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Eine Pizza für Zwei

von S-tothe-G
Kurzbeschreibung
OneshotRomance / P12 / FemSlash
12.02.2023
12.02.2023
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„Und noch einmal Pizza Vegetaria, diesmal zur Adresse … Ah. Das ist dieses große Haus im viktorianischen Stil, zwei Straßen weiter an der Ecke. Nicht zu übersehen.“
Es war fast schon 23 Uhr und die letzten Pizzen gingen über den Tresen. Ich hörte mit einem halben Ohr zu, wie mein Chef die nächste Lieferung anwies, während ich die Spülmaschine einräumte. In dem Moment, als ich das Gerät schloss und mich umdrehte, erschien Jakob, einer meiner Kollegen, vor mir und erschreckte mich fast zu Tode.
„Mensch, Jakob!“, schimpfte ich. „Schleich dich nicht so an!“
Ich stutzte, als ich seinen säuerlichen Gesichtsausdruck sah. Gerade wollte ich ansetzen zu fragen, ob alles in Ordnung sei, da drückte er mir schon wortlos einen Pizzakarton in die Hand und verschwand. Auf dem Karton lag ein Zettel mit der Adresse, über die ich meinen Chef hatte sprechen hören. Leicht irritiert trat ich durch die Tür hinter der Theke in den Hauptraum der kleinen Pizzeria, in der ich als Kellnerin und Putzkraft arbeitete. Außer mir war nur noch der Inhaber des Ladens da und stellte gerade die Stühle hoch. Fragend hob ich die Pizzaschachtel in die Luft, wobei der Zettel mit der Adresse zu Boden segelte. Mein Chef unterbrach seine Arbeit und seufzte resigniert.
„Das hätte ich kommen sehen müssen“, erklärte er trocken und kam zu mir herüber. „Niemand will mehr Pizzen an diese Adresse liefern. Ich glaube, du bist die Einzige, die dort hin noch nichts ausgeliefert hat.“
„Ich bin ja auch als Servicekraft und nicht als Lieferantin eingestellt“, erwiderte ich mit einem Augenzwinkern. „Aber warum drücken sich alle davor, dort eine Pizza abzuliefern?“
Ich kannte das dreistöckige Haus an besagter Kreuzung, mit den vielen schmalen Fenstern, den Erkern und der kleinen Veranda. Manchmal lief ich dort vorbei zur nächsten Bushaltestelle, wenn ich meinen eigentlichen Bus verpasst hatte. Tagsüber wirkte das Gebäude wie ausgestorben, aber gegen Abend und vor allem in der Nacht schienen die Bewohner aktiv zu werden und ab und an waren seltsame Geräusche, wie das Brüllen irgendeines Tieres oder auch etwas, was fast schon wie Gewehrschüsse klang, zu hören. Vermutlich ein zu laut eingestellter Fernseher. Und außerdem, wie schlimm konnte es schon sein, wenn ich bedachte, was manche der Kollegen für Schauermärchen erzählten, wenn sie von einer Pizzalieferung zurückkamen?
„Also, wenn du mich fragst, und das sehen die anderen auch so, sind die alle verrückt, die dort wohnen. Einfach nur verrückt!“, flüsterte mein Chef mir zu, als befürchtete er, besagte Hausbewohner könnten ihn hören. Unwillkürlich musste ich schmunzeln, was auch meinem Chef ein Lächeln entlockte.
„Komm, Lena“, sagte er, half mir in meinen Mantel und schob mich in Richtung der Tür. „Tu mir den Gefallen und liefere die Pizza dort ab. Es wurde auch schon bezahlt. Und dann mach Feierabend, es ist schon spät. Komm gut nach Hause und pass auf dich auf!“
Ehe ich etwas erwidern konnte, stand ich schon vor der Pizzeria und mein Chef hatte die Tür hinter mir abgeschlossen.
„Dann gehe ich jetzt wohl eine Pizza ausliefern“, murmelte ich mit einem Schulterzucken zur mir selbst und machte mich auf den Weg die Straße entlang.

„Arbeitslager der Zeichnerinnen von FanFiktion.de“, las ich auf dem Schild über der Klingel. Jemand hatte das Wort `Arbeitslager´ durchgestrichen und `Zuhause´ darübergeschrieben. „Bitte nicht füttern!“, stand unleserlich darunter. Ich bekam ein vages Gefühl dafür, warum niemand mehr Pizzen hier her ausliefern wollte. Nachdem auf mehrfaches Klingeln niemand reagierte, obwohl definitiv jemand da war, drückte ich auf gut Glück gegen die Tür. Sie war offen, schwang lautlos nach innen auf und gab den Blick auf einen langen, hell erleuchteten Hausflur frei.
„Hallo?“, rief ich und machte einige Schritte in das Innere des Hauses.
„Oh, hey“, begrüßte mich eine zierliche Frau, die gerade mit einem Topf frisch gekochter Nudeln in den Händen aus einem der Zimmer vor mir kam.
„Äh, ich habe hier eine Pizzalieferung“, stammelte ich absolut aus der Fassung gebracht.
„Also meine Pizza ist das nicht“, erwiderte mein Gegenüber. „Ich bin allerdings auf der Suche nach dieser einen bestimmten Nudel. Du weißt schon.“
Und damit war sie die Treppe nach oben verschwunden. Noch während ich überlegte, ob ich ihr in das nächste Stockwerk folgen oder die Pizza einfach im Flur liegen lassen sollte, kam mir aus dem Keller die nächste Bewohnerin des Hauses entgegen. Auf ihrer Schulter balancierte eine Katze, die mich wachsam musterte.
„Ah! Die bestellte Pizza! Die ist für Cylis“, erklärte sie mir, zeigte die Treppe hinunter ins Dunkel und verschwand in einem der angrenzenden Räume.
