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Leseprobe "Fimbul- Riccardas Winter"

Kurzbeschreibung
LeseprobeFantasy / P12 / Gen
22.01.2023
22.01.2023
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4.280
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Link zum Roman https://www.bod.de/buchshop/fimbul-johanna-rusche-9783757801519. Die Erlaubnis von Fanfiktion zur Veröffentlichung der Leseprobe liegt vor.

Riccarda starrte geistesabwesend aus dem Fenster. Hinter ihr veranstaltete die Klasse ihren üblichen Lärm, doch die Jugendliche konnte sich von dem Schnee nicht abwenden, der in dicken Flocken zu Boden segelte und sich schon bald in weiteres Glatteis verwandeln würde.
Es war der zwanzigste Mai, und seit Anfang September der Vulkan unter Sutsey ausgebrochen war, hatte es nicht einmal getaut. Stattdessen gab es Schneestürme, Glatteis und Dauerfrost. Die Lebensmittel wurden rationiert, und in der Schule war es gerade warm genug, dass die Wasserleitungen nicht platzten.
Allerdings störten nicht nur die äußeren Umstände die 16-jährige: Der Winter schien auf eine Art bedrohlich, die Riccarda nicht in Worte fassen konnte. Diese Angst war tiefer, stammte aus einer Zeit, wo jeder Winter eine tödliche Bedrohung darstellte.
„Gib das wieder zurück!“ Laute Stimmen rissen Riccarda aus ihren Gedanken, „Was denn? Ich habe überhaupt nichts genommen!“ Wieso benahmen sich ihre Klassenkameraden auch jetzt noch wie Kindergartenkinder? Doch als Riccarda sich zu ihnen umdrehte, bekam sie eine Gänsehaut. Das wirkte nicht wie eine typische Schulhofprügelei. Mark und Sascha sahen aus, als wollten sie sich ernsthaft an die Gurgel gehen.
Riccarda trat zu den beiden Streithähnen. So dumm, sich gleich dazwischen zu stellen, war sie seit dem letzten Streit nicht mehr. Die blauen Flecken waren tagelang zu sehen gewesen. „Worum geht es? Kann ich euch helfen?“ Oder die beiden lange genug ablenken, bis der Lehrer hier war. Alvis war inzwischen hinter den anderen Kontrahenten gegangen und nickte ihr zu. Als Mark zuschlagen wollte, hielt Riccarda ihn am Arm fest, Mark drehte sich um, und die 16-jährige konnte seinem Tritt gerade noch ausweichen. Sascha wollte die Schwäche seines Gegners ausnutzen, doch Alvis trat dazwischen.
„Was ist denn hier los?“ Herr Fegebank betrat die Klasse und sah sich fragend um. Die Anwesenheit des Lehrers beruhigte die Gemüter ein wenig. „Wir haben nur über Besitz und Eigentum diskutiert“, behauptete Sascha prompt, Marie lachte ein wenig übertrieben, und der Lehrer schüttelte den Kopf. „Das sah eher aus, als wolltet ihr euch mit Bewegung warmhalten.“

Wenigstens sahen Sascha und Mark nicht mehr so aus, als wollten sie gleich aufeinander losgehen. Riccarda tauschte bereitwillig mit Mark den Platz, um die Situation weiter zu entschärfen. Wenigstens war dies die letzte Unterrichtsstunde, und wie die beiden Klassenkameraden ihre Probleme dann lösten, konnte Riccarda egal sein.
„Eigentlich sollte ich jetzt eine Präsentation über Karl den Großen halte.“ Alvis Stimme riss Riccarda aus ihren trüben Gedanken. „Da es in letzter Zeit häufiger Schlägereien und Überfälle gegeben hat, habe ich beschlossen, euch ein paar Tipps zur Konfliktvermeidung zu geben.“
Riccarda schielte unauffällig zu ihrem Lehrer, doch Herr Fegebank schien über den Themenwechsel genauso überrascht wie der Rest der Klasse.
