Gefährlich wenn man träumt
von OfficerSnickers
Kurzbeschreibung
Isabella hat einer Zukunft, in der sie ihre Familie nicht länger an menschenfressende Monster opfern muss, längst entsagt. Trotzdem beschleicht sie immer stärker das Gefühl, dass alles anders werden könnte, und die Frage beginnt sich ihr aufzudrängen, was passieren würde, sollte sie es wagen, von mehr zu träumen als dem, was sie in ihrer Stellung als Zuchtleiterin zu bewahren versucht.
SongficDrama, Familie / P12 / Gen
Isabella
23.01.2023
23.01.2023
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Niemand, wirklich niemand: Wie viele Fanfiktions willst du über Isabella schreiben?
OfficerSnickers: Ja
A/N: Hallo ihr Lieben und herzlich willkommen zu dieser Songfic! Ich konnte es mir einmal mehr nicht nehmen lassen, mich von einem Lied zu einer hüstel, kUrZeN Charakterstudie verleiten zu lassen, und es traf mal wieder Isabella. Das entsprechende Lied stammt aus dem Frozen-Musical und trägt, wie die Geschichte auch, den Titel „Gefährlich wenn man träumt“. Ich habe mich insbesondere von den Lyrics der englischen Version „Dangerous to dream“ inspirieren lassen, aber auch Bezug zur deutschen Variante genommen, da beide Texte teilweise sehr unterschiedlich, im Kern aber dennoch auf Isabellas interessantes Wesen passen.
Wenn euch die Songfic gefällt, scheut euch nicht, einen Kommentar zu hinterlassen! Selbiges gilt selbstredend, wenn ihr Kritik üben möchtet, für die ich immer zu haben bin ^^ Lange Vorrede, gar kein Sinn, ich wünsche euch jetzt viel Spaß mit der Fanfiktion!
Es war bedauerlich, ja wirklich.
Der Status quo war aufrecht erhalten worden, Tag für Tag für Tag. Doch Isabella wusste, dass es niemals mehr so sein würde wie nach der scheinbar unendlich langen Sekunde, als das Monster ihr ein Kuscheltier in den Arm legte. Connys Kuscheltier, ihren Plüschhasen. Den Isabella selbst geschneidert hatte, erst wenige Wochen zuvor, anlässlich des sechsten Geburtstages ihrer süßen, kleinen Tochter.
Ihres letzten Geburtstages.
Denn Conny war gestorben. Durch einen Stich ins Herz, der eine einstmals unschuldig weiße Blume in der Farbe ihres Blutes erblühen ließ. Und zwei ihrer Kinder dessen Zeuge worden und hinter das Geheimnis des Waisenhauses Grace Field House kamen. Hinter die entsetzliche Realität ihrer viel zu kurzen Existenz. Sie alles verstanden. Wer sie in Wirklichkeit waren. Fleischmenschen, geschaffen um von Monstern verspeist zu werden. Wer Isabella war. Eine Zuchtleiterin, die ihre Kinder an ebenjene Monster auslieferte, mit einem Lächeln auf den Lippen, das sie sonst doch nur ihrer ach so geliebten Familie schenkte.
Ab da an konnte Isabella nicht länger die für die sein, für die die Kinder sie ihr gesamtes, allzu kurzes, aber glückliches Leben gehalten hatten. Sie sah die Realisierung dessen, was sie nie gewesen war, in Normans stechenden Blick; sein Mund, er lächelte sie auch weiterhin an, als hätte er die Leiche seiner kleinen Schwester nie gefunden in jener Nacht, und seine Stimme war weiterhin freundlich, sein Verhalten gütig. Doch zweifelsohne, für Norman war Isabella nicht länger die, die ihn in Liebe aufgezogen hatte.
Keine Mutter mehr, nein.
Für Norman war sie ein Monster.
Ein Monster, wie die menschenfressenden Kreaturen, die sich einst an ihrer eigenen Familie und jetzt an ihren Kindern gütlich taten? Oder ein Monster solcherart gar, das so viele arme Seelen erst an sie veräußerte?
Oh, wie recht Norman damit doch hatte. Wie immer. Und wie sehr er im gleichen Atemzuge damit falsch lag. Das erste Mal in seinem Leben.
Es war unleugbar, dass Isabella ein Monster war. Sie wusste selbst am besten um ihre mit Blut und Schuld benetzten Klauen, um ihre Reißzähne, die sich in die Herzen der Kinder schlugen und ihnen klaffenden Wunden zufügten, die niemals wieder würden heilen können. Sie wusste um den Schmerz, den sie unter ihnen säte, den Stachel des Verrates, der sich in jeden einzelnen von ihnen bohrte, mit jedem vergehenden Tag ein Stück tiefer und tiefer, bis es auch den letzten Funken Hoffnung auslöschte. Wahrlich, sie wusste um all das, und bedauerte es, und konnte doch nicht davon lassen. Es blieb ihr keine Wahl. Sie musste eine Mama sein, musste die beste, perfekteste Ware heranzüchten, die man sich nur vorstellen konnte, statt das zu sein, das Norman einstmals in ihr gesehen hatten.
Eine Mutter, die ihre Kinder liebte, behütete, beschützte, vor allen Monstern dieser Welt, imaginäre wie Wirklichkeit gewordene Albträume. Dabei wollte Isabella nichts lieber als eben das sein. Wollte doch nur Norman an sich drücken, seine Sorgen und Ängste und vor allem seinen maßlosen Zorn beschwichtigen und ihm versprechen, dass ihm niemals etwas zustoßen würde, solange sie lebte.
Aber… sie konnte… durfte es nicht sagen. Stattdessen…
„Herzlichen Glückwunsch, Norman.“
Die Worte waren wie Gift, das von ihren lächelnden Lippen perlte.
„Deine Auslieferung steht fest.“
Sie hatte ihr Leben lang Zeit gehabt, sich auf ebenjene Worte vorzubereiten. Hatte es, seit ihr gedämmert war, dass keine glorreiche Zukunft sie erwartete, sondern nur der Tod. Plötzlich oder quälend langsam, aber unmissverständlich der Tod. Mit dem sie seit ihrem zwölften Lebensjahr lebte, ebenso wie mit der tickenden Zeitbombe in ihrer Brust, mit der Schuld der Überlebenden. Ja, sie hatte sich ihr Leben lang darauf vorbereitet, sie auszusprechen.
Warum nur war es trotzdem so schwer, sie über sich zu bringen?
Vielleicht… weil sie sich nicht auf diese Worte gefasst gemacht hatte.
„Adoptiveltern wurden für dich gefunden.“ „Es gibt jemanden, der dich adoptieren möchte.“ „Du wirst bald eine richtige Familie haben.“
Mit diesen Versprechungen hatte sie ihren Sohn in den Abgrund führen sollen. Aber genau sowenig, wie Isabella ihm die reine Wahrheit hatte schenken können, wollte sie ihn länger anlügen. Sie schickte Norman zur Mauer, zum Abgrund, zum Rande des Nichts, um ihm zu verstehen zu geben, was auch sie einst hatte verstehen müssen.
Es gibt keinen Ausweg. Nicht aus dieser Farm, und nicht aus diesem Leben, das nicht uns selbst gehört. Es ist sinnlos, es ist gefährlich, von mehr zu träumen als dem, was uns gegeben wurde.
Womöglich, dachte Isabella bei sich, als sie die abgrundtiefe Angst in Normans Augen sah, stand auch sie immer noch am Abyss. Hatte sich keinen Millimeter seit Leslies Tod und ihrer eigenen Auslieferung davon fortbewegt. Auch wenn… auch wenn ihre Füße sie vorangetrieben hatten. Es gemusst hatten gar. So wie sie sich aufschneiden und wieder zunähen ließ, das eigene Herz erstarrt und verdrahtet. Hatte sich durch die Schlangengrube des Hauptquartiers gekämpft und war dabei so oft gebissen worden, dass in ihren Adern nicht länger Blut, sonder pures Gift rann. War zu einer Mama geworden. War es immer schon gewesen, wie alles, alles, alles in ihrer kümmerlichen Existenz sie hierherführte.
Eine Mauer und Abgrund hatten Isabella einst daran gehindert, ein Leben zu führen. Eines, das es wert gewesen wäre, es als solches zu bezeichnen. Sie hätte entweder an der Erklimmung der unüberwindbaren Wahrheit dieser Welt scheitern oder sogleich in den Abgrund stürzen können, um von ihm verzehrt zu werden. Sie hatte keines von beiden getan. Stattdessen war der Abgrund in ihr selbst herangewachsen, gleich dem Kind, das sie hatte gebären müssen, um eine Mama werden zu können. Ein solch tiefer, finsterer Abyss, dass Isabella ebenso Mauern darum hatte errichten müssen, um sich nicht in ihr selbst zu verlieren. Eine unüberwindbare Mauer hatten die erwachsen gewordenen Fleischmenschen sie genannt… die Frau aus Stahl, ohne Gefühle, ohne Reue und ohne Mitleid für sich und andere in sich bewahrend.
Doch…
Das war nur die halbe Wahrheit. Ach, nur ein kosmisch kleiner Teil davon. Isabella konnte nicht verleugnen, dass es sie kaum mehr berührte, wenn sie ein Kind in den Tod führte. Sie hatte es zu oft getan, um sich selbst noch Empfindungen erlauben zu dürfen, gar zusammenzuzucken bei den letzten, verzweifelten Schreien der ihr Anvertrauten. Sie durfte sich nicht beklagen, über jene Albträume, die sie des Nachts heimsuchten, nicht aufhören zu lächeln, wenn ihre Kinder schließlich zu ihr zurückkehrten, als anklagende Abbilder ihrer selbst, die ihr den Schlaf raubten.
Sie durfte nicht Ray bedauern, den sie aus ihrem auf Lügen und Täuschungen basierenden Bündnis entließ.
Sie wagte es kaum, Emma zu trösten, der sie gerade das Bein mit ihren eigenen Händen gebrochen hatte.
Und vor allem durfte Isabella nicht zulassen, dass Normans vorzeitige Auslieferung ihr das Herz zerriss.
