Cäsar
Kurzbeschreibung
Er verglich die Schnitttechnik mit der beim Seppuku, der rituellen japanischen Selbsttötung durch Öffnen des eigenen Unterleibs. Genau derselbe Schnitt, sagte er. Nur dass man es nicht bei sich selbst mache. Er erkläre seinen Studenten immer, man müsse sich den ballonförmigen Mutterleib als einen Kopf denken. Diesem Kopf gelte es, die Kehle durchzuschneiden …
KurzgeschichteHorror / P18 / Gen
27.02.2023
27.02.2023
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1.948
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Das Datum werde ich nie vergessen. Den Tag – oder vielmehr die Nacht. Es war der Geburtstag ihrer Mutter.
Wir waren auf dem Rückweg von ihren Eltern, spätabends, als bei knapp 100 km/h der Vorderreifen platzte, der Wagen auf der nassen Fahrbahn aus der Kurve geriet und ungebremst frontal gegen einen Baum prallte.
Lisa saß auf dem Beifahrersitz. Sie war schwanger. Im neunten Monat, zwei Wochen noch, höchstens. Nach der Geburt wollten wir heiraten. Das Kind war ein guter Vorwand.
Als ich wieder zu mir kam, stellte ich fest, dass ich eine Platzwunde an der Stirn und ein paar geprellte Rippen hatte und der Wagen einen Totalschaden. Lisas Beine waren im Fußbereich des Beifahrersitzes eingeklemmt. Wahrscheinlich gebrochen, sie blutete stark, war nur teilweise bei Bewusstsein. Mit bloßen Händen konnte ich sie unmöglich aus dem Wagen befreien. Und entsprechendes Werkzeug hatte ich keins.
Ihr Mobiltelefon hatte auf dem Armaturenbrett gelegen, war beim Aufprall quer durch das Wageninnere geschleudert worden und ließ sich nicht mehr einschalten. Meines konnte ich nicht finden. Wie sich später herausstellte, hatte ich es tagsüber im Haus ihrer Eltern vergessen.
Immerhin fand ich eine Taschenlampe, die zudem noch funktionierte. Ansonsten herrschte um uns herum beinah völlige Finsternis. Wie gesagt, es war spät am Abend, eigentlich schon Nacht. Auf den letzten zehn Kilometern Strecke war uns kein einziges anderes Fahrzeug begegnet.
Bis zur nächsten Ortschaft hätte ich mindestens eine halbe, wenn nicht eine volle Stunde laufen müssen. Bis Hilfe vor Ort gewesen wäre, würde Lisa aller Wahrscheinlichkeit nach verblutet sein.
Wir hielten einander in den Armen, so gut es eben ging, und weinten. Und dann sagte sie es.
Rette unser Kind …
Sie wusste, dass ich immer ein Messer dabei hatte. Ein Klappmesser mit beidseitiger Klinge. Aus reiner Gewohnheit. Wo ich aufgewachsen bin, hatten alle Messer.
Rette wenigstens unser Kind …
Ich meine – ernsthaft: Was hätten Sie getan?
Ich weinte, sie weinte, als ich den Stoff ihres Shirts aufschnitt, unter dem sich ihr praller Bauch wölbte.
Meine Tränen fielen auf die straff gespannte Haut, den hervorstehenden Bauchnabel.
Ich zögerte …
Tu´ es!
… und erfüllte ihr ihren letzten Wunsch. Ihren und …
Ein einziger, andeutungsweise sichelförmiger Schnitt, von Hüftknochen zu Hüftknochen.
Zumindest versuchte ich es.
Sie schrie nur kurz.
Ich musste mehrmals ansetzen, so sehr zitterten meine Hände.
Kann sein, dass auch ich schrie. Die Taschenlampe zwischen den Zähnen, während irgendwo in der Ferne ein Hund kläffte.
Lisa war tot. Als ich es aus ihr herauszog. Alles war voller Blut. Unmengen von Blut. Bäche von Blut.
Es war winzig. Winzig und blutig. Es schrie nicht. Tat gar nichts. Die Augen waren offen, aber sie bewegten sich nicht.
