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Hand, Kopf und Herz

Kurzbeschreibung
OneshotDrama, Freundschaft / P16 / Gen
01.02.2023
01.02.2023
1
1.318
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Dies ist mein Beitrag für die Winter Drabbles 2022 für Forbidden to Fly.

Mich hat eine Idee für eine freie Arbeit einfach nicht losgelassen, ich hoffe, du hast Freude daran.

Meine inhaltliche Vorgabe für eine FA war, die Geschichte "Bitte thematisch wenigstens in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs (zu) verlegen."
Die förmliche Vorgabe, ein Tripledrabble mit mindestens 300 Worten zu schreiben, wurde ... interpretiert. Ihr findet 300 (Tripledrabble) + 111 (triple 1) + 600 (3 Doppeldrabble) + 3 * 33 (1/3-Drabble) Worte in dieser Geschichte.


***


Hand, Kopf und Herz


Mein lieber Junge,

ich bin glücklich und dankbar, dass ich wieder einen Brief von dir in den Händen halten darf. Die Nachrichten aus der Alten Welt, die uns in den letzten Wochen erreichten, haben uns alle sehr beunruhigt.
Ich soll dir herzliche Grüße von deiner Mutter und allen Verwandten ausrichten. Sie sind wohlauf und beten dafür, dass du das nächste Rosch ha-Schana endlich wieder im Kreise der Familie verbringen kannst.

Deine Schilderungen des Lebens an der Front haben alte Erinnerungen in mir geweckt. Verzeih deinem alten Vater, dass er dich ein weiteres Mal zum stummen Zuhörer seiner Lebensgeschichte macht. Die Schneeflocken, die gerade vor dem Fenster tanzen, tun ein Übriges, die Erinnerung aufzufrischen, und wie damals verwandeln sie sich auf dem Boden in braunen Matsch.
Sicher erinnerst du dich an das Foto der drei Jungen am See, jenes, das mit "Brothers Forever" angeschrieben ist.
Ich möchte dir ihre - unsere - Geschichte erzählen.
Die beiden anderen Jungen waren Max Wegener und Malcolm Wardle. Wir besuchten die gleiche Gymnasialklasse, waren Freunde, ja, Brüder. Unsere Namen begannen mit den gleichen Initialien, wie dir sicher aufgefallen ist. Das brachte uns zuerst zusammen, trotz unserer ungleichen Herkunft.

Max war der Sohn eines Kapitäns zur See und unbestritten der Held unter uns dreien. Es gab keine Mutprobe, die er nicht wagte, und er hatte Glück bei allem, was er unternahm. Sein kühnes Profil hätte jeder griechischen Statue zur Zierde gereicht.
Malcolm war der Sohn eines britischen Handelsattachés, er war der Gescheiteste von uns, half uns bei unseren Aufgaben, plante voraus und mahnte Max zur Vorsicht. Sein rotes Haar war gelockt und wollte sich keiner Frisur fügen.
Ich selbst war eher der ruhende Pol, ein Dichter und Philosoph, der Epen über Max' Taten und Malcolms Gedanken verfassen konnte.
Wir waren wie Hand, Kopf und Herz eines Wesens, verteilt auf drei Körper.

___


Zum Ende der Schulzeit schlichen wir ins Hafenviertel, ließen uns alle die Initialien unseres Mottos tätowieren, zur Mahnung, einander treu zu bleiben: "BF", Brothers Forever.
Nach dem Ende der Schulzeit verloren wir nie den Kontakt zueinander, selbst dann nicht, als Malcolm nach England zurückkehrte.
Als der Krieg begann, meldeten Max und ich uns freiwillig an die Front. Wir wurden der gleichen Einheit zugeteilt, lagen im gleichen Schützengraben, gaben einander Kraft, als die Front über Monate eingefroren war.
Der Briefverkehr nach England kam zum Erliegen, doch wir erfuhren über Freunde, dass Malcolm Aufklärungsflieger geworden war. Er sei glücklich, dass er seinem Land dienen könne und dabei niemanden töten müsse, so hörten wir.

___


Der junge GI blies die Schneeflocken vom Blatt in seiner Hand und hauchte auf die erstarrten Finger. Dann las er gebannt weiter, sah in den blumigen Worten seines Vaters das Geschilderte vor sich.

___


Die Saukälte in den letzten Tagen hatte den Boden im Schützengraben gefrieren lassen, der Frost drang durch die dünnen Sohlen der Stiefel, die Füße brannten von der Kälte. Und doch war das besser als die die Feuchtigkeit, in der die Soldaten die letzten Monate gewatet waren.
Der Soldat spähte mit zusammengekniffenen Augen nach Westen, fast direkt in die tiefstehende Sonne. Von dort kamen die Flieger der Briten. Sie kamen immer aus Richtung der Sonne, um so lange wie möglich unentdeckt zu bleiben.