Denn das hätte es, wenn sie überhaupt noch imstande gewesen wäre, so zu empfinden. Es war nicht Isabellas Entscheidung, den Jungen vorzeitig aus ihrer Obhut zu entlassen, und alles in ihr widerstrebte sich dem Gedanken, Norman jemanden Fremden zu überreichen wie eine Trophäe, die es galt zu erlangen. Er würde nicht sterben, sondern nach Lambda gebracht; ein anderer hätte das wohl als Chance empfunden, weiterleben zu dürfen, aber Isabella war klar, dort würde nichts als Leid auf Norman warten. Der Tod, herbeigeführt durch eine Vida im Herzen, wäre schnell vergangen. Schmerzlos sein, beinahe zumindest. Das Ableben in Lambda, es würde eine Ewigkeit andauern. Das hatte Norman nicht verdient, und in Isabella wuchs der Zorn darüber heran, wenn sie an das Schicksal ihres Sohnes dachte.
Der Zorn allerdings, er nützte nichts, denn sie konnte ihre wahren Gefühle nicht zeigen. Musste sie verbergen, vor Peter Ratri, der ihr eines ihrer Kinder nahm, und vor allem vor Norman selbst, den sie gehen zu lassen hatte. Ein letztes Mal durfte sie seine schmale Gestalt an sich drücken, gleich dem Tag, als sie ihn das erste Mal in den Armen hielt, bevor sie ihn weiterreichte, als wäre er ein Spielzeug, dessen sie überdrüssig geworden war, und das nun ein anderer an ihrer statt begehrte.
Wenigstens konnte Isabella Norman verabschieden, ihm sagen, dass sie ihn sehr lieb hatte und ihm alles Glück der Welt wünschte. Er würde es ihr nicht glauben, und auch nie erfahren, wie unfassbar leid ihr das alles tat. Dass sie nicht so kalt war, wie sie für ihn erscheinen musste, und dass sie jeden einzelnen mit ihm geteilten Moment bewahren würde. Norman konnten sie ihr vielleicht wegnehmen, aber nicht die Erinnerung an ihn. Selbst wenn er selbst das niemals erfahren durfte. Auch wenn es keinen Unterschied machen würde, weder für ihn, noch für Isabella.
Und dass es vergeblich gewesen wäre, gefährlich gar, von mehr als diesem Abschied zu träumen.
Isabella gab Norman auf, genauso, wie sie Ray aufgab.
Seitdem sie die Hand der Großmutter ergriffen hatte, um nicht zu sterben, um eine Mama zu werden, um ihre Kinder an menschenfressende Monster zu verraten, hatte sie darum gewusst. Für Jungen gab es keine Zukunft, egal wie klug und besonders sie auch sein mochten.
Es hatte niemals eine gegeben, genauso wenig wie für Leslie.
Das Einzige, woran sie sich klammern durfte, waren die Mädchen. Talentierte, einnehmende, bewahrenswerte Mädchen. Sie waren so rar, seltener und kostbarer als Diamanten, und wann immer eine Zuchtleiterin einen fand, durfte sie ihn behalten. Oder eher… ihn weiterreichen, an das Hauptquartier, an die Großmutter. Damit diese aus dem ungeschliffenen Kiesel einen funkelnden Edelstein formte, so wie jahrelanger Druck und beständiges Einhämmern auf das reale Vorbild zu perfekten Ergebnissen führte.
Einstmals war Isabella selbst so ein ungeschliffener Diamant gewesen. Deswegen war es ihr nicht schwer gefallen, die Spreu vom Weizen zu trennen und ihresgleichen darunter zu entdecken.
In den zwölf Jahren, die sie eine Mama war, gab es nur ein Kind, in dem sie eine Zukunft sah. Ein einziges Mädchen, das es verdiente, zu überleben. Die stark genug war, den Weg zu bestreiten, den Isabella bereits gegangen war.
Emma.
Ihre süße, kleine, schlaue Emma. Seit die Großmutter sie ihr überreichte am Tor, war Emmas Lächeln nie vergangen, mit dem sie ihre zukünftige Ziehmutter begrüßt hatte. Ein wahrer Sonnenschein war sie gewesen, so erfüllt von einem inneren, wärmenden Licht, dass Isabella sich manchesmal geblendet hatte abwenden müssen von ihr. Selbst an den grauesten, wolkenverhangensten Regentagen hatte Emma sie alle in ihrem Lichte baden lassen, denn sie liebte ihre Familie, ihre Mama ebenso sehr, wie sie selbst von ihnen geliebt wurde.
Es war wahrlich naiv gewesen von Isabella zu glauben, dass dieses Licht niemals erlöschen würde.
Nun war sie schlauer. Sie wusste, sie hatte Emmas Strahlen und ihre Herzenswärme für immer verloren, nachdem Conny starb und Norman ausgeliefert wurde. So wie diese Kinder und noch viel mehr vor ihnen nicht wiederkehren würden, würde auch nicht der Tag kommen, an dem Emma einmal mehr an ihrer Seite stände. Als Erwachsene. Als Schwester. Als Mama, irgendwann.
Es war Isabellas Wunschtraum gewesen, Emma zu einer Zuchtleiterin zu machen, wie sie selbst eine war. Das Mädchen hätte es verdient gehabt, und sie hätte es ohne Schwierigkeiten gekonnt, wenn sie nur willens gewesen wäre. In ihr schlummerte Talent, Intelligenz und vor allem ein ganz besonders großes, einfühlsames Herz. Mit jedem weiteren Tag unter Isabellas Obhut hatte sie sich Emma immer deutlicher vorgestellt, wie sie alle Hürden ihrer Ausbildung überwand und zu ihr ins Waisenhaus zurückkäme, in der Tracht einer Schwester. Nur sie beide. Mutter und Tochter. Mama und Schwester. Isabella und Emma.
Nur sie beide, und niemand sonst.
Allerdings…
Emma verweigerte sich ihr. Biss und schlug sie hinfort, obgleich ihr längst Zähne und Klauen gezogen worden waren, und sie in tiefster, erstickenster Verzweiflung zu versinken drohte. Isabella hatte ihr eine helfende Hand gereicht. Angeboten, ihr ein Empfehlungsschreiben zu verfassen, damit sie eine Mamakandidatin werden konnte. Damit sie leben würde. Und Emma hatte einfach abgelehnt.
Lieber wollte sie sterben, als so zu werden wie Isabella.
Sie konnte das Mädchen nur bedauern, wenn auch nicht allzu lange. Dann sollte es eben so sein. Es war nicht zu ändern. Emmas idealistisches, verqueres Weltbild war nicht zu ändern.
Seitdem die Wahrheit über das Waisenhaus aufgedeckt worden war, schlichen sie umeinander herum, erfüllt von Misstrauen und Schweigen. Die Liebe, die Emma einst für sie hegte, war verschwunden, wie Emma selbst, und Isabella empfand nicht viel anders.
Nun, da sie Emma endgültig verlieren würde, da ihr ungeschliffener Diamant zerbrochen war, war ihr jegliche Wärme abhandengekommen, die ihre geliebte Tochter ihr einst schenkte.
Natürlich wünschte Isabella sich insgeheim, dass alles anders wäre. Dass sie nicht in einer Welt lebten, in der Monster Menschen fraßen, und in der Eltern ihre Kinder an diese Ungeheuer verraten mussten, um selbst zu überleben. Doch dies war nun einmal die Welt, in die sie hineingeboren worden waren, und egal welch hoffnungsvolle Träumereien auch in ihren Herzen erwachsen mochten, war sie eben nichts weiter als das – Träume. Sinnlos, irreführend, gefährlich.
Das einzig Wahre, das Bestand hatte, war die Wahrheit. Selbst diese musste Isabella ihren Kindern verwehren, allen voran Emma, sollte sie versuchen, sie auch gegen den Willen des Mädchens am Leben erhalten zu wollen. Sie konnte Emma unmöglich sagen, dass es ihr mitnichten Freude bereitete, ihre Kinder auszuliefern, oder dass sie einst ebenso bitterlich weinend in ihrem Bette lag und ihre Mama verfluchte, die ihr ein Angebot unterbreitete, das keines war, sondern nichts als ein Fluch, den sie sich selber auferlegt hatte. Emma zu zeigen, wer sich wirklich hinter der Fassade der Mama, der unüberwindbaren Mauer verbarg. Wozu all der Schmerz und das Leid gut sein sollten, obwohl es doch eigentlich zu gar nichts gut war. Dass sie augenblicklich gewillt gewesen wäre, das Leben ihrer Kinder zu schützen, nicht nur das ihrer bevorzugten Tochter, wenn auch nur der Hauch einer Chance dafür beständen hätte. Und dass die Schreie der Ermordeten sie ebenso im Schlaf verfolgten wie das Geräusch, das Emmas Bein machte, als sie es mit ihren eigenen Händen zerbrach.
Wünsche nur, Sehnsüchte gar, die niemals das Licht der Welt erblicken würden. Nicht das Licht, das einst Emma inne gewesen und das nun erloschen war, für immer.
Womöglich war es Isabellas eigene Schuld, dass die Hoffnung, Emma nach ihrem Vorbld zu formen, eine unmögliche gewesen war. Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, sich in dem Mädchen wiederzuerkennen, in ihrer offenen, fröhlichen Art, ihrem Sinn für Gemeinschaft und Familie. In ihrer Fähigkeit, jedes einzelne ihrer Geschwisterkinder zu lieben, egal, wie verschieden sie auch sein mochten.
Dabei war Emma im Grunde ihres Herzens ganz anders, als Isabella es je für möglich gehalten hatte. Verschlagen, tricksend, täuschend, wenn sie denn nur wollte. Ihr Lächeln konnte nicht nur ihrer guten Laune heraus entspringen, sondern aus kalter Berechnung heraus geboren werden, um die Erwachsene zu verwirren. Sie schmiedete Pläne, die Isabella fremd und vertraut zugleich waren in ihrer Radikalität, immer mit dem hehren Ziel, jeden einzelnen aus ihrer Familie zu retten.
Isabella mochte einmal wie Emma gewesen sein. Genauso extrem, genauso hoffnungsvoll. Heutzutage gehorchte sie nur noch den Monstern, war beständig auf der Hut vor dem Hauptquartier und dem Waisenhaus selbst, denn jeder noch so kleine Fehltritt konnte ihr letzter sein. Sie durfte sich nicht einmal erlauben, sich einen einzigen Fehler vorzustellen, geschweige denn, ihn zuzulassen. Über die Jahre hinweg im Hauptquartier hatte sie genug Frauen gesehen, die ebenso ungestüm und emotional wie Emma gewesen waren, und die geradewegs in ihren Untergang zugesteuert waren.