„Wichtig ist vor Allem, dass ihr Ruhe bewahrt“, fuhr Alvis fort. „Natürlich macht dieses Wetter jeden reizbar. Der Winter ist viel zu lang, und ihr verbringt viel mehr Zeit mit eurer Familie, als euch lieb ist.“ Ein paar Klassenkameraden lachten. „Es ist wichtig, dass ihr euch auch Mal aus dem Weg geht oder Dampf ablasst, indem ihr euch anschreit. Ich weiß, oft erscheint eine Prügelei die leichtere Lösung, aber im Moment kann so ein Verhalten eskalieren.“
Riccarda starrte Alvis überrascht an: Improvisierte er gerade die ganze Präsentation, um Sascha und Mark zur Vernunft zu bringen, oder hatte er den Vortrag bereits ausgearbeitet und befürchtet, ihn irgendwann halten zu müssen? Sie traute Alvis beides zu. Er war ein guter Schüler, der sich nicht nur auf das Auswendiglernen von Pflichtstoff konzentrierte.
„Solltet ihr einmal überfallen, versucht die Nerven zu behalten.“ Riccarda war so in Gedanken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, als Alvis weitersprach. „Wenn euch jemand mit einer Waffe bedroht, gehorcht ihm einfach.“ Mehrere Klassenkameraden schienen widersprechen zu wollen. „Ich weiß, in Filmen spielen die Leute dann oft den Helden, aber so funktioniert es in Wirklichkeit nicht. Eine Kugel wird immer schneller als alle Pläne sein, die ihr vielleicht gerade schmiedet.“

Endlich Schulschluss! Normalerweise wäre Riccarda aus dem Gebäude gestürmt, doch draußen trieb der Wind wieder Schneeflocken vorbei. Außerdem wollte sie wissen, was für eine Note Alvis für seine Präsentation erhalten hatte. Er hatte das eigentliche Thema verfehlt und dafür ein mindestens genauso wichtiges Thema angesprochen. Herr Fegebank wusste Eigeninitiative eigentlich zu schätzen.
„Ich hoffe, er bekommt keinen Ärger“, sprach Marie Riccardas Gedanken aus. „Wäre echt ärgerlich, wenn er sich aufgrund der Idioten eine schlechte Note einfängt.“
„Keine Sorge, es ist alles gutgegangen.“ Alvis war unbemerkt zu ihnen getreten und stopfte gerade seine braunen Haare unter die Mütze. „Ich bekomme nächste Woche noch eine Chance, die richtige Präsentation zu halten.“
Riccarda schlug ihm freundschaftlich auf die Schultern. „Super, dann bekommst du wenigstens keinen Ärger wegen deinem improvisierten Vortrag. Leider glaube ich nicht, dass er bei Sascha und Mark viel bewirkt hat.“
Alvis schaute missmutig nach draußen, bevor er antwortete: „Das glaube ich auch nicht. Habt ihr was von Tobias gehört?“
Als Marie und Riccarda den Kopf schüttelten, seufzte Alvis. „Ich habe gestern versucht, ihn zu erreichen, angeblich ist er krank, aber es kam mir komisch vor.“ Maria nickte. „Ich weiß, was du meinst. Ich habe Tobias vor zwei Wochen das letzte Mal gesehen. Seine blauen Flecken erklärte er mit einem Sturz. Klar gibt es überall Glatteis, aber diese Ausrede war schon vor Jahren unglaubwürdig.“ Marie riss die Tür auf und ein Schwall eiskalter Luft drang in das Gebäude. „Tut mir leid, aber ich muss los.  Ich schaue nachher mal bei Tobias rein und frage nach. Er wohnt bei mir um die Ecke.“
„Pass auf dich auf!“, rief Alvis hinter ihr her, als die Jugendliche loslief. Riccarda blieb noch einen Moment stehen, um ihre roten Haare zu bändigen. Normalerweise bevorzugte die Jugendliche Kurzhaarfrisuren, doch in diesem Winter war ihr alles recht, um warme Ohren zu haben. Wenn ihr die blöden Strähnen nur nicht immer in die Augen fallen würden!
„Bei dir alles in Ordnung?“, fragte sie Alvis, doch der zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung, eigentlich nicht.“
Riccarda wurde bewusst, wie wenig sie über ihren Klassenkameraden wusste. Alvis lebte mit seinem nächsten Verwandten in einer religiösen Wohngemeinschaft. Aber neugierigen Fragen war er bisher immer ausgewichen.  Die Jugendliche legte den Kopf schief und wartete. Vielleicht war Alvis bereit, über seine Probleme zu reden, wenn niemand in der Nähe war. Die Schule konnte es kaum sein, Alvis schrieb fast nur gute Noten, lediglich Sport lag ihm nicht.