Ein Spatz landete auf dem Drahtverhau vor dem Graben, wippte mit dem Schwanz und sah den Soldaten von der Seite an.
"Kaum ist es ruhig, kommt ihr wieder her, was? Willst du etwas Brot?"
Der Spatz legte den Kopf schräg, hob nervös die Flügel. Der Soldat kramte vorsichtig in seiner Tasche, aber nicht vorsichtig genug. Der Spatz flatterte davon.
Max neben ihm lachte. "Der Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach? Du solltest wirklich auf die Taube warten, da ist mehr dran."
"Was spöttelst du, Max? Die Tiere verstehen den Krieg doch nicht, sie leiden naturgemäß mehr als wir darunter. Warum sollen wir ihnen da nicht helfen?"
Max lachte und schlug ihm auf die Schulter. "Dir ist nicht mehr zu helfen, Junge. Aber lock besser eine Taube an, die landet dann im Kochtopf, das sage ich dir." Er verdrehte genießerisch die Augen. "Stell dir vor, das Täubchen gefüllt mit getrockneten Beeren, ein wenig Salz, Rosmarin, das Ganze dünsten, du wirst sehen, wie lecker das schmeckt."
"Danke auch, jetzt knurrt mir der Magen."

"Von wegen Magen! Die Briten kommen! Los, ab in Deckung! Schützen an die Gewehre! Macht schon!" Der ganze Schützengraben war plötzlich in Aufruhr, die Soldaten drängten sich in die provisorischen Unterstände.
Dann waren die Flieger da, das Brummen der Motoren, das Blitzen der Sonne auf den Läufen der MG, das Rattern der Magazine, das Sirren der Querschläger.
Wie in Trance beobachtete der Soldat, wie der Schütze,der ihnen am nächsten war, sich aufbäumte, sich dann schreiend zusammenkrümmte. Sah, wie Max aus der Deckung hervorsprang, den Kameraden packte, ihn in Richtung des rettenden Unterstandes zerrte. Sah den nächsten Flieger herankommen, sah überdeutlich die Nummer, die vorne aufgepinselt war, sah, wie das MG geschwenkt wurde, sah das Mündungsfeuer, sah, wie Max stumm zusammensackte neben dem immer noch schreienden Schützen.  

Wie in Trance kniete er neben seinem Freund nieder, schob den Ärmel hoch, tastete nach dem Puls neben der Tätowierung "BF", der doch da sein musste. Er musste da sein. Aber er war nicht da.
Wie durch Nebel hindurch nahm er das Kopfschütteln der Sanitäter wahr und wie sein Freund fortgetragen wurde.

Als die Flieger zurückkamen, war nur noch heiße, verzweifelte Wut in ihm. Er packte das MG, erkannte das Flugzeug, das Max auf dem Gewissen hatte, und schoss, schoss, schoss.
Der Schütze im Flugzeug fiel vorwärts, hing einen Moment über dem MG und stürzte dann trudelnd und sich überschlagend zu Boden.

Seine Kameraden jubelten, rannten zu dem Gefallenen, während der Soldat langsam zu sich kam. Er hatte Max' Mörder getötet. Aber das brachte Max nicht zurück.
Es blieb: Er hatte getötet. Wen?
Langsam ging er auf die Traube Männer zu, die ihm, dem Sieger, bereitwillig Platz machte.
Ein staubgraues Gesicht, aufgeschürft vom Sturz auf die Erde. Der Kopf in einem unmöglichen Winkel zum Körper. Grotesk aufgerissene Augen. Das rote Haar kurz geschoren, aber man sah, dass es lockig sein musste.
Vorherbestimmung? Grausames Schicksal?

Der Soldat spürte, wie sich ein Klumpen bitterer Gewissheit in seinem Magen formte.
Er kniete sachte nieder und schob den linken Ärmel des gefallenen Briten zurück.
Er wusste, was er dort sehen würde.

___


"Ach, Vater."
Der junge GI trocknete sich die ... Schneeflocken aus dem Gesicht. Er hatte das vergilbte Foto nie beachtet, doch jetzt war ihm, als sähe er die drei Jungen darauf leibhaftig vor sich.


___


"Mein Junge, du siehst, für einmal hatte ich meine Gemütsruhe verloren, und du siehst, was ich damit angerichtet hatte.
Ein Fieber befiel mich an diesem Tag, das mich so heftig schüttelte, dass ich aus dem Lazarett ins Krankenhaus in der nahen Stadt verlegt wurde. Als ich mich endlich aufgerappelt hatte, glaubte ich lange Zeit, dass ich nun der nächste wäre.
Doch eine grausame Macht bestimmte, dass ich alle Gefahren überleben sollte, das Herz allein ohne Kopf und Hand.
Dann heiratete ich deine Mutter und du wurdest uns geschenkt.
Ich fand mich wieder als Hand unserer kleinen Familie, deine Mutter wurde ihr Herz und du unser ganzer Stolz. Der Kreis schloss sich."

___


"Was ist das für ein Brief, Max Malcolm? Wieder eine langatmige Tirade deines Vaters?"
Der junge GI lächelte und faltete den Brief zusammen.
"Ganz im Gegenteil. Aber lass uns später darüber reden, einverstanden?"
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