Das Tier in dir
von DinaSander
Kurzbeschreibung
Asras Eltern haben sich getrennt. Zu allem Überfluss zieht die Mutter auch noch aufs Land, wo es nicht einmal Internet gibt. Die Fünfzehnjährige ist total sauer und will zurück in die Stadt. Doch wie soll sie das anstellen? Und irgendwas stimmt auch mit ihrem Körper nicht. Das ist doch nicht nur die Pubertät, dass sie mit einem Mal alles viel intensiver wahrnimmt. Was ist bloß los mit ihr? •̩̩͙*˚˚*•̩̩͙✩•̩̩͙*˚˚*•̩̩͙ Jaro lebt nun bei seinem Vater und seinen Halbgeschwistern - und deren Mutter Amaya. Seine Halbschwester Lilith macht ihn fertig und er sehnt sich nur noch zurück in die Stadt. Bis er Asra begegnet. Sind sie verwandte Seelen? Können sie einander helfen, mit ihrem Heimweh fertig zu werden?
GeschichteFantasy / P12 / Het
Gestaltwandler
10.02.2023
30.03.2023
20
25.305
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18.03.2023
1.621
Als der Bus bei ihnen hielt, erkannte Jaro sofort, etwas war anders als am Tag zuvor. Eigentlich wollten sie vorn einsteigen, doch der Busfahrer öffnete ihnen hinten. Das war sehr merkwürdig. Tynan kapierte als Erster, was hier los war. Stöhnend ging er nach hinten zum Bus und die Geschwister folgten ihm.
„Die Ni-Wa fährt mit“, sagte er mit knurriger Stimme, „und steht natürlich vorn, damit der Busfahrer sie im Auge behalten kann.“
Jaro hatte keine Ahnung, warum, aber sein Herz schlug bei dem Gedanken sofort ein paar Takte schneller. Als er nach Lilith in den Bus einstieg, konnte er es schon riechen: diesen unverwechselbaren Duft von Asra. Gleichzeitig merkte er auch, dass die Ausdünstungen der zukünftigen Alphas deutlicher hervorstachen als gestern. Er warf einen Blick auf Tynan, doch bei ihm aktivierte die Ni-Wa keinerlei Gelüste, sein Revier verteidigen zu müssen durch deutlichere Duftspuren.
Von ihnen bis zur Schule war es kein weiter Weg, so hatte er nicht viel Zeit, sich eine Strategie zu überlegen, wie er sie ansprechen könnte. Er musste es sowieso sehr geschickt anstellen. Schließlich wusste er, dass eine Regel besagte: Kein Kontakt zu Nichtwandlern.
Als der Bus vor der Schule anhielt, sah er, wie Asra schon fast wie gehetzt heraussprang. Stirnrunzelnd trat er selbst ins Freie und sah, wie sie um das Gebäude herumlief. Warum tat sie das denn? Wenn sie nicht zur Schule gehen wollte, hätte sie doch einfach im Wald hinter ihrem Haus Zuflucht suchen können. Es hätte sich bestimmt niemand nach ihr erkundigt.
Ein kräftiger Seitenhieb brachte ihn zurück zu seinen Halbgeschwistern. Lilith funkelte ihn zornig an.
„Hör auf, dir die Augen nach ihr auszustarren. Wir wissen genau, dass Dad nur wegen dir ihren Aufenthalt verlängert hat. Versuch doch wenigstens, dich wie ein Mitglied unseres Rudels zu verhalten.“
„Ja, ist ja schon gut, ich hab verstanden“, murrte Jaro. „Vielleicht kannst du deine Rede beim nächsten Mal ohne körperliche Attacken vorbringen.“
„Körperliche Attacke, pah. Ich habe dich nicht blutig geschlagen.“
Er zuckte zusammen. Lilith wusste genau, dass es keine Absicht von Asra gewesen war, sondern ein Reflex. Außerdem heilten von Wandlern die Wunden immer sehr schnell, selbst wenn er das mit dem Wandeln noch nicht hinbekam. Das Pflaster, das Amaya ihm aufgeklebt hatte, war auch eher ein Mahnmal gewesen. Eine Mahnung, sich niemals mit einem Nichtwandler einzulassen.