Es vergingen noch ungefähr zwei Minuten, in denen ich einfach nur dastand und in die Schwärze am Ende der Stufen blickte. Mein Gehirn versuchte währenddessen, die Situation zu verarbeiten. Schließlich rang ich mich durch und stieg hinab in den Bauch des Hauses. Unten erwartete mich ein in schummriges Licht getauchter, weiträumiger Gewölbekeller, der seiner Größe nach zu urteilen der kompletten Grundfläche des Hauses entsprach. In einer Ecke des Raumes konnte ich ein Bett sowie einen Schrank und einen alten, schweren, verschnörkelten Eichenholzschreibtisch erkennen, der mit Bücher und allem Anschein nach Pergamentblättern übersäht war. Daneben stand ein weiteres Regal voller undefinierbarer Gegenstände und ein Kessel, in dem es leise vor sich hin blubberte. Auf der anderen Seite des Kellers stand ebenfalls ein Bett, doch sah es um dieses herum deutlich unordentlicher aus. Überall lagen Kleidungsstücke, Bücher, Stifte und Ladekabel. Auf dem Bett selbst saß eine hübsche junge Frau, deren rotes Haar ihr in Wellen über die Schultern fiel. Im Licht einer Leselampe zeichnete sie wild in einem Skizzenbuch herum und bemerkte mich nicht einmal, als ich nur noch einen Meter von ihr entfernt war. Ich räusperte mich, was dazu führte, dass sie hochfuhr und mich mit ihren grauen Augen überrascht anblinzelte. Dann entdeckte sie den Pizzakarton und begann zu strahlen.
„Meine Pizza!“ Achtlos warf Cylis Block und Stift zur Seite, nahm mir die Lieferung aus der Hand und klopfte mit der Handfläche auf die Decke neben sich.
Seit ich das Haus betreten hatte, fühlte ich mich, als stünde ich leicht neben mir. Daher war es auch kein Wunder, dass ich, ohne weiter nachzudenken, der Aufforderung nachkam. Ich setze mich auf das Bett und sah Cylis dabei zu, wie ein Stück Pizza nach dem anderen in ihrem Mund verschwand. Sie hielt lediglich kurz inne, um mir kauend den Karton hinzuhalten mit der stummen Frage, ob ich auch etwas wollte. Ich schüttelte den Kopf und kurz darauf war die komplette Pizza vertilgt.
„Das war sehr lecker!“, seufzte sie schließlich, ließ den Karton auf den Boden und sich selbst rückwärts auf das Bett fallen. „Ich bin übrigens Cylis Tristik.“
Cylis hatte sich wieder aufgesetzt und reichte mir die Hand.
„Lena“, murmelte ich und erwiderte die Begrüßung. Ihre Hand war erstaunlich zierlich und die Haut war weich und kühl.
„Es freut mich, dass die Pizza gut war. Ich sollte dann wieder gehen…“, setzte ich an und war im Begriff aufzustehen, doch Cylis zog mich am Arm wieder auf das Bett.
„Ach, bleib doch noch ein bisschen. Die anderen haben so selten Zeit, sich mit mir zu unterhalten. Und Besuch bekommen wir so gut wie nie! Sag, kennst du Percy Jackson?“

So kam es, dass ich erst zwei Stunden später äußerst konfus das Haus der Zeichnerinnen von FanFiktion.de verließ. Auf der Straße atmete ich die kühle Nachtluft ein und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es schien mir als hätte Cylis mich ins Herz geschlossen, spätestens seitdem ich ihr erklärt hatte, dass ich Percy Jackson kannte und die Bücher sogar sehr gut fand. Die Filme hingegen waren in meinen Augen eher mäßig. Es folgte eine angeregte Diskussion über die Schwächen des Filmes und die besten Stellen der Bücher. Als ich schließlich erklärte, dass ich gehen müsse, war die junge Frau sichtlich enttäuscht. Sie tat mir fast leid. Auch ich hatte die Unterhaltung mit ihr sehr genossen. Ich blickte noch ein letztes Mal zu dem Haus zurück, wobei ich meinte, eine weibliche Silhouette mit einem Kochtopf in der Hand an einem der Fenster im ersten Stock zu erkennen. Unwillkürlich musste ich lächeln, schüttelte den Kopf und machte mich auf den Heimweg.

Zwei Tage später kam die nächste Pizzabestellung zum Haus der Zeichnerinnen und wieder drückten sich meine Kollegen davor, die Pizza auszuliefern.
„Dich schien es ja nicht gestört haben“, meinte mein Chef und nominierte erneut mich dafür.
Eigentlich war es mitten am Tag und ich hätte Gäste bedienen müssen, aber es war erstaunlich wenig los und eine Anweisung war nun mal eine Anweisung. Ich tauschte meine Arbeitsschürze gegen meine Jacke und schlenderte mit dem Pizzakarton in der Hand die Straße entlang. Wie schon zwei Tage zuvor war die Tür offen und da diesmal auf der Bestellung vermerkt war, dass Cylis die Pizza bestellt hatte, machte ich mich direkt auf den Weg in den Keller. Im Haus war es überraschend dunkel und still und dieses Mal begegnete mir auch keine der anderen Bewohnerinnen. Als ich mich dem Ende der Treppe näherte, hörte ich leises Murmeln aus dem Gewölbe, konnte jedoch niemanden erkennen. In dem Kessel blubberte es wie auch schon das letzte Mal, aber ansonsten schien der Keller verlassen. Dann entdeckte ich Cylis. Sie saß in einer hinteren dunklen Ecke des Kellers und sprach mit jemandem oder etwas. Erst als ich näherkam und meine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich, dass Cylis mit einer Sprühflasche in der Hand vor einem riesigen, dreckig weißen Fleck Schimmel saß. Das war mit Abstand der beeindruckendste Schimmel, den ich je gesehen hatte. Nicht zu vergleichen mit den schwarzen Flecken, die sich in meinem Badezimmer breitmachten. Jedoch schon eher mit den Schulbroten, die ich als Kind über die Ferien in meinem Schulranzen vergessen hatte. Denn dieser Schimmel hier war fast schon … flauschig. Und daran schien Cylis nicht ganz unschuldig zu sein, denn immer wieder sprühte sie einen feinen Nebel aus der Flasche in ihrer Hand auf den Fleck, um ihn feucht zu halten und sprach leise auf ihn ein. Mittlerweile hatten meine Augen sich komplett an das schummrige Licht gewöhnt und ich konnte noch mehr Schimmel ausmachen. Zum Teil war er sogar mit Stickern verziert oder in die Form von Herzen, Sternen und Schneemännern gezüchtet. Ich fragte mich, wie Cylis das hinbekam. Ob sie den Schimmel in Plätzchenausstechformen wachsen ließ, die sie dann entfernte? So in meine Gedanken versunken bemerkte ich nicht, dass die Zeichnerin vor mir ihr Gespräch unterbrochen hatte und auf mich aufmerksam geworden war.