Im Endeffekt waren Isabella und Emma wohl einfach zu verschieden gewesen. Die Eine wollte leben, um jeden Preis, und die andere war nicht bereit, ihn zu zahlen. So idealistisch war das Mädchen, ihre über alles geliebte Tochter, so schrecklich naiv… spätestens vor dem Tor würde sie erkennen müssen, dass man immer einen Preis würde zahlen müssen.
Den Preis dafür, zu träumen, egal wie gefährlich es auch sein mochte.
Die Asche, die den Flammen entstieg, verbrannte Isabellas Lungen, als sie durch die Nacht jagte. In ihren Ohren rauschte das Blut, sodass das Heulen des Winterwindes und das Knacken und Bersten des einstürzenden Waisenhauses kaum noch an sie herandrang. Für eine gefühlte Ewigkeit, obwohl es nicht mehr als Sekunden gewesen sein konnten, in denen sie davor verweilte, hatte sich das Bild des Gebäudes in ihre Netzhaut eingebrannt. Wie überaus passend… denn das Waisenhaus brannte, lichterloh, gehörte nun den Flammen statt ihr, und ihr würde nichts davon bleiben als ebenjene Asche, die sie zu ersticken drohte.
Das Waisenhaus mochte verloren sein, doch ihre Kinder waren es noch nicht.
Isabella rannte weiter, in Richtung Mauer, Richtung Abgrund, den sie nie überquert hatte und es auch niemals tun konnte. Genauso wenig wie ihre ihr anvertrauten Töchter und Söhne es tun würden. Allen voran Emma. Einmal hatte Isabella sich in ihr getäuscht – statt zu verzweifeln und resignieren, hatte das Mädchen auch nach Normans Auslieferung nicht aufgegeben. Hatte sich nicht aufgegeben und erst recht nicht das Leben ihrer Geschwister. Sie wollten fliehen. Sie würden es, sollte es Isabella nicht gelingen, sie rechtzeitig an der Mauer abzupassen.
Schon als sie vor dem Waisenhaus gestanden hatte und dabei zusah, wie ihre gesamte Vergangenheit und auch Zukunft zu Schutt und Asche verbrannte, war ihr ein Gedanke gekommen. Ein gefährlicher Gedanke. Was, wenn sie die Kinder einfach gehen ließe? Ihnen die Freiheit gewährte, die ihr selbst für immer verwehrt bleiben würde?
Noch konnte sie diese Entscheidung treffen, noch hatte sie die Flüchtigen nicht eingeholt und am Ausbruch gehindert. Eine Entscheidung, die allein ihr gehörte, nicht der Farm, nicht den Monstern, nicht Großmutter Sarah. Nur Isabella ganz allein.
Dass ihr dieser Gedanke überhaupt kam… er wäre ihr sicheres Todesurteil. Jedoch, war sie nicht sowieso längst dem Tode geweiht durch ihr Versagen, das Waisenhaus zu beschützen und diese Flucht im Keime zu ersticken? Ihre Schritte wurden langsamer, für einen Moment nur, ehe sie vom Neuen losrannte. Es war noch nicht zu spät, die Kinder wieder einzufangen, wenigstens ein paar von ihnen, und sei es nur ein Einziges – aber es war längst zu spät, um jetzt noch einen Wandel vollbringen zu wollen. Zu spät, und zu gefährlich, nicht nur für sie selbst. Das gesamte Farmsystem baute darauf, dass ihm kein Kind je entkäme. Es war an Isabella, dafür Sorge zu tragen. Und wenn sie, ausgerechnet sie, die unüberwindbare Mauer, die Frau aus Stahl, die fähigste Zuchtleiterin aller Zeiten, versagte… ihre Kinder freiwillig ziehen ließe… der Schaden wäre weder vorstellbar noch je wieder auszumerzen. Kunde von den entflohenen Fleischmenschen würde sich dem Feuer gleich, dass das Waisenhaus verzehrte, unter Monstern und Menschen verbreiten. Jeder würde von dem Versagen der Farm erfahren, und auch von ihrem eigenen. Zweifel würden daraus erwachsen, Aufbegehren und Veränderung bringen, die nie gewollt war, niemals.
Darüber war Isabella sich im Klaren, so wie nicht zu leugnen war, dass sie heute Nacht wohl die gefährlichste Person in ganz Grace Field war. Für die Kinder, denen sie unablässig nachsetzte, in der Hoffnung, sie noch einmal zur Umkehr bewegen zu können, aber vor allem für das System der Menschenfarmen. Wenn sie die Ausbrecher wirklich entkommen ließe… wenn sie alle Regeln bräche, die man ihr eingebläut hatte seit Kindertagen an…
Wer wusste schon, wie gefährlich Isabella dann wirklich sein konnte?
Isabella stand allein auf der Mauer. Die Leinenbahnen, mittels denen ihre Kinder den Abgrund überquert hatten, umflatterten ihre einsame Gestalt. Der Wind peitschte den Stoff auf und nieder, wie ihre Nachthemd, ihr offenes Haar. Er duftete nach Freiheit und einer Zukunft, in der keiner mehr gefressen werden würde.
Allein für Isabella wehte er nicht.
Das unsägliche Gefühl der Niederlage drohte, sie zu übermannen. Verloren. Versagt. Verlassen. Ihre Kinder waren klüger als sie gewesen, mutiger, und tapferer. Sie hatten getan, wovon Isabella nicht einmal gewagt hatte zu träumen, weil ihr bereits die Vorstellung, zu fliehen, als zu gefährlich erschienen war. Und nun… nun war sie von ihren von eigener Hand herangezüchteten Kinder überlistet worden, so spielerisch, als wäre Nichts leichter gewesen. Wie hatten ihr nur so viele Fehler überlaufen können? Ihr, der besten, perfektesten Mama in der Geschichte der Farmen, die sich hatte rühmen dürfen, die edelsten Gehirne heranzuzüchten? Wie hatte ihre Konzentration allein auf Emma, Norman und Ray liegen, und diese trotzdem eine Flucht organisieren können?
Isabella schnaubte auf. Nein. So sollte sie nicht denken. Es war ihre alleinige Schuld. Sie war einfach eine unfähige Zuchtleiterin, die ihre Ware nicht richtig beaufsichtigt hatte. Ihre hohe Stellung und ihr Ansehen hatte sie längst verloren. Ebenso wie ihre Kinder… sie weiter zu verfolgen würde ihr nichts mehr bringen, und auch nicht, ihren Fluchtweg zu verraten. Sie hatte verloren, endgültig, gegen ein paar Kinder.
Mehr war es nicht, das heute Nacht vorgefallen war.
Langsam, mit aller Zeit der Welt, die ihr jetzt noch verblieb, machte Isabella sich daran, die Schnüre aus den Bäumen zu klauben und sie in die Schlucht unter sich zu werfen, wo niemand sie je finden würde. Dabei sann sie darüber nach, wie sich ein Fehler auf den anderen aufgetürmt hatte, bis diese schließlich über ihr zusammenbrachen und ihr die Kontrolle vollends entglitt. Emmas und Normans Ausflug ans Tor, Rays Verrat, die Absetzung von Schwester Krone, die Offenbarung des Abgrundes… hätte sie an einem einzigen Punkt nur den Spielstein klüger gesetzt, dann wäre vielleicht alles anders ausgegangen.
Andererseits… es war nie Isabella gewesen, die ihr Schicksal in den Händen hielt, sondern die Kinder. Sie hatten sich in den letzten Monaten auf eine Weise entwickelt, die sie nicht hatte kommen sehen. Sie war arrogant genug gewesen zu denken, niemand würde ihr je das Wasser reichen können. Weil sie nur an sich selbst geglaubt hatte, und an niemand anderen sonst. Deshalb hatte sie verloren.
Ihrer Kinder wegen, und für ihre Kinder gleichermaßen.
Nichts fühlen. Nichts spüren. Schließ es in dein Herz ein. Lass dir deine Angst nicht anmerken. Schluck die Furcht hinunter, bis du fast darauf läufst. Bewahre deine Contenance. Stehe erhobenen Hauptes, bis sie dich zum Schafott führen und endgültig auf die Knie zwingen.
All das sagte Isabella sich immer und immer wieder vor, während sie zurück in die Realität kehrte. Nichts fühlen, als ihre verbliebenen Kinder abtransportiert und in die restlichen Farmen gebracht worden. Nichts spüren, als Großmutter Sarah Schimpf und Schande über ihr heraufbeschwor für ihren nicht wieder gutzumachenden Fehler, fünfzehn Kinder entkommen haben zu lassen. Ihre Träume, ihre Angst und auch ihre Liebe in ihr Herz einschließen, als Peter Ratri mit einem teuflischen Lächeln zu ihr in die Zelle trat.
Um ihre Hinrichtung zu verkünden, wie Isabella vermutete.
Um sie zur neuen Großmutter, der mächtigsten Frau innerhalb der Farmen zu machen, wie Peter Ratri es hingegen plante.
„Isabella ist ab sofort eurer aller Großmutter und Befehlshaberin“, verkündete der Erbe des Mannes, der vor tausend Jahren das Versprechen schloss und das zu diesem Moment führte, der Menge aus Schwestern und angehenden Zuchtleiterinnen. „Sie ist die von mir persönlich dafür ausgesuchte Person und ich setze ebensolch großes Vertrauen in sie, wie ich von euch für meine Entscheidung erwarte.“ Peter Ratri schenkte Isabella einmal mehr ein schlangengleiches Grinsen, das sie nicht minder zufrieden, wenn auch falsch, erwiderte. „Ihr werdet hier und heute eurer Großmutter die Treue schwören und mir versprechen, dass ich niemals Gelegenheit bekomme zu befürchten, ihr würdet nicht hundertprozentig hinter mir und meinen Entscheidungen stehen.“
„Yes, Sir, yes!“, donnerten die Frauen im Gleichklang, was den Ratrierben zufrieden auflachen ließ. Isabella selbst war beeindruckt, wie sehr sich die Schwestern allesamt zusammenrissen, denn sie ahnte nicht nur, sie wusste, dass niemand unter ihnen ihr Gutes sahn. Sie war für den Verlust wertvollster Ware nicht zur Verantwortung gezogen, sondern sogar noch belohnt und befördert worden, während die alte Großmutter an ihrer Stelle die Konsequenzen zu tragen hatte. Peter Ratri mochte etwas Wertvolles in ihr sehen, die Schwestern hingegen eine Gefahr für ihre eigenen Machenschaften, wenn nicht gar für das gesamte Farmsystem.