Seine Halbschwester hakte sich bei ihm unter und zog an ihm. „Los, komm, heute werden wir nicht reingeholt. Wir müssen selbst zum Klassenraum gehen.“
Jaro war darüber erleichtert. Obwohl es ihm wirklich gleichgültig sein sollte, freute er sich für die Ni-Wa. So gab es eine Situation weniger, wo man sie als unerwünscht vorführte. Sie tat ihm unendlich leid. Sicher hatte sie sich ihre neue Schule anders vorgestellt. Da sie anscheinend nichts von Wandlern wusste, konnte sie ganz bestimmt nicht begreifen, warum man sie so ablehnend musterte. Für sie musste es wie gemeines Mobbing vorkommen. Dabei war es ein natürliches Verhalten von Wolfsrudeln, jedem misstrauisch und mit Ablehnung zu begegnen, der nicht zum eigenen Rudel gehörte. Das war ein tief verankerter Instinkt in jedem Wolfswandler.
Er folgte seiner Schwester hinein ins Schulgebäude oder besser, ließ sich von ihr mitziehen. Innen versuchte er, möglichst unauffällig auf dem Weg zum Klassenraum nach Asra Ausschau zu halten. Wo war eigentlich der Unterrichtsraum für die Rudellosen? Ganz sicher ließ man sie nicht in ihre Nähe. Er musste das unbedingt herausfinden.
Im Klassenraum erwartete sie bereits Herr Marten, was bei einigen Wandlern ein lautes Stöhnen hervorrief. Jaro zuckte nur mit den Achseln, denn er mochte Mathematik. Auf jeden Fall wesentlich mehr als Sprachenkunde oder Länderkunde. Die letztere hielt er sowieso für überflüssig. Wer reisen wollte, holte sich Informationen aus dem Internet. Wer nicht reisen wollte, wozu sollte er alles über Klima, Einwohner und solche Sachen erfahren? Mathematik aber konnte man immer brauchen. Ob beim Einkaufen oder beim Kochen, es war hilfreich, wenn man rechnen konnte. Obwohl er sich ums Kochen bei seinem Vater nicht mehr kümmern brauchte. Da war Amaya für die Küche zuständig. Irgendwie spiegelten diese Wolfsrudel in Beast Valley ein Patriarchat wieder, was er selbst nicht guthieß. Weshalb sollte ein Mann nicht ebenfalls in der Küche stehen?
„Hallo, Jaro.“ Lilith wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. „Schon wieder abgedriftet?“
„Ja, wird wohl so sein“, knurrte er und ging zielstrebig zu seinem Sitzplatz. Mit Lilith an seiner Seite würde er wohl weniger tagträumen als üblich. Noch war er nicht sicher, ob er das gut finden sollte.
Herr Marten teilte ihnen Arbeitsblätter aus, die sie so weit bearbeiten sollten, wie sie konnten. Danach besprach er mit ihnen die Ergebnisse und half ihnen, sofern sie nicht selbst auf die Lösungen gekommen waren. Das machte Jaro Spaß, während Lilith sich mühsam durch die Aufgaben kämpfte. Mathe war eindeutig nicht ihr Lieblingsfach.
Später bei Kunst, wozu mussten Wolfswandler alles über Fotografie wissen?, war seine Halbschwester ganz in ihrem Element. So verschieden waren eben Geschmäcker.
Zum Glück kam dann die Pause und damit erst einmal ein Durchatmen vom stressigen Kunstunterricht. Seine Hoffnung, dass Lilith sich an ihre Freundinnen hing, wurde nur halb erfüllt. Erst schnappte sie ihn und lieferte ihn bei Tynan ab, ehe sie selbst weiterzog. Jaro war nicht dumm. Das sollte zu seiner Überwachung dienen, damit er unter Garantie keinen Kontakt zur Ni-Wa aufnahm. Dumm war seine neue Familie wirklich nicht.
Im Gegensatz zu Lilith zog ihn Tynan nicht in eine stille Ecke, wo niemand sie belauschen konnte. Er textete ihn inmitten der anderen zu, erklärte einige Regeln und Besonderheiten der einzelnen Rudel.
Die Kirkanes im Westen von Beast Valley kontrollierten die Grenze zur Stadt hin. Es gab manchmal Einzelgänger, die hier wilderten und verjagt werden mussten. Denn es konnte sich leicht herumsprechen, wenn Wilderer nicht vertrieben wurden. Dann hatte man nachher Meuten von rudellosen Wölfen, die über das Tal hereinbrachen und die regierenden Rudel töteten oder verjagten.
