oder sonst irgendein Unglück, das du dir da immer ausgemalt hast in deinem schlauen Köpfchen, solltest du das jemals zu jemand anderem sagen.“ Sie tippte ihm zweimal sanft mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. Er war viel zu perplex, um darauf zu reagieren.

„Wir sind alle noch hier. Thiel, du, ich. Die Erde dreht sich weiter. Die Sonne geht immer noch im Osten auf und im Westen wieder unter. Es ist nichts passiert. Dir ist nichts passiert.“

Er wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte. Denn…sie hatte ja Recht. Gut, dass hier war quasi nur eine Übung, wie ein Testlauf…aber…kein Aber. Es würde eh keine Rolle mehr spielen. Er mochte die Prüfung bestanden haben, aber er würde dieses Wissen eben niemals mehr im Ernstfall anwenden können.

Plötzlich überfiel sie ihn wieder aus dem Hinterhalt. Diese abgrundtiefe Traurigkeit. Die Gewissheit. Das hier, das waren ihre letzten Momente zusammen. Er würde weder sie noch Thiel jemals wiedersehen. Jedenfalls nicht in diesem Leben und so langsam zweifelte er sogar daran, ob es im nächsten klappen würde.

Und dann schlichen sie sich wieder ein. Zog sich durch jedes Atom seines Körpers. Die Entkräftung, die Atemnot, die dunklen Ränder in seiner Sicht.

„Hör mir zu. Ich werde dir jetzt ganz genau sagen, was geschehen wird.“

„Aber Albe…“ Versuchte er nochmal schwach zu protestieren. Es würde nichts mehr passieren. Gar nichts würde er mehr erleben. Nicht mit Thiel und schon gar nicht mit ihr.

„Zuhören!“ Befahl sie jedoch nur streng und unterband seinen erbärmlichen Protest. „Du wirst durchhalten. Klar? Du wirst hier nicht sterben. Du wirst deinen besten Freund und mich nicht verlassen. Hast du verstanden?“

Seine Sicht verschwamm immer mehr. Er konnte sie kaum noch erkennen. Sein Kopf drohte nach hinten zu kippen. Doch sie reagierte flink und griff erneut nach seinem Gesicht. Hielt es in ihren zarten, starken Händen. Gab ihm Halt und damit auch ein wenig Fokus zurück. Also nickte er nur schwach.

„Gut. So läuft das jetzt. Wir werden dich finden und rechtzeitig ins Krankenhaus bringen. Dann werden wir wie zwei Schlosshunde an deinem Bett heulen. Wir werden ein paar Nächte um dich bangen und dann wirst du dich erholen. Du wirst aufwachen und uns anlächeln und wir werden alle einfach nur unfassbar erleichtert sein, dass du lebst.“

Er sah sich außerstande darauf noch wirklich zu reagieren. Er spürte, wie seine Augen drohten immer wieder nach innen zu rollen. Seine ganze Kraft opferte er dafür, dass zu verhindern. Krampfhaft hielt er sich an ihrer Stimme fest. Kämpfte verbissen gegen die Dunkelheit an.

„So und nicht anders wird es laufen. Ist das klar?“ Bläute sie ihm nochmal deutlich ein. Doch er konnte nichts mehr dazu sagen und hoffte, dass sein Schweigen als Zustimmung genügen würde. Aber das reichte ihr nicht.

„IST DAS KLAR?“ Herrschte sie ihn laut an und verstärkte ihren Griff an seinen Wangen. Ihr Gesicht so nah an seinem - jedes Wort wirkte wie ein Stromschlag, der etwas Leben in seinen schwerfälligen Kopf und Körper zurückbrachte.

„Vollkommen.“ Murmelte er leise. Damit schien sie zufrieden und lockerte ihren Griff.

„Sehr gut.“ Sanft, fast zärtlich begann sie mit ihren Daumen über seine Wangenknochen zu streichen. Dazu flüsterte sie. „Du stiehlst dich nicht einfach so davon, Karl-Friedrich Boerne. Das könnte dir so passen. Vergiss es.“ Ihre Berührungen waren so schön, so entspannend. Er ließ sich einfach darin fallen und schloss wieder die Augen.

„Warum?“ Fragte er. Er war müde. Er wollte schlafen, einfach nur ausruhen. Aber ihre Stimme…sie war so warm. Ein bisschen wollte er sie noch hören, bevor er einschlief, um vielleicht nie wieder wachzuwerden. Denn egal, was sie so vehement behauptete. Es könnte hier vorbei sein. Ihre gemeinsame Geschichte, sie könnte hier wirklich zu Ende gehen, wenn…ja wenn Thiel ihn nicht mehr fand.

Aber nein. So wollte er nicht denken. Vielleicht war sie es ja doch. Sein kleiner tapferer Schutzengel und nicht der liebliche Todesengel. Vielleicht war sie wirklich hier, um ihn zu bewahren, statt ihn nur sanft hinüberzugeleiten. Das würde zumindest ihre kleinen Frechheiten erklären.

Doch so musste es sein. Sie wollte, dass er blieb. Thiel wollte, dass er blieb. Also würde er sich mit Händen und Füßen und allem, was ihm übrigblieb, wehren. Gegen die Dunkelheit, gegen das Ende. Das war er ihnen schuldig. Zumindest um ihnen eine realistische Chance zu geben, ihn doch noch zu retten. Also hielt er sich wach, hielt sich bei ihr, solang es ging.

„Warum…wird es…soooo…laufen?“ Er lallte immer mehr. Seine Zungen- und Mundmuskeln erschlafften zusehends.