„Lena!“, freute sie sich, ließ die Sprühflasche an Ort und Stelle stehen und umarmte mich kurz. „Wie schön, dass du wieder die Pizza gebracht hast. Komm, setz dich.“
Sie steuerte auf das Bett zu und ich wollte gerade ansetzen, dass ich eigentlich wieder arbeiten müsste. Aber als sie sich zu mir umdrehte und ich ihren glücklichen Gesichtsausdruck sah, dachte ich mir, dass es auf eine Viertelstunde mehr oder weniger ja wohl kaum ankam. Während ich ihr wieder dabei zusah, wie sie zufrieden an ihrer Pizza kaute, fragte Cylis mich, welche Animes ich kannte.
„Hmm … Also mit Animes habe ich mich noch nie befasst. Sind das nicht Comics?“, fragte ich und runzelte die Stirn.
Fassungslos starrte Cylis mich an und vergaß dabei völlig das Stück Pizza in ihrer Hand, von dem sich der Belag langsam aber sicher in Richtung Boden verabschiedete.
„Nein! Einfach nur nein!“, rief sie entrüstet und legte die Pizza erst einmal wieder in den Karton. „Dass du Animes nicht kennst, ist das eine. Aber sie als Comics zu bezeichnen?! Erst einmal sind Animes Serien. Und die basieren meistens auf Mangas! Das ist was komplett anders als ein Comic!“
Einen Moment starrte ich sie sprachlos an, dann brach ich in schallendes Gelächter aus, was mir ein empörtes Schnauben einbrachte.
„Ich entschuldige mich vielmals für meine Unwissenheit“, bat ich Cylis um Verzeihung, nachdem ich mich beruhigt hatte und legte die Handflächen aneinander. „Erleuchte mich mit deiner Weisheit.“
Jetzt war es an Cylis zu lachen. Es war ein schönes, klares Lachen, das auch mich wieder ansteckte. Nachdem wir uns wieder beruhigt hatte, erklärte sie mir zuerst einmal den wichtigen Unterschied zwischen Comics, Mangas, Cartoons und Animes. Interessiert hörte ich zu, denn ich hatte tatsächlich nicht gewusst, dass es Animes und Mangas für so ziemlich jedes Genre gab. Dann erzählte sie mir von ihren Lieblingsanimes, mit einer Leidenschaft, die mich zum Lächeln brachte und weiter dazu führte, dass ich an ihren Lippen hing. Dabei erinnerte ich mich hinterher kaum noch an die Namen der Serien. Bleach hieß die eine und die andere etwas mit einem Alchemisten. Ich nahm mir vor, das später im Internet nachzuschauen. Irgendwann warf ich einen Blick auf mein Smartphone – und erstarrte. Ich war schon über eine Stunde hier!
„Cylis, es tut mir leid“, unterbrach ich die junge Frau, die mir gerade erklärte, warum andere Charaktere im Vergleich zu ihrem Lieblingscharakter absolut langweilig waren, und stand auf. „Ich muss wieder zur Arbeit. Mein Chef ist bestimmt schon sauer, dass ich so lange weg bin.“
Von den fünf verpassten Anrufen erzählte ich ihr gar nichts erst.
„Oh nein. Das tut mir total leid!“, entschuldigte Cylis sich reuevoll und mit großen Augen. „Das wollte ich nicht.“
Betreten blickte sie zu Boden, doch ich beruhigte sie.
„Ach was, das ist nicht deine Schuld. Ich hätte auf die Zeit achten sollen.“
Ich lächelte ihr aufmunternd zu und sie erwiderte das Lächeln zaghaft.
„Ich habe nur sooo viel Spaß dabei, mich mit dir zu unterhalten. Mehr Spaß als mit jedem anderen hier im Haus. Oder mit dem Schimmel“, gab Cylis schüchtern zu, blickte verlegen zur Seite und sah dabei sehr süß aus.
„Mir macht es auch viel Spaß, mich mit dir zu unterhalten oder dir einfach nur zuzuhören“, erwiderte ich und winkte ihr noch kurz, dann lief ich die Treppe nach oben und war in Gedanken bereits dabei, meinem Chef die Verspätung zu erklären.
Gerade war ich auf dem oberen Absatz angekommen, da stand ich einem großen, schlanken Mann gegenüber. Er trug einen ordentlich gestutzten Dreitagebart – und auf dem Rücken ein Gewehr. Eine Hand noch auf dem Treppenlauf starrte ich ihn an. Er stand im Flur und starrte zurück. Bevor einer von uns nachgab, hörten wir aus einem der oberen Stockwerke ein ohrenbetäubendes, bestialisches Brüllen. Ich musste wohl deutlich sichtbar zusammengezuckt sein, denn der Mann nickte verständnisvoll und meinte: „Keine Sorge, das ist nur LastDragonofoldtimes.“, bevor er in den Tiefen des Hauses verschwand. In der Zeit, die ich mit Cylis im Keller verbracht hatte, hatte ich schon fast vergessen, wie seltsam die Bewohner dieses Hauses waren. Und in dem Moment fiel mir ein: Hatte sie gerade beim Abschied gesagt, dass sie sich wirklich mit dem Schimmel unterhielt?!

