Engage: Inspirationslose Beobachtung
von Yumestar
Kurzbeschreibung
Es ist ein gewöhnlicher Tag in Somniel. Louis schaut dem Prinzenpaar von Firene beim Training zu, doch… Irgendwie sind seine Beobachtungen nicht sonderlich inspirierend. Sie fühlen sich… anders an, irgendwie war es… ermüdend. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Erst als Chloé in sein Sichtfeld tritt, kommt er langsam dahinter, was ihm fehlt. [Fire Emblem Engage; Sickfic]
KurzgeschichteFreundschaft, Schmerz/Trost / P16 / Gen
08.02.2023
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08.02.2023
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Fire Emblem Engage: Inspirationslose Beobachtung
Menschen zu beobachten hatte schon immer etwas… Beruhigendes, etwas völlig Faszinierendes, etwas, das einen zutiefst entspannen ließ, fast schon in eine Art transmedialen Zustand versetzte, ähnlich wie Müdigkeit einen in den Schlaf lullte.
Louis kämpfte damit, seine Augenlider offen zu halten. Jedes Mal, wenn sie ihm zufielen, kostete es ihm mehr Kraft, sie aufzuschlagen. Er blinzelte, er hob den Kopf von der Hand, er streckte sich in eine aufrechtere Sitzhaltung und doch… Die Erschöpfung blieb wie ein lästiger Plagegeist an ihm hängen, drückte seine Schultern runter, beugte seinen Rücken nach vorne, bis auch sein Kopf wieder auf die Hand zurückfiel. Seine Lider klappten zu.
Wirre Szenen aus vergangenen Schlachten schlichen sich an, vermischten sich mit Eindrücken aus seiner Heimat, den weiten Wiesen, den blühenden Apfelbäumen, die lächelnde Gesichter seiner drei Brüder, die sich freuten, wenn er nach Hause kam. Nahtloser Übergang. Die entstellten Gesichter der Verzerrten. Ihre hängenden Mundwinkel. Ihre abgebrochenen Nasen. Ihre tiefschwarzen, dreckigen Rüstungen. Ihr übelkeitserregender Geruch, dieser penetrante Gestank, der dir wie eine Faust in die Nase schlug. Ihr stöhnendes Geräusch, wenn du ihnen eine Lanze durch den Bauch bohrtest. Das stöhnende Geräusch, wenn sie einen unschuldigen Bauer angriffen, ihn mit ihren Waffen die Haut durchschnitten, ihm die Knochen zermahlten, ihn auseinandernahmen wie man ein Stück Fleisch mit der Gabel auseinandernahm.
Louis schreckte aus seinem Tagtraum hoch. Die Übelkeit ließ ihn würgen, bittere Magensäure kroch seinen Hals hoch, nach einem kurzen Kampf mit sich selbst schluckte er sie runter. Er hustete. Sein Mund schmeckte nach Bittermandel und nach der schlechten Mahlzeit, die Clanne vor kurzem im Café serviert hatte.
Vor ihm auf dem Trainingsplatz trainierten das Prinzenpaar von Firene mit Magie und mit Speeren. Celiné wich dem gekonnten Wurf ihres Bruders aus und schoss Flammen in seine Richtung. Alfred rollte auf Seite, hob seinen Speer auf und stach seiner Schwester so gnadenlos in die Seite als wäre sie ein Feind. Celiné krümmte sich und bat mit einem Handzeichen um eine Auszeit. Alfred wirbelte den Speer in seiner Hand und klopfte mit dem flachen Ende auf den Boden, ein metallenes Geräusch, es klang beinahe siegreich. Dann reichte er seiner Schwester einer Hand und erkundigte sich wie es ihr ging.
Neben ihnen kämpften Chloé und Boucheron ungeachtet der Unterbrechung weiter. Chloé mit ihrem windzerzausten Haaren, die Louis gerne mit stürmischen Wellen verglich, stürzte sich von oben herab mit ihrem Pegasus auf Boucheron, der die Axt zum Kontern hob. Metall traf auf Metall. Das Klirren schien die Luft in Schwingungen zu versetzen.