Die Banes im Osten waren die schwächste Familie, weshalb sie die undankbare Aufgabe hatten, sich um die Anpflanzungen zu kümmern. Wolfsmenschen lag das Jagen und Erbeuten von Tieren im Blut, nicht aber das Bestellen von Feldern. Doch als Menschen brauchten sie nun mal auch Getreide und andere Feldfrüchte. Nicht alles wurde in der Stadt gekauft.
Die Davis’ waren seit Generationen das stärkste Rudel. Deshalb gehörte ihnen auch ein Großteil der Ländereien in Beast Valley und auch das Gästehaus im Norden. Für gewöhnlich war das der Altersruhesitz vom Alpha, wenn sein Sohn das Rudel übernahm. Sie sorgten dafür, dass nicht zu viel Wild gerissen wurde. Denn es gab immer wieder Jungwölfe, die einfach aus Entdeckerfreude Rehe anfielen oder Hasen und Füchse jagten. Da schritten sie ein. Das Gleichgewicht musste erhalten bleiben. Bei drei Rudeln in einem relativ kleinen Territorium war das notwendig.
„Lilith hat etwas von einem Wettbewerb erzählt“, warf Jaro ein. „Wenn doch unser Rudel immer gewonnen hat und eine so wichtige Aufgabe seit Jahrzehnten wahrnimmt, weshalb Wettkämpfe?“
Tynan sah seinen jüngeren Halbbruder fragend an.
„Nehmen wir mal an, die Banes gewinnen dieses Jahr. Wie sollen sie so schnell in die neue Aufgabe hineinwachsen, die Wildtiere zu beschützen? Und wenn die Kirkanes letzter sind, woher sollen sie plötzlich wissen, wie man Getreidefelder bearbeitet?“
„Die Banes können nicht gewinnen“, antwortete Tynan und blickte verwundert. Als wäre dieser Gedanke völlig unmöglich. „Es geht höchstens um die Vorherrschaft durch die Kirkanes. Und wir haben keine so unterschiedliche Aufgaben. Wir jagen Wilderer innerhalb unserer Rudel. Die Kirkanes jagen Wilderer von außerhalb des Tals.“
So langsam begriff Jago. Da die Banes als Versager innerhalb der Rudel abgestempelt waren, hatten sie nie die Chance, sich wirklich zu beweisen. Keine Frau und kein Mann, die Wert auf Erfolg und Ansehen legten, ließen sich mit einem Bane ein. Wo aber keine guten Gene hineinkamen, konnte auch nichts wirklich besser werden. Nur ein oder zwei herausragende Wölfe reichten einfach nicht. Das gesamte Rudel musste stark sein.
„Um was für einen Wettbewerb handelt es sich denn?“
„Ein Rudel besteht ja nicht nur aus Muskelprotzen, die grimmig durch die Wälder jagen und jedem Angst einflößen. Schulische Leistungen sind ebenso Bestandteil der Bewertung wie die sportlichen Übungen, die wir in unserer Wolfsgestalt absolvieren. Dazu gehören Geruchsübungen, Ausdauer und natürlich Kraft. Manches müssen wir in beiden Gestalten beherrschen wie Ausdauer und Kraft, doch Gerüche oder Hörübungen sind dann speziell für unsere Wolfsgestalt.“
Das klang sehr interessant und spannend. Kein Wunder, dass er möglichst schnell die Wandlung lernen und beherrschen sollte. Sonst gefährdete er den Sieg, da er natürlich als Mitglied der Alphafamilie besonders gewertet wurde. Ein Ni-Wa in der Alphafamilie brachte sicherlich sehr viel Abzug und vielleicht auch den letzten Platz ein.
Während Jaro noch seinem Halbbruder zuhörte, drang der ihm bekannte Duft in die Nase. Noch bevor er sie sehen konnte, roch er Asra und sein Herz schlug wieder einmal schneller.
Was er nicht verstehen konnte: Weshalb hatte Asra als Rudellose solch einen intensiven Duft? Es war kein Parfüm, da war er sicher. Doch einen natürlichen Geruch hatten nur höherrangige Wölfe innerhalb ihres Rudels. Die Rudellosen verströmten keinerlei Duftspuren. Und eine Ni-Wa sollte noch viel weniger Duftdrüsen haben. Jaro war nicht einmal sicher, ob Menschen so etwas überhaupt besaßen. Schweißdrüsen, ja, doch Duftdrüsen, um ein Revier zu markieren?