Am nächsten Tag hätte ich eigentlich frei gehabt. Doch mein Chef hatte mich dafür, dass ich am Tag zuvor mehr als eine Stunde verschwunden war, zu unbezahlten Überstunden verdonnert. Da ich aber wusste, dass er sonst auch bei kurzfristigen Wünschen für seine Mitarbeiter da war und durchaus versuchte, es uns immer recht zu machen, beschwerte ich mich nicht. Und heute war wirklich die Hölle los in der kleinen Pizzeria. Da war jede helfende Hand nötig. Erst gegen zehn Uhr abends wurde es ruhiger und die letzten Gäste, die noch da waren, bestellten lediglich vereinzelt Getränke. In der Küche hingegen lief es auf Hochtouren, denn vor einer halben Stunde war eine große Bestellung mit vier Partypizzen reingekommen. Das Telefonat hatte ich am Rande mitbekommen: Zwei unterschiedliche vegetarische Pizzen, eine klassische Pizza mit Salami und Pilzen und eine Pizza Hawaii – für das Haus der Zeichnerinnen. Ich spürte die Blicke meiner Kollegen regelrecht auf mir, die genau wussten, dass ich, ohne zu meckern, bereits zweimal dorthin ausgeliefert hatte. Doch heute war ich mir nicht so sicher, ob ich dort wirklich noch einmal hingehen wollte. Ich mochte Cylis sehr gerne und wenn ich ehrlich war, hätte ich mich gefreut, sie wiederzusehen. Aber eine Großbestellung für das ganze Haus? Würde ich dann womöglich auch dieser LastDragonofoldtimes begegnen, die ihrem Namen anscheinend alle Ehre machte? Mal ganz abgesehen von diesem Mann gestern. Wenn man jemandem mit einem Gewehr gegenüberstand, überlegte man es sich zweimal, ob man sich dort noch einmal blicken lässt. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf und so verhielt ich mich ganz unauffällig, während die anderen darüber verhandelten, wer die Pizzen ausliefern sollte. Letztlich ließ ich mich dann doch wieder breitschlagen, machte Feierabend und trug die Warmhaltebox mit den vier Pizzen die Straße entlang zu Cylis‘ Zuhause. Bevor ich die Tür öffnete atmete ich noch einmal tief durch, dann trat ich in den beleuchteten Flur. Aus einem der angrenzenden Räume war Gelächter zu hören.
„Die Pizzen sind da“, rief ich auf gut Glück in das Haus hinein und fast augenblicklich erschienen zwei Frauen in dem Türrahmen von dem Raum, aus dem ich das Gelächter gehört hatte. Die eine war groß, schlank und hatte langes, silbernes Haar, die andere war Cylis. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie mich sah und sobald die andere Frau mir die Pizzen abgenommen hatte, umarmte Cylis mich schwungvoll. Hier im hellen Licht des Flures sah sie noch viel hübscher aus als in der schummrigen Dunkelheit des Kellers und ihr Haar leuchtete kupferfarben.
„Iss doch mit uns!“, lud sie mich ohne großartige Worte der Begrüßung ein und wollte mich schon in Richtung Küche ziehen, doch ich bewegte mich nicht.
Auch Cylis stoppte.
„Du musst doch nicht noch arbeiten?“, erkundigte sie sich und ließ meinen Arm los.
Ihr zu sagen, dass ich ihre Mitbewohner merkwürdig fand, kam nicht in Frage, ihr etwas vorzuflunkern brachte ich aber auch nicht über mich. Also schüttelte ich den Kopf.
„Ah, sehr gut. Ich möchte dich nicht schon wieder aufhalten. Aber wenn du sonst nichts zu tun hast, bleib doch. Ich würde mich freuen!“
Graue Augen blickten zu mir herauf und mir fiel erst jetzt auf, dass Cylis ein gutes Stück kleiner war als ich. Während sie mich so ansah, merkte ich, dass ich nicht nein sagen konnte. Und wenn ich ehrlich war, auch nicht nein sagen wollte. So ließ ich mich letztlich doch in die Küche ziehen. Nervös sah ich mich um, ob ich den Mann mit dem Gewehr entdecken konnte, doch mich erwarteten nur fünf weitere Frauen, die sich um einen kleinen Küchentisch drängten, auf dem die vier Pizzen gestapelt geradeso Platz fanden. Das Essen war erst einmal wichtiger als meine Begrüßung und kurz herrschte ein ziemliches Durcheinander, bis jede ein Stück ihrer bevorzugten Pizza in den Händen hielt. Doch dann wurde aus chaotisch schlagartig gemütlich, denn jede hatte sich ein Plätzchen gesucht, ob auf einem der Küchenstühle, dem Tresen oder einfach auf dem Boden. So auch Cylis, also setze ich mich neben sie.
„Hi Lena, ich bin LastDragonofoldtimes“, begrüßte mich nun die Frau aus dem Flur und setze sich wiederum neben mich. „Cylis hat schon ganz schön viel von dir erzählt.“
Sie grinste mich an und ich dachte mir, dass sie weniger furchteinflößend erschien, als ich am Abend davor noch angenommen hatte.
Cylis unterhielt sich derweil mit einer kleinen Frau, die uns gegenüber auf der Arbeitsfläche der Küche saß. Wie ich erfuhr, hieß sie Carakreativ. Ein Name, zu dem ihre wilde, bunte Kurzhaarfrisur perfekt passte. Ich plauderte noch eine Weile mit LastDragonofoldtimes, dann wurde ich von Cylis in ihr Gespräch mit eingebunden. Damit lernte ich in der nächsten halben Stunde nach und nach alle aktuellen Bewohnerinnen des Hauses kennen. Das war, neben Carakreativ und Dragon, sowie Sleipnira und W4rriorC4t, die ich bereits bei meiner ersten Lieferung hierher kennengelernt hatte, auch Arenja. W4rriorC4t hatte, wie schon bei unserer ersten Begegnung, wieder einen Topf Nudeln neben sich stehen und um Sleipnira schlichen dieses Mal sogar zwei Katzen herum und versuchten, etwas von der Pizza zu erhaschen. Es dauert nicht viel länger als die Vorstellung aller Zeichnerinnen, da waren auch schon alle vier Pizzen aufgegessen. Daraufhin stand LastDragonofoldtimes auf und holte einige Schachteln, Büchsen und ein großes Glas aus dem obersten Schrank der Küche, der verdächtig danach aussah, als wäre er aufgebrochen worden. Sofort entstand wieder ein heillosen Durcheinander und die Mädels scharrten sich um den Tisch, während ich verdutzt auf dem Boden sitzen blieb und an meinem letzten Stück Pizza knabberte – unter strenger Beobachtung einer der beiden Katzen. Nachdem die Aufregung sich gelegt hatte und Arenja anscheinend vor Freude in Ohnmacht gefallen war, erkannte ich den Grund dafür. Auf dem Tisch standen nun diverse Büchsen und Schachteln mit Butterkeksen, Schokokeksen und Haferkeksen. Und in dem Glas befanden sich die schönsten Cookies mit Schokostückchen, die ich je gesehen hatte. Jede der Zeichnerinnen hatte mindestens drei Kekse in der Hand und bei Dragon konnte ich regelrecht den Speichel aus dem Mund tropfen sehen. Cylis setze sich mit einem Keks von jeder Sorte in den Händen wieder zu mir und machte einen unentschlossenen Gesichtsausdruck, als sie mich mit leeren Händen dasitzen sah.