„Meine Familie macht sich wegen des Wetters Sorgen. Vielleicht müssen wir verreisen.“ Alvis klang so mutlos, dass Riccarda ihm spontan ihre Hilfe anbot. „Du kannst zur Not ein paar Tage bei mir unterkommen, wenn es bei euch stressig wird. Du müsstest nur Lebensmittelmarken mitbringe. Und, wenn ihr es entbehren könnt, Kaminholz, wir haben einen Ofen.“
Alvis war von dem Angebot völlig überrumpelt. „Darfst du das einfach so bestimmen? Meine Verwandten würden sauer werden, wenn ich dich einfach für ein paar Tage mitbringen würde. Ich müsste sie wenigstens fragen.“
Riccarda zuckte mit den Schultern. „Mein Vater stört sich nicht an Besuchern, die überraschend für ein paar Tage bei uns unterkommen, solange es mit den Lebensmitteln kein Problem gibt. Wir wohnen in einem Doppelhaus, bei uns ist genug Platz. Du bist nicht der Erste und wirst nicht der Letzte sein“, Mist, das klang, als würde Alvis ihr egal sein. Schnell ergänzte Riccarda: „Mein Vater sagt immer: bevor es deinen Klassenkameraden schlecht geht, bring sie mit. Wir finden schon eine Lösung. Wenn es wirklich nicht anders geht, kannst du auch morgens um drei Uhr bei uns auftauchen. Ja, mein Vater würde dann laut werden, dich aber trotzdem reinlassen. Er ist nur ein wenig aufbrausend.“ Riccarda schluckte.  „Deshalb tut mir das auch mit Tobias leid. Wenn ich gewusst hätte, dass er in Schwierigkeiten steckt, hätte ich mich gekümmert. Warum hat er nichts gesagt?“
Alvis starrte aus dem Fenster. „Es liegt am Wetter“, murmelte er leise. „Die Leute werden aggressiv.“ Riccarda schüttelte den Kopf. „Mark und Sascha? Das waren schon früher Idioten.“ Obwohl sie mit ihrer Einschätzung nicht falsch lag, spürte Riccarda, dass es eben nicht nur die Beiden waren.
„Es betrifft jeden“, behauptete Alvis prompt. „Oder willst du behaupten, dass der Winter dich nicht verändert hat?“
Riccarda wollte gerade widersprechen, als ihr aufging, wie Recht Alvis mit seiner Aussage hatte. Bis gerade eben war ihr das aggressive Verhalten der Klassenkameraden auch seltsam vorgekommen. Und nun wollte sie sich mit Alvis darüber streiten? Riccarda zwang sich, freundlich zu bleiben. „Ich glaube du hast Recht“, gab sie zu, und ihre Aggressionen verschwanden von einem Moment zum anderen. „Verdammt, ich weiß, dass du Recht hast.“ Riccarda rieb sich die Schläfen. „Es tut mir leid, ok?“
Alvis schien ihre Entschuldigung beinahe peinlich zu sein. „Das ist nichts, wofür du dich entschuldigen musst.“ Er zog die Schultern hoch. „Du kannst nichts für diesen Winter.“
Alvis schien noch etwas sagen zu wollen, doch in diesem Moment tauchte der Hausmeister auf., „Es tut mir leid, aber ihr müsst das Gebäude verlassen.“
Beide Jugendliche seufzten fast synchron und wappneten sich gegen die Kälte, die ihnen entgegenschlug. „Wie gesagt: wenn es nicht anders geht, komm einfach vorbei. Und sag mir Bescheid, wenn du etwas von Tobias hörst!“

„Ich bin zu Hause!“ Riccarda klopfte den Schnee von den Schuhen und betrat das Haus. Hier war es deutlich wärmer als in der Schule. Ihr Vater Christian hatte Riccarda erklärt, dass er beim Bau des Hauses sehr auf Isolierung und einen großen Vorratskeller geachtet hatte. Damals hatte Riccarda noch gelacht: „Als hättest du gewusst, dass es einen so schlimmen Winter geben würde!“ Jetzt, ein halbes Jahr später, lachte sie nicht mehr. Auch weil ihr Vater den Witz damals schon nicht lustig gefunden hatte.