Gerade als er Tynan deswegen befragen wollte, klingelte es und die Pause war vorbei. Schade, aber er hatte später immer noch Zeit, alle Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen.
Lilith kam auf die beiden zu und nahm Jaro mit einem breiten Grinsen in Empfang. „Na, gut unterhalten?“
„Klar“, erwiderte Tynan, „nächste Pause ist Ciaran dran. Er soll auch lernen, wie man andere belehrt.“ Dabei lachte der Achtzehnjährige und eilte davon.
Jaro stöhnte. Auch das noch. Hoffentlich kamen sie nicht auf die Idee, ihm demnächst Sayo vor die Nase zu setzen. Mit einem Zehnjährigen wollte er sich wirklich nicht die Pause vertreiben.
„Die Ni-Wa fährt mit“, sagte er mit knurriger Stimme, „und steht natürlich vorn, damit der Busfahrer sie im Auge behalten kann.“
Jaro hatte keine Ahnung, warum, aber sein Herz schlug bei dem Gedanken sofort ein paar Takte schneller. Als er nach Lilith in den Bus einstieg, konnte er es schon riechen: diesen unverwechselbaren Duft von Asra. Gleichzeitig merkte er auch, dass die Ausdünstungen der zukünftigen Alphas deutlicher hervorstachen als gestern. Er warf einen Blick auf Tynan, doch bei ihm aktivierte die Ni-Wa keinerlei Gelüste, sein Revier verteidigen zu müssen durch deutlichere Duftspuren.
Von ihnen bis zur Schule war es kein weiter Weg, so hatte er nicht viel Zeit, sich eine Strategie zu überlegen, wie er sie ansprechen könnte. Er musste es sowieso sehr geschickt anstellen. Schließlich wusste er, dass eine Regel besagte: Kein Kontakt zu Nichtwandlern.
Als der Bus vor der Schule anhielt, sah er, wie Asra schon fast wie gehetzt heraussprang. Stirnrunzelnd trat er selbst ins Freie und sah, wie sie um das Gebäude herumlief. Warum tat sie das denn? Wenn sie nicht zur Schule gehen wollte, hätte sie doch einfach im Wald hinter ihrem Haus Zuflucht suchen können. Es hätte sich bestimmt niemand nach ihr erkundigt.
Ein kräftiger Seitenhieb brachte ihn zurück zu seinen Halbgeschwistern. Lilith funkelte ihn zornig an.
„Hör auf, dir die Augen nach ihr auszustarren. Wir wissen genau, dass Dad nur wegen dir ihren Aufenthalt verlängert hat. Versuch doch wenigstens, dich wie ein Mitglied unseres Rudels zu verhalten.“
„Ja, ist ja schon gut, ich hab verstanden“, murrte Jaro. „Vielleicht kannst du deine Rede beim nächsten Mal ohne körperliche Attacken vorbringen.“
„Körperliche Attacke, pah. Ich habe dich nicht blutig geschlagen.“
Er zuckte zusammen. Lilith wusste genau, dass es keine Absicht von Asra gewesen war, sondern ein Reflex. Außerdem heilten von Wandlern die Wunden immer sehr schnell, selbst wenn er das mit dem Wandeln noch nicht hinbekam. Das Pflaster, das Amaya ihm aufgeklebt hatte, war auch eher ein Mahnmal gewesen. Eine Mahnung, sich niemals mit einem Nichtwandler einzulassen.
Seine Halbschwester hakte sich bei ihm unter und zog an ihm. „Los, komm, heute werden wir nicht reingeholt. Wir müssen selbst zum Klassenraum gehen.“
Jaro war darüber erleichtert. Obwohl es ihm wirklich gleichgültig sein sollte, freute er sich für die Ni-Wa. So gab es eine Situation weniger, wo man sie als unerwünscht vorführte. Sie tat ihm unendlich leid. Sicher hatte sie sich ihre neue Schule anders vorgestellt. Da sie anscheinend nichts von Wandlern wusste, konnte sie ganz bestimmt nicht begreifen, warum man sie so ablehnend musterte. Für sie musste es wie gemeines Mobbing vorkommen. Dabei war es ein natürliches Verhalten von Wolfsrudeln, jedem misstrauisch und mit Ablehnung zu begegnen, der nicht zum eigenen Rudel gehörte. Das war ein tief verankerter Instinkt in jedem Wolfswandler.