„Weißt du“, setze sie an. „wir werden in Keksen bezahlt und wir alle lieben Kekse. Und letzte Woche hat Arenja herausgefunden, dass das Lager mit den Keksen die ganze Zeit vor unserer Nase war. Und wir hatten uns für heute vorgenommen, alles zu plündern. Aber keine von uns hat mit SO vielen Keksen gerechnet!“
Ich musste leise lachen, als ich Cylis‘ absolut zufriedenen Gesichtsausdruck sah, doch dann schaute sie wieder fast schon zerknirscht drein.
„Willst … du einen Keks?“, brachte sie mühsam über die Lippen und hielt mir ihre Kekse hin.
Überrascht blickte ich sie an, denn ich sah in ihren Augen den Zwiespalt, mich an ihrem Glück teilhaben lassen zu wollen oder die Kekse für sich selbst zu behalten.
„Vielen Dank. Aber behalte ruhig deine Kekse. Ich werde mir einen eigenen holen“, erwiderte ich und stand schnell auf in der Hoffnung, dass Cylis meinen vermutlich absolut dümmlichen Gesichtsausdruck nicht gesehen hatte. Denn es erfüllte mich mit einer unfassbaren Freude, dass sie mir gerade ihre kostbaren Kekse zum Teilen angeboten hatte.
Lange saßen wir noch alle zusammen in der Küche und ich stellte erneut fest, dass die Zeichnerinnen von FanFiktion.de tatsächlich allesamt merkwürdig waren. Aber wenn man sie erst einmal kenngelernt hatte, musste man sie und ihre Eigenheiten einfach ins Herz schließen. Sleipnira war die Erste, welche die Küche verließ, da sie nach ihrem Kessel schauen musste und bald darauf folgten Arenja und Carakreativ. Cylis und ich unterhielten uns noch eine Weile mit LastDragonofoldtimes und W4rriorC4t über Schmuck und Nudeln, bis auch die beiden letztlich auf ihre Zimmer gingen und nur wir beide auf dem Boden der Küche sitzend zurückblieben. Eine kleine Weile saßen wir einfach nur angenehm schweigend aneinander gelehnt da, knabberten an den letzten Keksen und betrachten die ersten Sonnenstrahlen, welche die Kekskrümel auf dem Boden beleuchteten.  
„Ihr seid eine tolle Gruppe“, unterbrach ich schließlich die Stille und schob mit dem Fuß eine leere Kekstüte zur Seite. „Ich hatte viel Spaß heute.“
„Du musst auch unbedingt noch Eiki und Animiribi kennenlernen, wenn die beiden wieder da sind. Und manchmal kommt uns auch Misty besuchen“, erzählte Cylis und kuschelte sich ein wenig mehr an mich.
„Ich freue mich schon darauf, die anderen auch kennenzulernen“, erwiderte ich mit einem Lächeln.
Wieder saßen wir einen Moment schweigend da und ich betrachtete den Keks in meiner Hand. „Vermutlich wird es Ärger geben, weil wir alle Kekse gegessen haben …“, überlegte Cylis laut und gähnte.
„Schlimmen Ärger?“, fragte ich besorgte und dachte an den Mann mit dem Gewehr.
„Ach was“, winkte sie ab. „Das wird schon nicht so schlimm werden. Immerhin werden wir letztlich ja  auch gebraucht. Wer zeichnet sonst die ganzen Items? Die Kekse waren es wert, Ärger zu bekommen.“
Lächelnd blickte ich noch immer auf meinen Keks und dachte, dass ich jeden Tag Kekse haben konnte. Cylis anscheinend nicht. Ich verstand noch nicht ganz, was abging in diesem Haus, aber ich beschloss, es einfach hinzunehmen, solange es Cylis gut ging. Also hielt ich ihr den letzten Keks hin. Ihre Augen wurden groß und sie begann zu strahlen. Fast schon ehrfurchtsvoll nahm sie das Gebäck, dann beugte sie sich plötzlich zur Seite, gab mir einen Kuss auf die Wange und mein Herz machte einen kleinen Purzelbaum in meiner Brust.
„Danke!“, freute sie sich und fing an, an dem Keks zu knabbern.
Perplex schaute ich ihr dabei zu und legte, ohne nachzudenken, eine Hand auf die Stelle, an der Cylis mich gerade geküsst hatte. Es dauerte nicht lange, bis kein Krümel mehr übrig war und Cylis lehnte sich wieder an meiner Schulter an. Die Sonne war noch immer nicht vollständig aufgegangen und der Moment war wunderschön. Sie begann immer öfter zu gähnen und die Pausen zwischen unseren Gesprächen wurden immer länger.
„Du solltest ins Bett gehen“, sagte ich nach einem herzhaften Gähner meinerseits und rüttelte sanft an Cylis, die bereits am Eindösen war.
