Heim
von shutterfly
Kurzbeschreibung
Die Fortsetzung meiner Geschichte „Vacanze Romane“ in drei Kapiteln. Shayne und Alessio sind auf dem Weg in Shaynes Heimat Pittsburgh, um Abschied zu nehmen.
KurzgeschichteLiebesgeschichte / P16 / MaleSlash
22.01.2023
27.01.2023
3
22.688
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Dieses Kapitel
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22.01.2023
5.920
HEIM
@Shutterfly 2023
Teil 1
Ihr Lieben,
aus dem versprochenen Oneshot wurde eine Kurzgeschichte in drei Kapiteln - alle zwei Tage. Irgendwann folgt mehr.
Ich wünsche euch ein gesundes, neues Jahr mit kleinen und großen Glücksmomenten!
Fiesole
Läuseblutrot verschwamm die Nacht hinter Shaynes Lidern, als er sie gegen den leuchtenden Sonnenaufgang schließen musste. Oder waren es Alessios heiße Küsse, die sein Gesicht bedeckten, die Zunge, die seinen Nasenrücken hinunterfuhr, um sich gleich darauf züngelnd zwischen seine Lippen zu schlängeln, Shaynes Zunge liebkosend, um ihm den ersten knurrenden Seufzer des Tages zu entlocken? „Capponino“, hörte er ihn flüstern. Ein Grinsen lag in der Stimme. Rau war sie von zu viel nächtlicher Leidenschaft.
Koschenillelausrot, wiederholte Shayne in Gedanken. Die Augen immer noch geschlossen, glitten seine Handflächen den geliebten, nackten Körper hinab, der, mit ihm verschmolzen, auf dem Sonnenbett des Gartens von Fiesole lag, unterkühlt und brennend heiß zugleich, so dass er schließlich die weiche Decke über sie beide zog. Ein Zelt, ein Nest, eine Blase – die sie nun nicht mehr brauchten, da nichts mehr heimlich geschah, nichts Unerklärliches beinhaltete und nichts, wofür sie sich ständig erklären und entschuldigen mussten.
Die Dinge waren geregelt. Glasklar. Und die Leidenschaft war rot wie der Sonnenuntergang über den Pontinischen Sümpfen. Glitzernd wie die Landschaft von Ninfa, hauchzart vernebelt durch unsichtbare Regentröpfchen, die das Land so fruchtbar machte; ein exotischer Schlund aus Sumpfblumen und schmalen Bächen. Shayne tastete sich über Alessios Haut. Glatt, weich, braungebrannt, geschmirgelt von Sand, Stein und chrysoprasgrünem Wasser vor den Felsen von Capri. Die Erinnerungen verschmolzen miteinander wie ihre Körper, die es nicht mehr hinauf in ihr Bett geschafft hatten.
Das letzte zarte Zirpen der Zikaden verstummte; ein Geräusch, an das sich Shayne längst gewöhnt hatte. Es gehörte zum Süden und manchmal hörte es auch abrupt bei Sonnenuntergang auf. Dann fehlte es ihm und erinnerte ihn an den kühlen Norden, seine Heimat, die nun langsam am Rande seines Horizontes aufging wie der rötliche Sonnenball, dessen Strahlen durch die Birnbäume hinter dem Pool flirrten. Er schlug die Augen auf, vergraben in Alessios Umarmung, dem schweren Körper, der halb auf ihm lastete wie ein Gespinst. Der Anachronismus war ihm wohl bewusst. Was schwer war, war leicht, wenn man darin nicht allein war. Betrunkene Birnen, blutige Pfirsiche, die Quittenbäume mit ihren kleinen, puderrosa Tellerblüten. Honigäpfel, die aussahen wie dicke Birnen, hatte ihm Alessio versichert. Pink spider Azaleen und die pontischen Azaleen in flammendem Orangegelb streckten allmählich ihre herrlichen Blütenblätter in die frische Luft. Es war Mitte Mai und die Welt explodierte.
Alessio schnurrte ihm ins Ohr, gähnte dann, streckte sich und saß plötzlich kerzengerade, schaute hinab auf ihn, riss die Decke herunter und griff nach Shaynes Arm. „Hast du schon alles gepackt?“, rief er, zerrte Shayne hoch und sprang mit ihm von der Sonnenliege in Richtung Pool, wo er ohne zu zögern einen Kopfsprung ins kühle Nass wagte.
Shayne lachte laut auf und sprang ihm hinterher. Ein Schlag traf sein Herz; er japste zwei Momente lang und schüttelte sich, dann klatschten schon Alessios Handflächen auf die Wasseroberfläche und verwandelten die morgendliche Welt in Millionen von winzigen Brillanten, die hoch zum rauchblauen Himmelszelt stoben.
Der Duft des falschen Jasmins schwebte in seine Riechzellen. Die es ja bekanntlich nicht nur in der Nase gab, wie er seit letztem Jahr und den hemmungslosen Erzählungen Alessios wusste. Nein, er war kein Experte geworden, aber das konnte er ja nun ändern. Ungeduldig wartete er darauf, dass der Hibiskus blühte, die Levkojen in allen Regenbogenfarben, der Rhododendron und die Hortensien – alles Blumen, die nie dufteten, aber mit ihrer bestürzenden Schönheit entschädigten. Je unscheinbarer die Pflanze, desto prächtiger duftete sie. Oder? Nein, das stimmte so nicht.
Grinsend schlang er die Arme um Alessios Schultern und tauchte mit ihm ab. Hinein in die schillernden Blubberbläschen, die wie durchsichtige Südseeperlen an Alessios Körper zur Wasseroberfläche hinaufschnürten. Sie drückten sich aneinander; ihre Schwänze streichelten sich zum ersten Kuss des Morgens, wurden prall und stiegen hinauf wie die Perlenschnüre. Shayne verschluckte sich am Wasser, weil er lachen musste; eine Schar von Sauerstoffperlen stob aus seinem Munde und das Haar umfloss ihn wie den Herrn des Meeres. Aquaman. Nee, viel zu aufgepumpt. Er blinzelte. Alessio war ein Seenixerich, schön und schlank und mit den richtigen Proportionen, lockend und verlockend. Shayne schlang die Handfläche um den harten Penis, widerstand der Gier, ihn daran zu sich zu ziehen. Er kam von allein und tauschte die Sauerstoffperlen mit ihm wie ein Erlöser, der den Sterbenden zu trinken gab. Die Augen glasig, ein wenig Aquarium für Goldfische, die Töne brausend und dumpf. Gemeinsam stiegen sie zur Oberfläche und durchbrachen sie in gierigem Saugen nach Sauerstoff und glitzerndem Sprühregen.
Alessio schob Shayne zum Poolrand; dessen Rücken stieß hart gegen die blau geflieste Wand, dabei zerrten seine Hände schon an Alessios Schultern, an seinem Haar, das sich unaufgefordert in lange Kringel legte, glänzend wie die Federn eines Rabens, so dass man die helleren Sonnensträhnen jetzt nicht bemerkte. Sonnensilber. Das Gold des Fiorino schmerzte in Shaynes Augen, während sie sich aneinander rieben und etwas Shayne von innen heraus aufzufressen drohte. War das das unbeschränkte Glück, so viel, wie man nur imstande war, zu fühlen? Ja, das war es.
Das erste, was er von seiner neuen Heimat wiedergesehen hatte, war die Piazza della Signoria und alles war noch da gewesen. Das warme Kaffeebraun der alten Palazzi, die mit cremefarbenen Bauten wechselten, als wären sie die Schlagsahne auf dem Latte Macchiato. Herzog Cosimo ritt unbeirrt auf den Laden von Chanel, als wolle er ihn – den französischen Eindringling – aus der Stadt fegen. Der weiße Meeresgott Neptun pinkelte wieder in sein aquamarinblaues Wasserbecken und die Nymphen räkelten sich zu seinen Füßen wie eh und je. Im Rivoire räkelten sich dagegen die Touristen und schleckerten die beste Schokolade von Florenz – scharf beobachtet vom Koloss des David. Shayne hatte sich vor ihm aufgebaut und die Anwesenheit Alessios mehr denn je gespürt. Wer war schöner?
Genau genommen ignorierte David die winzigen Menschen um ihn herum, denn er sah durch den Uffizienhof zum Arno hinüber und erwartete gelassen und doch zornig die Besucher, die die Heimat stürmten und seine Warnungen schnöde ignorierten. Zu viel. Ja, zu viel. Sie kamen dennoch nicht als Feinde. Wer die Stadt besuchte, um ihre Schönheiten zu entdecken, war herzlich willkommen. Und wenn er es ganz genau betrachtete, war auch David ein Zugereister aus dem nahen Osten.
Was war schöner, fragte er sich erneut. Rom oder Florenz? Das war wie mit Äpfeln und Birnen. Beides schmeckte gut, aber anders. Shayne war Rom verfallen gewesen, dieser mächtigen Geschichte, die sehr viel älter als Florenz war. Aber während die Hauptstadt eine gefallene Schönheit war, die sich jahrhundertelang neu erfinden musste, stand Florenz unbeirrt wie seit den Tagen von Dante und den Medici. Shayne wollte kein Besucher mehr sein. In ihr leben, sie aufsaugen mit einem anderen Schlag von Menschen.
Shayne beäugte den Topf mit der blauen Iris, die Alessio aus dem Bardini-Garten ausgegraben hatte, um sie mit nach Rom zu bringen. Eine Übersprungshandlung, die nicht nötig gewesen wäre, aber der Gedanke war allerliebst gewesen. Ihre erste Pflanze, die sie hier, im Garten von Fiesole nicht eingraben wollten. Sie sollte in ihrem gemeinsamen Garten stehen. Oder Balkon. Terrasse. Sie wussten es immer noch nicht. Jedenfalls musste sie wieder umziehen, diesmal auf die Dachterrasse des Palazzo Gondi, solange sie in Pittsburgh waren. „Kommst viel rum, was?“, sagte er zu der Blume und glaubte, sie leise kichern zu hören. Als er aufblickte, war es wohl Alessio gewesen, der ihn leicht angrinste. „Ich hab meinen Pflanzen im Turmzimmer auch immer alles erzählt.“
„Ach? Deinen ganzen Kummer und die Beschwerden gegen Pas...“ Shayne schluckte den Rest hinunter und nahm einen Schluck Kaffee.
„Pasquale. Sag's doch.“
Shayne warf ihm einen langen Blick zu. Wenn man Namen nicht aussprach, wuchsen sie zu mächtigen Monstern heran, das wusste er. „Pasquale“, sagte er nun folgerichtig. „Warum hast du sie nicht ihm vorgetragen? Weil die Pflanzen so selten Widerworte geben?“ Shayne legte den Kopf schief und schob sich den Rest der Toastscheibe in den Mund. Quittenmarmelade. Gemacht von Sandros Nanny Anastasia. Sie musste mittlerweile so alt sein wie der Mond und Shayne würde sie gerne kennenlernen. Beim nächsten Urlaub am Meer.