Oh, wie recht sie damit behalten sollten.
Isabellas Fingerspitzen glitten über das kühle Glas, das ihr Ebenbild spiegelte. Wie merkwürdig es doch war, sich selbst so zu erblicken – in dem mitternachtsdunklen Kleid, das ihre Schultern breiter, ihre Haltung erhabener und sie selbst größer erschienen ließ, als sie es je zuvor gewesen war. Gleichzeitig wirkte sie so viel jünger als noch vor Stunden, wie ihre Wangen vor Freude gerötet waren und sie einfach nicht aufhören konnte, zu lächeln. Aus einem einzigen Grund nur – sie lebte. Sie hatte wieder einmal zwischen Leben und Tod gestanden und wählen dürfen. Derlei Glück hatten nur wenige Auserwählte, einmal nur, und Isabella war bereits zum zweiten Mal verschont worden. Sie konnte es selbst nicht ganz glauben… dass sie den unverzeihlichen Fehler, fünfzehn Kinder entkommen und das Waisenhaus zerstören zu lassen, begehen konnte, und trotzdem nicht auf der Stelle getötet worden war… anders als die alte Großmutter. Anders als Sarah, die ihr einst die Chance eingeräumt hatte, erwachsen werden zu können.
Anders als Sarah, ihre Mama.
Isabella wandte sich vom Spiegel ab und betrachtete den Raum, der von nun an der ihrige sein würde. Statt des beengten Verhältnissen im Waisenhaus war sie großzügig bedacht und beschenkt worden, ganz ihrem neuen Titel als Großmutter gemäß. Es war ebenso kein Vergleich zur Zelle, in der sie die vergangenen zwei Tage ausgeharrt und auf den Tod gewartet hatte… dass sie Ausbruch und Verurteilung wirklich überstand, glich einem Wunder… sie hatte erwartet, dass nun alles zuende gehen würde. Es wäre in Ordnung für sie gewesen, andere von jetzt an die Fäden ziehen zu lassen und zu vergehen, wie so viele ihrer Kinder vor ihr. So wie Leslie, den sie gehofft hatte wiederzusehen nach ihrem Tod…
Dabei stand Isabella erst am Anfang ihres neuen Lebens und musste sich fragen, was sie nun tun sollte.
Die einfachste und vermutlich auch feigste Antwort war, Peter Ratri, den Monstern und der Farm weiter zu gehorchen. Als Großmutter dafür zu sorgen, dass nur die besten der besten Fleischmenschen herangezüchtet würden. Den guten Ruf der Farm weiter perfektionieren. Die Verluste wiedergutmachen. Blind gehorchen. Ohne eigenen Willen weiterleben, bis auch ihr das Messer in den Rücken gestochen würde wie Sarah. Nichts dabei fühlen, wenn sie dabei zusah, wie weiter bis in alle Ewigkeit Kinder getötet und gefressen werden. Nichts spüren, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Alles in ihr Herz einsperren, ihre Ängste, Zweifel, Sorgen, wie sie es bereits ihr ganzes Leben lang getan hatte.
Oder aber…
Ihre Kinder hatten ihr einen neuen Weg aufgezeigt. Unterwürfigkeit hatte keine Zukunft, ebenso wie blinder Gehorsam und bloßes Hoffen, dass die Dinge sich ändern könnten, ganz von allein. Nein, dafür musste man schon selbst die Hand ausstrecken um die Zukunft zu erreichen, die man sich wünschte. Denn es war möglich, in einer Welt zu leben, in der kein Kind mehr gefressen werden musste. Das hatte Isabella Emma und Norman und Ray und ihren Geschwistern sei Dank endlich selbst erkannt. Spät, beinahe zu spät. Doch endlich war ihr bewusst geworden, dass alles anders sein konnte, wenn sie denn nur wollte. Und wer, wenn nicht sie, die neue Großmutter, konnte Veränderung am Leben erhalten, wie selbst ihr eigenes, unbedeutendes Leben erhalten worden war?
Ihre Kinder würden zur Farm zurückkehren, eines Tages, um ihre zurückgelassenen Geschwister abzuholen. Solange würde Isabella auf sie warten und alles für ihre Rückkehr vorbereiten. Verbündete um sich scharen, Störenfriede aus dem Weg räumen, und Peter Ratri hinters Licht führen. Sie hatte bereits weit Schlimmeres durchgestanden als diese Aufgabe, die nun vor ihr lag.
Einzig der Zweifel blieb, ob die Kinder ihren Sinneswandel überhaupt akzeptieren würden. Isabella machte sich keine Illusionen – sie hatte ihnen Dinge angetan, die mit Nichts zu entschuldigen waren… Dinge, die sie nie wieder würde gutmachen können…
Allen voran nicht denjenigen, die sie selbst zum Tor geführt hatte.
Und doch, es war ihr egal. Sie tat das nicht, damit ihr verziehen wurde, oder aus Buße gar. Sondern damit ihre Kinder eine Zukunft hatten. Die Zukunft und das Leben, das sie nie hatte. Dafür war sie bereit, alles auf eine Karte zu setzen, das Hauptquartier in seinen Grundfesten zu erschüttern, bis es endlich soweit war, dass sie ihre Ausbrecher willkommen heißen konnte. Ihnen sagen, dass sie sie vermisst hatte. Wie stolz sie auf sie war.
Dass Isabella sie liebte, jeden Einzelnen von ihnen.
Allein, wie es danach weitergehen sollte, wusste Isabella jetzt noch nicht zu sagen. Sie mochte nun Großmutter sein, und alle Macht, die ein Mensch in dieser Welt haben konnte, in ihren Händen halten. Sie konnte die Farm nach ihrem Gutdünken walten und schalten lassen, und mit einem Fingerschnippen bestimmen, wer leben oder sterben musste.
Gegen Peter Ratri und allen voran die Monster würde das jedoch nicht reichen. Und auch wenn Emma käme, ihre Geschwister zu sich zu holen… was dann? Wo wollten sie Schutz suchen in einer Welt, die ihnen Menschen diesen schon seit tausend Jahren verwehrte?
Isabella schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf. Genug der Zweifel an ihren Kindern… sie hatte sie einmal unterschätzt und war von Emma eines Besseren belehrt worden.
Noch einmal würde ihr das nicht passieren.
Misstrauen. Furcht. Verwünschungen. Groll. Abgrundtiefer Hass.
Alles, was Isabella zu Lehrzeiten bereits von ihren Konkurrentinnen entgegengebracht worden war, und auch von den Schwestern in ihrem Rücken, bevor sie diese in ihre Pläne involvierte, schlug ihr nun vonseiten ihrer Kinder entgegen. Sie waren tatsächlich nach Grace Field zurückgekehrt, mit neuen, schlagkräftigen Verbündeten, allesamt. Emma, Don, Gilda, sogar Norman… Ray. Sie alle starrten Isabella an, als sei sie der Gevatter Tod höchstpersönlich, und gemessen an ihren dunklen Gewand, der Waffe in ihren Händen und dem nicht zu ignorierenden Fakt, dass sie so viele von ihnen in den Untergang geführt hatte, ja da war die Reaktion der Kinder nur verständlich. Insbesondere ihres eigenen Kindes…
Und auch noch, als Isabella sich auf ihre Seite schlug, sie die Monster besiegten und Peter Ratri den letzten Ausweg aus seiner endgültigen Niederlage nahm, blieb das Misstrauen bestehen. In allen von ihnen, wenngleich sie ihre frühere Mama umarmten und froh waren, sie an ihrer Seite zu wissen, zum ersten, wahren Mal in ihrem Leben. Er hingegen hielt weiterhin den Abstand, der schon immer zwischen ihnen bestanden hatte, schien weder vergessen noch vergeben zu können, es gar zu wollen. Isabella konnte es verstehen, so gut sogar, denn so, wie Ray für sie empfand, tat sie es auch für sich selbst. Niemand wusste schließlich besser als sie selbst, wie blutbesudelt ihre Hände waren, und welch unvergleichlich große Sünden sie begangen hatte, unerkennbar für andere, doch unleugbar für sie selbst.
Die größte, schwerste, unerträglichste Sünde war Ray selbst, der Umstand, ihm nie die Mutter gewesen zu sein, die gebraucht und verdient gehabt hätte. Keine Zuchtleiterin, keine Mama. Sondern einfach nur eine Mutter. Was sie nie gewesen war, für kein anderes Kind in ihrer Obhut und schon gar nicht für ihr eigenes. Im Grunde hatte sie keinem ihrer Schützlinge jemals gezeigt, wer sie wirklich war. Wie sie wirklich sein wollte. Ihre Profession und ihr Stolz hatten es ihr verboten, und in allererster Linie ihre grenzenlose Angst.
Aber nun, da das alles nicht mehr galt und die Welt eine bessere sein würde… da es keine Fleischmenschen und Zuchtleiterinnen, keine Schwestern und Mamas und Großmütter mehr geben würde… da sie nur noch sie selbst sein durfte… begann Isabella sich eines zu fragen, wenn sie sich ihre über alles geliebten Kinder betrachtete.
Ist es gefährlich, wenn man träumt?
OfficerSnickers: Ja
A/N: Hallo ihr Lieben und herzlich willkommen zu dieser Songfic! Ich konnte es mir einmal mehr nicht nehmen lassen, mich von einem Lied zu einer hüstel, kUrZeN Charakterstudie verleiten zu lassen, und es traf mal wieder Isabella. Das entsprechende Lied stammt aus dem Frozen-Musical und trägt, wie die Geschichte auch, den Titel „Gefährlich wenn man träumt“. Ich habe mich insbesondere von den Lyrics der englischen Version „Dangerous to dream“ inspirieren lassen, aber auch Bezug zur deutschen Variante genommen, da beide Texte teilweise sehr unterschiedlich, im Kern aber dennoch auf Isabellas interessantes Wesen passen.