„Ich will noch nicht“, murmelte sie, doch letztlich siegte die Vernunft und wir standen auf. An der Treppe verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung, dann machte Cylis sich auf den Weg in den Keller und ich verließ das Haus der Zeichnerinnen. Glücklich und müde machte ich mich auf den Heimweg und freute mich schon auf das nächste Mal, wenn eine Pizzalieferung hierher bestellt werden würde.

„Lena! Es ist wieder eine Bestellung für …“
Mein Chef brauchte seinen Satz gar nicht zu beenden.
„Schon unterwegs!“ rief ich, ließ alles stehen und liegen und stürmte in die Küche.
„Ich muss die Pizza schon erst noch backen“, meinte mein Chef trocken und knetete den Teig.
„Oh“, erwiderte ich und stand kurz wie verloren in der Zwischentür, bis mich ein Kollege aus dem Weg schob.
„Du kannst dich solange noch um die letzten Kunden kümmern …“ Er nickte in Richtung des Hauptraums und ich beeilte mich, meine Arbeit wieder aufzunehmen. Ich hatte das Gefühl, heute brauchte die Pizza doppelt so lange wie sonst. Endlich reichte mir mein Chef den Karton und zwinkerte mir zu: „Wir sehen uns dann morgen wieder.“
Damit entließ er mich in den Feierabend, obwohl die Pizzeria noch gute anderthalb Stunden offen hatte. Fröhlich lief ich die Straße entlang, in einer Hand die Pizzaschachtel, die andere auf meiner Handtasche. In dieser knisterte es verheißungsvoll, denn ich hatte eine Überraschung für Cylis dabei.

„Ooooh, Soft Cookies“, freute Cylis sich, als ich ihr nicht nur die Pizza, sondern auch die Packung Kekse gab, die in meiner Handtasche war. Einen Kuss auf die Wange bekam ich dieses Mal jedoch leider nicht. Dafür mussten wir einen Cookie an Sleipnira abgeben, die heute ebenfalls im Keller war und um ihren Kessel herum wuselte.
„Komm, ich will dir jemanden vorstellen“, kündigte Cylis an und zog mich hinter die Kellertreppe.
Diese war von unten hohl, sodass man nach oben auf die Unterseite der Stufen schauen konnte. Was mich hier erwartete waren Unmengen an Spinnennetzen – mit den entsprechenden Tierchen darin, in erstaunlich vielen verschiedenen Größen und Farben.
„Eheh … ehehheh“, war das Einzige, was ich hervorbrachte, bevor ich einige Schritte zurück machte.
„Das sind Emilie, Paul, Peter und Nina, und das hier sind Chad, Renji und Rukia. Ich habe sie nach Bleach Charakteren benannt“, Cylis stellte mir noch ein paar weitere Spinnen vor, doch ich hörte nicht wirklich zu.
„Oh“, bemerkte sie schließlich meine mäßige Begeisterung. „Du bist kein Fan von Spinnen?“
Sie war sichtlich enttäuscht, was mir einen kleinen Stich versetzte.
„Tu mir leid“ erwiderte ich, doch Cylis winkte ab.
„Ist schon in Ordnung. Viele Leute mögen keine Spinnen. Ich mag sie sehr. Ich kümmere ich um sie, füttere sie und passe auf, dass niemand auf die Idee kommt, hier zu putzen. Sie sind sozusagen meine Haustiere.“
Ich nickte verständnisvoll, war aber auch sehr froh, als wir uns von der Treppe entfernten und es uns wieder auf ihrem Bett bequem machten, wo wir die nächsten Stunden verbrachten. Cylis erzählte mir von einem neuen Anime, ich erzählte ihr von meiner Familie und so kamen wir von Thema zu Thema und es fühlte sich an, als würden wir uns schon ewig kennen. Irgendwann machte ich mich dann auf den Heimweg und während Cylis eher unglücklich dreinblickte, schien Sleipnira mir ausgesprochen erleichtert darüber, dass sie nun wieder ihre Ruhe hatte.

So vergingen in den darauffolgenden Wochen noch einige weitere Nächte. Eigentlich wartete ich den ganzen Tag nur noch darauf, dass kurz vor Feierabend eine Bestellung für das Haus der Zeichnerinnen eintraf. Mit meinem Chef war es schon zu einer stillen Übereinkunft gekommen, dass ich ungefragt die Pizza auslieferte und dafür etwas früher Feierabend machen konnte. Mittlerweile legte ich die kurze Strecke bis zu Cylis in Rekordzeit zurück und meistens saßen wir bis in die frühen Morgenstunden zusammen. Zum Teil anscheinend sehr zum Leidwesen von Sleipnira. Diese fühlte sich in ihrer Ruhe beim, wie ich mittlerweile erfahren hatte, Tränke brauen gestört und hatte uns auch schon das eine oder andere Mal in eines der oberen Stockwerke verscheucht. Dann huschten wir lachend die Treppe nach oben und machten uns in der Küche einen Kaffee. Der Vorrat an Kaffeebohnen und -pulver, den dieses Haus aufzuweisen hatte, war noch beeindruckender als die drei vollautomatischen Kaffeemaschinen.
Wenn mein Chef um 23 Uhr die letzten Gäste nach draußen begleitete und die Vordertür der Pizzeria abschloss und ich nicht mehr darauf hoffen konnte, dass Cylis eine Pizza bestellen würde, verspürte ich immer häufiger Enttäuschung. Dann verpasste ich mit Absicht meinen Bus und lief zur nächsten Bushaltestelle, an der etwas später den Bus einer anderen Linie nehmen konnte. Denn so musste ich an dem Haus der Zeichnerinnen vorbei. Dort blieb ich jedes Mal stehen, blickte nach oben zu den beleuchteten Fenstern und fragte mich, ob ich einfach hallo sagen sollte. Aber wie würde Cylis wohl reagieren? Nach einigen Minuten überwogen doch immer wieder die Zweifel und ich ging unverrichteter Dinge nach Hause.