Alessio lachte auf. „Genau deswegen.“ Seine Augen funkelten himmelblau und widerspiegelten die Farbe des Zeltdaches über der Toskana. „Wusstest du, dass es gar keine Farben gibt, sondern sie nur in unserem Gehirn existieren?“, fragte Alessio. „Durch die Zapfen im Auge. Sie reagieren auf eine der drei Spektralfarben rot, grün und blau in unterschiedlichen Wellenlängen. Und dadurch sehen wir die Welt bunt.“
Das hatte Shayne schon mal im Biounterricht gehört, aber dass es tatsächlich nur daran hing, war unglaublich. Die Welt war schwarzweiß oder helldunkel. Chiaroscuro. „Tiere sehen ganz anders, nicht wahr?“ Shayne goss ihnen noch einmal die Kaffeetassen aus der Bialetti voll und rührte Kaffeesahne hinein. Alessio war ein Meister der Ablenkung, damit musste Shayne leben. Er wollte es ihm nicht andauernd unter die Nase reiben.
„Zweihundert Farbtöne“, nickte Alessio. „Mehrere Millionen Farbvalenzen. Fünfhundert Helligkeitsstufen. Spürst du es auch, wenn die Sonne kurz vorm Aufgehen ist? Ich meine, nicht nur sehen, auch fühlen. Es ist, als nähme auch die Haut die Sinnesveränderung wahr.“
„Das ist wie mit den Rezeptoren im Magen“, konstatierte Shayne und leckte sich den Kaffeegeschmack von den Lippen.
„Was mir sagt, du bist noch hungrig?“, gab Alessio zurück und sein Blick wandelte sich von himmelblau zu zartgrün. „Ja“, sagte er dann. „Meine ganzen Beschwerden bezüglich Pasquale.“
Shayne freute sich, dass er zurück zum Ausgangsproblem fand. Das war nicht immer so gewesen.
„Ich hätte sie ihm sagen sollen, statt die Palmen mit meinem Lamento zu belästigen. Oder die Kakapos. Die mussten sich immer alles anhören.“ Er holte tief Luft. „Ich meine... es waren keine Beschwerden. Nur ein bisschen Gejammere, weil ich mir etwas anderen wünschte und mir einredete, ich sei glücklich. Die meiste Zeit war ich es ja.“
„Und die unmeiste?“
Alessio schickte ihm einen fragenden Blick, dann schmunzelte er ob Shaynes kreativen Wortschöpfungen. „Die restliche Zeit war ich nicht unglücklich.“ Alessio beugte sich vor, umfasste Shaynes stoppeliges Kinn und küsste ihn auf die Lippen. „Bis du kamst. Die Antwort auf all meine nicht gestellten Fragen.“ Er erhob sich und stellte das Geschirr ineinander. „Komm, wir müssen langsam los.“
Shayne blieb sitzen und sah zum capriblauen Borretsch hinüber, der wild neben dem Pool wuchs. Blaue Sterne, gemacht für Gurken und Prosecco. Ein paar dunkelrote Bartnelken sprossen hier und dort in dicken Polstern, und mit Entzücken sah er, dass die kunterbunte Bart-Iris Blüten trieb. Hoffentlich waren sie alle noch da, wenn sie zurückkamen. Er schüttelte sich. Na klar waren sie das. Sein Herz klopfte plötzlich hoch. Er freute sich auf seine Mom und Gregory. Sie würden in Waynesburg bleiben und bestimmt auch ein paar Tage auf Britin. Was sie wohl alle zu Alessio sagen würden?
Er erhob sich, räumte den Rest ihres Frühstücks aufs Tablett und folgte Alessio ins Haus. Wie alle würden sie ihn anstarren wie das achte Weltwunder und dann ihre Münder zuklappen, wenn Alessio den Mund auftat und sie alle mit seiner liebenswürdigen Nonchalance einwickelte. Und niemanden ahnen ließ, welche Abgründe sich in seinem Herzen suhlten. Er mochte kompliziert sein, aber einfach konnte ja jeder. Shayne wusste genau, dass er Alessio genau dafür liebte. Und für so viele Dinge mehr.
Er stellte sich hinter ihn und drückte ihm einen Kuss in den Nacken. Umschlang ihn von hinten und spürte, wie Alessio dagegenhielt. Die Rundungen seines Hinterns passten perfekt in Shaynes Unterleib. Unbeweglich standen sie eine Weile an der Küchenzeile, die Domenico Fonseca gefertigt hatte. Pasquales neuer Lebensgefährte. Oder so. Shayne wusste es nicht so genau. Niemand wusste es genau. Shayne wünschte sich, dass es so wäre. Über Alessio kam man nicht leicht hinweg, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Und manchmal passierten einfach Wunder.
Paola, Alessios Mom, hatte ihn einfach in ihre Arme gezogen und auf beide Wangen geküsst, als sie sie in ihrer Schneiderwerkstatt im Palazzo Frescobaldi besucht hatten. Wortlos hatte sie ihn angesehen, die schöne Frau mit den dunklen Augen. Schwarzanthrazit, wie bei so vielen Italienern. Pasquale hatte sie mit keinem Wort erwähnt, ebenso wenig, wie sie Shayne hatte spüren lassen, was sie dachte. Aber dann, hatte sie beim Erdbeerkuchenessen einfach gelacht, nachdem sie sich lange genug sein Geplapper über Rom, Sorrent, Capri und Ravello angehört hatte. „Wann hörst du endlich mit diesem ewigen Gesieze auf? Ich bin Paola.“ Sie hatte ihrem Sohn einen bedeutsamen Blick hingeworfen, in dem mutwillige Sternchen glitzerten. „Alessio ist glücklich, du bist glücklich und ich auch. Basta così.“ Sie hatte sich zu ihm hinüber gelehnt und Shayne hatte der unverwechselbare Duft eines Strozzi-Razzoli-Parfums getroffen. Kein Kyphi, das war mal sicher, das wäre auch zu schwer für sie gewesen. Nein, es hieß doch jetzt... Fuoco. „Ich bin mir sicher, dass du subito italienisch lernen wirst, vero?“
Klar, französisch konnte er ja schon aus dem effeff. Aber das verschwieg er ihr. Sie wusste es sicher ohnehin. „Sicuramente“, erwiderte er und kniff ein Auge zu.
„Ihr müsst unbedingt nach Sicilia!“, sagte sie zufrieden.
„Mamma, wir haben schon eine Einladung nach Alto Adige und nach Capri“, intervenierte Alessio. „Und wir müssen eine Wohnung suchen, Shayne muss zu den Behörden, wegen Krankenversicherung, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, er hat sich in der Scuola Michelangelo eingeschrieben, um die Sprache zu erlernen und dann besucht er den Schnupperkurs bei Luca Montori.“
Paola pfiff undamenhaft durch die Zähne. „Alles auf einmal?“ Sie nahm Shaynes Hand und legte sie zwischen ihre Handflächen. „Das ist gut. Alessio hat dir erzählt, was du alles für eine permanente Aufenthaltserlaubnis brauchst. Es ist eine Menge und manche Unterlagen bekommt du nur in deinem Heimatland. Andere wiederum nur hier. Wir helfen euch natürlich bei der Wohnungssuche, Alessandro Gondi hat schon mal vorgefühlt. Wie sieht euer Budget aus?“
„Ganz okay“, antwortete Alessio. „Ich verdiene annehmbar in der Farmacia, aber da ist ja noch der Geldfluss aus den Parfümverkäufen.“
Paola nickte. „Ich weiß. Aber reicht das? Was habt ihr euch denn vorgestellt? Ein Rustico auf dem Land? Oder eine kleine Stadtvilla mit Innenhof oder Garten?“
Garten, hätte Shayne spontan gesagt. Florenz' Stadthäuser hatten vielfach einen Garten, den man von vorne nie vermutete. Giardino segreto. Am liebsten ein Rustico, ein einfaches Landhaus, aber er wollte auch nicht zu weit vom Schuss sein. Es würde sich alles finden – später.
„Wohnung mit Terrasse reicht“, antwortete er und sah zu Alessio hinüber, der nickte.
„Bene.“ Paola seufzte ein bisschen. Vielleicht sah sie es als Abstieg für ihren Sohn, der in dieser riesigen Villa von Bellosguardo jahrelang gelebt hatte und sich um nichts Sorgen machen musste. Shayne sah ihr durchdringend in die Augen. Das wäre nicht fair.
„Du weißt ja, dass am Stadtrand entlang des Arno viele Häuser gebaut wurden, die sehen auch nicht übel aus. Und weit vom Schuss ist es auch nicht.“ Paola goss ihnen Kaffee nach. „Aber Terrassen haben sie nicht.“ Sie stach in ihr zweites Stück Erdbeerkuchen und aß mit Appetit. „Wenn ihr zurück seid, wissen wir mehr.“
„Hey, du musst das nicht machen“, legte ihr Alessio die Hand auf den Arm. „Es macht doch auch Spaß, sich was Eigenes zu suchen.“
Ihre dunklen Augen ruhten auf ihrem Sohn. „Naturalmente. Dennoch können wir doch auch die Augen aufhalten. Ohne Familie geht nichts.“
Alessio und Shayne nickten.
„So. Alto Adige und Capri, ja? Ich muss gestehen, dass ich noch nie in den Bergen war, nur in den Abruzzen zum Wintersport. Ihr habt mir so schöne Sachen mitgebracht!“ Sie gluckste und strich Shayne über die Wange. Dieser schaute auf die Kette aus den Engelshautkorallen, die sie im Korallenmuseum von Ravello erstanden hatten. Sie stand ihr so gut und betonte ihre gebräunte Haut.
„Ihr seid weit rumgekommen und jedes Foto ist es wert, gerahmt zu werden.“ Sie grinste spitzbübisch. „Muffensausen? Angst vor der eigenen Courage?“, fragte sie nun wieder ernster an Shayne gewandt.
„Naja.“ Er kratzte sich am Kinn. „Ein bisschen.“
Ihr Blick huschte zu ihrem Sohn hinüber. „Andrà tutto bene.“
„Va tutto bene“, antwortete Alessio. Seine Augen leuchteten wie der Fiorino auf seinem leichten Pulli. Paolas Blick glitt darüber; sie wusste sehr wohl, dass dieser nicht von Pasquale stammte. „Ein neues Leben. Willkommen in der Familie.“
Shayne hatte die große Gießkanne noch einmal ans hintere Ende des Gartens geschleppt und stand nun vor dem kleinen, sorgsam gepflegten Grabstein für Sandros verstorbenen Bruder. Das war so lange her, ganz genau wusste er nicht, wie lange, denn es standen keine Daten auf dem blau geäderten Marmorstein. Nardo. Amato fratello. Geliebter Bruder. Gleich daneben hatte Shayne einen besonders schönen Stein platziert, den er im Garten gefunden hatte. Als Alessio in der Farmacia gewesen war, hatte er ihn gesäubert, gewaschen, ein bisschen behauen und halb in der Erde vergraben; daneben hatte er vom Markt gekaufte Töpfe mit vorgezogenen Cosmea eingegraben, die nun in herrlichem Pink und Weiß zu blühen begannen. Er begoss auch die zögerlich aufplatzenden Levkojen mit Wasser und die Wand von Rhododendrongrün dahinter. In den Bäumen sangen sich die Vögel die Seele aus dem Leib.