„Temperaturen bis minus zehn Grad, in der Nacht muss mit weiteren Schneestürmen gerechnet werden.“ Die Wettervorhersage baute Riccarda nicht gerade auf. Sie schlüpfte aus ihrer dicken Jacke und brachte den Ranzen in ihr Zimmer. Die nächsten Tage gab es wenigstens Onlineunterricht, da musste sie nicht durch die Kälte stapfen. „Vielleicht kommt Alvis nachher vorbei, bei ihm zu Hause ist es gerade stressig. Papa?“ Riccarda war so in Gedanken versunken gewesen, dass ihr nicht einmal aufgefallen war, dass ihr Vater nicht reagiert hatte. Jetzt kam Christian mit besorgter Miene aus dem Schlafzimmer. „Das ist schön. Ich muss für ein paar Tage weg, da könnt ihr aufeinander aufpassen.“ Ihr Vater sah müde aus, dachte Riccarda, als Christian das Mittagessen zubereitete. Vermutlich hatte er in den letzten Nächten ähnlich schlecht geschlafen wie sie.
Christian arbeitete als Personenschützer und war seit Riccarda sich erinnern konnte, immer wieder auf Reisen gewesen. Ihre Mutter hatte Riccarda nie kennen gelernt, Kurz nach Riccardas Geburt hatten sich ihre Eltern getrennt, in aller Freundschaft, wie Christian stets betonte. Als kleines Mädchen war Riccarda enttäuscht gewesen, dass ihre Mutter nichts von ihr wissen wollte, und hatte sich oft ausgemalt, was für ein Mensch sie wohl sei. Vielleicht eine Prinzessin, die ihr Vater beschützen sollte? Oder eine Spionin, die ihre Familie nicht in Gefahr bringen wollte? Inzwischen hatte Riccarda erkannt, dass es sich bei diesen Vorstellungen lediglich um den Wunsch gehandelt hatte, etwas Besonderes zu sein. Trotzdem fragte Riccarda sich oft, warum ihre Eltern sich überhaupt getrennt hatten. Christian schien seine Frau nach all den Jahren immer noch zu vermissen und hatte stets betont, dass sie sich in Liebe getrennt hatten. Aber wieso überhaupt? Dies war eine moderne Welt und nicht das Mittelalter! „Manche Dinge sollen einfach nicht sein“, hatte Christian traurig geantwortet, als sie einmal nicht aufgehört hatte zu fragen.

Das karge Mittagessen verlief schweigend. Riccarda stocherte lustlos in ihrem Essen herum, obwohl sie eigentlich großen Hunger haben müsste. Trotz ihrer Vorräte und den Lebensmittelrationen war Riccarda immer hungrig, als würde sie durch den Winter mehr Energie verbrauchen. Schließlich legte Christian das Besteck beiseite. „Was ist los? Meistens freust du dich doch, wenn ich ein paar Tage aus dem Haus bin.“ Riccarda liebte ihren Vater, doch sie genoss es auch, allein zu sein, sich den Tag selbst einteilen zu können, und all den Blödsinn anzustellen, den ihr Vater nicht erlauben würde. Meistens ging es nur darum, lange auszuschlafen oder bis in die Nacht fernzusehen. Gerade weil ihr Vater Riccarda vertraute, missbrauchte das Mädchen seine Freiheit nicht allzu sehr.
„Musst du wirklich verreisen?“, Riccarda fand selbst, dass sie eher wie ein kleines Kind als eine 16-jährige klang. Ihr Vater nahm sie liebevoll in den Arm. „Ricci“, der nur noch selten verwendete Kosename zeigte, wie gut er sie verstand. „Du weißt, dass ich lieber bei dir bleiben würde, doch ich muss meiner Arbeit nachgehen. Irgendwoher muss das Geld für die Videospiele doch herkommen“, meinte Christian mit einem Augenzwinkern. Riccarda fühlte sich eher noch schlechter. Es ging nicht um die Videospiele, irgendetwas stimmte mit diesem Winter nicht! Riccarda würde sich gerne ein wenig einschränken, wenn sie dafür die Gewissheit hatte, dass ihr Vater in Sicherheit war.