Aber wenn wir beide Zeit zusammen verbrachten, gab es diese Zweifel nicht. Wir redeten stundenlang, lachten, blödelten herum und Cylis zeigte mir ihre wundervollen Zeichnungen und Skizzen. Manchmal sah ich ihr auch einfach nur zu, wie sie auf ihrem Zeichentablet zeichnete und kam nicht drum herum, ihre schlanken, geschickten Finger und ihre grauen Augen, die konzentriert der Bewegung des Pens folgten, zu bewundern. Beinahe hätte ich ihre eine der roten Haarsträhnen aus dem Gesicht gestrichen, doch gerade als ich die Hand hob, hatte Cylis ihr Haar schon selbst in einer unbewussten Bewegung wieder hinter dem Ohr fixiert. Peinlich berührt zuckte ich zurück, doch Cylis hatte das in ihrer Vertiefung nicht einmal bemerkt und ich musste lächeln. Einmal war sie sogar eingeschlafen, an meiner Schulter angelehnt und ich saß eine Stunde lang da, bis mir der Rücken schmerzte. Ich konnte einfach nicht anders, als die schlafende Cylis neben mir sitzen zu haben. Sie war so süß, als sie aufwachte und sich hundertmal dafür entschuldigte, einfach an mich gelehnt eingeschlafen zu sein.
Und auch wenn ich es mir selbst noch nicht eingestehen wollte, so wusste ich es doch tief in mir drin: Ich hatte mich hoffnungslos verliebt!
So kam es, dass ich immer wieder den Kontakt zu ihre suchte, sie anstupste, kitzelte oder einfach ihre Hand nahm, wenn Sleipnira uns mal wieder aus dem Keller verjagte. Ich war einfach glücklich in Cylis Gegenwart und mein Herz machte jedes Mal einen kleinen Sprung, wenn sie an der Kaffeemaschine wie zufällig meine Hand berührte, mir durch meine kurzen braunen Haare strubbelte oder mich zum Abschied oder zur Begrüßung schwungvoll umarmte. Auch mein Chef schien meine gute Laune zu bemerken, denn einmal drückte er mir mit einem Augenzwinkern sogar zwei Pizzen in die Hand, sodass Cylis und ich gemeinsam essen konnten.
Dann, eines Nachts, vielleicht so gegen drei Uhr, kam es dazu, dass wir den Keller nur für uns hatten. Wir waren gerade damit fertig geworden, sehr ausführlich darüber zu diskutieren, ob das Zeichnen auf dem Tablet oder das Zeichnen auf Papier die Umwelt stärker belastete und saßen nun angenehm schweigend dicht nebeneinander. Ich blickte zur Seite auf Cylis, die verträumt in die Leere schaute und mein Herzschlag beschleunigte sich. Sie bemerkte, dass ich sie ansah und drehte den Kopf. Unsere Blicke trafen sich und einen Moment schauten wir uns einfach nur tief in die Augen, ein leichtes Lächeln lag auf Cylis Lippen und ich hielt es nicht mehr aus. Langsam beugte ich mich zu ihr nach vorne und kam ihrem Gesicht immer näher, um ihre wundervollen Lippen zu küssen. Doch als Cylis realisierte, was ich vorhatte, zuckte sich überrascht zurück und sah mich erschrocken an. Auch ich fuhr zurück und spürte, wie mein Gesicht heiß wurde vor Scham. Einen Moment herrschte eine unangenehme, drückende Stille zwischen uns. Ich starrte Cylis an, die verlegen zur Seite schaute, dann packe ich meine Tasche und die Jacke und stürmte aus dem Keller und aus dem Haus der Zeichnerinnen.

Am nächsten Tag nahm ich mir frei, verschanzte mich in meiner Wohnung und machte einen Serienmarathon. Vielleicht war es ganz gut, dass kein Eis in der Wohnung war, sonst wäre ich vermutlich wie ein Häufchen Elend auf meiner Couch in Selbstmitleid, einer Kuscheldecke und massenhaft Eiscreme versunken. Wobei, das mit dem Selbstmitleid und der Kuscheldecke traf trotzdem zu. Ich ließ mich vom Fernsehen beschallen, um meine eigenen Gedanken nicht zu hören und ließ mir von einem Kollegen Pizza bringen, der hoffentlich dachte, die rote Nase käme von Schnupfen und nicht vom Heulen und Naseputzen. Wiederum am nächsten Tag beschloss ich, dass sich einzuigeln keine Option war. Also ging ich wieder zur Arbeit, auch in der Hoffnung, dass eine Pizzabestellung eintrudeln und sich alles klären würde. Doch die erhoffte Bestellung blieb aus und mit jedem Tag wurde meine Hoffnung kleiner und mein Liebeskummer größer. Ein Besuch bei meinem besten Freund tröstete mich zwar ein wenig und brachte mir den Rat ein, ich solle ‚nicht auf eine bescheuerte Bestellung warten, sondern gefälligst meinen Arsch wieder in diesen Keller bewegen und mit ihr darüber sprechen‘, aber ich brachte es nicht über mich. Zweimal stand ich vor dem Haus der Zeichnerinnen, doch dann sah ich Cylis erschrockenen Gesichtsausdruck vor mir und beschloss, dass ich ihr Verhalten fehlinterpretiert haben musste. Einen weiteren Korb von ihr zu bekommen würde ich nicht verkraften.

Der Nachteil daran, dass ich meine Wohnung verlassen hatte und nicht mehr von meinem Fernseher dauerberieselt wurde, war der, dass meine Gedanken sich nun laut im Kreis drehten. So musste ich nicht nur einmal einen Kunden fragen, ob er seine Bestellung noch einmal wiederholen könnte, da ich mit den Gedanken nicht bei der Sache war. Ich fragte mich immer wieder, was ich übersehen hatte. Hatte ich ihre Blicke, Berührungen und ihre Nähe wirklich so missverstanden? Es war mir wirklich so erschienen, als mochte Cylis mich so wie ich auch sie mochte. Aber wie sich herausstellte, stand sie wohl nicht auf Frauen und ihr ganzes Verhalten war nur freundschaftlich gewesen. Oder etwa nicht? Aber wieso sonst sollte sie sich so erschreckt haben? Ich wusste einfach nicht mehr, was ich denken oder tun sollte. Also wartete ich. Auf ein Zeichen von Cylis oder darauf, dass der Schmerz nachließ.