Alessios Ruf drang zu ihm hinüber und Shaynes Herz begann zu klopfen. „Hier!“, rief er zurück. „Ich komme gleich.“ Am Nachmittag ging ihr Flug in die USA, über Madrid und New York. Rasch betrachtete er noch einmal sein Werk und schnappte sich die Gießkanne, aber da hörte er schon Alessios leichten Tritt und das alte Laub, das unter seinen Schuhen raschelte.
„Da steckst du.“ Alessio legte ihm die Hand ins Genick und blieb vor dem Grab stehen. „Schau, die Levkojen platzen auf. Violacciocca fiesolana.“
Shayne sagte nichts, wartete nur.
„Und was ist das? Cosmea?“ Alessio hockte sich nieder und berührte vorsichtig die zarten Blütenblätter.
„Haben die sich selbst ausgesät?“ Dann erstarrte er, als er den Stein sah. Nichts stand darauf, aber... Sein Blick flog hoch zu Shayne, der ihn stumm ansah. Alessio federte hoch und starrte ihm in die Augen. Eine Weile sagte er nichts, aber Shayne sah, wie es in seinen Augen flimmerte. „Das ist...“, stotterte Alessio, „das ist....?“
„Für Rajesh“, kam ihm Shayne zuvor. „Er hat doch kein Grab.“ Er flüsterte nun.
Alessio blinzelte heftig. “Das ist...“, wiederholte er und wischte sich über die Augen. „Cazzo“, murmelte er.
Scheiße, dachte Shayne, war das nicht richtig? Aber dann fühlte er sich von Alessio fest umarmt und drückte sich an ihn. „Grazie mille“, hörte er Alessios Stimme, „was für ein schöner Gedanke.“ Er umfasste nun Shaynes Gesicht und küsste ihn immer wieder. „Grazie.“
Wo immer sie auch hinziehen würden, einen Gedenkstein konnten sie überall aufbauen. Alessio bückte sich erneut und strich sacht mit beiden Händen über den Stein. Dann hielt er sich daran fest, schloss die Augen und sandte ein Gebet ans Universum. Er war so dankbar für Shaynes Einfühlungsvermögen und die Akzeptanz seiner Trauer, die nie enden würde. Zumindest interpretierte er es für sich so. „Du hättest es mir sagen können“, flüsterte er.
„Wollte ich ja, aber ich war mir nicht sicher.“
„Sciocchezze! Du kannst mir immer alles sagen.“ Er erhob sich und schlang den Arm um Shaynes Schulter. Drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Stumm blickten sie auf die Gräber. Junges Leben, vergeudet.
Irgendwann nahm Alessio Shaynes Hand. „Wir müssen los.“ Beide blickten noch einmal zurück. So ein Ort hatte auch etwas Befreiendes.
Alessio leerte die Gießkanne über die Büsche und verstaute sie im Wintergartenquartier. Alles war so hübsch geworden. Noch hübscher, als zu der Zeit, da sie hier gewohnt hatten. Die schweren Kübel mit den Oleanderbüschen, den Zitronen- und Orangenbäumchen waren rund ums Haus arrangiert. Nur die Südseemyrte bräuchte mal einen Formschnitt. Sie war über und über besät mit weiß-rosafarbenen Blüten, die süß und holzig dufteten. „Meinst du, die blüht noch, wenn wir zurückkommen?“, fragte Shayne.
„Die blüht ewig lange. Guck, die Bienen sind auch begeistert. Wenn wir welche hätten, könnten wir Manukahonig ernten.“
„Echt? Daher kommt er?“, staunte Shayne.
„Genau. Sir Joseph Banks beobachtete die Maori auf Neuseeland, wie sie daraus Tee, Öl und Honig machten.“ Er grinste Shayne ins Gesicht. „Auf seiner Reise mit James Cook.“ Er piekste Shayne auf die Brust. „Und wir machen uns jetzt auf unsere eigene Reise.“ Er küsste ihn schallend. „Danke nochmal.“ Seine Augen glitzerten verdächtig und alles lag darin, was er jetzt nicht aussprechen konnte.
Florenz
Für Shayne war es immer wieder ein Erlebnis, mit dem blauen Fiat Spider die steilen Straßen von Fiesole nach Florenz hinabzufahren. Rom – ja. Capri – ja! Sorrent, Amalfi, Ravello, alles großartig. Sein Herz hing daran. Aber Firenze sollte seine Heimat sein und laut Alessio gab es noch so viel zu entdecken für ihn. Für sie beide. Die rauschenden Wälder, die Flüsse und Seen, die Weite der Felder, die Hügel, die Landvillen, Dörfer und großartigen Städte. Und das nahe Meer. „Weiter oben hinter Fiesole liegt die Privatmühle, in der wir immer einkauften. Also Öl, Oliven, Käse und Zitrusfrüchte“, erzählte ihm Alessio während der Fahrt. „Du wolltest doch immer noch eine echt alte Ölpresse sehen, die werden auch noch benutzt, aber nur für den Privatverbrauch. Manchmal bekomme ich was ab.“ Er sah auf die Uhr. „Wir haben noch Zeit, um die Schlüssel abzugeben.“
Alessio fuhr in weitem Bogen am Bahnhof vorüber, bis er auf den Lungarno Amerigo Vespucci einbog. Entlang des Arno fuhr er auf der sonnigen, schmalen Straße und Shayne blickte hinüber auf die bunten Häuser und braunen Kirchtürme. In den zehn Tagen, die sie schon hier verbracht hatten, hatte er alles wiedererkannt und wie lang vermisste Freunde begrüßt. Dort vorne lauerte der Ponte Vecchio, schon wieder belagert von Touristen, wie er an der Fülle der Leute im durchbrochenen Ausguck erkannte. War ihm schnuppe, sollten sie sich wie die Irren auf die Stadt stürzen – er würde hierbleiben, hatte alle Zeit der Welt und musste niemals hetzen. Am Ufer wuchsen Flaum- und Steineichen, große Granatapfelbäume, Magnolien und ein paar Platanen. Stufenförmig über den Palazzi quoll das unterschiedliche Grün spitzer Zypressen, Pinien und noch mehr Eichen; die Häuser Vanilleblumenbeige, Melonenscheibenrosa und Limoncellogelb mit himbeerfarbenen Schindeldächern. Florenz strahlte im Sonnenschein fast genauso bunt wie Rom.
Was ihn an den Irisgarten erinnerte, wo der alljährliche Wettbewerb um die schönste Iris stattfand. Wie hatte er im Farbenrausch geschwelgt! „Meinst du, Pasquale gewinnt dieses Jahr den Sonderpreis?“, fragte er aus seinen Gedanken heraus.
Alessio warf ihm einen Blick zu. Er bog gerade in die Via di Proconsolo ein, an dessen Ende sich die Türme der Badia und des Bargello über dem braunen Häusermeer erhoben. „Für was?“, fragte er. Für die zivilisierteste Trennung des Jahres? Fügte er in Gedanken hinzu. Sein Herz schlug einen kleinen Purzelbaum, denn er war sehr glücklich darüber. Glücklich, dass Pasquale ihn hatte gehen lassen. Mit nur kleinem Drama, und das war für einen Italiener schon eine Leistung. Er schnaufte kurz. Nun gut, Pasquale war einfach zu gut erzogen für grande drama. Was ihn auch stets davon abgehalten hatte, seiner Leidenschaft den nötigen Ausdruck zu verleihen.
„Na, für die rote Iris!“, rief Shayne. „Du hast mir doch erzählt, dass man sich seit Jahren damit abplagt, eine so rote Iris wie auf eurem Stadtwappen zu züchten! Klappt aber nicht so richtig.“
„Stimmt. Und deshalb gibt’s den Sonderpreis für diejenige, deren Farbe am ähnlichsten ist. Findest du, Pasquales Iris ist ähnlich?“
Shayne nickte heftig. Dann machte er einen langen Hals. Der Palazzo Gondi kam in Sicht und die Tür des Giglio d'Oro stand offen. Leute saßen an den Tischen davor – alles, wie er es gewohnt war. Er entdeckte einen blonden, geflochtenen Zopf, der zu einer jungen Frau gehörte, die er sehr wohl kannte. Sie kam ihm wie gerufen.
„Buon giorno, Isolde!“, tippte er ihr vorsichtig auf die Schulter. Sie zuckte hoch und sah ihn an wie eine Nachteule. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem Lachen. „Ciao, Shayne! Was machst du hier? Ach so, ihr fahrt heute nach Pittsburgh, richtig?“ Sie sah sich nach Alessio um, der den Wagen am Straßenrand parkte. „Kommst du wieder?“
Er schubste sie. „Eh, was für eine Frage?!“ Er ließ sich neben ihr am Tisch nieder. Alessio drückte von oben einen Kuss auf Isoldes Wange und bedeutete Shayne, dass er reingehen wolle. „Also, ich habe eine Frage“, begann Shayne. „Braucht „The Florentine“ noch freie Mitarbeiter? Ich meine, so als fotografischen Reisebegleiter für die ganzen Touristen?“
Isoldes blaue Augen wurden kugelrund. „Intendi questo?”
Shayne fuhr sich durchs Haar. “Naja, ihr schreibt doch für Ausländer. Habt ihr auch eine Rubrik für andere Städte? Ich schreibe Tagebuch und Fotos habe ich tonnenweise.”
“Ah! Du willst dir Geld dazuverdienen, si?” Sie klappte das Heft mit ihren Aufzeichnungen zu und betrachtete ihn aufmerksam. “Wir brauchen immer gute Fotos und interessante Reportagen. Du könntest mich ja für den Anfang auf meinen Touren begleiten.” Sie schubste ihren langen Zopf auf den Rücken. “Und ich kann den Vorschlag bei der nächsten Redaktionsbesprechung machen.”