Christian schien von den Sorgen seiner Tochter nichts mitzubekommen. „Für Notfälle ist Judith da, und die Drillinge werden begeistert sein, wenn du zum Essen kommst.“ Beim Gedanken an Cecilia, Andrea und Janina lächelte Riccarda schon fast wieder. Die gerade 5-jährigen Kinder hatten Riccarda als ihre große Schwester ins Herz geschlossen, und das Mädchen empfand ähnlich. Natürlich stritten sie sich gelegentlich und fanden einander „doof“, aber die Nachbarn bildeten einen Ersatz für die Familie, die Riccarda nicht besaß. Früher hatte Riccarda sogar mal gehofft, dass Judith und ihr Vater ein Paar werden würden, inklusive romantischer Hochzeit und so, doch irgendwann hatte sie erkannt, dass die Beiden sich nur als Freunde sahen. Offenbar vermissten sie ihren jeweiligen Partner zu sehr.

„Mir macht der Winter Angst. Die Kälte ist nicht normal, und jetzt ist auch noch einer meiner Klassenkameraden verschwunden.“ Eigentlich hatte Riccarda nicht über Tobias sprechen wollen, doch nun schüttete sie ihrem Vater das Herz aus.
„Die Leute werden seltsam, Alvis ist das auch schon aufgefallen. Die Hälfte meiner Klasse war heute nicht in der Schule.“ Riccarda bemerkte den amüsierten Blick ihres Vaters und lächelte ein wenig gezwungen. „Darunter auch einige, denen der Unterricht Spaß macht. Es gibt schon seltsame Leute.“
Jetzt lachte ihr Vater, aber Riccarda war noch nicht fertig: „Um Tobias mache ich mir ernsthaft Sorgen. Als Marie ihn das letzte Mal sah, war er angeblich gestürzt. Aber wir haben seit zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört. In der Schule war er nicht, und auf Nachrichten hat er nicht reagiert.“ Riccarda biss sich auf die Unterlippe. „Seine Eltern sind eigentlich ganz in Ordnung, aber dass er sich gar nicht meldet? Und die wenigen Leute, mit denen ich heute im Unterricht saß, waren richtig aggressiv. Die wären aufeinander losgegangen, wenn Alvis und ich es nicht verhindert hätten. Keine Schulhofprügelei, sondern im Ernst. Was passiert mit den Leuten?“
Christian wirkte betroffen. „Du spürst also auch, dass etwas nicht stimmt“, murmelte er und überlegte kurz, bevor er fortfuhr: „Hör mal, ich weiß, dass du gerne mitkommen würdest.“ Das hatte sie schon als kleines Kind gewollt. Da ihr Vater gelegentlich sehr spontan verreisen musste, hatte sich Riccarda als Kind oft vorgestellt, er würde in Wirklichkeit ein Leben führen: statt eines Personenschützers wäre er in Wirklichkeit ein Superheld oder ein Spion. Vielleicht traf er sich dann sogar heimlich mit ihrer Mutter, und sie durfte davon nichts erfahren.
„Ich schwöre dir, wenn ich zurückkehre, erkläre ich dir alles.“ Riccarda sah ihren Vater überrascht an. Versprechen waren eine Sache, sie konnten wegen ungünstiger Umstände gebrochen werden, doch Schwüre waren Christian heilig. Gerade deswegen war es Riccarda unangenehm, einen bestimmten Schwur von ihrem Vater zu verlangen: „Schwöre mir, dass du nach Hause zurückkehrst.“
Ihr Vater dachte einen Moment nach und hob dann die Hand zum Schwur: „Ich schwöre, alles daranzusetzen, heil zu meiner Tochter zurückzukehren.“ Erleichtert atmete Riccarda auf. Mochte der Winter noch so bedrohlich wirken, wenn ihr Vater zurückkehrte, würde alles gut werden.  Christian lächelte ein wenig traurig, als er ergänzte: „und du passt bitte auf dich auf, verstanden?“
Riccarda grinste säuerlich. „Klar. Ich werde mit keinem Fremden mitgehen und mir immer brav die Zähne putzen, während du die Welt rettest.“
Christian verzog das Gesicht, offenbar hatte Riccarda unabsichtlich einen Nerv getroffen. „Keine Sorge, ich passe schon auf mich auf. Aber du auch auf dich, verstanden?“
Christian lächelte und strich ihr über das Haar. „Natürlich.“

Nachdem ihr Vater das Haus verlassen hatte, fühlte Riccarda sich rastlos. Die Hausaufgaben konnte sie Morgen erledigen, im Fernsehen gab es nur Wetterberichte und Katastrophenmeldungen und auf ein Videospiel konnte sie sich nicht konzentrieren. Schließlich gab Riccarda auf und schaute bei Judith rein: vermutlich hatten die Drillinge eine gute Idee, wie sie ihnen die Zeit vertreiben könnte.