Wenn euch die Songfic gefällt, scheut euch nicht, einen Kommentar zu hinterlassen! Selbiges gilt selbstredend, wenn ihr Kritik üben möchtet, für die ich immer zu haben bin ^^ Lange Vorrede, gar kein Sinn, ich wünsche euch jetzt viel Spaß mit der Fanfiktion!
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I can't be what you expect of me
But I'm trying every day with all I do
And do not say
But I'm trying every day with all I do
And do not say
Es war bedauerlich, ja wirklich.
Der Status quo war aufrecht erhalten worden, Tag für Tag für Tag. Doch Isabella wusste, dass es niemals mehr so sein würde wie nach der scheinbar unendlich langen Sekunde, als das Monster ihr ein Kuscheltier in den Arm legte. Connys Kuscheltier, ihren Plüschhasen. Den Isabella selbst geschneidert hatte, erst wenige Wochen zuvor, anlässlich des sechsten Geburtstages ihrer süßen, kleinen Tochter.
Ihres letzten Geburtstages.
Denn Conny war gestorben. Durch einen Stich ins Herz, der eine einstmals unschuldig weiße Blume in der Farbe ihres Blutes erblühen ließ. Und zwei ihrer Kinder dessen Zeuge worden und hinter das Geheimnis des Waisenhauses Grace Field House kamen. Hinter die entsetzliche Realität ihrer viel zu kurzen Existenz. Sie alles verstanden. Wer sie in Wirklichkeit waren. Fleischmenschen, geschaffen um von Monstern verspeist zu werden. Wer Isabella war. Eine Zuchtleiterin, die ihre Kinder an ebenjene Monster auslieferte, mit einem Lächeln auf den Lippen, das sie sonst doch nur ihrer ach so geliebten Familie schenkte.
Ab da an konnte Isabella nicht länger die für die sein, für die die Kinder sie ihr gesamtes, allzu kurzes, aber glückliches Leben gehalten hatten. Sie sah die Realisierung dessen, was sie nie gewesen war, in Normans stechenden Blick; sein Mund, er lächelte sie auch weiterhin an, als hätte er die Leiche seiner kleinen Schwester nie gefunden in jener Nacht, und seine Stimme war weiterhin freundlich, sein Verhalten gütig. Doch zweifelsohne, für Norman war Isabella nicht länger die, die ihn in Liebe aufgezogen hatte.
Keine Mutter mehr, nein.
Für Norman war sie ein Monster.
Ein Monster, wie die menschenfressenden Kreaturen, die sich einst an ihrer eigenen Familie und jetzt an ihren Kindern gütlich taten? Oder ein Monster solcherart gar, das so viele arme Seelen erst an sie veräußerte?
Oh, wie recht Norman damit doch hatte. Wie immer. Und wie sehr er im gleichen Atemzuge damit falsch lag. Das erste Mal in seinem Leben.
Es war unleugbar, dass Isabella ein Monster war. Sie wusste selbst am besten um ihre mit Blut und Schuld benetzten Klauen, um ihre Reißzähne, die sich in die Herzen der Kinder schlugen und ihnen klaffenden Wunden zufügten, die niemals wieder würden heilen können. Sie wusste um den Schmerz, den sie unter ihnen säte, den Stachel des Verrates, der sich in jeden einzelnen von ihnen bohrte, mit jedem vergehenden Tag ein Stück tiefer und tiefer, bis es auch den letzten Funken Hoffnung auslöschte. Wahrlich, sie wusste um all das, und bedauerte es, und konnte doch nicht davon lassen. Es blieb ihr keine Wahl. Sie musste eine Mama sein, musste die beste, perfekteste Ware heranzüchten, die man sich nur vorstellen konnte, statt das zu sein, das Norman einstmals in ihr gesehen hatten.
Eine Mutter, die ihre Kinder liebte, behütete, beschützte, vor allen Monstern dieser Welt, imaginäre wie Wirklichkeit gewordene Albträume. Dabei wollte Isabella nichts lieber als eben das sein. Wollte doch nur Norman an sich drücken, seine Sorgen und Ängste und vor allem seinen maßlosen Zorn beschwichtigen und ihm versprechen, dass ihm niemals etwas zustoßen würde, solange sie lebte.
Aber… sie konnte… durfte es nicht sagen. Stattdessen…
„Herzlichen Glückwunsch, Norman.“
Die Worte waren wie Gift, das von ihren lächelnden Lippen perlte.
„Deine Auslieferung steht fest.“
Here on the edge of the abyss
Knowing everything in my whole life has lead to this
And so I pull inside myself
Close the walls put up my guard
I've practised every single day for this
So why is it so hard?
Knowing everything in my whole life has lead to this
And so I pull inside myself
Close the walls put up my guard
I've practised every single day for this
So why is it so hard?
Sie hatte ihr Leben lang Zeit gehabt, sich auf ebenjene Worte vorzubereiten. Hatte es, seit ihr gedämmert war, dass keine glorreiche Zukunft sie erwartete, sondern nur der Tod. Plötzlich oder quälend langsam, aber unmissverständlich der Tod. Mit dem sie seit ihrem zwölften Lebensjahr lebte, ebenso wie mit der tickenden Zeitbombe in ihrer Brust, mit der Schuld der Überlebenden. Ja, sie hatte sich ihr Leben lang darauf vorbereitet, sie auszusprechen.
Warum nur war es trotzdem so schwer, sie über sich zu bringen?
Vielleicht… weil sie sich nicht auf diese Worte gefasst gemacht hatte.
„Adoptiveltern wurden für dich gefunden.“ „Es gibt jemanden, der dich adoptieren möchte.“ „Du wirst bald eine richtige Familie haben.“
Mit diesen Versprechungen hatte sie ihren Sohn in den Abgrund führen sollen. Aber genau sowenig, wie Isabella ihm die reine Wahrheit hatte schenken können, wollte sie ihn länger anlügen. Sie schickte Norman zur Mauer, zum Abgrund, zum Rande des Nichts, um ihm zu verstehen zu geben, was auch sie einst hatte verstehen müssen.
Es gibt keinen Ausweg. Nicht aus dieser Farm, und nicht aus diesem Leben, das nicht uns selbst gehört. Es ist sinnlos, es ist gefährlich, von mehr zu träumen als dem, was uns gegeben wurde.
Womöglich, dachte Isabella bei sich, als sie die abgrundtiefe Angst in Normans Augen sah, stand auch sie immer noch am Abyss. Hatte sich keinen Millimeter seit Leslies Tod und ihrer eigenen Auslieferung davon fortbewegt. Auch wenn… auch wenn ihre Füße sie vorangetrieben hatten. Es gemusst hatten gar. So wie sie sich aufschneiden und wieder zunähen ließ, das eigene Herz erstarrt und verdrahtet. Hatte sich durch die Schlangengrube des Hauptquartiers gekämpft und war dabei so oft gebissen worden, dass in ihren Adern nicht länger Blut, sonder pures Gift rann. War zu einer Mama geworden. War es immer schon gewesen, wie alles, alles, alles in ihrer kümmerlichen Existenz sie hierherführte.
Eine Mauer und Abgrund hatten Isabella einst daran gehindert, ein Leben zu führen. Eines, das es wert gewesen wäre, es als solches zu bezeichnen. Sie hätte entweder an der Erklimmung der unüberwindbaren Wahrheit dieser Welt scheitern oder sogleich in den Abgrund stürzen können, um von ihm verzehrt zu werden. Sie hatte keines von beiden getan. Stattdessen war der Abgrund in ihr selbst herangewachsen, gleich dem Kind, das sie hatte gebären müssen, um eine Mama werden zu können. Ein solch tiefer, finsterer Abyss, dass Isabella ebenso Mauern darum hatte errichten müssen, um sich nicht in ihr selbst zu verlieren. Eine unüberwindbare Mauer hatten die erwachsen gewordenen Fleischmenschen sie genannt… die Frau aus Stahl, ohne Gefühle, ohne Reue und ohne Mitleid für sich und andere in sich bewahrend.
'Cause I can't show you
I'm not as cold as I seem
There are things you cannot know
And it's dangerous to dream
I'm not as cold as I seem
There are things you cannot know
And it's dangerous to dream
Doch…
Das war nur die halbe Wahrheit. Ach, nur ein kosmisch kleiner Teil davon. Isabella konnte nicht verleugnen, dass es sie kaum mehr berührte, wenn sie ein Kind in den Tod führte. Sie hatte es zu oft getan, um sich selbst noch Empfindungen erlauben zu dürfen, gar zusammenzuzucken bei den letzten, verzweifelten Schreien der ihr Anvertrauten. Sie durfte sich nicht beklagen, über jene Albträume, die sie des Nachts heimsuchten, nicht aufhören zu lächeln, wenn ihre Kinder schließlich zu ihr zurückkehrten, als anklagende Abbilder ihrer selbst, die ihr den Schlaf raubten.
Sie durfte nicht Ray bedauern, den sie aus ihrem auf Lügen und Täuschungen basierenden Bündnis entließ.
Sie wagte es kaum, Emma zu trösten, der sie gerade das Bein mit ihren eigenen Händen gebrochen hatte.
Und vor allem durfte Isabella nicht zulassen, dass Normans vorzeitige Auslieferung ihr das Herz zerriss.
Denn das hätte es, wenn sie überhaupt noch imstande gewesen wäre, so zu empfinden. Es war nicht Isabellas Entscheidung, den Jungen vorzeitig aus ihrer Obhut zu entlassen, und alles in ihr widerstrebte sich dem Gedanken, Norman jemanden Fremden zu überreichen wie eine Trophäe, die es galt zu erlangen. Er würde nicht sterben, sondern nach Lambda gebracht; ein anderer hätte das wohl als Chance empfunden, weiterleben zu dürfen, aber Isabella war klar, dort würde nichts als Leid auf Norman warten. Der Tod, herbeigeführt durch eine Vida im Herzen, wäre schnell vergangen. Schmerzlos sein, beinahe zumindest. Das Ableben in Lambda, es würde eine Ewigkeit andauern. Das hatte Norman nicht verdient, und in Isabella wuchs der Zorn darüber heran, wenn sie an das Schicksal ihres Sohnes dachte.
Der Zorn allerdings, er nützte nichts, denn sie konnte ihre wahren Gefühle nicht zeigen. Musste sie verbergen, vor Peter Ratri, der ihr eines ihrer Kinder nahm, und vor allem vor Norman selbst, den sie gehen zu lassen hatte. Ein letztes Mal durfte sie seine schmale Gestalt an sich drücken, gleich dem Tag, als sie ihn das erste Mal in den Armen hielt, bevor sie ihn weiterreichte, als wäre er ein Spielzeug, dessen sie überdrüssig geworden war, und das nun ein anderer an ihrer statt begehrte.