„Das wäre super!“ Er klapste ihr auf die Schulter und lächelte sie noch einmal an, dann verschwand er im Gastraum. Er war nicht voll, alle saßen bei dem schönen Wetter draußen. Alessio saß an der Bar und schwatzte mit Fabio, eine Limonade vor sich, während Sandro gerade die Stufen vom Palazzo hinuntersprang. „Hey, amico!“, rief er begeistert. „Dachte nicht, dass ihr euch verabschieden kommt.“ Er klopfte Alessio auf die Schulter und zog Shayne auf einen Stuhl an einem der leeren Tische. „Tutto bene?“
„Kann nicht besser sein! Hier, die Schlüssel.“ Er legte das Schlüsselbund des Hauses in Fiesole in Sandros Hand. „Wir haben alles gewässert, aufgeräumt und den Kühlschrank leergefressen. Es ist so schön da!“
Shayne fragte sich, ob Sandro den Gedenkstein neben dem Grab seines Bruders entdecken würde. „Ich hab nur Schiss vor dem ganzen Papierkram, den ich machen muss. Alessio hat mir Horrorstorys von eurer Bürokratie erzählt.“
Sandro zog die Augenbraue hoch, die von einer Narbe gespalten war. Überbleibsel seines Kampfes mit einem der homophoben Arschlöcher, das wusste Shayne. Und fragte sich immer wieder, wie Alessandro di Gondi-Lucertola diese Zeit überlebt hatte. Buchstäblich und im übertragenen Sinne. Aber das war nicht die eigentliche Frage. Wie hatte er geschafft, so ein vernünftig funktionierender, fröhlicher Mensch zu bleiben? Wahrscheinlich waren seine Abgründe so tief wie die Alessios.
„Tja, die Horrorstorys sind leider wahr. Aber wozu hat man familiäre Beziehungen, eh? Mein Onkel macht das schon.“
„Pfff. Ich will nicht immer Extrawurst gebraten kriegen“, schmollte Shayne und Sandro puffte ihn gegen die Brust. „Lektion numero uno: ohne Familie geht nichts in Italia! Also, lass dir helfen, sonst kommst du niemals zu Potte. Wir machen das gerne. Also, morgen früh bist du Zuhau..., also bei deiner Familie. Zuhause,“ korrigierte er sich dann doch noch. Die blauen Augen sandten ihm einen intensiven Blick. „Das fällt dir bestimmt schwer, ich kann's mir gar nicht vorstellen. Wenn der ganze Trubel hier vorbei ist, dann lade doch alle ein, ich würd mich freuen, Justin und Brian wiederzusehen. Und deine Mamma kennenzulernen.“
„Und Gregory. Das ist ihr neuer Partner“, ergänzte Shayne.
„Und Gregory. Der Palazzo ist groß genug.“ Er schlug Shayne auf den Oberarm. „Ich kanns gar nicht glauben, dass du wieder hier bist. Und bleibst. Das wird fantastisch! Luca ist auch ganz aufgeregt, dass du bei ihm reinschnuppern willst, vielleicht gefällt's dir und dann seid ihr Kollegen.“
Shaynes begeisterter Blick rutschte nach oben zu Alessio, der hinter Sandro stand und gelauscht hatte. Jetzt packte er Sandro bei den Schultern und schüttelte ihn leicht. „Ich find's auch fantastico“, rief er. „Shayne quasselt von nichts anderem. Avanti, grüß Luca von uns.“
Als Sandro sich erhob, umarmten sich beide, als wären sie immer die besten Freunde gewesen. La Famiglia, schoss es Shayne durch den Kopf. Die biologische hatte man immer an der Backe – die andere suchte man sich selbst. Ein letztes Mal kramte er in seiner Tasche nach den Flugtickets, ging an die Bar und verabschiedete sich von Fabio.
„Geht ins Babylon für mich und lass dich von den Typen angaffen“, sagte Sandro zu Alessio und grinste ihn breit an. „Du bringst ihn doch wieder?“, raunte er dann leise. „Wird nicht leicht für ihn.“
„Ich tue alles dafür“, erwiderte Alessio ernst.
Sandro zögerte und blickte ihm in die leuchtenden Augen. Sie waren wie ein Licht, das man hinter einem bunten Kirchenfenster angezündet hatte. „Was ich die ganze Zeit schon sagen wollte: dein Fiorino, es ist nicht Pasquales, oder?“
„Woher weißt du das?“
„Ich kenne Shayne. Wenn er sein Herz an etwas hängt, dann wohl ganz und gar.“
Alessio legte den Kopf schief. „Wie du?“
„Wie ich.“ Sandro schlug ihm leicht auf den Oberarm. „Pasquale taucht immer mal wieder hier auf. Mit Domenico. Es geht ihm gut, wir kümmern uns.“
Er dachte an die große blaue Porzellan-Eidechse, die beide ihm mitgebracht hatten. Lucertola Azzurra, die es nur auf Capri gab. Sie hatte einen besonderen Platz in ihrem Zimmer gefunden. Gleich neben Lucas Mosaikfragment aus der Villa des Kaisers Tiberius. Timberio. Diesen Ausdruck der Caprese kannte er wohl. Er war froh, seinen endgültigen Frieden mit Alessio gemacht zu haben. Je besser Sandro ihn kennenlernte, desto mehr verstand er, warum Shayne sich so unumstürzlich in ihn verliebt hatte.
„Segui il tuo cuore“, sagte er laut. Folge deinem Herzen. Ein letztes Mal umarmte er auch Shayne. „Ciao, ciao! Buon viaggio! Grüßt Brian und Justin von uns und schickt mir Fotos!“
Er winkte ihnen hinterher.
New York
Komisch, dass man einen Tag noch einmal erleben konnte. Wer an der Zeit herumpfuschte, musste auch einen der Waffel haben, dachte Shayne, als er die Augen aufklappte und feststellte, dass sie immer noch irgendwo über dem Atlantik schwebten, aber New York nicht mehr weit sein konnte. Alessio neben ihm schlief lautlos, der Kopf war auf das Nackenhörnchen zur Seite gesunken, die schwarzen Haare streichelten in langen Kringeln das Gewebe. Shayne mochte es immer, egal ob ordentlich ausgeföhnt, wild oder salzverkrustet, so dass er aussah wie ein verwegener Mittelmeerpirat. Spielte keine Rolle für ihn.
Die Stewardess rollte leise mit ihrem Wagen durch die Gänge, sah, wer wach war und bot ihnen Frühstück an. Brian hatte versprochen, sie vom Pittsburgher Flughafen abzuholen und Shaynes Herz schlug wiedermal Kabolz. Er hob die Hand, und die Stewardess platzierte einen geschlossenen Teller auf seinen Klapptisch, nebst einem Kaffeebecher und dem unvermeidlichen Tomatensaft. War das einzige, was man hier oben richtig schmeckte, hatte man ihm mal erzählt. Alessio könnte ihm sicher erklären, warum. So, wie den Honig von der Südseemyrte. Oder warum die Welt eigentlich keine Farben hatte. Er lugte durchs Bullauge hinaus. Perlmuttfarbene Wattewolken waren um ihn herum, durch die er auf ein Meer von Dunkelblaugrau blickte. Kein Capriblau. Auf gar keinen Fall. Wie konnte man in Pittsburgh glücklich sein, wenn es solche Orte wie Süditalien gab? Aber darauf kam es wohl nicht an. Es war das, was man daraus machte.
Alessio wachte mit einem Seufzer auf. Sah sich verwirrt um und rieb sich die Augen. „Sind wir schon da?“
„Nee. Aber bald. Colazione? Kein Hering, Bratwurst und saure Gurken für dich, scusi.“
Alessio grinste verschlafen. „Nicht mal Bohnen und gegrillte Tomaten?“
„Aber Saft.“ Er reichte ihm seinen eigenen Becher hinüber. „Warum bekommt man das noch gleich?“
„Hier oben schmeckt er fruchtig und süß“, nahm Alessio einen Schluck. „Auf der Erde schmeckt den meisten das nicht und warum? Weil sie noch nie selbstgemachten Tomatensaft getrunken haben.“ Er kniff ein Auge zu. „Wegen des niedrigen Luftdrucks schmecken wir dreißig Prozent weniger, also, wenn das Ei und die Salamistulle nach nix schmeckt, dann liegt das nicht an dir. Aber Tomatensaft ist immer überwürzt, das hier würdest du unten nicht trinken wollen.“
„Igitt.“ Shayne nahm ihm den Becher weg, beugte sich stattdessen hinüber, küsste und leckte anschließend Alessios roten Tomatensaftbart weg. „Also, wo ist dein Pittsburgh-Reiseführer? Ich hab immer gelesen, bis mir die Augen tränten.“
„Mann, ich dachte, du bist mein Reiseführer! Lady, kann ich auch Frühstück bekommen, bitte?“
Shayne lehnte sich bequem zurück und probierte sein Salamisandwich. Seufzend dachte er an Pinsa, gegrillten Polpo und Carbonara.
Auf dem Airport J. F. Kennedy herrschte wie immer geschäftiger Trubel. Diese verwirrende Menge an Start- und Landebahnen, Terminals, Fluglinien, Shops, Restaurants, Bistros, Parkhäusern und Shuttlebussen und -zügen machte Shayne ganz kirre. Ihre Iberia Lineas war am Terminal 7 gelandet. „Diese Umsteigerei ist ätzend“, sagte er laut. „Früher gabs mal einen Direktflug von Paris nach Pittsburgh, jetzt müssen wir noch mal umsteigen.“ Sein Blick irrte umher. „Da lang.“
„Und es gibt keine Busse oder so?“, fragte Alessio. Ihm ging dieses riesige Durcheinander auch auf die Nerven, dabei war Airport Mumbai nicht anders gewesen. Shayne lachte auf. „Wir würden elf Stunden brauchen!“ Er blieb stehen. „Na komm, wir haben noch eine Stunde bis zum Einchecken.“
„Ich wusste nicht, dass du letztes Jahr so lange bis nach Hause gebraucht hast.“ Alessio strich sich müde über die Augen. Shayne zog ihn beiseite. „Hauptsache, die laden das Gepäck richtig um.“ Er küsste ihn. „Den Rest schaffen wir jetzt auch noch.“
Ein schlechter, wasserdünner Kaffee in einem der Bistros war kaum dazu angetan, ihre Lebensgeister wieder zu wecken. DAS war amerikanischer Kaffee? Alessio starrte in seine Tasse und dann zu Shayne, hob die Brauen und begann zu lachen. Scheißt der Hund drauf, wie Shayne immer sagte. „So“, zog er ihn zu sich. „Brian will uns abholen? Ich bin gespannt! Und wie lange dauert es dann noch bis nach Waynesburg? Wieder elf Stunden?“
„Nee! Nicht mal eine halbe, ist doch cool.“ Shayne hatte ein bisschen Muffensausen, wie sein großer Bruder auf Alessio reagieren würde. Hoffentlich nicht mit einem Ständer. Er grinste in sich hinein und bemühte sich, nicht wieder verliebte Kalbsaugen zu machen. Das war ihm wohl nicht geglückt, denn Alessios Augen schwebten plötzlich ganz nah vor seinen. Goldgrünblaugrau, alle Farben der Toskana. In diesen Augenblicken war Shayne glücklich über die Gene von Alessios Vater und es hatte ja auch mal eine Zeit gegeben, da der kleine Junge happy mit seinem Dad gewesen war. „Ich dich auch“, flüsterte Alessio und Shayne schmolz dahin. Ganz tief in seinem Inneren fragte er sich, ob er mit der Rückkehr in seine Heimat wieder den Schmutz annehmen würde. Die kühle Schnoddrigkeit des Partygängers, der Männer vor den Kopf stieß, weil auch er unangenehme Gene in sich trug, die sich in Brian manifestiert hatten und vor denen Shayne nie gefeit gewesen war. Das Land formte seine Einwohner. In Italien war er ein anderer geworden. Er hatte zugelassen, dass es sich tief in sein Herz gefressen hatte. All die Weichheit des goldenen Lichts, all die unglaubliche Schönheit.