Ich rieb ihm mit meinem eigenen Shirt notdürftig das Gesicht ab. Dann sah ich den Schnitt.
Schräg übers Gesicht, dann weiter, quer durch den Hals.
Als ich Lisas Bauch aufgeschnitten hatte, musste ich wohl zu tief geschnitten haben.
Ich hielt das Baby noch im Arm, als mich plötzlich Scheinwerferlicht blendete.
Es war ein Mädchen.
Es hatte blaue Augen. Blau wie meine. Aber die haben angeblich alle Neugeborenen.
Noch bevor die Toten begraben waren, erhob die zuständige Staatsanwaltschaft – mit Lisas Eltern als Nebenkläger – Anklage gegen mich. Schwere Körperverletzung mit Todesfolge in zwei Fällen. Nach der Beweisaufnahme und der Vernehmung des einzigen Zeugen – des Rollerfahrers, der in jener Nacht den verunglückten Wagen entdeckt und Notarzt und Polizei verständigt hatte – sowie des beteiligten medizinischen Notfall-Personals, der am Unfallort anwesenden Polizeibeamten und des Pathologen machte ich meine Aussage vor Gericht. Im Saal war es danach totenstill, alle waren weiß wie Bettlaken. Manche weinten. Nicht nur Frauen. Letztendlich wurde die Anklage fallengelassen.
Allerdings hatte das Verfahren einige mediale Aufmerksamkeit erzeugt. Auch überregional. Ich erhielt Post von wildfremden Leuten aus aller Welt. Manche heuchelten Verständnis und Mitgefühl. Frauen jeden Alters boten mir Liebe und Sex, Pfaffen Erlösung, professionelle Nekromanten ihre professionellen Dienste an. Andere waren weniger freundlich. Vor allem letztere nahm ich zum Anlass, schlussendlich meinen Namen zu ändern und in eine andere Stadt zu ziehen.
Mir war nach dem Unfall psychologische Unterstützung angeboten worden, therapeutische Hilfe, auf die ich jedoch bereits nach einer Sitzung dankend verzichtete.
Ob ich Schuldgefühle hätte.
Gegenfrage: Wer nicht?
Alpträume?
So lange ich denken kann.
Suizidgedanken?
Wenn ihr wüsstet …
Der Neuanfang – neue Identität, neues Umfeld, neues Leben – machte auch eine berufliche Neuorientierung erforderlich. Ich schulte um zum Verwaltungsassistenten und bewarb mich erfolgreich um eine Stelle bei einer Ortskrankenkasse. Kein Job mit großartigem Verdienst oder nennenswerten Karrierechancen, aber bezüglich meiner Ansprüche, Bedürfnisse und gewisser Charaktereigenschaften meinerseits geradezu ideal.
Ich mag Ordnung und Struktur. Bin ich ein Perfektionist? Vielleicht, vielleicht in einer Hinsicht: Wenn ich eine Sache beginne, einmal begonnen habe, ernsthaft und mit Vorsatz, dann bringe ich sie auch erfolgreich zu Ende. Wenn mir etwas im ersten Anlauf misslingt, lasse ich mich davon nicht etwa entmutigen, sondern versuche im Gegenteil, aus dem Scheitern zu lernen, Fehler zu identifizieren und zu korrigieren, mache beharrlich weiter, setze aufs Neue an, so lange, bis das anvisierte Ziel erreicht ist. Wenn es sein muss wieder und wieder, so oft es eben nötig ist.
Eine nicht in jeder Beziehung vorteilhafte oder sympathische Eigenschaft, ich weiß. Mein Fehler. Nobody´s perfect, ha ha.
Im Rahmen meiner Verwaltungstätigkeit für die Krankenkasse wurde mir erst bewusst, wie viele Menschen gesundheitliche Probleme haben. Physische wie psychische. Schwerwiegende gesundheitliche Probleme. Welche Unsummen an Geld all das kostet. All das Kranke, Verletzte, Versehrte. All das Leid, die Erniedrigung, die Handicaps und der Schmerz.
Wenn mir deswegen gelegentlich die Tränen kamen, ging ich aufs Klo, schloss mich in eine der Kabinen ein und weinte.