Er folgte seiner Schwester hinein ins Schulgebäude oder besser, ließ sich von ihr mitziehen. Innen versuchte er, möglichst unauffällig auf dem Weg zum Klassenraum nach Asra Ausschau zu halten. Wo war eigentlich der Unterrichtsraum für die Rudellosen? Ganz sicher ließ man sie nicht in ihre Nähe. Er musste das unbedingt herausfinden.
Im Klassenraum erwartete sie bereits Herr Marten, was bei einigen Wandlern ein lautes Stöhnen hervorrief. Jaro zuckte nur mit den Achseln, denn er mochte Mathematik. Auf jeden Fall wesentlich mehr als Sprachenkunde oder Länderkunde. Die letztere hielt er sowieso für überflüssig. Wer reisen wollte, holte sich Informationen aus dem Internet. Wer nicht reisen wollte, wozu sollte er alles über Klima, Einwohner und solche Sachen erfahren? Mathematik aber konnte man immer brauchen. Ob beim Einkaufen oder beim Kochen, es war hilfreich, wenn man rechnen konnte. Obwohl er sich ums Kochen bei seinem Vater nicht mehr kümmern brauchte. Da war Amaya für die Küche zuständig. Irgendwie spiegelten diese Wolfsrudel in Beast Valley ein Patriarchat wieder, was er selbst nicht guthieß. Weshalb sollte ein Mann nicht ebenfalls in der Küche stehen?
„Hallo, Jaro.“ Lilith wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. „Schon wieder abgedriftet?“
„Ja, wird wohl so sein“, knurrte er und ging zielstrebig zu seinem Sitzplatz. Mit Lilith an seiner Seite würde er wohl weniger tagträumen als üblich. Noch war er nicht sicher, ob er das gut finden sollte.
Herr Marten teilte ihnen Arbeitsblätter aus, die sie so weit bearbeiten sollten, wie sie konnten. Danach besprach er mit ihnen die Ergebnisse und half ihnen, sofern sie nicht selbst auf die Lösungen gekommen waren. Das machte Jaro Spaß, während Lilith sich mühsam durch die Aufgaben kämpfte. Mathe war eindeutig nicht ihr Lieblingsfach.
Später bei Kunst, wozu mussten Wolfswandler alles über Fotografie wissen?, war seine Halbschwester ganz in ihrem Element. So verschieden waren eben Geschmäcker.
Zum Glück kam dann die Pause und damit erst einmal ein Durchatmen vom stressigen Kunstunterricht. Seine Hoffnung, dass Lilith sich an ihre Freundinnen hing, wurde nur halb erfüllt. Erst schnappte sie ihn und lieferte ihn bei Tynan ab, ehe sie selbst weiterzog. Jaro war nicht dumm. Das sollte zu seiner Überwachung dienen, damit er unter Garantie keinen Kontakt zur Ni-Wa aufnahm. Dumm war seine neue Familie wirklich nicht.
Im Gegensatz zu Lilith zog ihn Tynan nicht in eine stille Ecke, wo niemand sie belauschen konnte. Er textete ihn inmitten der anderen zu, erklärte einige Regeln und Besonderheiten der einzelnen Rudel.
Die Kirkanes im Westen von Beast Valley kontrollierten die Grenze zur Stadt hin. Es gab manchmal Einzelgänger, die hier wilderten und verjagt werden mussten. Denn es konnte sich leicht herumsprechen, wenn Wilderer nicht vertrieben wurden. Dann hatte man nachher Meuten von rudellosen Wölfen, die über das Tal hereinbrachen und die regierenden Rudel töteten oder verjagten.
Die Banes im Osten waren die schwächste Familie, weshalb sie die undankbare Aufgabe hatten, sich um die Anpflanzungen zu kümmern. Wolfsmenschen lag das Jagen und Erbeuten von Tieren im Blut, nicht aber das Bestellen von Feldern. Doch als Menschen brauchten sie nun mal auch Getreide und andere Feldfrüchte. Nicht alles wurde in der Stadt gekauft.
Die Davis’ waren seit Generationen das stärkste Rudel. Deshalb gehörte ihnen auch ein Großteil der Ländereien in Beast Valley und auch das Gästehaus im Norden. Für gewöhnlich war das der Altersruhesitz vom Alpha, wenn sein Sohn das Rudel übernahm. Sie sorgten dafür, dass nicht zu viel Wild gerissen wurde. Denn es gab immer wieder Jungwölfe, die einfach aus Entdeckerfreude Rehe anfielen oder Hasen und Füchse jagten. Da schritten sie ein. Das Gleichgewicht musste erhalten bleiben. Bei drei Rudeln in einem relativ kleinen Territorium war das notwendig.