„Das letzte Mal, als ich auf diesem Flughafen wartete, wollte ich dich einfach nur vergessen“, murmelte er. „Und hatte Schiss, dass alles wieder aufgewühlt werden würde. Es war eine andere Stadt, aber dasselbe Land. Und du wohntest da irgendwo im Norden und warst glücklich.“ Er senkte den Kopf und spürte Alessios Hand in seiner. „Und ich wähnte dich anderswo im kalten Norden und dachte, du seist glücklich“, erwiderte Alessio.
Wie konntest du?, fragten Shaynes Augen. Annehmen, ich sei glücklich?
„Das war die einzige Möglichkeit, mich von dir zu befreien. Ist aber nicht gelungen.“
Shayne schnaufte. Die Servierdame goss ihnen Kaffee nach. Aus Verlegenheit trank Shayne das dünne Gesöff. „Und jetzt bist du hier“, rief er plötzlich, als seien alle Lebensgeister erwacht. „Unglaublich.“
„Incredibile.“ Alessio schmunzelte. „Ich war noch nie in den USA, weißte doch, ich bin gespannt.“
Augenblicklich fragte Shayne sich, ob sie nicht eine Nacht und einen Tag in New York dranhängen sollten. Times Square, Greenwich Village, Schwulenclubs, Theater, das unglaubliche Menschengetöse, Battery Park, die Schluchten von Manhattan, das MoMA, die Freiheitsstatue? Beim nächsten Besuch, schwor er sich. Dann sollte Alessio all das kennenlernen, was mit den Wolkenkratzern in San Gimignano begonnen hatte.
tbc
@Shutterfly 2023
Teil 1
Ihr Lieben,
aus dem versprochenen Oneshot wurde eine Kurzgeschichte in drei Kapiteln - alle zwei Tage. Irgendwann folgt mehr.
Ich wünsche euch ein gesundes, neues Jahr mit kleinen und großen Glücksmomenten!
Fiesole
Läuseblutrot verschwamm die Nacht hinter Shaynes Lidern, als er sie gegen den leuchtenden Sonnenaufgang schließen musste. Oder waren es Alessios heiße Küsse, die sein Gesicht bedeckten, die Zunge, die seinen Nasenrücken hinunterfuhr, um sich gleich darauf züngelnd zwischen seine Lippen zu schlängeln, Shaynes Zunge liebkosend, um ihm den ersten knurrenden Seufzer des Tages zu entlocken? „Capponino“, hörte er ihn flüstern. Ein Grinsen lag in der Stimme. Rau war sie von zu viel nächtlicher Leidenschaft.
Koschenillelausrot, wiederholte Shayne in Gedanken. Die Augen immer noch geschlossen, glitten seine Handflächen den geliebten, nackten Körper hinab, der, mit ihm verschmolzen, auf dem Sonnenbett des Gartens von Fiesole lag, unterkühlt und brennend heiß zugleich, so dass er schließlich die weiche Decke über sie beide zog. Ein Zelt, ein Nest, eine Blase – die sie nun nicht mehr brauchten, da nichts mehr heimlich geschah, nichts Unerklärliches beinhaltete und nichts, wofür sie sich ständig erklären und entschuldigen mussten.
Die Dinge waren geregelt. Glasklar. Und die Leidenschaft war rot wie der Sonnenuntergang über den Pontinischen Sümpfen. Glitzernd wie die Landschaft von Ninfa, hauchzart vernebelt durch unsichtbare Regentröpfchen, die das Land so fruchtbar machte; ein exotischer Schlund aus Sumpfblumen und schmalen Bächen. Shayne tastete sich über Alessios Haut. Glatt, weich, braungebrannt, geschmirgelt von Sand, Stein und chrysoprasgrünem Wasser vor den Felsen von Capri. Die Erinnerungen verschmolzen miteinander wie ihre Körper, die es nicht mehr hinauf in ihr Bett geschafft hatten.
Das letzte zarte Zirpen der Zikaden verstummte; ein Geräusch, an das sich Shayne längst gewöhnt hatte. Es gehörte zum Süden und manchmal hörte es auch abrupt bei Sonnenuntergang auf. Dann fehlte es ihm und erinnerte ihn an den kühlen Norden, seine Heimat, die nun langsam am Rande seines Horizontes aufging wie der rötliche Sonnenball, dessen Strahlen durch die Birnbäume hinter dem Pool flirrten. Er schlug die Augen auf, vergraben in Alessios Umarmung, dem schweren Körper, der halb auf ihm lastete wie ein Gespinst. Der Anachronismus war ihm wohl bewusst. Was schwer war, war leicht, wenn man darin nicht allein war. Betrunkene Birnen, blutige Pfirsiche, die Quittenbäume mit ihren kleinen, puderrosa Tellerblüten. Honigäpfel, die aussahen wie dicke Birnen, hatte ihm Alessio versichert. Pink spider Azaleen und die pontischen Azaleen in flammendem Orangegelb streckten allmählich ihre herrlichen Blütenblätter in die frische Luft. Es war Mitte Mai und die Welt explodierte.
Alessio schnurrte ihm ins Ohr, gähnte dann, streckte sich und saß plötzlich kerzengerade, schaute hinab auf ihn, riss die Decke herunter und griff nach Shaynes Arm. „Hast du schon alles gepackt?“, rief er, zerrte Shayne hoch und sprang mit ihm von der Sonnenliege in Richtung Pool, wo er ohne zu zögern einen Kopfsprung ins kühle Nass wagte.
Shayne lachte laut auf und sprang ihm hinterher. Ein Schlag traf sein Herz; er japste zwei Momente lang und schüttelte sich, dann klatschten schon Alessios Handflächen auf die Wasseroberfläche und verwandelten die morgendliche Welt in Millionen von winzigen Brillanten, die hoch zum rauchblauen Himmelszelt stoben.
Der Duft des falschen Jasmins schwebte in seine Riechzellen. Die es ja bekanntlich nicht nur in der Nase gab, wie er seit letztem Jahr und den hemmungslosen Erzählungen Alessios wusste. Nein, er war kein Experte geworden, aber das konnte er ja nun ändern. Ungeduldig wartete er darauf, dass der Hibiskus blühte, die Levkojen in allen Regenbogenfarben, der Rhododendron und die Hortensien – alles Blumen, die nie dufteten, aber mit ihrer bestürzenden Schönheit entschädigten. Je unscheinbarer die Pflanze, desto prächtiger duftete sie. Oder? Nein, das stimmte so nicht.
Grinsend schlang er die Arme um Alessios Schultern und tauchte mit ihm ab. Hinein in die schillernden Blubberbläschen, die wie durchsichtige Südseeperlen an Alessios Körper zur Wasseroberfläche hinaufschnürten. Sie drückten sich aneinander; ihre Schwänze streichelten sich zum ersten Kuss des Morgens, wurden prall und stiegen hinauf wie die Perlenschnüre. Shayne verschluckte sich am Wasser, weil er lachen musste; eine Schar von Sauerstoffperlen stob aus seinem Munde und das Haar umfloss ihn wie den Herrn des Meeres. Aquaman. Nee, viel zu aufgepumpt. Er blinzelte. Alessio war ein Seenixerich, schön und schlank und mit den richtigen Proportionen, lockend und verlockend. Shayne schlang die Handfläche um den harten Penis, widerstand der Gier, ihn daran zu sich zu ziehen. Er kam von allein und tauschte die Sauerstoffperlen mit ihm wie ein Erlöser, der den Sterbenden zu trinken gab. Die Augen glasig, ein wenig Aquarium für Goldfische, die Töne brausend und dumpf. Gemeinsam stiegen sie zur Oberfläche und durchbrachen sie in gierigem Saugen nach Sauerstoff und glitzerndem Sprühregen.
Alessio schob Shayne zum Poolrand; dessen Rücken stieß hart gegen die blau geflieste Wand, dabei zerrten seine Hände schon an Alessios Schultern, an seinem Haar, das sich unaufgefordert in lange Kringel legte, glänzend wie die Federn eines Rabens, so dass man die helleren Sonnensträhnen jetzt nicht bemerkte. Sonnensilber. Das Gold des Fiorino schmerzte in Shaynes Augen, während sie sich aneinander rieben und etwas Shayne von innen heraus aufzufressen drohte. War das das unbeschränkte Glück, so viel, wie man nur imstande war, zu fühlen? Ja, das war es.
Das erste, was er von seiner neuen Heimat wiedergesehen hatte, war die Piazza della Signoria und alles war noch da gewesen. Das warme Kaffeebraun der alten Palazzi, die mit cremefarbenen Bauten wechselten, als wären sie die Schlagsahne auf dem Latte Macchiato. Herzog Cosimo ritt unbeirrt auf den Laden von Chanel, als wolle er ihn – den französischen Eindringling – aus der Stadt fegen. Der weiße Meeresgott Neptun pinkelte wieder in sein aquamarinblaues Wasserbecken und die Nymphen räkelten sich zu seinen Füßen wie eh und je. Im Rivoire räkelten sich dagegen die Touristen und schleckerten die beste Schokolade von Florenz – scharf beobachtet vom Koloss des David. Shayne hatte sich vor ihm aufgebaut und die Anwesenheit Alessios mehr denn je gespürt. Wer war schöner?
Genau genommen ignorierte David die winzigen Menschen um ihn herum, denn er sah durch den Uffizienhof zum Arno hinüber und erwartete gelassen und doch zornig die Besucher, die die Heimat stürmten und seine Warnungen schnöde ignorierten. Zu viel. Ja, zu viel. Sie kamen dennoch nicht als Feinde. Wer die Stadt besuchte, um ihre Schönheiten zu entdecken, war herzlich willkommen. Und wenn er es ganz genau betrachtete, war auch David ein Zugereister aus dem nahen Osten.