Ich weine absolut lautlos. Ich kann mich dabei sogar vollkommen normal unterhalten. Trockenen Auges. Es braucht nicht einmal Tränen.
Ordnung und Struktur. Tröstliche Gedanken.
Rein verwaltungstechnisch betrachtet ist eine Schwangerschaft nichts anderes als eine Form von akuter Erkrankung. Zumindest wird sie im Verfahrensablauf wie eine solche kategorisiert und abgerechnet. Es gibt ein Standardprogramm mit Mindestleistungen für Pflichtversicherte. Alles, was darüber hinausgeht, ist gesondert zu erfassen und abzurechnen.
Diese Daten – beziehungsweise der unbegrenzte Zugriff auf selbige – waren der eigentliche Grund, weshalb ich genau diesen Job angenommen hatte: diagnostizierte Schwangerschaften, deren Verläufe, etwaige Komplikationen, Status der werdenden Mutter, Status des auszutragenden Fötus´ inklusive des voraussichtlichen Entbindungstermins.
Gewünschte Art der Entbindung.
Privatadresse der werdenden Mutter.
Betreffs des vorletzten Punkts stellte ich mit einiger Verwunderung fest, dass mittlerweile beinah jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt kommt. In den weit meisten Fällen auf ausdrücklichen Wunsch der Mutter. Und häufig genug einzig und allein auf Grund dieses Wunsches.
Als sei das Herausschneiden eines Fötus´ aus dem Mutterleib eine Bagatelle, eine bloße Fingerübung, eine Selbstverständlichkeit.
Eine Fingerübung, bei der ich allerdings auf ganzer Linie versagt hatte, damals, in jener Nacht im Wrack des Wagens.
Auf einer betrieblichen Fortbildung erklärte mir einmal ein reichlich angetrunkener Chirurg, für einen Kaiserschnitt bräuchte es nur einen einzigen Schnitt. Eine einzige gekonnte Handbewegung, locker aus der Schulter heraus. Er führte es mir sogar vor, gestisch, mit einer Plastikgabel in der Hand. Er verglich die Schnitttechnik mit der beim Seppuku, der rituellen japanischen Selbsttötung durch Öffnen des eigenen Unterleibs. Genau derselbe Schnitt, sagte er. Nur dass man es nicht bei sich selbst mache. Er erkläre seinen Studenten immer, man müsse sich den ballonförmigen Mutterleib als einen Kopf denken. Diesem Kopf nun gelte es, die Kehle durchzuschneiden.
Ich sagte nichts.
Wie gesagt: Der Mann war Chirurg und betrunken.
Es ist immer wieder erstaunlich, erstaunlich und erschreckend, aus wie wenigen, auf den ersten Blick völlig unverfänglichen Daten, die man bezüglich einer bestimmten Person zur Verfügung hat, sich wie viele Schlüsse auf deren Leben und Charakter ableiten lassen. Deswegen bezahle ich im Supermarkt, im Restaurant, an der Tankstelle, wo immer möglich, ausschließlich mit Bargeld. Jede Kartenzahlung legt eine Spur. Wer jede Ausgabe per Karte begleicht, dessen Kontoauszüge sind informativer und aufschlussreicher als ein persönliches Tagebuch. Und vertrauenswürdiger allemal. Ich habe schon aus nachlässig weggeworfenen Kontoauszügen aus dem Mülleimer neben dem Kontoauszugsdrucker im Foyer meiner Bankfiliale gemäß den Standardberechnungskalkülen unserer Versicherung das ungefähre Alter und die approximative Lebenserwartung der Kontoinhaber berechnet. Einige der Betreffenden fand ich dann tatsächlich in der Mitglieder-, sprich: Kundenkartei meiner Arbeitgeberin. Zumindest was das jeweilige Alter betraf, lag ich in den meisten Fällen goldrichtig.
Die Daten, auf die ich im Rahmen meiner Arbeit zugreifen konnte, erzählten mir alles, was ich für meine Zwecke wissen musste. Kein Wunder, dass manche Stellen und Privatunternehmen für derlei Informationen eine Menge Geld springen zu lassen bereit sind.