Es war ermüdend, dieses Zuschauen, als würde er beide Kämpfe gleichzeitig kämpfen. Obwohl er nur beobachtete. Er schaute zu, wie Chloé sich vom Pegasus schwang und mit vorgehaltener Lanze auf Boucheron zurannte. Er schaute zu, wie Boucheron seine Axt schleuderte. Er schaute zu, wie Chloé den Kopf einzog, unbeirrt weiterlief und einen Treffer gegen Boucherons stählerne Rüstung erzielte. Es war, als würde er die Beschreibungen einer Geschichte lesen, in welcher der Protagonist nur beobachtete und zuschaute und sich seine Sachen dazu dachte. Es war… unendlich ermüdend.
Louis wollte aktiv sein, mit seinen Kameraden trainieren, seine Lanze schwingen, stärker werden, um seine Herrin in den nächsten Schlachten noch besser beschützen zu können, aber er war so müde. So verdammt müde. Er hatte nicht die Energie, um aufzustehen und irgendetwas zu tun. Also beobachtete er. Und er wartete darauf, dass ihm irgendetwas seine passive Rolle abschrieb.
„Louis, alles gut bei dir?“ Die Prinzessin setzte sich neben ihm ins Gras. Sie holte ein Fläschchen Heilwasser aus ihrer Tasche, tröpfelte es auf die Wunde und verzog eine Miene, als hätte man ihr ein heißes Eisen gegen die Seite gedrückt.
„Ja, doch. Dasselbe könnte ich Euch fragen, milady.“
„Die Wunde wird gleich verheilt sein. Sowas passiert bei Übungskämpfen. Aber ich meinte eigentlich, dass du ziemlich blass im Gesicht bist.“
„Oh.“ Er fühlte sich auch etwas schummrig, aber er hatte gedacht, dass es von der Erschöpfung herrührte.
„Du sagtest, du wolltest heute lieber beobachten als mit uns kämpfen. Kann es sein, dass du dich nicht wohl fühlst?“
„Hm.“ Louis dachte über die Antwort nach. Er glaubte nicht, dass es ihm schlecht ging, dieses Unwohl passte nicht genau zu dem, was er fühlte… Er hatte eher das Gefühl, heute nicht ganz… er selbst zu sein? Er wusste nicht, wie er das Unbeschreibliche in Sätze ausdrücken sollte. Also richtete er den Blick nach vorne. Beobachtete. Tat, als genügte ein zweites „Hm“ als Antwort.
Prinz Alfred kam zu ihnen. Sein königsblauer Mantel schwang imposant hinter ihm, der Wind durchwehte sein engelsblondes Haar, seine Finger umklammerten den Speer als sei es ein Symbol seiner Macht. Er kam Louis nicht hochnäsig vor, nur etwas… zu enthusiastisch bei den Übungskämpfen? Zu eifrig während des Trainings? Etwas zu gut gelaunt für einen Tag, an dem der Himmel nur bewölkt, nicht sonnig war? Oder empfand Louis lediglich so, weil seine eigene Stimmung im Keller war und jeder winzigste Lichtstrahl in seinem Auge brannte? Er schirmte die Sonne mit der Hand ab, als er zum Kronprinzen von Firene aufschaute.
„Na, Celiné, bereit für die nächste Runde? Und Louis, willst du nicht auch mal mitmachen?“
„Nein, danke. Ich schaue heute lieber zu“, lehnte Louis höflich ab.
„Jeder das Seine. Und wie sieht’s bei dir aus, Schwesterchen?“
„Ich glaube, ich gönne mir auch noch ein paar Minuten Pause.“
„Was, echt? Na schön, aber dann sind wir ja viel zu wenige… Gegen wen soll ich kämpfen?“
„Ich wäre gerne dein Trainingspartner.“
„Oh nein, Boucheron, gegen dich habe ich doch keine Chance.“
„Genau deswegen.“ Boucheron winkte ihn zu sich. „Wenn du stark werden willst, darfst du nicht immer nur die schwachen Gegner besiegen. Damit meine ich natürlich nicht, dass Ihr schwach seid, Celiné.“
„Schon klar. Ich weiß, was du meinst. Mein Bruder denkt, er sei der mächtige Prinz, weil er immer seine kleine Schwester besiegt. Dabei fällt er auf dem Schlachtfeld immer als letzter zurück.“
„Hey!“ Prinz Alfred schnalzte mit der Zunge. „Ich werde euch schon zeigen, was der Kronprinz von Firene so alles kann. Boucheron, halt dich bereit.“
„Alles klar.“
Sobald der Prinz zum Trainingsplatz zurückgekehrt war, stieß Louis unbeabsichtigt ein Seufzen aus, dass die Aufmerksamkeit seiner Prinzessin auf sich zog.
„Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?“
Louis presste die Lippen aufeinander, um keine vorschnelle Antwort zu geben. Wie drückte er diesen Zustand am besten aus? Was genau fühlte er? Er fühlte sich… Er fühlte sich… Er fühlte sich… Ihm lag das Wort auf der Zunge, aber er hatte keine Ahnung, wie er es aussprechen sollte.
Neben sich nahm er eine Bewegung wahr. Er fixierte die Frau mit einem Blick an, bevor sie den Rastplatz überhaupt erreicht hatte.
„Wow, Louis, man kann sich echt schlecht an dich heranschleichen“, meinte Chloé und strich sich einer ihrer stürmischen Meereslocken hinters Ohr. „Da Boucheron gerade mit dem Prinzen trainiert, wollte ich fragen, ob du mein Trainingspartner wirst.“
Louis leckte sich die Trockenheit von den Lippen. Chloé löste immer ein besonderes Gefühl in ihm aus – jedenfalls ein anderes Gefühl als er bei der Prinzessin oder bei der Göttlichen oder bei all den anderen Frauen und Männern hatte. Sich ihren wohlgeformten Körper anzuschauen, ihre flinken Bewegungen beim Kampf, die verschiedenen Ausdrücke in ihrem Gesicht, wenn sie sich freute oder frustriert war oder sich ärgerte – es erfüllte ihn stets mit einer Glückseligkeit, die er bei keiner anderen Beobachtung so stark empfand wie bei ihr. Manche hätten gesagt, er sei verliebt. Er glaubte schlichtweg, dass Chloé einzigartig in der Welt war und jeder ihre Schönheit und ihr Talent bestaunen sollte.
Auch jetzt vertrieb ihre bloße Anwesenheit die schweren Wolken, die über seinen Kopf hingen. Aber er brachte kein einziges Wort hervor. Er öffnete den Mund und musste husten.
„Ich wollte ein paar Sit-Ups machen. Vielleicht kannst du mich dabei unterstützen?“, sprach Chloé weiter, nachdem er sie gefühlte Minuten nur angestarrt hatte.
„Ah, ja, das klingt nach einer guten Idee.“
„Ich sollte mal schauen, ob mein Bruder noch lebt oder schon heulend am Boden liegt“, verabschiedete sich Prinzessin Celiné, stand auf und verschwand Richtung Trainingsplatz.
„Dabei wird es wohl eher Boucheron sein, der zuerst losheult, sobald er dem Prinzen auch nur einen Schlag verpasst hat“, murmelte Chloé und schüttelte den Kopf, als wäre ihr das am wenigsten wichtig. Sie reichte ihm eine Hand zum Aufstehen. Louis zog sich hoch. Die Berührung fühlte sich heiß an wie Flammen.
„Gott, Louis, deine Hand ist ja eiskalt. Ist alles okay bei dir?“
„Du bist heute nicht die Erste, die das fragt, aber ja, ich glaube schon.“
„Du glaubst?“
Er hüllte sich in Schweigen, weil ihm keine passendere Reaktion einfiel.
„Louis?“ Chloé legte einen Arm um seine Schulter. „Du kannst mit mir reden, wenn dich irgendetwas bedrückt.“
„Es ist nichts.“ Er befreite sich aus ihrem Griff. „Ah, das dahinten sieht doch wie ein guter Platz aus. Lass uns dorthin gehen.“
Er brachte zügig ein paar Schritte Distanz zwischen ihnen, damit Chloé nicht bemerken würde, dass seine Beine zitterten. Sein Körper wog eine gefühlte Tonne, auch ohne die schwere Eisenrüstung. Vielleicht wegen seiner Kleidung, die in Schweiß getränkt war und wie eine zweite Haut an ihm klebte. Oder wegen seines Kopfes, der das Gewicht einer Bowlingkugel hatte. Selbst seine Gedanken waren schwer und kamen kaum in die Gänge. Irgendwo dazwischen schwirrten immer noch die Hässlichkeit der Verzerrten und die Bilder seiner Heimat, wie ein Alptraum, der nicht aufhörte, ihn zu verfolgen.