Was war schöner, fragte er sich erneut. Rom oder Florenz? Das war wie mit Äpfeln und Birnen. Beides schmeckte gut, aber anders. Shayne war Rom verfallen gewesen, dieser mächtigen Geschichte, die sehr viel älter als Florenz war. Aber während die Hauptstadt eine gefallene Schönheit war, die sich jahrhundertelang neu erfinden musste, stand Florenz unbeirrt wie seit den Tagen von Dante und den Medici. Shayne wollte kein Besucher mehr sein. In ihr leben, sie aufsaugen mit einem anderen Schlag von Menschen.
Shayne beäugte den Topf mit der blauen Iris, die Alessio aus dem Bardini-Garten ausgegraben hatte, um sie mit nach Rom zu bringen. Eine Übersprungshandlung, die nicht nötig gewesen wäre, aber der Gedanke war allerliebst gewesen. Ihre erste Pflanze, die sie hier, im Garten von Fiesole nicht eingraben wollten. Sie sollte in ihrem gemeinsamen Garten stehen. Oder Balkon. Terrasse. Sie wussten es immer noch nicht. Jedenfalls musste sie wieder umziehen, diesmal auf die Dachterrasse des Palazzo Gondi, solange sie in Pittsburgh waren. „Kommst viel rum, was?“, sagte er zu der Blume und glaubte, sie leise kichern zu hören. Als er aufblickte, war es wohl Alessio gewesen, der ihn leicht angrinste. „Ich hab meinen Pflanzen im Turmzimmer auch immer alles erzählt.“
„Ach? Deinen ganzen Kummer und die Beschwerden gegen Pas...“ Shayne schluckte den Rest hinunter und nahm einen Schluck Kaffee.
„Pasquale. Sag's doch.“
Shayne warf ihm einen langen Blick zu. Wenn man Namen nicht aussprach, wuchsen sie zu mächtigen Monstern heran, das wusste er. „Pasquale“, sagte er nun folgerichtig. „Warum hast du sie nicht ihm vorgetragen? Weil die Pflanzen so selten Widerworte geben?“ Shayne legte den Kopf schief und schob sich den Rest der Toastscheibe in den Mund. Quittenmarmelade. Gemacht von Sandros Nanny Anastasia. Sie musste mittlerweile so alt sein wie der Mond und Shayne würde sie gerne kennenlernen. Beim nächsten Urlaub am Meer.
Alessio lachte auf. „Genau deswegen.“ Seine Augen funkelten himmelblau und widerspiegelten die Farbe des Zeltdaches über der Toskana. „Wusstest du, dass es gar keine Farben gibt, sondern sie nur in unserem Gehirn existieren?“, fragte Alessio. „Durch die Zapfen im Auge. Sie reagieren auf eine der drei Spektralfarben rot, grün und blau in unterschiedlichen Wellenlängen. Und dadurch sehen wir die Welt bunt.“
Das hatte Shayne schon mal im Biounterricht gehört, aber dass es tatsächlich nur daran hing, war unglaublich. Die Welt war schwarzweiß oder helldunkel. Chiaroscuro. „Tiere sehen ganz anders, nicht wahr?“ Shayne goss ihnen noch einmal die Kaffeetassen aus der Bialetti voll und rührte Kaffeesahne hinein. Alessio war ein Meister der Ablenkung, damit musste Shayne leben. Er wollte es ihm nicht andauernd unter die Nase reiben.
„Zweihundert Farbtöne“, nickte Alessio. „Mehrere Millionen Farbvalenzen. Fünfhundert Helligkeitsstufen. Spürst du es auch, wenn die Sonne kurz vorm Aufgehen ist? Ich meine, nicht nur sehen, auch fühlen. Es ist, als nähme auch die Haut die Sinnesveränderung wahr.“
„Das ist wie mit den Rezeptoren im Magen“, konstatierte Shayne und leckte sich den Kaffeegeschmack von den Lippen.
„Was mir sagt, du bist noch hungrig?“, gab Alessio zurück und sein Blick wandelte sich von himmelblau zu zartgrün. „Ja“, sagte er dann. „Meine ganzen Beschwerden bezüglich Pasquale.“
Shayne freute sich, dass er zurück zum Ausgangsproblem fand. Das war nicht immer so gewesen.
„Ich hätte sie ihm sagen sollen, statt die Palmen mit meinem Lamento zu belästigen. Oder die Kakapos. Die mussten sich immer alles anhören.“ Er holte tief Luft. „Ich meine... es waren keine Beschwerden. Nur ein bisschen Gejammere, weil ich mir etwas anderen wünschte und mir einredete, ich sei glücklich. Die meiste Zeit war ich es ja.“
„Und die unmeiste?“
Alessio schickte ihm einen fragenden Blick, dann schmunzelte er ob Shaynes kreativen Wortschöpfungen. „Die restliche Zeit war ich nicht unglücklich.“ Alessio beugte sich vor, umfasste Shaynes stoppeliges Kinn und küsste ihn auf die Lippen. „Bis du kamst. Die Antwort auf all meine nicht gestellten Fragen.“ Er erhob sich und stellte das Geschirr ineinander. „Komm, wir müssen langsam los.“
Shayne blieb sitzen und sah zum capriblauen Borretsch hinüber, der wild neben dem Pool wuchs. Blaue Sterne, gemacht für Gurken und Prosecco. Ein paar dunkelrote Bartnelken sprossen hier und dort in dicken Polstern, und mit Entzücken sah er, dass die kunterbunte Bart-Iris Blüten trieb. Hoffentlich waren sie alle noch da, wenn sie zurückkamen. Er schüttelte sich. Na klar waren sie das. Sein Herz klopfte plötzlich hoch. Er freute sich auf seine Mom und Gregory. Sie würden in Waynesburg bleiben und bestimmt auch ein paar Tage auf Britin. Was sie wohl alle zu Alessio sagen würden?
Er erhob sich, räumte den Rest ihres Frühstücks aufs Tablett und folgte Alessio ins Haus. Wie alle würden sie ihn anstarren wie das achte Weltwunder und dann ihre Münder zuklappen, wenn Alessio den Mund auftat und sie alle mit seiner liebenswürdigen Nonchalance einwickelte. Und niemanden ahnen ließ, welche Abgründe sich in seinem Herzen suhlten. Er mochte kompliziert sein, aber einfach konnte ja jeder. Shayne wusste genau, dass er Alessio genau dafür liebte. Und für so viele Dinge mehr.
Er stellte sich hinter ihn und drückte ihm einen Kuss in den Nacken. Umschlang ihn von hinten und spürte, wie Alessio dagegenhielt. Die Rundungen seines Hinterns passten perfekt in Shaynes Unterleib. Unbeweglich standen sie eine Weile an der Küchenzeile, die Domenico Fonseca gefertigt hatte. Pasquales neuer Lebensgefährte. Oder so. Shayne wusste es nicht so genau. Niemand wusste es genau. Shayne wünschte sich, dass es so wäre. Über Alessio kam man nicht leicht hinweg, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Und manchmal passierten einfach Wunder.
Paola, Alessios Mom, hatte ihn einfach in ihre Arme gezogen und auf beide Wangen geküsst, als sie sie in ihrer Schneiderwerkstatt im Palazzo Frescobaldi besucht hatten. Wortlos hatte sie ihn angesehen, die schöne Frau mit den dunklen Augen. Schwarzanthrazit, wie bei so vielen Italienern. Pasquale hatte sie mit keinem Wort erwähnt, ebenso wenig, wie sie Shayne hatte spüren lassen, was sie dachte. Aber dann, hatte sie beim Erdbeerkuchenessen einfach gelacht, nachdem sie sich lange genug sein Geplapper über Rom, Sorrent, Capri und Ravello angehört hatte. „Wann hörst du endlich mit diesem ewigen Gesieze auf? Ich bin Paola.“ Sie hatte ihrem Sohn einen bedeutsamen Blick hingeworfen, in dem mutwillige Sternchen glitzerten. „Alessio ist glücklich, du bist glücklich und ich auch. Basta così.“ Sie hatte sich zu ihm hinüber gelehnt und Shayne hatte der unverwechselbare Duft eines Strozzi-Razzoli-Parfums getroffen. Kein Kyphi, das war mal sicher, das wäre auch zu schwer für sie gewesen. Nein, es hieß doch jetzt... Fuoco. „Ich bin mir sicher, dass du subito italienisch lernen wirst, vero?“
Klar, französisch konnte er ja schon aus dem effeff. Aber das verschwieg er ihr. Sie wusste es sicher ohnehin. „Sicuramente“, erwiderte er und kniff ein Auge zu.
„Ihr müsst unbedingt nach Sicilia!“, sagte sie zufrieden.
„Mamma, wir haben schon eine Einladung nach Alto Adige und nach Capri“, intervenierte Alessio. „Und wir müssen eine Wohnung suchen, Shayne muss zu den Behörden, wegen Krankenversicherung, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, er hat sich in der Scuola Michelangelo eingeschrieben, um die Sprache zu erlernen und dann besucht er den Schnupperkurs bei Luca Montori.“
Paola pfiff undamenhaft durch die Zähne. „Alles auf einmal?“ Sie nahm Shaynes Hand und legte sie zwischen ihre Handflächen. „Das ist gut. Alessio hat dir erzählt, was du alles für eine permanente Aufenthaltserlaubnis brauchst. Es ist eine Menge und manche Unterlagen bekommt du nur in deinem Heimatland. Andere wiederum nur hier. Wir helfen euch natürlich bei der Wohnungssuche, Alessandro Gondi hat schon mal vorgefühlt. Wie sieht euer Budget aus?“
„Ganz okay“, antwortete Alessio. „Ich verdiene annehmbar in der Farmacia, aber da ist ja noch der Geldfluss aus den Parfümverkäufen.“
Paola nickte. „Ich weiß. Aber reicht das? Was habt ihr euch denn vorgestellt? Ein Rustico auf dem Land? Oder eine kleine Stadtvilla mit Innenhof oder Garten?“
Garten, hätte Shayne spontan gesagt. Florenz' Stadthäuser hatten vielfach einen Garten, den man von vorne nie vermutete. Giardino segreto. Am liebsten ein Rustico, ein einfaches Landhaus, aber er wollte auch nicht zu weit vom Schuss sein. Es würde sich alles finden – später.
„Wohnung mit Terrasse reicht“, antwortete er und sah zu Alessio hinüber, der nickte.
„Bene.“ Paola seufzte ein bisschen. Vielleicht sah sie es als Abstieg für ihren Sohn, der in dieser riesigen Villa von Bellosguardo jahrelang gelebt hatte und sich um nichts Sorgen machen musste. Shayne sah ihr durchdringend in die Augen. Das wäre nicht fair.