Wenigstens konnte Isabella Norman verabschieden, ihm sagen, dass sie ihn sehr lieb hatte und ihm alles Glück der Welt wünschte. Er würde es ihr nicht glauben, und auch nie erfahren, wie unfassbar leid ihr das alles tat. Dass sie nicht so kalt war, wie sie für ihn erscheinen musste, und dass sie jeden einzelnen mit ihm geteilten Moment bewahren würde. Norman konnten sie ihr vielleicht wegnehmen, aber nicht die Erinnerung an ihn. Selbst wenn er selbst das niemals erfahren durfte. Auch wenn es keinen Unterschied machen würde, weder für ihn, noch für Isabella.
Und dass es vergeblich gewesen wäre, gefährlich gar, von mehr als diesem Abschied zu träumen.
I know I'll never see that sunny day
When this trial is finally through
And it could just be me and you
I can't dwell on what we've lost
And our secrecy and silence comes at such a cost
When this trial is finally through
And it could just be me and you
I can't dwell on what we've lost
And our secrecy and silence comes at such a cost
Isabella gab Norman auf, genauso, wie sie Ray aufgab.
Seitdem sie die Hand der Großmutter ergriffen hatte, um nicht zu sterben, um eine Mama zu werden, um ihre Kinder an menschenfressende Monster zu verraten, hatte sie darum gewusst. Für Jungen gab es keine Zukunft, egal wie klug und besonders sie auch sein mochten.
Es hatte niemals eine gegeben, genauso wenig wie für Leslie.
Das Einzige, woran sie sich klammern durfte, waren die Mädchen. Talentierte, einnehmende, bewahrenswerte Mädchen. Sie waren so rar, seltener und kostbarer als Diamanten, und wann immer eine Zuchtleiterin einen fand, durfte sie ihn behalten. Oder eher… ihn weiterreichen, an das Hauptquartier, an die Großmutter. Damit diese aus dem ungeschliffenen Kiesel einen funkelnden Edelstein formte, so wie jahrelanger Druck und beständiges Einhämmern auf das reale Vorbild zu perfekten Ergebnissen führte.
Einstmals war Isabella selbst so ein ungeschliffener Diamant gewesen. Deswegen war es ihr nicht schwer gefallen, die Spreu vom Weizen zu trennen und ihresgleichen darunter zu entdecken.
In den zwölf Jahren, die sie eine Mama war, gab es nur ein Kind, in dem sie eine Zukunft sah. Ein einziges Mädchen, das es verdiente, zu überleben. Die stark genug war, den Weg zu bestreiten, den Isabella bereits gegangen war.
Emma.
Ihre süße, kleine, schlaue Emma. Seit die Großmutter sie ihr überreichte am Tor, war Emmas Lächeln nie vergangen, mit dem sie ihre zukünftige Ziehmutter begrüßt hatte. Ein wahrer Sonnenschein war sie gewesen, so erfüllt von einem inneren, wärmenden Licht, dass Isabella sich manchesmal geblendet hatte abwenden müssen von ihr. Selbst an den grauesten, wolkenverhangensten Regentagen hatte Emma sie alle in ihrem Lichte baden lassen, denn sie liebte ihre Familie, ihre Mama ebenso sehr, wie sie selbst von ihnen geliebt wurde.
Es war wahrlich naiv gewesen von Isabella zu glauben, dass dieses Licht niemals erlöschen würde.
Nun war sie schlauer. Sie wusste, sie hatte Emmas Strahlen und ihre Herzenswärme für immer verloren, nachdem Conny starb und Norman ausgeliefert wurde. So wie diese Kinder und noch viel mehr vor ihnen nicht wiederkehren würden, würde auch nicht der Tag kommen, an dem Emma einmal mehr an ihrer Seite stände. Als Erwachsene. Als Schwester. Als Mama, irgendwann.
Es war Isabellas Wunschtraum gewesen, Emma zu einer Zuchtleiterin zu machen, wie sie selbst eine war. Das Mädchen hätte es verdient gehabt, und sie hätte es ohne Schwierigkeiten gekonnt, wenn sie nur willens gewesen wäre. In ihr schlummerte Talent, Intelligenz und vor allem ein ganz besonders großes, einfühlsames Herz. Mit jedem weiteren Tag unter Isabellas Obhut hatte sie sich Emma immer deutlicher vorgestellt, wie sie alle Hürden ihrer Ausbildung überwand und zu ihr ins Waisenhaus zurückkäme, in der Tracht einer Schwester. Nur sie beide. Mutter und Tochter. Mama und Schwester. Isabella und Emma.
Nur sie beide, und niemand sonst.
Allerdings…
Emma verweigerte sich ihr. Biss und schlug sie hinfort, obgleich ihr längst Zähne und Klauen gezogen worden waren, und sie in tiefster, erstickenster Verzweiflung zu versinken drohte. Isabella hatte ihr eine helfende Hand gereicht. Angeboten, ihr ein Empfehlungsschreiben zu verfassen, damit sie eine Mamakandidatin werden konnte. Damit sie leben würde. Und Emma hatte einfach abgelehnt.
Lieber wollte sie sterben, als so zu werden wie Isabella.
Sie konnte das Mädchen nur bedauern, wenn auch nicht allzu lange. Dann sollte es eben so sein. Es war nicht zu ändern. Emmas idealistisches, verqueres Weltbild war nicht zu ändern.
Seitdem die Wahrheit über das Waisenhaus aufgedeckt worden war, schlichen sie umeinander herum, erfüllt von Misstrauen und Schweigen. Die Liebe, die Emma einst für sie hegte, war verschwunden, wie Emma selbst, und Isabella empfand nicht viel anders.
Nun, da sie Emma endgültig verlieren würde, da ihr ungeschliffener Diamant zerbrochen war, war ihr jegliche Wärme abhandengekommen, die ihre geliebte Tochter ihr einst schenkte.
I wish I could tell the truth
Show you who's behind the door
I wish you knew what all this pantomime
And pageantry was for
Show you who's behind the door
I wish you knew what all this pantomime
And pageantry was for
Natürlich wünschte Isabella sich insgeheim, dass alles anders wäre. Dass sie nicht in einer Welt lebten, in der Monster Menschen fraßen, und in der Eltern ihre Kinder an diese Ungeheuer verraten mussten, um selbst zu überleben. Doch dies war nun einmal die Welt, in die sie hineingeboren worden waren, und egal welch hoffnungsvolle Träumereien auch in ihren Herzen erwachsen mochten, war sie eben nichts weiter als das – Träume. Sinnlos, irreführend, gefährlich.
Das einzig Wahre, das Bestand hatte, war die Wahrheit. Selbst diese musste Isabella ihren Kindern verwehren, allen voran Emma, sollte sie versuchen, sie auch gegen den Willen des Mädchens am Leben erhalten zu wollen. Sie konnte Emma unmöglich sagen, dass es ihr mitnichten Freude bereitete, ihre Kinder auszuliefern, oder dass sie einst ebenso bitterlich weinend in ihrem Bette lag und ihre Mama verfluchte, die ihr ein Angebot unterbreitete, das keines war, sondern nichts als ein Fluch, den sie sich selber auferlegt hatte. Emma zu zeigen, wer sich wirklich hinter der Fassade der Mama, der unüberwindbaren Mauer verbarg. Wozu all der Schmerz und das Leid gut sein sollten, obwohl es doch eigentlich zu gar nichts gut war. Dass sie augenblicklich gewillt gewesen wäre, das Leben ihrer Kinder zu schützen, nicht nur das ihrer bevorzugten Tochter, wenn auch nur der Hauch einer Chance dafür beständen hätte. Und dass die Schreie der Ermordeten sie ebenso im Schlaf verfolgten wie das Geräusch, das Emmas Bein machte, als sie es mit ihren eigenen Händen zerbrach.
Wünsche nur, Sehnsüchte gar, die niemals das Licht der Welt erblicken würden. Nicht das Licht, das einst Emma inne gewesen und das nun erloschen war, für immer.
I have to be so cautious
And you're so extreme
We're different, you and I
And it's dangerous to dream
And you're so extreme
We're different, you and I
And it's dangerous to dream
Womöglich war es Isabellas eigene Schuld, dass die Hoffnung, Emma nach ihrem Vorbld zu formen, eine unmögliche gewesen war. Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, sich in dem Mädchen wiederzuerkennen, in ihrer offenen, fröhlichen Art, ihrem Sinn für Gemeinschaft und Familie. In ihrer Fähigkeit, jedes einzelne ihrer Geschwisterkinder zu lieben, egal, wie verschieden sie auch sein mochten.
Dabei war Emma im Grunde ihres Herzens ganz anders, als Isabella es je für möglich gehalten hatte. Verschlagen, tricksend, täuschend, wenn sie denn nur wollte. Ihr Lächeln konnte nicht nur ihrer guten Laune heraus entspringen, sondern aus kalter Berechnung heraus geboren werden, um die Erwachsene zu verwirren. Sie schmiedete Pläne, die Isabella fremd und vertraut zugleich waren in ihrer Radikalität, immer mit dem hehren Ziel, jeden einzelnen aus ihrer Familie zu retten.
Isabella mochte einmal wie Emma gewesen sein. Genauso extrem, genauso hoffnungsvoll. Heutzutage gehorchte sie nur noch den Monstern, war beständig auf der Hut vor dem Hauptquartier und dem Waisenhaus selbst, denn jeder noch so kleine Fehltritt konnte ihr letzter sein. Sie durfte sich nicht einmal erlauben, sich einen einzigen Fehler vorzustellen, geschweige denn, ihn zuzulassen. Über die Jahre hinweg im Hauptquartier hatte sie genug Frauen gesehen, die ebenso ungestüm und emotional wie Emma gewesen waren, und die geradewegs in ihren Untergang zugesteuert waren.
Im Endeffekt waren Isabella und Emma wohl einfach zu verschieden gewesen. Die Eine wollte leben, um jeden Preis, und die andere war nicht bereit, ihn zu zahlen. So idealistisch war das Mädchen, ihre über alles geliebte Tochter, so schrecklich naiv… spätestens vor dem Tor würde sie erkennen müssen, dass man immer einen Preis würde zahlen müssen.