Seit mir klar und deutlich bewusst war, was ich zu tun hatte, träumte ich kaum noch von Lisa. Ihren Schreien. Dem winzigen reglosen blutigen Ding in meiner Armbeuge.
Seit mir klar und deutlich bewusst war, was ich tun würde, träumte ich von dem, was ich tun würde. Solange, bis es perfekt war.
Einmal kam ich an einer gynäkologischen Praxis vorbei, von der allgemein bekannt war, dass dort Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen wurden. Auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gebäude standen knapp zwei Dutzend Leute mit selbstgemalten Schildern in den Händen herum, auf denen Sachen standen wie „Abtreibung ist Mord!“
Ich fragte den Mann, der das Schild hielt, ob es nicht viel schlimmere Dinge gäbe, die man Kindern antun könne. Unsagbar schlimmere Dinge.
Ob er für die Todesstrafe sei. Oder ob man sie nicht doch besser abschaffen sollte.
Er sah mich an wie ein Gespenst.
Ich fragte, ob er schon einmal live bei einer Geburt dabei gewesen sei. Einem Kaiserschnitt. Ohne Anästhesie, die Mutter bei vollem Bewusstsein. Einer Totgeburt, während die Mutter noch mit offenem Bauch verblutet.
Ich fragte ihn, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass er das Produkt einer Vergewaltigung wäre. Ob er dann nicht selbst wünschen würde, abgetrieben worden zu sein. Ob er wüsste, dass er es nicht ist.
Ich fragte ihn, ob ein Kaiserschnitt nicht auch eine Form von Abtreibung sei. Eine Lebend-Abtreibung, sozusagen. Ob nicht überhaupt jede Geburt letztendlich eine Abtreibung sei.
Als er anfing, obszön zu werden, und seine Brüder und Schwestern auf uns aufmerksam wurden, ließ ich ihn stehen.
Der Kaiserschnitt, lateinisch Sectio caesarea (von lateinisch sectio ,Schnitt' und caesarea ,kaiserlich', eigentlich von caedere ,hauen, heraushauen, ausschneiden, aufschneiden'; caedere ventrem ,den Bauch aufschneiden', bedeutet „den Kaiserschnitt machen“), oder die Schnittentbindung ist die mit einem Einschnitt in die Bauchdecke und die Gebärmutter der Mutter durchgeführte chirurgische Entbindung von Föten …
Alles, was man an theoretischem Wissen braucht, findet man im Grunde in der Wikipedia.
Ein qualitativ hochwertiges chirurgisches Skalpell bekommt man online schon zum Preis einer Schachtel Zigaretten. Ein Dutzend mit Mengenrabatt.
Der Metalltisch ist aus dem Baumarkt, die Eimer, die Handtücher und Riemen ebenfalls.
Der mit Abstand teuerste Posten war die Video-Ausrüstung.
Bei den Ersten – jede Krankenkasse verfügt heute über Ausweisfotos ihrer Mitglieder, schon allein zwecks Erstellung der elektronischen „Gesundheitskarte“ - bei den Ersten achtete ich noch darauf, dass sie Lisa nicht allzu ähnlich sahen. Später dann achtete ich darauf, dass sie Lisa im Gegenteil möglichst ähnlich sahen.
Keine Anästhetika. Stattdessen feste Lederriemen und, wenn es überhandnimmt, einen Knebel.
Nur so ist eine unmittelbare Reaktion der Probandin auf jeden einzelnen Schritt des Procederes gewährleistet.
Nicht zuletzt wegen des Knebels ist sicherzustellen, dass der Magen der Probandin bei der Operation vollkommen leer ist.
Mittlerweile ist mir egal, wie sie aussehen. Wenn ich ihnen das Kind, das ich zur Welt gebracht habe, in die Arme lege, und sie wenigstens noch so lange leben, dass sie verstehen, dass es lebt, gesund ist und unversehrt und lebt … dass die Operation erfolgreich war … Das ist der Augenblick, der zählt. Der ewig währt. Wenn wir gemeinsam weinen. Tränen des Glücks. Perfekt.
Und ja: Alle Neugeborenen habe blaue Augen. Ausnahmslos. Blau wie der Himmel.