„Du weißt ja, dass am Stadtrand entlang des Arno viele Häuser gebaut wurden, die sehen auch nicht übel aus. Und weit vom Schuss ist es auch nicht.“ Paola goss ihnen Kaffee nach. „Aber Terrassen haben sie nicht.“ Sie stach in ihr zweites Stück Erdbeerkuchen und aß mit Appetit. „Wenn ihr zurück seid, wissen wir mehr.“
„Hey, du musst das nicht machen“, legte ihr Alessio die Hand auf den Arm. „Es macht doch auch Spaß, sich was Eigenes zu suchen.“
Ihre dunklen Augen ruhten auf ihrem Sohn. „Naturalmente. Dennoch können wir doch auch die Augen aufhalten. Ohne Familie geht nichts.“
Alessio und Shayne nickten.
„So. Alto Adige und Capri, ja? Ich muss gestehen, dass ich noch nie in den Bergen war, nur in den Abruzzen zum Wintersport. Ihr habt mir so schöne Sachen mitgebracht!“ Sie gluckste und strich Shayne über die Wange. Dieser schaute auf die Kette aus den Engelshautkorallen, die sie im Korallenmuseum von Ravello erstanden hatten. Sie stand ihr so gut und betonte ihre gebräunte Haut.
„Ihr seid weit rumgekommen und jedes Foto ist es wert, gerahmt zu werden.“ Sie grinste spitzbübisch. „Muffensausen? Angst vor der eigenen Courage?“, fragte sie nun wieder ernster an Shayne gewandt.
„Naja.“ Er kratzte sich am Kinn. „Ein bisschen.“
Ihr Blick huschte zu ihrem Sohn hinüber. „Andrà tutto bene.“
„Va tutto bene“, antwortete Alessio. Seine Augen leuchteten wie der Fiorino auf seinem leichten Pulli. Paolas Blick glitt darüber; sie wusste sehr wohl, dass dieser nicht von Pasquale stammte. „Ein neues Leben. Willkommen in der Familie.“
Shayne hatte die große Gießkanne noch einmal ans hintere Ende des Gartens geschleppt und stand nun vor dem kleinen, sorgsam gepflegten Grabstein für Sandros verstorbenen Bruder. Das war so lange her, ganz genau wusste er nicht, wie lange, denn es standen keine Daten auf dem blau geäderten Marmorstein. Nardo. Amato fratello. Geliebter Bruder. Gleich daneben hatte Shayne einen besonders schönen Stein platziert, den er im Garten gefunden hatte. Als Alessio in der Farmacia gewesen war, hatte er ihn gesäubert, gewaschen, ein bisschen behauen und halb in der Erde vergraben; daneben hatte er vom Markt gekaufte Töpfe mit vorgezogenen Cosmea eingegraben, die nun in herrlichem Pink und Weiß zu blühen begannen. Er begoss auch die zögerlich aufplatzenden Levkojen mit Wasser und die Wand von Rhododendrongrün dahinter. In den Bäumen sangen sich die Vögel die Seele aus dem Leib.
Alessios Ruf drang zu ihm hinüber und Shaynes Herz begann zu klopfen. „Hier!“, rief er zurück. „Ich komme gleich.“ Am Nachmittag ging ihr Flug in die USA, über Madrid und New York. Rasch betrachtete er noch einmal sein Werk und schnappte sich die Gießkanne, aber da hörte er schon Alessios leichten Tritt und das alte Laub, das unter seinen Schuhen raschelte.
„Da steckst du.“ Alessio legte ihm die Hand ins Genick und blieb vor dem Grab stehen. „Schau, die Levkojen platzen auf. Violacciocca fiesolana.“
Shayne sagte nichts, wartete nur.
„Und was ist das? Cosmea?“ Alessio hockte sich nieder und berührte vorsichtig die zarten Blütenblätter.
„Haben die sich selbst ausgesät?“ Dann erstarrte er, als er den Stein sah. Nichts stand darauf, aber... Sein Blick flog hoch zu Shayne, der ihn stumm ansah. Alessio federte hoch und starrte ihm in die Augen. Eine Weile sagte er nichts, aber Shayne sah, wie es in seinen Augen flimmerte. „Das ist...“, stotterte Alessio, „das ist....?“
„Für Rajesh“, kam ihm Shayne zuvor. „Er hat doch kein Grab.“ Er flüsterte nun.
Alessio blinzelte heftig. “Das ist...“, wiederholte er und wischte sich über die Augen. „Cazzo“, murmelte er.
Scheiße, dachte Shayne, war das nicht richtig? Aber dann fühlte er sich von Alessio fest umarmt und drückte sich an ihn. „Grazie mille“, hörte er Alessios Stimme, „was für ein schöner Gedanke.“ Er umfasste nun Shaynes Gesicht und küsste ihn immer wieder. „Grazie.“
Wo immer sie auch hinziehen würden, einen Gedenkstein konnten sie überall aufbauen. Alessio bückte sich erneut und strich sacht mit beiden Händen über den Stein. Dann hielt er sich daran fest, schloss die Augen und sandte ein Gebet ans Universum. Er war so dankbar für Shaynes Einfühlungsvermögen und die Akzeptanz seiner Trauer, die nie enden würde. Zumindest interpretierte er es für sich so. „Du hättest es mir sagen können“, flüsterte er.
„Wollte ich ja, aber ich war mir nicht sicher.“
„Sciocchezze! Du kannst mir immer alles sagen.“ Er erhob sich und schlang den Arm um Shaynes Schulter. Drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Stumm blickten sie auf die Gräber. Junges Leben, vergeudet.
Irgendwann nahm Alessio Shaynes Hand. „Wir müssen los.“ Beide blickten noch einmal zurück. So ein Ort hatte auch etwas Befreiendes.
Alessio leerte die Gießkanne über die Büsche und verstaute sie im Wintergartenquartier. Alles war so hübsch geworden. Noch hübscher, als zu der Zeit, da sie hier gewohnt hatten. Die schweren Kübel mit den Oleanderbüschen, den Zitronen- und Orangenbäumchen waren rund ums Haus arrangiert. Nur die Südseemyrte bräuchte mal einen Formschnitt. Sie war über und über besät mit weiß-rosafarbenen Blüten, die süß und holzig dufteten. „Meinst du, die blüht noch, wenn wir zurückkommen?“, fragte Shayne.
„Die blüht ewig lange. Guck, die Bienen sind auch begeistert. Wenn wir welche hätten, könnten wir Manukahonig ernten.“
„Echt? Daher kommt er?“, staunte Shayne.
„Genau. Sir Joseph Banks beobachtete die Maori auf Neuseeland, wie sie daraus Tee, Öl und Honig machten.“ Er grinste Shayne ins Gesicht. „Auf seiner Reise mit James Cook.“ Er piekste Shayne auf die Brust. „Und wir machen uns jetzt auf unsere eigene Reise.“ Er küsste ihn schallend. „Danke nochmal.“ Seine Augen glitzerten verdächtig und alles lag darin, was er jetzt nicht aussprechen konnte.
Florenz
Für Shayne war es immer wieder ein Erlebnis, mit dem blauen Fiat Spider die steilen Straßen von Fiesole nach Florenz hinabzufahren. Rom – ja. Capri – ja! Sorrent, Amalfi, Ravello, alles großartig. Sein Herz hing daran. Aber Firenze sollte seine Heimat sein und laut Alessio gab es noch so viel zu entdecken für ihn. Für sie beide. Die rauschenden Wälder, die Flüsse und Seen, die Weite der Felder, die Hügel, die Landvillen, Dörfer und großartigen Städte. Und das nahe Meer. „Weiter oben hinter Fiesole liegt die Privatmühle, in der wir immer einkauften. Also Öl, Oliven, Käse und Zitrusfrüchte“, erzählte ihm Alessio während der Fahrt. „Du wolltest doch immer noch eine echt alte Ölpresse sehen, die werden auch noch benutzt, aber nur für den Privatverbrauch. Manchmal bekomme ich was ab.“ Er sah auf die Uhr. „Wir haben noch Zeit, um die Schlüssel abzugeben.“
Alessio fuhr in weitem Bogen am Bahnhof vorüber, bis er auf den Lungarno Amerigo Vespucci einbog. Entlang des Arno fuhr er auf der sonnigen, schmalen Straße und Shayne blickte hinüber auf die bunten Häuser und braunen Kirchtürme. In den zehn Tagen, die sie schon hier verbracht hatten, hatte er alles wiedererkannt und wie lang vermisste Freunde begrüßt. Dort vorne lauerte der Ponte Vecchio, schon wieder belagert von Touristen, wie er an der Fülle der Leute im durchbrochenen Ausguck erkannte. War ihm schnuppe, sollten sie sich wie die Irren auf die Stadt stürzen – er würde hierbleiben, hatte alle Zeit der Welt und musste niemals hetzen. Am Ufer wuchsen Flaum- und Steineichen, große Granatapfelbäume, Magnolien und ein paar Platanen. Stufenförmig über den Palazzi quoll das unterschiedliche Grün spitzer Zypressen, Pinien und noch mehr Eichen; die Häuser Vanilleblumenbeige, Melonenscheibenrosa und Limoncellogelb mit himbeerfarbenen Schindeldächern. Florenz strahlte im Sonnenschein fast genauso bunt wie Rom.
Was ihn an den Irisgarten erinnerte, wo der alljährliche Wettbewerb um die schönste Iris stattfand. Wie hatte er im Farbenrausch geschwelgt! „Meinst du, Pasquale gewinnt dieses Jahr den Sonderpreis?“, fragte er aus seinen Gedanken heraus.
Alessio warf ihm einen Blick zu. Er bog gerade in die Via di Proconsolo ein, an dessen Ende sich die Türme der Badia und des Bargello über dem braunen Häusermeer erhoben. „Für was?“, fragte er. Für die zivilisierteste Trennung des Jahres? Fügte er in Gedanken hinzu. Sein Herz schlug einen kleinen Purzelbaum, denn er war sehr glücklich darüber. Glücklich, dass Pasquale ihn hatte gehen lassen. Mit nur kleinem Drama, und das war für einen Italiener schon eine Leistung. Er schnaufte kurz. Nun gut, Pasquale war einfach zu gut erzogen für grande drama. Was ihn auch stets davon abgehalten hatte, seiner Leidenschaft den nötigen Ausdruck zu verleihen.
„Na, für die rote Iris!“, rief Shayne. „Du hast mir doch erzählt, dass man sich seit Jahren damit abplagt, eine so rote Iris wie auf eurem Stadtwappen zu züchten! Klappt aber nicht so richtig.“
„Stimmt. Und deshalb gibt’s den Sonderpreis für diejenige, deren Farbe am ähnlichsten ist. Findest du, Pasquales Iris ist ähnlich?“
Shayne nickte heftig. Dann machte er einen langen Hals. Der Palazzo Gondi kam in Sicht und die Tür des Giglio d'Oro stand offen. Leute saßen an den Tischen davor – alles, wie er es gewohnt war. Er entdeckte einen blonden, geflochtenen Zopf, der zu einer jungen Frau gehörte, die er sehr wohl kannte. Sie kam ihm wie gerufen.