Den Preis dafür, zu träumen, egal wie gefährlich es auch sein mochte.
It's dangerous to wish
I could make choices of my own
Dangerous to even have that thought
I'm dangerous just standing here
For everyone to see
If I let go of rules
Who knows how dangerous I'd be?
I could make choices of my own
Dangerous to even have that thought
I'm dangerous just standing here
For everyone to see
If I let go of rules
Who knows how dangerous I'd be?
Die Asche, die den Flammen entstieg, verbrannte Isabellas Lungen, als sie durch die Nacht jagte. In ihren Ohren rauschte das Blut, sodass das Heulen des Winterwindes und das Knacken und Bersten des einstürzenden Waisenhauses kaum noch an sie herandrang. Für eine gefühlte Ewigkeit, obwohl es nicht mehr als Sekunden gewesen sein konnten, in denen sie davor verweilte, hatte sich das Bild des Gebäudes in ihre Netzhaut eingebrannt. Wie überaus passend… denn das Waisenhaus brannte, lichterloh, gehörte nun den Flammen statt ihr, und ihr würde nichts davon bleiben als ebenjene Asche, die sie zu ersticken drohte.
Das Waisenhaus mochte verloren sein, doch ihre Kinder waren es noch nicht.
Isabella rannte weiter, in Richtung Mauer, Richtung Abgrund, den sie nie überquert hatte und es auch niemals tun konnte. Genauso wenig wie ihre ihr anvertrauten Töchter und Söhne es tun würden. Allen voran Emma. Einmal hatte Isabella sich in ihr getäuscht – statt zu verzweifeln und resignieren, hatte das Mädchen auch nach Normans Auslieferung nicht aufgegeben. Hatte sich nicht aufgegeben und erst recht nicht das Leben ihrer Geschwister. Sie wollten fliehen. Sie würden es, sollte es Isabella nicht gelingen, sie rechtzeitig an der Mauer abzupassen.
Schon als sie vor dem Waisenhaus gestanden hatte und dabei zusah, wie ihre gesamte Vergangenheit und auch Zukunft zu Schutt und Asche verbrannte, war ihr ein Gedanke gekommen. Ein gefährlicher Gedanke. Was, wenn sie die Kinder einfach gehen ließe? Ihnen die Freiheit gewährte, die ihr selbst für immer verwehrt bleiben würde?
Noch konnte sie diese Entscheidung treffen, noch hatte sie die Flüchtigen nicht eingeholt und am Ausbruch gehindert. Eine Entscheidung, die allein ihr gehörte, nicht der Farm, nicht den Monstern, nicht Großmutter Sarah. Nur Isabella ganz allein.
Dass ihr dieser Gedanke überhaupt kam… er wäre ihr sicheres Todesurteil. Jedoch, war sie nicht sowieso längst dem Tode geweiht durch ihr Versagen, das Waisenhaus zu beschützen und diese Flucht im Keime zu ersticken? Ihre Schritte wurden langsamer, für einen Moment nur, ehe sie vom Neuen losrannte. Es war noch nicht zu spät, die Kinder wieder einzufangen, wenigstens ein paar von ihnen, und sei es nur ein Einziges – aber es war längst zu spät, um jetzt noch einen Wandel vollbringen zu wollen. Zu spät, und zu gefährlich, nicht nur für sie selbst. Das gesamte Farmsystem baute darauf, dass ihm kein Kind je entkäme. Es war an Isabella, dafür Sorge zu tragen. Und wenn sie, ausgerechnet sie, die unüberwindbare Mauer, die Frau aus Stahl, die fähigste Zuchtleiterin aller Zeiten, versagte… ihre Kinder freiwillig ziehen ließe… der Schaden wäre weder vorstellbar noch je wieder auszumerzen. Kunde von den entflohenen Fleischmenschen würde sich dem Feuer gleich, dass das Waisenhaus verzehrte, unter Monstern und Menschen verbreiten. Jeder würde von dem Versagen der Farm erfahren, und auch von ihrem eigenen. Zweifel würden daraus erwachsen, Aufbegehren und Veränderung bringen, die nie gewollt war, niemals.
Darüber war Isabella sich im Klaren, so wie nicht zu leugnen war, dass sie heute Nacht wohl die gefährlichste Person in ganz Grace Field war. Für die Kinder, denen sie unablässig nachsetzte, in der Hoffnung, sie noch einmal zur Umkehr bewegen zu können, aber vor allem für das System der Menschenfarmen. Wenn sie die Ausbrecher wirklich entkommen ließe… wenn sie alle Regeln bräche, die man ihr eingebläut hatte seit Kindertagen an…
Wer wusste schon, wie gefährlich Isabella dann wirklich sein konnte?
Why right now would I make this mistake?
How could I let my concentration break?
How could I let my concentration break?
Isabella stand allein auf der Mauer. Die Leinenbahnen, mittels denen ihre Kinder den Abgrund überquert hatten, umflatterten ihre einsame Gestalt. Der Wind peitschte den Stoff auf und nieder, wie ihre Nachthemd, ihr offenes Haar. Er duftete nach Freiheit und einer Zukunft, in der keiner mehr gefressen werden würde.
Allein für Isabella wehte er nicht.
Das unsägliche Gefühl der Niederlage drohte, sie zu übermannen. Verloren. Versagt. Verlassen. Ihre Kinder waren klüger als sie gewesen, mutiger, und tapferer. Sie hatten getan, wovon Isabella nicht einmal gewagt hatte zu träumen, weil ihr bereits die Vorstellung, zu fliehen, als zu gefährlich erschienen war. Und nun… nun war sie von ihren von eigener Hand herangezüchteten Kinder überlistet worden, so spielerisch, als wäre Nichts leichter gewesen. Wie hatten ihr nur so viele Fehler überlaufen können? Ihr, der besten, perfektesten Mama in der Geschichte der Farmen, die sich hatte rühmen dürfen, die edelsten Gehirne heranzuzüchten? Wie hatte ihre Konzentration allein auf Emma, Norman und Ray liegen, und diese trotzdem eine Flucht organisieren können?
Isabella schnaubte auf. Nein. So sollte sie nicht denken. Es war ihre alleinige Schuld. Sie war einfach eine unfähige Zuchtleiterin, die ihre Ware nicht richtig beaufsichtigt hatte. Ihre hohe Stellung und ihr Ansehen hatte sie längst verloren. Ebenso wie ihre Kinder… sie weiter zu verfolgen würde ihr nichts mehr bringen, und auch nicht, ihren Fluchtweg zu verraten. Sie hatte verloren, endgültig, gegen ein paar Kinder.
Mehr war es nicht, das heute Nacht vorgefallen war.
Langsam, mit aller Zeit der Welt, die ihr jetzt noch verblieb, machte Isabella sich daran, die Schnüre aus den Bäumen zu klauben und sie in die Schlucht unter sich zu werfen, wo niemand sie je finden würde. Dabei sann sie darüber nach, wie sich ein Fehler auf den anderen aufgetürmt hatte, bis diese schließlich über ihr zusammenbrachen und ihr die Kontrolle vollends entglitt. Emmas und Normans Ausflug ans Tor, Rays Verrat, die Absetzung von Schwester Krone, die Offenbarung des Abgrundes… hätte sie an einem einzigen Punkt nur den Spielstein klüger gesetzt, dann wäre vielleicht alles anders ausgegangen.
Andererseits… es war nie Isabella gewesen, die ihr Schicksal in den Händen hielt, sondern die Kinder. Sie hatten sich in den letzten Monaten auf eine Weise entwickelt, die sie nicht hatte kommen sehen. Sie war arrogant genug gewesen zu denken, niemand würde ihr je das Wasser reichen können. Weil sie nur an sich selbst geglaubt hatte, und an niemand anderen sonst. Deshalb hatte sie verloren.
Ihrer Kinder wegen, und für ihre Kinder gleichermaßen.
Conceal, don't feel
Conceal, don't feel
Conceal, don't feel
Queen anointed
Our chosen daughter
Our blessed queen behold
Conceal, don't feel
Conceal, don't feel
Queen anointed
Our chosen daughter
Our blessed queen behold
Nichts fühlen. Nichts spüren. Schließ es in dein Herz ein. Lass dir deine Angst nicht anmerken. Schluck die Furcht hinunter, bis du fast darauf läufst. Bewahre deine Contenance. Stehe erhobenen Hauptes, bis sie dich zum Schafott führen und endgültig auf die Knie zwingen.
All das sagte Isabella sich immer und immer wieder vor, während sie zurück in die Realität kehrte. Nichts fühlen, als ihre verbliebenen Kinder abtransportiert und in die restlichen Farmen gebracht worden. Nichts spüren, als Großmutter Sarah Schimpf und Schande über ihr heraufbeschwor für ihren nicht wieder gutzumachenden Fehler, fünfzehn Kinder entkommen haben zu lassen. Ihre Träume, ihre Angst und auch ihre Liebe in ihr Herz einschließen, als Peter Ratri mit einem teuflischen Lächeln zu ihr in die Zelle trat.
Um ihre Hinrichtung zu verkünden, wie Isabella vermutete.
Um sie zur neuen Großmutter, der mächtigsten Frau innerhalb der Farmen zu machen, wie Peter Ratri es hingegen plante.
„Isabella ist ab sofort eurer aller Großmutter und Befehlshaberin“, verkündete der Erbe des Mannes, der vor tausend Jahren das Versprechen schloss und das zu diesem Moment führte, der Menge aus Schwestern und angehenden Zuchtleiterinnen. „Sie ist die von mir persönlich dafür ausgesuchte Person und ich setze ebensolch großes Vertrauen in sie, wie ich von euch für meine Entscheidung erwarte.“ Peter Ratri schenkte Isabella einmal mehr ein schlangengleiches Grinsen, das sie nicht minder zufrieden, wenn auch falsch, erwiderte. „Ihr werdet hier und heute eurer Großmutter die Treue schwören und mir versprechen, dass ich niemals Gelegenheit bekomme zu befürchten, ihr würdet nicht hundertprozentig hinter mir und meinen Entscheidungen stehen.“
„Yes, Sir, yes!“, donnerten die Frauen im Gleichklang, was den Ratrierben zufrieden auflachen ließ. Isabella selbst war beeindruckt, wie sehr sich die Schwestern allesamt zusammenrissen, denn sie ahnte nicht nur, sie wusste, dass niemand unter ihnen ihr Gutes sahn. Sie war für den Verlust wertvollster Ware nicht zur Verantwortung gezogen, sondern sogar noch belohnt und befördert worden, während die alte Großmutter an ihrer Stelle die Konsequenzen zu tragen hatte. Peter Ratri mochte etwas Wertvolles in ihr sehen, die Schwestern hingegen eine Gefahr für ihre eigenen Machenschaften, wenn nicht gar für das gesamte Farmsystem.