Wenn sie dann tot sind, tu´ ich es wieder rein, nähe sie notdürftig wieder zu … Aber das ist schon wieder vollkommen belanglos. Ordnung und Struktur, nichts weiter. Wie das Abspülen nach dem Essen. Oder die Heimfahrt nach einem Verwandtschaftsbesuch.
Wir waren auf dem Rückweg von ihren Eltern, spätabends, als bei knapp 100 km/h der Vorderreifen platzte, der Wagen auf der nassen Fahrbahn aus der Kurve geriet und ungebremst frontal gegen einen Baum prallte.
Lisa saß auf dem Beifahrersitz. Sie war schwanger. Im neunten Monat, zwei Wochen noch, höchstens. Nach der Geburt wollten wir heiraten. Das Kind war ein guter Vorwand.
Als ich wieder zu mir kam, stellte ich fest, dass ich eine Platzwunde an der Stirn und ein paar geprellte Rippen hatte und der Wagen einen Totalschaden. Lisas Beine waren im Fußbereich des Beifahrersitzes eingeklemmt. Wahrscheinlich gebrochen, sie blutete stark, war nur teilweise bei Bewusstsein. Mit bloßen Händen konnte ich sie unmöglich aus dem Wagen befreien. Und entsprechendes Werkzeug hatte ich keins.
Ihr Mobiltelefon hatte auf dem Armaturenbrett gelegen, war beim Aufprall quer durch das Wageninnere geschleudert worden und ließ sich nicht mehr einschalten. Meines konnte ich nicht finden. Wie sich später herausstellte, hatte ich es tagsüber im Haus ihrer Eltern vergessen.
Immerhin fand ich eine Taschenlampe, die zudem noch funktionierte. Ansonsten herrschte um uns herum beinah völlige Finsternis. Wie gesagt, es war spät am Abend, eigentlich schon Nacht. Auf den letzten zehn Kilometern Strecke war uns kein einziges anderes Fahrzeug begegnet.
Bis zur nächsten Ortschaft hätte ich mindestens eine halbe, wenn nicht eine volle Stunde laufen müssen. Bis Hilfe vor Ort gewesen wäre, würde Lisa aller Wahrscheinlichkeit nach verblutet sein.
Wir hielten einander in den Armen, so gut es eben ging, und weinten. Und dann sagte sie es.
Rette unser Kind …
Sie wusste, dass ich immer ein Messer dabei hatte. Ein Klappmesser mit beidseitiger Klinge. Aus reiner Gewohnheit. Wo ich aufgewachsen bin, hatten alle Messer.
Rette wenigstens unser Kind …
Ich meine – ernsthaft: Was hätten Sie getan?
Ich weinte, sie weinte, als ich den Stoff ihres Shirts aufschnitt, unter dem sich ihr praller Bauch wölbte.
Meine Tränen fielen auf die straff gespannte Haut, den hervorstehenden Bauchnabel.
Ich zögerte …
Tu´ es!
… und erfüllte ihr ihren letzten Wunsch. Ihren und …
Ein einziger, andeutungsweise sichelförmiger Schnitt, von Hüftknochen zu Hüftknochen.
Zumindest versuchte ich es.
Sie schrie nur kurz.
Ich musste mehrmals ansetzen, so sehr zitterten meine Hände.
Kann sein, dass auch ich schrie. Die Taschenlampe zwischen den Zähnen, während irgendwo in der Ferne ein Hund kläffte.
Lisa war tot. Als ich es aus ihr herauszog. Alles war voller Blut. Unmengen von Blut. Bäche von Blut.
Es war winzig. Winzig und blutig. Es schrie nicht. Tat gar nichts. Die Augen waren offen, aber sie bewegten sich nicht.
Ich rieb ihm mit meinem eigenen Shirt notdürftig das Gesicht ab. Dann sah ich den Schnitt.
Schräg übers Gesicht, dann weiter, quer durch den Hals.
Als ich Lisas Bauch aufgeschnitten hatte, musste ich wohl zu tief geschnitten haben.
Ich hielt das Baby noch im Arm, als mich plötzlich Scheinwerferlicht blendete.