„Ricci ist da!“ Andrea stürmte sofort auf sie zu, und Riccarda ging theatralisch zu Boden. „Passt doch auf“, schimpfte sie lachend, als drei kleine Mädchen versuchten, sie am Boden festzuhalten. „Nö, dann bist du gleich wieder weg, weil du irgendetwas „Wichtiges“ zu erledigen hast. Dabei musst du unbedingt Chico kennen lernen, der ist so süß“, behauptete Janina.
Chi- wer? Drei kleine Mädchen erzählten durcheinander, wie niedlich „Chico“ war, ohne irgendwie zu erwähnen, worum es sich handelte. Bei den Beschreibungen hätte es sich um ein Lebewesen, ein Kuscheltier oder wahlweise (so warm und kuschelig) um ein neues Kleidungsstück handeln können.
Schließlich wandte sich Riccarda an Judith: „Wer ist Chico?“ Die Nachbarin lachte: „Ich habe gestern einen Welpen aus dem Tierheim geholt. In letzter Zeit gab es doch in der Gegend mehrere Einbrüche. Da fühle ich mich mit einem Hund im Haus sicherer.“
Cecilia grinste. „Chico muss nur noch verstehen, dass er ein großer, starker Hund ist. Im Moment ist er eher schüchtern.“

Riccarda ließ sich ins Wohnzimmer ziehen, wo der Welpe vor dem Kamin lag und döste. Anstatt auf den Hund zuzugehen, setzte sich Riccarda in einen Sessel, um Chico die Gelegenheit zu geben, sich an sie zu gewöhnen. Doch kaum, dass der Welpe Riccarda bemerkte, sprang er auf sie zu und ließ sich von ihr streicheln.
„Ich dachte, er wäre schüchtern?“, erkundigte sich die Jugendliche. Im Moment verhielt sich Chico eher, als würde er Riccarda schon lange kennen, weswegen Janina auch schmollte. „Ich habe gestern drei Stunden warten müssen, bis er mich in seine Nähe ließ.“
„Weil du gleich auf ihn zugestürmt bist“, behauptete Cecilia. „Obwohl Mama gesagt hatte, dass du ihn in Ruhe lassen sollst.“
Janina streckte ihrer Schwester die Zunge raus. „Als ob du besser gewesen wärst. Du bist bloß lieb gewesen, weil Mama dich festgehalten hat.“
Cecilia ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ist doch egal weswegen. Mich mag Chico jedenfalls.“
Der Welpe hatte es sich inzwischen auf Riccardas Schoß gemütlich gemacht und ließ sich ausgiebig streicheln. Neugierig betrachtete die Jugendliche das Tier. „Interessante Mischung“, stellte Riccarda schließlich fest. „Vermutlich Schäferhund und was sonst noch?“
Judith zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, das Tierheim konnte es mir auch nicht sagen. Sein Vorbesitzer hatte wohl keine Lust mehr auf ihn und hat ihn beim Tierheim angebunden. Vielleicht war er ihm zu wild.“
Die Jugendliche schaute auf den Welpen hinunter, der sich gerade in den Schlaf kraulen ließ. „Wild?“
Judith lachte. „Gestern ist er wie wahnsinnig durch das Haus gerannt, immer auf der Flucht vor den Drillingen. Er bellt nicht, aber wenn er heult, klingt es fast wie in einem Horrorfilm. Ich habe letzte Nacht befürchtet, er würde euch aufwecken. Auch wenn er menschenscheu ist: Chico hat Temperament.“
Riccarda schaute sich in dem Chaos um, das Judiths Wohnzimmer war. Wäscheberge türmten sich auf, Spielzeug lag herum und auf dem Tisch befand sich seit zwei Monaten ein angefangenes 1.000 Teile Puzzle. Riccarda liebte die Unordnung. Bei ihr zuhause hatte alles seinen Platz, bei Judith war es gemütlich.