Auch meinem Chef fiel meine Zerstreutheit auf, doch sein Angebot Urlaub zu nehmen lehnte ich ab. Ich hatte noch immer ein Fünkchen Hoffnung, dass Cylis erneut eine Pizza bestellen würde und außerdem lenkte mich die Arbeit mit jedem Tag ein bisschen mehr von meinen Gedanken ab und ich hatte wenigstens etwas zu tun. Es vergingen zwei lange Wochen und auch wenn der Liebeskummer noch immer da war, begann ich ganz langsam zu akzeptieren, dass Cylis sich nicht mehr melden würde. Eines Mittwochabends, es war nicht viel los und ich hatte einem Kollegen beim Rauchen Gesellschaft geleistet, kam dann mein Chef mit ernstem Gesicht in die Küche, gerade als ich selbst wieder durch die Hintertür das Gebäude betreten hatte.
„Es kam gerade ein Anruf rein“, begann er und hielt mir einen Zettel mit der Adresse hin. Mein Herz setzte für einen Moment aus und ich risse ihm das Blatt förmlich aus der Hand. „Ich dachte, ich frage dich auf jeden Fall, ob du das übernehmen möchtest. Aber wenn nicht, dann schicke ich Jakob los. Du musst dich nicht verpflichtet fühlen, diese Pizza auszuliefern, ja?“
„Ich mach das“, erwiderte ich und musste mich stark zusammenreiße, nicht loszuheulen, als ich die Adresse las.
Eine Viertelstunde später war ich mit einem Pizzakarton und einer ganzen Menge Unsicherheit auf dem Weg zum Haus der Zeichnerinnen. Fragen schossen mir durch den Kopf: Ob wirklich Cylis die Pizza bestellt hatte? Ob sie mich vielleicht sehen wollte? Oder hatte am Ende nur eine der anderen Zeichnerinnen Hunger und die Pizza war nicht für Cylis? Darum stand ich erst einmal einige Minuten vor der angelehnten Haustür und überlegte, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Doch dann atmete ich einmal tief ein, nahm meinen ganzen Mut zusammen und trat in den Hausflur. Dort erwartete mich Sleipnira mit verschränkten Armen und einem mürrischen Blick, ihre beiden Katzen strichen ihr um die Beine.
„Na endlich. Du bist spät“, bemerkte sie und schob mich in Richtung der Kellertreppe. „Es ist nicht mehr auszuhalten mit Cylis. Los, los, ab mit dir. Und klärt das bitte.“
Sie gab mir noch einen kleinen Schubs und schon stolperte ich die Holzstufen nach unten. Cylis saß auf ihrem Bett und knetete nervös ihre Hände, während ich zu ihr lief.
„Hi“, sagte ich und schaute verlegen auf den Boden.
„Hi“, antwortete sie und blickte ebenso verlegen zur Seite.
Dann schwiegen wir und keine von uns wusste so wirklich, was sie sagen sollte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du nochmal eine Pizza bestellst“, durchbrach ich schließlich die Stille und legte den Karton auf das Bett.
Cylis klopfte auf der anderen Seite neben sich auf die Decke und ich setze mich mit etwas Abstand so hin, dass ich sie gut anschauen konnte.
„Ich glaube …“, begann sie zögerlich und blickte mich nun direkt an, „ … ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich hätte mich viel früher melden sollen.“
Ich wusste nicht wirklich, was ich darauf sagen sollte, also wartete ich, dass die sie weitersprach.
„Du hast mich sehr überrascht in dem Moment“, fuhr Cylis fort und drehte aufgewühlt eine rote Haarsträhne zwischen den Fingern.
„Es tut mir auch leid“, unterbrach ich sie nun doch. „Ich hätte …“
„Nein“, fiel sie mir ins Wort. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wirklich nicht. Ja, ich habe mich ein wenig erschreckt, aber ich hätte etwas sagen sollen. Mein Verhalten in dem Moment war nicht sehr nett dir gegenüber.“
Ich schluckte, erwiderte aber nichts.
„Ich hätte dich nicht einfach gehen lassen sollen. Es war mir so peinlich, dass ich zusammengezuckt bin! Und dann ich habe mich einfach nicht getraut, nochmal eine Pizza zu bestellen. Ich dachte, du willst mich vielleicht nicht wiedersehen.“
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Cylis hob eine Hand und zeigte mir so, dass ich sie erst ausreden lassen sollte.
„Aber ich habe es nicht ausgehalten. Es war so langweilig! Ich habe die ganze Zeit an dich denken müssen und ich habe dich vermisst. Dich, und die Gespräche mit dir und deine Nähe. Die Wahrheit ist, ich hätte dich auch gerne geküsst.“
Nun waren keine Worte mehr nötig. Lächelte rutschte ich näher an Cylis, die dieses Mal nicht zurückfuhr, sondern meine Hand nahm. Beinahe hätte ich vor Freude geweint, aber stattdessen zog ich sie vorsichtig an mich, nahm sie in den Arm und küsste sie. Es war ein sanfter, aber langer Kuss und für einen Moment verlor ich jedes Gefühl für Raum und Zeit, denn es gab nur noch Cylis und mich. Ich spürte ihre kühle Hand an meiner Wange und als wir uns voneinander lösten, lächelte sie mich an und ich lächelte glücklich zurück. Einen Moment saßen wir einfach nur aneinander gekuschelt da, Cylis hatte ihren Kopf an meine Brust gelegt und ich legte meinen Kopf auf ihrem ab.
„Möchtest du morgen nach der Arbeit wieder herkommen?“, fragte sie schließlich und schaute mich mit einem verlegenen Lächeln an. „Vielleicht ohne, dass ich eine Pizza bestelle? Ich kann langsam keine Pizza mehr sehen.“
„Natürlich komme ich morgen Abend wieder. Auch ohne Pizzabestellung“, erwiderte ich lachend, zwinkerte Cylis zu, drückte sie wieder fest an mich und nahm mir vor, sie nie wieder loszulassen.
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