Es war ein Mädchen.
Es hatte blaue Augen. Blau wie meine. Aber die haben angeblich alle Neugeborenen.
Noch bevor die Toten begraben waren, erhob die zuständige Staatsanwaltschaft – mit Lisas Eltern als Nebenkläger – Anklage gegen mich. Schwere Körperverletzung mit Todesfolge in zwei Fällen. Nach der Beweisaufnahme und der Vernehmung des einzigen Zeugen – des Rollerfahrers, der in jener Nacht den verunglückten Wagen entdeckt und Notarzt und Polizei verständigt hatte – sowie des beteiligten medizinischen Notfall-Personals, der am Unfallort anwesenden Polizeibeamten und des Pathologen machte ich meine Aussage vor Gericht. Im Saal war es danach totenstill, alle waren weiß wie Bettlaken. Manche weinten. Nicht nur Frauen. Letztendlich wurde die Anklage fallengelassen.
Allerdings hatte das Verfahren einige mediale Aufmerksamkeit erzeugt. Auch überregional. Ich erhielt Post von wildfremden Leuten aus aller Welt. Manche heuchelten Verständnis und Mitgefühl. Frauen jeden Alters boten mir Liebe und Sex, Pfaffen Erlösung, professionelle Nekromanten ihre professionellen Dienste an. Andere waren weniger freundlich. Vor allem letztere nahm ich zum Anlass, schlussendlich meinen Namen zu ändern und in eine andere Stadt zu ziehen.
Mir war nach dem Unfall psychologische Unterstützung angeboten worden, therapeutische Hilfe, auf die ich jedoch bereits nach einer Sitzung dankend verzichtete.
Ob ich Schuldgefühle hätte.
Gegenfrage: Wer nicht?
Alpträume?
So lange ich denken kann.
Suizidgedanken?
Wenn ihr wüsstet …
Der Neuanfang – neue Identität, neues Umfeld, neues Leben – machte auch eine berufliche Neuorientierung erforderlich. Ich schulte um zum Verwaltungsassistenten und bewarb mich erfolgreich um eine Stelle bei einer Ortskrankenkasse. Kein Job mit großartigem Verdienst oder nennenswerten Karrierechancen, aber bezüglich meiner Ansprüche, Bedürfnisse und gewisser Charaktereigenschaften meinerseits geradezu ideal.
Ich mag Ordnung und Struktur. Bin ich ein Perfektionist? Vielleicht, vielleicht in einer Hinsicht: Wenn ich eine Sache beginne, einmal begonnen habe, ernsthaft und mit Vorsatz, dann bringe ich sie auch erfolgreich zu Ende. Wenn mir etwas im ersten Anlauf misslingt, lasse ich mich davon nicht etwa entmutigen, sondern versuche im Gegenteil, aus dem Scheitern zu lernen, Fehler zu identifizieren und zu korrigieren, mache beharrlich weiter, setze aufs Neue an, so lange, bis das anvisierte Ziel erreicht ist. Wenn es sein muss wieder und wieder, so oft es eben nötig ist.
Eine nicht in jeder Beziehung vorteilhafte oder sympathische Eigenschaft, ich weiß. Mein Fehler. Nobody´s perfect, ha ha.
Im Rahmen meiner Verwaltungstätigkeit für die Krankenkasse wurde mir erst bewusst, wie viele Menschen gesundheitliche Probleme haben. Physische wie psychische. Schwerwiegende gesundheitliche Probleme. Welche Unsummen an Geld all das kostet. All das Kranke, Verletzte, Versehrte. All das Leid, die Erniedrigung, die Handicaps und der Schmerz.
Wenn mir deswegen gelegentlich die Tränen kamen, ging ich aufs Klo, schloss mich in eine der Kabinen ein und weinte.
Ich weine absolut lautlos. Ich kann mich dabei sogar vollkommen normal unterhalten. Trockenen Auges. Es braucht nicht einmal Tränen.
Ordnung und Struktur. Tröstliche Gedanken.