„Ich glaube nicht, dass Chico für mehr Chaos sorgt.“
Judith lachte. „Vermutlich nicht. Ich habe schon lange aufgegeben, dagegen anzukämpfen, keine Ahnung, wie dein Vater das schafft.“ Dann wurde die Nachbarin ernst. „Ich muss noch einkaufen gehen, könntest du so lange auf die vier aufpassen?“ Erleichtert, noch nicht in ihr leeres Haus zurückkehren zu müssen, stimmte Riccarda zu. „Klar, kann ich bei euch essen?“
Judith lachte. „Natürlich, wovon willst du dich denn sonst ernähren?“ Das Mädchen wurde rot, denn die Nachbarin hatte mit ihrer Aussage vollkommen Recht. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der selbst aus Notvorräten köstliche Gerichte zaubern konnte, besaß Riccarda kein Talent fürs Kochen.
„Können wir draußen spielen?“, meldete sich Janina zu Wort. „Im Moment schneit es doch nicht, und du sagst immer, dass Chico viel Auslauf braucht.“

Obwohl sie heute eigentlich genug von der Kälte hatte, ließ Riccarda sich erweichen und tobte mit drei Mädchen und einem Welpen durch den Schnee. Erst bauten sie Schneemänner, dann ließ sich die Jugendliche in einer Schneeballschlacht besiegen, obwohl Chico heldenhaft versuchte, sie zu verteidigen. Riccarda band gerade die drei Schlitten zusammen, um die Kinder zu ziehen, als sich ihre Nackenhaare aufstellten. Der freundliche Nachmittag wirkte auf einmal bedrohlich.
Sofort ließ Riccarda das Seil fallen und schnappte sich Chico. „Los, zurück ins Haus, JETZT!“, befahl sie in einem Tonfall, den Judith gern als „Stimme des Generals“ bezeichnete, und auf den die drei Mädchen sofort reagierten.
Kaum waren alle drinnen, schloss Riccarda die Tür ab und stellte einen Stuhl unter die Klinke. Es würde vermutlich nichts bringen, doch sie fühlte sich gleich sicherer.
„Was war denn los?“ Nachdem sie so brav gehorcht hatten, verlangten die Drillinge natürlich eine Erklärung für das seltsame Verhalten ihrer großen Schwester. „Ich weiß es nicht“, gab diese offen zu. „Aber ihr wisst doch, dass ich manchmal so ein komisches Gefühl habe? Wie das eine Mal, wo ich nicht mit dem Karussell fahren wollte, das kurz darauf eine Panne hatte?“ Die drei nickten beklommen. „Seht ihr, ich dachte gerade, dass wir JETZT ins Haus gehen sollten.“ Riccarda schaute aus dem Fenster, wo sich die kalte Winterlandschaft nicht geändert hatte. Nicht immer trafen ihre Ahnungen zu. Vielleicht hatte sie sich die Gefahr nur eingebildet.
Doch plötzlich fing es an zu schneien und wie auf Kommando tauchten mehrere große Hunde auf. Vermutlich waren es nur groß geratene Schäferhunde, die ihrem Besitzer entwischt waren. Doch sie jagten der Jugendlichen und den Mädchen eine Heidenangst ein.  Hoffentlich würde ihr unverantwortlicher Besitzer bald auftauchen, denn die Hunde rannten, wie selbstverständlich, im Garten herum, bevor sie sich auf den Boden legten und durch die Terassentür ins Wohnzimmer starrten.
„Die… die finde ich unheimlich.“ Cecilia wich vor dem Fenster zurück. Ihre Schwestern taten es ihr gleich.
„Ruf Mama an“, bettelte Janina. „Sie soll drinnen bleiben.“
Die Drillinge versuchten sich hinter Riccarda zu verstecken. Die Jugendliche sah sich einen Moment um, fand aber nichts, was sich als Waffe verwenden ließ.
„Geht in den Keller“, befahl sie den Kleinen, und die Drillinge gehorchten verängstigt. In der Zwischenzeit angelte Riccarda sich das Telefon, ohne den Blick vom Fenster und den Tieren abzuwenden.