Oh, wie recht sie damit behalten sollten.
I can't believe I'm standing here
Did I really make it through?
I did it
Now, what do I do?
I can't stop smiling, how strange
Does this mean that things are different?
Could they really change?
Did I really make it through?
I did it
Now, what do I do?
I can't stop smiling, how strange
Does this mean that things are different?
Could they really change?
Isabellas Fingerspitzen glitten über das kühle Glas, das ihr Ebenbild spiegelte. Wie merkwürdig es doch war, sich selbst so zu erblicken – in dem mitternachtsdunklen Kleid, das ihre Schultern breiter, ihre Haltung erhabener und sie selbst größer erschienen ließ, als sie es je zuvor gewesen war. Gleichzeitig wirkte sie so viel jünger als noch vor Stunden, wie ihre Wangen vor Freude gerötet waren und sie einfach nicht aufhören konnte, zu lächeln. Aus einem einzigen Grund nur – sie lebte. Sie hatte wieder einmal zwischen Leben und Tod gestanden und wählen dürfen. Derlei Glück hatten nur wenige Auserwählte, einmal nur, und Isabella war bereits zum zweiten Mal verschont worden. Sie konnte es selbst nicht ganz glauben… dass sie den unverzeihlichen Fehler, fünfzehn Kinder entkommen und das Waisenhaus zerstören zu lassen, begehen konnte, und trotzdem nicht auf der Stelle getötet worden war… anders als die alte Großmutter. Anders als Sarah, die ihr einst die Chance eingeräumt hatte, erwachsen werden zu können.
Anders als Sarah, ihre Mama.
Isabella wandte sich vom Spiegel ab und betrachtete den Raum, der von nun an der ihrige sein würde. Statt des beengten Verhältnissen im Waisenhaus war sie großzügig bedacht und beschenkt worden, ganz ihrem neuen Titel als Großmutter gemäß. Es war ebenso kein Vergleich zur Zelle, in der sie die vergangenen zwei Tage ausgeharrt und auf den Tod gewartet hatte… dass sie Ausbruch und Verurteilung wirklich überstand, glich einem Wunder… sie hatte erwartet, dass nun alles zuende gehen würde. Es wäre in Ordnung für sie gewesen, andere von jetzt an die Fäden ziehen zu lassen und zu vergehen, wie so viele ihrer Kinder vor ihr. So wie Leslie, den sie gehofft hatte wiederzusehen nach ihrem Tod…
Dabei stand Isabella erst am Anfang ihres neuen Lebens und musste sich fragen, was sie nun tun sollte.
Die einfachste und vermutlich auch feigste Antwort war, Peter Ratri, den Monstern und der Farm weiter zu gehorchen. Als Großmutter dafür zu sorgen, dass nur die besten der besten Fleischmenschen herangezüchtet würden. Den guten Ruf der Farm weiter perfektionieren. Die Verluste wiedergutmachen. Blind gehorchen. Ohne eigenen Willen weiterleben, bis auch ihr das Messer in den Rücken gestochen würde wie Sarah. Nichts dabei fühlen, wenn sie dabei zusah, wie weiter bis in alle Ewigkeit Kinder getötet und gefressen werden. Nichts spüren, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Alles in ihr Herz einsperren, ihre Ängste, Zweifel, Sorgen, wie sie es bereits ihr ganzes Leben lang getan hatte.
Oder aber…
Ihre Kinder hatten ihr einen neuen Weg aufgezeigt. Unterwürfigkeit hatte keine Zukunft, ebenso wie blinder Gehorsam und bloßes Hoffen, dass die Dinge sich ändern könnten, ganz von allein. Nein, dafür musste man schon selbst die Hand ausstrecken um die Zukunft zu erreichen, die man sich wünschte. Denn es war möglich, in einer Welt zu leben, in der kein Kind mehr gefressen werden musste. Das hatte Isabella Emma und Norman und Ray und ihren Geschwistern sei Dank endlich selbst erkannt. Spät, beinahe zu spät. Doch endlich war ihr bewusst geworden, dass alles anders sein konnte, wenn sie denn nur wollte. Und wer, wenn nicht sie, die neue Großmutter, konnte Veränderung am Leben erhalten, wie selbst ihr eigenes, unbedeutendes Leben erhalten worden war?
Ihre Kinder würden zur Farm zurückkehren, eines Tages, um ihre zurückgelassenen Geschwister abzuholen. Solange würde Isabella auf sie warten und alles für ihre Rückkehr vorbereiten. Verbündete um sich scharen, Störenfriede aus dem Weg räumen, und Peter Ratri hinters Licht führen. Sie hatte bereits weit Schlimmeres durchgestanden als diese Aufgabe, die nun vor ihr lag.
And could I open up the door?
And finally see you, face to face
I guess the queen can change the rules
But not the reasons they're in place
And finally see you, face to face
I guess the queen can change the rules
But not the reasons they're in place
Einzig der Zweifel blieb, ob die Kinder ihren Sinneswandel überhaupt akzeptieren würden. Isabella machte sich keine Illusionen – sie hatte ihnen Dinge angetan, die mit Nichts zu entschuldigen waren… Dinge, die sie nie wieder würde gutmachen können…
Allen voran nicht denjenigen, die sie selbst zum Tor geführt hatte.
Und doch, es war ihr egal. Sie tat das nicht, damit ihr verziehen wurde, oder aus Buße gar. Sondern damit ihre Kinder eine Zukunft hatten. Die Zukunft und das Leben, das sie nie hatte. Dafür war sie bereit, alles auf eine Karte zu setzen, das Hauptquartier in seinen Grundfesten zu erschüttern, bis es endlich soweit war, dass sie ihre Ausbrecher willkommen heißen konnte. Ihnen sagen, dass sie sie vermisst hatte. Wie stolz sie auf sie war.
Dass Isabella sie liebte, jeden Einzelnen von ihnen.
Allein, wie es danach weitergehen sollte, wusste Isabella jetzt noch nicht zu sagen. Sie mochte nun Großmutter sein, und alle Macht, die ein Mensch in dieser Welt haben konnte, in ihren Händen halten. Sie konnte die Farm nach ihrem Gutdünken walten und schalten lassen, und mit einem Fingerschnippen bestimmen, wer leben oder sterben musste.
Gegen Peter Ratri und allen voran die Monster würde das jedoch nicht reichen. Und auch wenn Emma käme, ihre Geschwister zu sich zu holen… was dann? Wo wollten sie Schutz suchen in einer Welt, die ihnen Menschen diesen schon seit tausend Jahren verwehrte?
Isabella schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf. Genug der Zweifel an ihren Kindern… sie hatte sie einmal unterschätzt und war von Emma eines Besseren belehrt worden.
Noch einmal würde ihr das nicht passieren.
I can't be what you expect of me
And I'm not what I seem
But I would love to know you
Is it dangerous to dream?
And I'm not what I seem
But I would love to know you
Is it dangerous to dream?
Misstrauen. Furcht. Verwünschungen. Groll. Abgrundtiefer Hass.
Alles, was Isabella zu Lehrzeiten bereits von ihren Konkurrentinnen entgegengebracht worden war, und auch von den Schwestern in ihrem Rücken, bevor sie diese in ihre Pläne involvierte, schlug ihr nun vonseiten ihrer Kinder entgegen. Sie waren tatsächlich nach Grace Field zurückgekehrt, mit neuen, schlagkräftigen Verbündeten, allesamt. Emma, Don, Gilda, sogar Norman… Ray. Sie alle starrten Isabella an, als sei sie der Gevatter Tod höchstpersönlich, und gemessen an ihren dunklen Gewand, der Waffe in ihren Händen und dem nicht zu ignorierenden Fakt, dass sie so viele von ihnen in den Untergang geführt hatte, ja da war die Reaktion der Kinder nur verständlich. Insbesondere ihres eigenen Kindes…
Und auch noch, als Isabella sich auf ihre Seite schlug, sie die Monster besiegten und Peter Ratri den letzten Ausweg aus seiner endgültigen Niederlage nahm, blieb das Misstrauen bestehen. In allen von ihnen, wenngleich sie ihre frühere Mama umarmten und froh waren, sie an ihrer Seite zu wissen, zum ersten, wahren Mal in ihrem Leben. Er hingegen hielt weiterhin den Abstand, der schon immer zwischen ihnen bestanden hatte, schien weder vergessen noch vergeben zu können, es gar zu wollen. Isabella konnte es verstehen, so gut sogar, denn so, wie Ray für sie empfand, tat sie es auch für sich selbst. Niemand wusste schließlich besser als sie selbst, wie blutbesudelt ihre Hände waren, und welch unvergleichlich große Sünden sie begangen hatte, unerkennbar für andere, doch unleugbar für sie selbst.
Die größte, schwerste, unerträglichste Sünde war Ray selbst, der Umstand, ihm nie die Mutter gewesen zu sein, die gebraucht und verdient gehabt hätte. Keine Zuchtleiterin, keine Mama. Sondern einfach nur eine Mutter. Was sie nie gewesen war, für kein anderes Kind in ihrer Obhut und schon gar nicht für ihr eigenes. Im Grunde hatte sie keinem ihrer Schützlinge jemals gezeigt, wer sie wirklich war. Wie sie wirklich sein wollte. Ihre Profession und ihr Stolz hatten es ihr verboten, und in allererster Linie ihre grenzenlose Angst.
Aber nun, da das alles nicht mehr galt und die Welt eine bessere sein würde… da es keine Fleischmenschen und Zuchtleiterinnen, keine Schwestern und Mamas und Großmütter mehr geben würde… da sie nur noch sie selbst sein durfte… begann Isabella sich eines zu fragen, wenn sie sich ihre über alles geliebten Kinder betrachtete.
Ist es gefährlich, wenn man träumt?