Rein verwaltungstechnisch betrachtet ist eine Schwangerschaft nichts anderes als eine Form von akuter Erkrankung. Zumindest wird sie im Verfahrensablauf wie eine solche kategorisiert und abgerechnet. Es gibt ein Standardprogramm mit Mindestleistungen für Pflichtversicherte. Alles, was darüber hinausgeht, ist gesondert zu erfassen und abzurechnen.
Diese Daten – beziehungsweise der unbegrenzte Zugriff auf selbige – waren der eigentliche Grund, weshalb ich genau diesen Job angenommen hatte: diagnostizierte Schwangerschaften, deren Verläufe, etwaige Komplikationen, Status der werdenden Mutter, Status des auszutragenden Fötus´ inklusive des voraussichtlichen Entbindungstermins.
Gewünschte Art der Entbindung.
Privatadresse der werdenden Mutter.
Betreffs des vorletzten Punkts stellte ich mit einiger Verwunderung fest, dass mittlerweile beinah jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt kommt. In den weit meisten Fällen auf ausdrücklichen Wunsch der Mutter. Und häufig genug einzig und allein auf Grund dieses Wunsches.
Als sei das Herausschneiden eines Fötus´ aus dem Mutterleib eine Bagatelle, eine bloße Fingerübung, eine Selbstverständlichkeit.
Eine Fingerübung, bei der ich allerdings auf ganzer Linie versagt hatte, damals, in jener Nacht im Wrack des Wagens.
Auf einer betrieblichen Fortbildung erklärte mir einmal ein reichlich angetrunkener Chirurg, für einen Kaiserschnitt bräuchte es nur einen einzigen Schnitt. Eine einzige gekonnte Handbewegung, locker aus der Schulter heraus. Er führte es mir sogar vor, gestisch, mit einer Plastikgabel in der Hand. Er verglich die Schnitttechnik mit der beim Seppuku, der rituellen japanischen Selbsttötung durch Öffnen des eigenen Unterleibs. Genau derselbe Schnitt, sagte er. Nur dass man es nicht bei sich selbst mache. Er erkläre seinen Studenten immer, man müsse sich den ballonförmigen Mutterleib als einen Kopf denken. Diesem Kopf nun gelte es, die Kehle durchzuschneiden.
Ich sagte nichts.
Wie gesagt: Der Mann war Chirurg und betrunken.
Es ist immer wieder erstaunlich, erstaunlich und erschreckend, aus wie wenigen, auf den ersten Blick völlig unverfänglichen Daten, die man bezüglich einer bestimmten Person zur Verfügung hat, sich wie viele Schlüsse auf deren Leben und Charakter ableiten lassen. Deswegen bezahle ich im Supermarkt, im Restaurant, an der Tankstelle, wo immer möglich, ausschließlich mit Bargeld. Jede Kartenzahlung legt eine Spur. Wer jede Ausgabe per Karte begleicht, dessen Kontoauszüge sind informativer und aufschlussreicher als ein persönliches Tagebuch. Und vertrauenswürdiger allemal. Ich habe schon aus nachlässig weggeworfenen Kontoauszügen aus dem Mülleimer neben dem Kontoauszugsdrucker im Foyer meiner Bankfiliale gemäß den Standardberechnungskalkülen unserer Versicherung das ungefähre Alter und die approximative Lebenserwartung der Kontoinhaber berechnet. Einige der Betreffenden fand ich dann tatsächlich in der Mitglieder-, sprich: Kundenkartei meiner Arbeitgeberin. Zumindest was das jeweilige Alter betraf, lag ich in den meisten Fällen goldrichtig.
Die Daten, auf die ich im Rahmen meiner Arbeit zugreifen konnte, erzählten mir alles, was ich für meine Zwecke wissen musste. Kein Wunder, dass manche Stellen und Privatunternehmen für derlei Informationen eine Menge Geld springen zu lassen bereit sind.
Seit mir klar und deutlich bewusst war, was ich zu tun hatte, träumte ich kaum noch von Lisa. Ihren Schreien. Dem winzigen reglosen blutigen Ding in meiner Armbeuge.
Seit mir klar und deutlich bewusst war, was ich tun würde, träumte ich von dem, was ich tun würde. Solange, bis es perfekt war.