„Weil…weil du uns heute nicht entwischst. Wir lassen dich nicht los. Dann fällt doch alles zusammen. Das geht nicht.“ Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. Das Besondere. Das Alberich-Lächeln.

Er hätte es gern gesehen, hätte gern zurückgelächelt. Nur einmal noch. Aber er schaffte es nicht. Stattdessen hob er den Kopf. Streckte ihn so weit er konnte nach vorn. Sie kam ihm entgegen. Erleichtert seufzte er auf, als seine Stirn ihre berührte. Nur kurz ausruhen, kurz sammeln. Nur einen Moment. Instinktiv spürte er es. Die nächsten Worte, die würden tatsächlich seine letzten sein.

„Warum…warum geht das…nicht?“ Das war’s. Er hatte keine Energie mehr, war leergelaufen, ausgebrannt. Gott, er hatte doch noch so viel sagen wollen. Danke zum Beispiel. Er hatte ihr doch noch sagen wollen, wie dankbar er für jede einzelne Minute mit ihr war. Auch und vielleicht gerade für diese hier, weil sie eben so schwer warn, weil sie ihn so traurig stimmten. Gott, er würde sie furchtbar vermissen.

Doch das bisschen, was ihm an Lebenskraft noch blieb, nutzte er lieber, um auf ihre Antwort zu lauschen.

„Weil Thiel dich liebt und du ihn. Weil du mich ebenfalls liebst und weil…“ Sie machte eine bedeutungsschwere Pause. Er ahnte, was kam, was sie gleich offenbaren würde. Und doch wünschte er sich, sie würde sich beeilen. Seine Uhr war gleich abgelaufen. Alles an ihm zog ihn Richtung Dunkelheit weit, weit weg von ihr.

„…ich dich auch liebe.“ Sein Herz machte einen Hüpfer. Es schlug noch einmal kräftig aus, als wollte es mit diesem letzten Freudentanz untergehen.

Dann spürte er, wie sie verschwand, wie sie sich auflöste Stück für Stück. Sein kleiner Schutzengel. Wie sie zurückkehrte. Dorthin, wo sie hergekommen war. Zurück in sein tiefstes Inneres. In sein Herz, in das er sie vor all diesen Jahren geschlossen hatte. Dort fühlte sie sich so gut an. Genau dort gehörte sie hin. Dort gab sie diesem schwachen geschundenen Ding den Lebensmut zurück, den es jetzt so dringend brauchte.

Denn es schlug ja. Es schlug weiter. Dieses störrische, zähe Teil. Es schlug, weil sie dafür gesorgt hatte, dass er nicht aufgab. Dass er kämpfte. Weil sie es ihm und seinem Herz befohlen hatte. Weil sie beides beschützt hatte.

Also schlug sein Herz weiter. Es schlug, als er endgültig das Bewusstsein verlor. Und es schlug noch, als die Sirenen in der Ferne aufheulten. Es schlug sich durch sein gesamtes Martyrium im Limbus. Und es schlug, als er wie von Alberich beschrieben, danach wieder die Augen öffnete, um Thiel und sie anzulächeln. Als er versuchte ihren Namen zu artikulieren und nichts als ein paar dünne Luftgeräusche herauskam.

Es schlug während des langen Krankenhausaufenthalts und der noch längeren Reha. Jeden Tag ein bisschen kräftiger. Es schlug besonders schnell, wann immer Thiel oder Alberich ihn besuchen kamen. Und es machte einen freudigen Salto, als er Monate später endlich wieder seine geliebte Rechtsmedizin in Augenschein nehmen konnte.

Es schlug. Es gab nicht auf. Gerade war es ganz ruhig und friedlich. Denn sie saßen ja alle zusammen. Thiel, Alberich und er. Tranken zur Feier eines völlig normalen Tages lauwarmes Leitungswasser zur bestellten Pizza von Pippo und sahen sich aus müden Augen an.

"Wie haben Sie das eigentlich gemacht, Boerne?" Fragte Thiel aus heiterem Himmel und zog die verwunderten Blicke der beiden Rechtsmediziner auf sich.

"Was?" Fragte er erschöpft zurück und griff sich an die pochende Schläfe. Alberich warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und schob ihm dann unauffällig eine Brausetablette aus ihrer Kitteltasche zu.

"Na, in dem Wagen. Die Gärtner meinte immer wieder, dass es ein Wunder war, dass Sie überhaupt überlebt haben. Also wie haben Sie es gemacht, wie haben Sie überlebt?" Bohrte sein Freund weiter nach. Thiels Blick war merkwürdig. Irgendwie fragend und gleichzeitig ehrfürchtig, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob er wirklich eine Antwort auf diese Frage wollte.

Er könnte jetzt Vieles sagen. Könnte von belanglosen Dingen wie Statistiken und Wahrscheinlichkeiten schwafeln. Könnte von wundersamen Dingen faseln, die eben passierten zwischen Himmel und Erde. Könnte sich brüsten damit, dass er eben im Gegensatz zu Thiel noch top in Form war. Aber wem nützte das was? Was brachte es ihnen, wenn er sie beide belog?

Gedankenverloren drehte er die Aspirinpackung in seiner Hand hin und her, die Alberich ihm zugesteckt hatte. Dann räusperte er sich einmal und blickte auf. Sah zuerst Thiel, dann die Frau neben ihm an.

„Ich hatte einen Schutzengel. Eigentlich sogar zwei.“ Dann stand er ohne ein weiters Wort auf, um sich ein frisches Wasserglas zu holen. Mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen ließ er seine beiden Schutzengel mit ihren komikhaft verdutzten Gesichtern zurück.
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