„Lilith hat etwas von einem Wettbewerb erzählt“, warf Jaro ein. „Wenn doch unser Rudel immer gewonnen hat und eine so wichtige Aufgabe seit Jahrzehnten wahrnimmt, weshalb Wettkämpfe?“
Tynan sah seinen jüngeren Halbbruder fragend an.
„Nehmen wir mal an, die Banes gewinnen dieses Jahr. Wie sollen sie so schnell in die neue Aufgabe hineinwachsen, die Wildtiere zu beschützen? Und wenn die Kirkanes letzter sind, woher sollen sie plötzlich wissen, wie man Getreidefelder bearbeitet?“
„Die Banes können nicht gewinnen“, antwortete Tynan und blickte verwundert. Als wäre dieser Gedanke völlig unmöglich. „Es geht höchstens um die Vorherrschaft durch die Kirkanes. Und wir haben keine so unterschiedliche Aufgaben. Wir jagen Wilderer innerhalb unserer Rudel. Die Kirkanes jagen Wilderer von außerhalb des Tals.“
So langsam begriff Jago. Da die Banes als Versager innerhalb der Rudel abgestempelt waren, hatten sie nie die Chance, sich wirklich zu beweisen. Keine Frau und kein Mann, die Wert auf Erfolg und Ansehen legten, ließen sich mit einem Bane ein. Wo aber keine guten Gene hineinkamen, konnte auch nichts wirklich besser werden. Nur ein oder zwei herausragende Wölfe reichten einfach nicht. Das gesamte Rudel musste stark sein.
„Um was für einen Wettbewerb handelt es sich denn?“
„Ein Rudel besteht ja nicht nur aus Muskelprotzen, die grimmig durch die Wälder jagen und jedem Angst einflößen. Schulische Leistungen sind ebenso Bestandteil der Bewertung wie die sportlichen Übungen, die wir in unserer Wolfsgestalt absolvieren. Dazu gehören Geruchsübungen, Ausdauer und natürlich Kraft. Manches müssen wir in beiden Gestalten beherrschen wie Ausdauer und Kraft, doch Gerüche oder Hörübungen sind dann speziell für unsere Wolfsgestalt.“
Das klang sehr interessant und spannend. Kein Wunder, dass er möglichst schnell die Wandlung lernen und beherrschen sollte. Sonst gefährdete er den Sieg, da er natürlich als Mitglied der Alphafamilie besonders gewertet wurde. Ein Ni-Wa in der Alphafamilie brachte sicherlich sehr viel Abzug und vielleicht auch den letzten Platz ein.
Während Jaro noch seinem Halbbruder zuhörte, drang der ihm bekannte Duft in die Nase. Noch bevor er sie sehen konnte, roch er Asra und sein Herz schlug wieder einmal schneller.
Was er nicht verstehen konnte: Weshalb hatte Asra als Rudellose solch einen intensiven Duft? Es war kein Parfüm, da war er sicher. Doch einen natürlichen Geruch hatten nur höherrangige Wölfe innerhalb ihres Rudels. Die Rudellosen verströmten keinerlei Duftspuren. Und eine Ni-Wa sollte noch viel weniger Duftdrüsen haben. Jaro war nicht einmal sicher, ob Menschen so etwas überhaupt besaßen. Schweißdrüsen, ja, doch Duftdrüsen, um ein Revier zu markieren?
Gerade als er Tynan deswegen befragen wollte, klingelte es und die Pause war vorbei. Schade, aber er hatte später immer noch Zeit, alle Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen.
Lilith kam auf die beiden zu und nahm Jaro mit einem breiten Grinsen in Empfang. „Na, gut unterhalten?“
„Klar“, erwiderte Tynan, „nächste Pause ist Ciaran dran. Er soll auch lernen, wie man andere belehrt.“ Dabei lachte der Achtzehnjährige und eilte davon.
Jaro stöhnte. Auch das noch. Hoffentlich kamen sie nicht auf die Idee, ihm demnächst Sayo vor die Nase zu setzen. Mit einem Zehnjährigen wollte er sich wirklich nicht die Pause vertreiben.