Einmal kam ich an einer gynäkologischen Praxis vorbei, von der allgemein bekannt war, dass dort Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen wurden. Auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gebäude standen knapp zwei Dutzend Leute mit selbstgemalten Schildern in den Händen herum, auf denen Sachen standen wie „Abtreibung ist Mord!“
Ich fragte den Mann, der das Schild hielt, ob es nicht viel schlimmere Dinge gäbe, die man Kindern antun könne. Unsagbar schlimmere Dinge.
Ob er für die Todesstrafe sei. Oder ob man sie nicht doch besser abschaffen sollte.
Er sah mich an wie ein Gespenst.
Ich fragte, ob er schon einmal live bei einer Geburt dabei gewesen sei. Einem Kaiserschnitt. Ohne Anästhesie, die Mutter bei vollem Bewusstsein. Einer Totgeburt, während die Mutter noch mit offenem Bauch verblutet.
Ich fragte ihn, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass er das Produkt einer Vergewaltigung wäre. Ob er dann nicht selbst wünschen würde, abgetrieben worden zu sein. Ob er wüsste, dass er es nicht ist.
Ich fragte ihn, ob ein Kaiserschnitt nicht auch eine Form von Abtreibung sei. Eine Lebend-Abtreibung, sozusagen. Ob nicht überhaupt jede Geburt letztendlich eine Abtreibung sei.
Als er anfing, obszön zu werden, und seine Brüder und Schwestern auf uns aufmerksam wurden, ließ ich ihn stehen.
Der Kaiserschnitt, lateinisch Sectio caesarea (von lateinisch sectio ,Schnitt' und caesarea ,kaiserlich', eigentlich von caedere ,hauen, heraushauen, ausschneiden, aufschneiden'; caedere ventrem ,den Bauch aufschneiden', bedeutet „den Kaiserschnitt machen“), oder die Schnittentbindung ist die mit einem Einschnitt in die Bauchdecke und die Gebärmutter der Mutter durchgeführte chirurgische Entbindung von Föten …
Alles, was man an theoretischem Wissen braucht, findet man im Grunde in der Wikipedia.
Ein qualitativ hochwertiges chirurgisches Skalpell bekommt man online schon zum Preis einer Schachtel Zigaretten. Ein Dutzend mit Mengenrabatt.
Der Metalltisch ist aus dem Baumarkt, die Eimer, die Handtücher und Riemen ebenfalls.
Der mit Abstand teuerste Posten war die Video-Ausrüstung.
Bei den Ersten – jede Krankenkasse verfügt heute über Ausweisfotos ihrer Mitglieder, schon allein zwecks Erstellung der elektronischen „Gesundheitskarte“ - bei den Ersten achtete ich noch darauf, dass sie Lisa nicht allzu ähnlich sahen. Später dann achtete ich darauf, dass sie Lisa im Gegenteil möglichst ähnlich sahen.
Keine Anästhetika. Stattdessen feste Lederriemen und, wenn es überhandnimmt, einen Knebel.
Nur so ist eine unmittelbare Reaktion der Probandin auf jeden einzelnen Schritt des Procederes gewährleistet.
Nicht zuletzt wegen des Knebels ist sicherzustellen, dass der Magen der Probandin bei der Operation vollkommen leer ist.
Mittlerweile ist mir egal, wie sie aussehen. Wenn ich ihnen das Kind, das ich zur Welt gebracht habe, in die Arme lege, und sie wenigstens noch so lange leben, dass sie verstehen, dass es lebt, gesund ist und unversehrt und lebt … dass die Operation erfolgreich war … Das ist der Augenblick, der zählt. Der ewig währt. Wenn wir gemeinsam weinen. Tränen des Glücks. Perfekt.
Und ja: Alle Neugeborenen habe blaue Augen. Ausnahmslos. Blau wie der Himmel.
Wenn sie dann tot sind, tu´ ich es wieder rein, nähe sie notdürftig wieder zu … Aber das ist schon wieder vollkommen belanglos. Ordnung und Struktur, nichts weiter. Wie das Abspülen nach dem Essen. Oder die Heimfahrt nach einem Verwandtschaftsbesuch.
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