Der Platz, den er ausgesucht hatte, befand sich im Schatten zweier riesiger Bäume, und war bewachsen mit niedrigem Gras. Aus der Ferne hörte man die Schreie und Zurufe vom Trainingsplatz. Vögel zwitscherten. Ein Hase hoppelte aus dem Gebüsch, erstarrte, als er sie erblickte, und floh, als sie einen weiteren Schritt taten. Chloé stieß ein leises Kichern aus. Es war ein warmes, fröhliches Geräusch, das zu der friedlichen Idylle des Ortes passte.
„Wie immer hast du ein außergewöhnliches Auge für unglaublich schöne Platze“, sagte sie und schaute sich um. „Es ist weit genug weg, dass die anderen uns nicht stören und der Boden ist nicht uneben. Perfekt für ein intensives Training.“
„Du gehst wirklich hart ran, Chloé.“
„Natürlich. In der letzten Schlacht konnte ich keine zufriedenstellenden Resultate liefern, aber…“
„Ich habe dich beobachtet. Deine Bewegungen, deine Aktionen, die Führung deiner Waffen waren außergewöhnlich gut, beinahe schon bemerkenswert. Es lag lediglich an dem Schützen, der sich dir von der Seite genähert hat, dass du so früh zurückfallen musstest.“
„Louis, selbst auf dem Schlachtfeld findest du noch die Zeit, mich zu beobachten?“
„Ja, ich beobachte immer. Jederzeit. So kann ich auch die Bewegungen des Feindes besser einschätzen.“
„Stimmt. Du bist immer an der Front, beschützt uns und kämpfst wie kein Zweiter. Du lässt kaum jemanden an dich heran.“
„So wie du das betonst, klingt es nicht wie ein erfreuliches Kompliment.“
„Tut mir leid, aber ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob du dir nicht zu viel zumutest. Ich kenne dich, du bist kein Typ für rohe Gewalt, du bist eine friedliche Person, völlig im Reinen mit dir selbst.“
„Du hast Recht, im Grunde könnte ich keiner Fliege etwas zu leide tun, aber wenn es darum geht, das zu beschützen, was mir lieb ist, kenne ich keine Gnade. Immerhin bin ich der tapfere Ritter der Prinzessin von Firene.“
„Und ich ihre treue Gehilfin. Ich sollte jetzt zu trainieren anfangen, um genauso zu werden wie du.“
„Nein. Du solltest trainieren, um besser als du selbst zu werden.“
Chloé schmunzelte hinter vorgehaltener Hand. „Also, wirklich. Nicht nur stark, sondern auch ein kluger Kopf. Du bist wirklich jemand besonderes, Louis.“
Hitze breitete sich auf Louis‘ Wangen aus. Für einen Moment glaubte er, dass ihm von all der Wärme schwindelig wurde. Er stützte sich an einem Baumstamm und atmete tief durch. Seine Sicht wurde schwarz.
Als er die Augen wieder aufschlug, war er noch erschöpfter als vorher. Als hätte er sich aus dem Schlucht eines ungeheuren Monsters gekämpft. Das Blut pulsierte ihm in den Ohren, er glaubte Schreie zu hören. Schreie, die nicht da waren. Schreie, die nur in seinem Kopf existierten. Schreie derjenigen, die er tot auf dem Schlachtfeld zurücklassen musste, egal ob Freund oder Feind.
„Louis? Was ist los?“ Chloés Worte rissen ihn aus den Gedanken.
Die Plötzlichkeit einer Antwort verlieh seiner Zunge die Fähigkeit zu lügen. „Ein Käfer. Ich dachte hier am Baum einen Käfer gesehen zu haben. Du magst doch keine Käfer, oder?“
„Eigentlich sind sie mir recht egal. Du verhältst dich seltsam, Louis.“
„Ach, tue ich das? Ich bin heute etwas neben der Spur, vergib mir.“ Er verbeugte sich, wie es sich für einen anständigen Ritter gehörte. „Lass uns mit deinem Training anfang– “ Er verlor das Gleichgewicht und setzte einen Schritt nach vorne, um nicht zu fallen. Obwohl sein Körper tonnenschwer war, ließ er sich so leicht umwerfen wie eine Fähnchen im Sturm.
„Louis!“ Chloé hielt ihn an beiden Schultern fest und schrie ihm förmlich ins Gesicht: „Was ist los!?“
„Ich… Ich…“ Die Sprache versagte ihm. Sein Herz klopfte so heftig, dass es bis in seinen Schädel hämmerte. Er legte den Kopf auf Chloés Schulter ab, weil er ihn kaum gehalten bekam. Weil die Schmerzen drohten, ihn zu überwältigen.