Es dauerte einen Moment, bevor Judith an ihr Handy ging. „Riccarda, was ist passiert?“ Das Mädchen stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Hier ist alles…. In Ordnung.“ Judith schwieg, und Riccarda fiel etwas verspätet auf, wie unglaubwürdig die Aussage klang. Sie hätte die Nachbarin nie beim Einkauf gestört, wenn nicht irgendetwas vorgefallen wäre.  „Es fing nur plötzlich an zu schneien, und jetzt sind große Hunde im Garten aufgetaucht. Wahrscheinlich ist alles in Ordnung, und ich mache mir zu viele Gedanken. Würdest du bitte drinnen bleiben, bis der Schneefall nachlässt?“
Judith hatte die Jugendliche immer ermutigt auf ihr Bauchgefühl zu hören. „Natürlich warte ich“, beruhigte die Nachbarin sie. „Es bleibt mir auch kaum etwas anderes übrig. Die halbe Stadt hat beschlossen, heute ihre Lebensmittelmarken einzulösen.“
Riccarda verabschiedete sich und atmete auf.
Vermutlich waren diese seltsamen Hunde in Wirklichkeit völlig harmlos, und der zeitgleich auftretende Schneefall einfach Zufall. Am nächsten Tag würden sie alle über das seltsame Ereignis lachen können.
In diesem Moment schienen die Tiere ihr durch das Fenster einen Moment direkt in die Augen zu sehen, bevor sie im Schneetreiben verschwanden.

Riccarda wartete sicherheitshalber noch etwas, bevor sie die Kinder aus dem Keller holte. Sie musste den Drillingen hoch und heilig versprechen, dass die Hunde verschwunden waren, bevor sich die Kleinen wieder nach oben trauten. Und selbst dann warfen die Kinder immer wieder ängstliche Blicke aus dem Fenster.
„Wie wäre es mit einem Brettspiel?“, schlug Riccarda schließlich vor, um alle abzulenken. „Vorausgesetzt natürlich, dass Chico nicht die Figuren umwirft.“ Aber der Welpe schien für diesen Tag genug Abenteuer erlebt zu haben, hatte sich in sein Körbchen zurückgezogen und schlief.

Alle waren sehr erleichtert, als Judith zwei Stunden später vom Einkaufen zurückkehrte. „Das war total unheimlich“, versicherte Cecilia ihrer Mutter. „Erst begann es ganz doll zu schneien, und dann tauchten diese komischen Hunde auf.“ „Die sahen ein bisschen wie Chico aus“, ergänzte Janina und streichelte den Welpen. Chico genoss die Zuwendung offensichtlich. Nach den letzten aufregenden Ereignissen hatte der Hund beschlossen, dass auch Janina zu seinem Rudel gehörte. „Aber keine Angst: Du wirst niemals so unheimlich wie die.“
Als die Kleinen sich vor dem Abendbrot schnell die Hände wuschen, nutzte Judith die Gelegenheit: „Was war wirklich los?“ Riccarda zuckte mit den Schultern. Inzwischen kam ihr das Ganze fast wie ein schlechter Traum vor. Doch die Spuren waren im Schnee immer noch zu sehen.  
„Kurz bevor der Schnee kam, bin ich mit den Drillingen lieber reingegangen“, erklärte Riccarda. „Praktisch mit dem Schneefall sind diese großen Hunde aufgetaucht. Hast du sie auf dem Rückweg bemerkt?“
Judith schüttelte den Kopf. „Riccarda, ich glaube nicht, dass ihr mir einen Bären aufbindet, aber beim Einkaufszentrum hat es nicht geschneit.“

Das Abendessen verlief lebhaft. Wenn drei Kinder in Redelaune waren und sich Schummeln beim Spielen vorwarfen, kam selbst Judith nicht mehr mit. Nur Riccarda wurde von Minute zu Minute stiller. Sie konnte die seltsamen Hunde nicht vergessen und griff schließlich zu ihrem Handy. „Riccarda, nicht beim Essen“, ermahnte Judith sie, doch das Mädchen hörte es kaum. Eine kurze Suche im Internet bestätigte Riccardas Verdacht: es waren keine Hunde, sondern Wölfe gewesen.
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