Chloe drückte ihn an sich und schlang die Arme um ihn, als wollte sie ihn vor dem Leid beschützen. Ihre Worte erreichten sein Ohr gedämpft, wie durch einen Unterwasser-Filter. „Du glühst ja förmlich. Du hast Fieber.“
„Fie… ber?“
„Oja. Warte, du setzt dich besser hin. Schaffst du das?“
Mit größter Mühe folgte er ihren Anweisungen und ließ sich unter dem Größeren der beiden Bäume nieder. Als er sich setzte, hatte er das Gefühl, von dem Gewicht ganz Somniel erdrückt zu werden. Sternchen flimmerten am Rande seiner Sicht. Die Übelkeit drängte sich mit heftigen Wellen seine Kehle hoch und er kämpfte dagegen an, weder das Bewusstsein, noch sein Frühstück zu verlieren.
„Ich öffne deine Weste, damit du mehr Luft kriegst.“
Louis hatte gar nicht bemerkt, dass er kurz und flach atmete, aber jetzt, wo er darauf aufmerksam gemacht wurde, war es beängstigend. Als verliere er nicht nur die Kontrolle über seinen Körper, sondern auch über die einfachsten, grundlegendsten Dinge, die ein Mensch zum Überleben brauchte. Daher lenkte er sich mit dem Gefühl der Finger ab, die auf seiner Brust tanzten.
Kurzerhand fiel das Gewicht seiner Weste weg. Er nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug. „Ich wusste gar nicht, dass ich…“
„Dass du krank geworden bist?“, ergänzte Chloé seinen Satz, als er ihn vor Keuchen nicht zu ende führen konnte. Er nickte und schloss die Augen, als die Ohnmacht drohte, ihn zu überwältigen.
„Komm, leg dich hin.“ Louis hörte das Rascheln seiner Weste. Eine Hand packte ihn an der Schulter und drückte seinen Oberkörper auf den Boden. Er leistete keinen Widerstand, dazu wäre sein Körper auch nicht in der Lage gewesen, er ließ sich einfach fallen. Sein Kopf landete auf etwas Weichem.
Erst als er die Augen mit unmenschlichen Kraftaufwand aufschlug und türkise Kleidung vor sich flattern sah, erkannte er, dass es Chloés Schoß war. „Entschuldige… die Umstände.“
„Alles gut, Louis. Werd‘ mir jetzt nur nicht mehr ohnmächtig, okay?“
„Irgendwie… wusste ich es.“
„Hm? Was meinst du?“
„Dass ich krank bin. Ich habe es gemerkt. Das Beobachten fühlte sich… anders an.“ Er stieß ein scharfes Husten aus. „Es hat mich nicht glücklich gemacht… Es war ohne Inspiration… Aber als ich dich sah… Als ich dich sah…“
Die Worte entflohen seiner Zunge, bevor er sie aussprechen konnte. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, sein Verstand trübte sich. Die Übelkeit schlug mit solch einer Heftigkeit zu, dass er zusammenzuckte. Ein Schaudern durchschüttelte ihn, gefolgt von einem Ausbruch kalter Schweiß. Er konnte nicht sagen, ob ihm heiß oder eisig war, beides irgendwie. Er schwebte zwischen zwei verschiedenen Zuständen.
„Louis, ich hol Hilfe, okay? Ich bin gleich wieder da. Bleib, wo du bist und werd nicht ohnmächtig.“ Chloé schob ihn sachte von ihrem Schoss auf die Weste. Ihre Schritte donnerten über den Boden. Ob sie rannte?
Louis konnte die Augen nicht öffnen, um nachzuschauen. Zum ersten Mal im Leben hatte er nicht die Kraft, jemanden oder etwas zu beobachten. Stattdessen spürte er das unheimliche Verlangen, zu schlafen, nicht zu kämpfen, nur zu schlafen, es geschehen zu lassen, in seine passive Rolle zurückzukehren. Er war kein Frontkämpfer. Er war kein tapferer Ritter. Er war ein Mensch, der bloß da sein wollte und die Ästhetik dieser Welt in sich aufnehmen wollte. Und einer der schönsten Ästhetiken, die diese Welt zu bieten hatte, war der Tod.