„Buon giorno, Isolde!“, tippte er ihr vorsichtig auf die Schulter. Sie zuckte hoch und sah ihn an wie eine Nachteule. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem Lachen. „Ciao, Shayne! Was machst du hier? Ach so, ihr fahrt heute nach Pittsburgh, richtig?“ Sie sah sich nach Alessio um, der den Wagen am Straßenrand parkte. „Kommst du wieder?“
Er schubste sie. „Eh, was für eine Frage?!“ Er ließ sich neben ihr am Tisch nieder. Alessio drückte von oben einen Kuss auf Isoldes Wange und bedeutete Shayne, dass er reingehen wolle. „Also, ich habe eine Frage“, begann Shayne. „Braucht „The Florentine“ noch freie Mitarbeiter? Ich meine, so als fotografischen Reisebegleiter für die ganzen Touristen?“
Isoldes blaue Augen wurden kugelrund. „Intendi questo?”
Shayne fuhr sich durchs Haar. “Naja, ihr schreibt doch für Ausländer. Habt ihr auch eine Rubrik für andere Städte? Ich schreibe Tagebuch und Fotos habe ich tonnenweise.”
“Ah! Du willst dir Geld dazuverdienen, si?” Sie klappte das Heft mit ihren Aufzeichnungen zu und betrachtete ihn aufmerksam. “Wir brauchen immer gute Fotos und interessante Reportagen. Du könntest mich ja für den Anfang auf meinen Touren begleiten.” Sie schubste ihren langen Zopf auf den Rücken. “Und ich kann den Vorschlag bei der nächsten Redaktionsbesprechung machen.”
„Das wäre super!“ Er klapste ihr auf die Schulter und lächelte sie noch einmal an, dann verschwand er im Gastraum. Er war nicht voll, alle saßen bei dem schönen Wetter draußen. Alessio saß an der Bar und schwatzte mit Fabio, eine Limonade vor sich, während Sandro gerade die Stufen vom Palazzo hinuntersprang. „Hey, amico!“, rief er begeistert. „Dachte nicht, dass ihr euch verabschieden kommt.“ Er klopfte Alessio auf die Schulter und zog Shayne auf einen Stuhl an einem der leeren Tische. „Tutto bene?“
„Kann nicht besser sein! Hier, die Schlüssel.“ Er legte das Schlüsselbund des Hauses in Fiesole in Sandros Hand. „Wir haben alles gewässert, aufgeräumt und den Kühlschrank leergefressen. Es ist so schön da!“
Shayne fragte sich, ob Sandro den Gedenkstein neben dem Grab seines Bruders entdecken würde. „Ich hab nur Schiss vor dem ganzen Papierkram, den ich machen muss. Alessio hat mir Horrorstorys von eurer Bürokratie erzählt.“
Sandro zog die Augenbraue hoch, die von einer Narbe gespalten war. Überbleibsel seines Kampfes mit einem der homophoben Arschlöcher, das wusste Shayne. Und fragte sich immer wieder, wie Alessandro di Gondi-Lucertola diese Zeit überlebt hatte. Buchstäblich und im übertragenen Sinne. Aber das war nicht die eigentliche Frage. Wie hatte er geschafft, so ein vernünftig funktionierender, fröhlicher Mensch zu bleiben? Wahrscheinlich waren seine Abgründe so tief wie die Alessios.
„Tja, die Horrorstorys sind leider wahr. Aber wozu hat man familiäre Beziehungen, eh? Mein Onkel macht das schon.“
„Pfff. Ich will nicht immer Extrawurst gebraten kriegen“, schmollte Shayne und Sandro puffte ihn gegen die Brust. „Lektion numero uno: ohne Familie geht nichts in Italia! Also, lass dir helfen, sonst kommst du niemals zu Potte. Wir machen das gerne. Also, morgen früh bist du Zuhau..., also bei deiner Familie. Zuhause,“ korrigierte er sich dann doch noch. Die blauen Augen sandten ihm einen intensiven Blick. „Das fällt dir bestimmt schwer, ich kann's mir gar nicht vorstellen. Wenn der ganze Trubel hier vorbei ist, dann lade doch alle ein, ich würd mich freuen, Justin und Brian wiederzusehen. Und deine Mamma kennenzulernen.“
„Und Gregory. Das ist ihr neuer Partner“, ergänzte Shayne.
„Und Gregory. Der Palazzo ist groß genug.“ Er schlug Shayne auf den Oberarm. „Ich kanns gar nicht glauben, dass du wieder hier bist. Und bleibst. Das wird fantastisch! Luca ist auch ganz aufgeregt, dass du bei ihm reinschnuppern willst, vielleicht gefällt's dir und dann seid ihr Kollegen.“
Shaynes begeisterter Blick rutschte nach oben zu Alessio, der hinter Sandro stand und gelauscht hatte. Jetzt packte er Sandro bei den Schultern und schüttelte ihn leicht. „Ich find's auch fantastico“, rief er. „Shayne quasselt von nichts anderem. Avanti, grüß Luca von uns.“
Als Sandro sich erhob, umarmten sich beide, als wären sie immer die besten Freunde gewesen. La Famiglia, schoss es Shayne durch den Kopf. Die biologische hatte man immer an der Backe – die andere suchte man sich selbst. Ein letztes Mal kramte er in seiner Tasche nach den Flugtickets, ging an die Bar und verabschiedete sich von Fabio.
„Geht ins Babylon für mich und lass dich von den Typen angaffen“, sagte Sandro zu Alessio und grinste ihn breit an. „Du bringst ihn doch wieder?“, raunte er dann leise. „Wird nicht leicht für ihn.“
„Ich tue alles dafür“, erwiderte Alessio ernst.
Sandro zögerte und blickte ihm in die leuchtenden Augen. Sie waren wie ein Licht, das man hinter einem bunten Kirchenfenster angezündet hatte. „Was ich die ganze Zeit schon sagen wollte: dein Fiorino, es ist nicht Pasquales, oder?“
„Woher weißt du das?“
„Ich kenne Shayne. Wenn er sein Herz an etwas hängt, dann wohl ganz und gar.“
Alessio legte den Kopf schief. „Wie du?“
„Wie ich.“ Sandro schlug ihm leicht auf den Oberarm. „Pasquale taucht immer mal wieder hier auf. Mit Domenico. Es geht ihm gut, wir kümmern uns.“
Er dachte an die große blaue Porzellan-Eidechse, die beide ihm mitgebracht hatten. Lucertola Azzurra, die es nur auf Capri gab. Sie hatte einen besonderen Platz in ihrem Zimmer gefunden. Gleich neben Lucas Mosaikfragment aus der Villa des Kaisers Tiberius. Timberio. Diesen Ausdruck der Caprese kannte er wohl. Er war froh, seinen endgültigen Frieden mit Alessio gemacht zu haben. Je besser Sandro ihn kennenlernte, desto mehr verstand er, warum Shayne sich so unumstürzlich in ihn verliebt hatte.
„Segui il tuo cuore“, sagte er laut. Folge deinem Herzen. Ein letztes Mal umarmte er auch Shayne. „Ciao, ciao! Buon viaggio! Grüßt Brian und Justin von uns und schickt mir Fotos!“
Er winkte ihnen hinterher.
New York
Komisch, dass man einen Tag noch einmal erleben konnte. Wer an der Zeit herumpfuschte, musste auch einen der Waffel haben, dachte Shayne, als er die Augen aufklappte und feststellte, dass sie immer noch irgendwo über dem Atlantik schwebten, aber New York nicht mehr weit sein konnte. Alessio neben ihm schlief lautlos, der Kopf war auf das Nackenhörnchen zur Seite gesunken, die schwarzen Haare streichelten in langen Kringeln das Gewebe. Shayne mochte es immer, egal ob ordentlich ausgeföhnt, wild oder salzverkrustet, so dass er aussah wie ein verwegener Mittelmeerpirat. Spielte keine Rolle für ihn.
Die Stewardess rollte leise mit ihrem Wagen durch die Gänge, sah, wer wach war und bot ihnen Frühstück an. Brian hatte versprochen, sie vom Pittsburgher Flughafen abzuholen und Shaynes Herz schlug wiedermal Kabolz. Er hob die Hand, und die Stewardess platzierte einen geschlossenen Teller auf seinen Klapptisch, nebst einem Kaffeebecher und dem unvermeidlichen Tomatensaft. War das einzige, was man hier oben richtig schmeckte, hatte man ihm mal erzählt. Alessio könnte ihm sicher erklären, warum. So, wie den Honig von der Südseemyrte. Oder warum die Welt eigentlich keine Farben hatte. Er lugte durchs Bullauge hinaus. Perlmuttfarbene Wattewolken waren um ihn herum, durch die er auf ein Meer von Dunkelblaugrau blickte. Kein Capriblau. Auf gar keinen Fall. Wie konnte man in Pittsburgh glücklich sein, wenn es solche Orte wie Süditalien gab? Aber darauf kam es wohl nicht an. Es war das, was man daraus machte.
Alessio wachte mit einem Seufzer auf. Sah sich verwirrt um und rieb sich die Augen. „Sind wir schon da?“
„Nee. Aber bald. Colazione? Kein Hering, Bratwurst und saure Gurken für dich, scusi.“
Alessio grinste verschlafen. „Nicht mal Bohnen und gegrillte Tomaten?“
„Aber Saft.“ Er reichte ihm seinen eigenen Becher hinüber. „Warum bekommt man das noch gleich?“
„Hier oben schmeckt er fruchtig und süß“, nahm Alessio einen Schluck. „Auf der Erde schmeckt den meisten das nicht und warum? Weil sie noch nie selbstgemachten Tomatensaft getrunken haben.“ Er kniff ein Auge zu. „Wegen des niedrigen Luftdrucks schmecken wir dreißig Prozent weniger, also, wenn das Ei und die Salamistulle nach nix schmeckt, dann liegt das nicht an dir. Aber Tomatensaft ist immer überwürzt, das hier würdest du unten nicht trinken wollen.“
„Igitt.“ Shayne nahm ihm den Becher weg, beugte sich stattdessen hinüber, küsste und leckte anschließend Alessios roten Tomatensaftbart weg. „Also, wo ist dein Pittsburgh-Reiseführer? Ich hab immer gelesen, bis mir die Augen tränten.“
„Mann, ich dachte, du bist mein Reiseführer! Lady, kann ich auch Frühstück bekommen, bitte?“
Shayne lehnte sich bequem zurück und probierte sein Salamisandwich. Seufzend dachte er an Pinsa, gegrillten Polpo und Carbonara.
Auf dem Airport J. F. Kennedy herrschte wie immer geschäftiger Trubel. Diese verwirrende Menge an Start- und Landebahnen, Terminals, Fluglinien, Shops, Restaurants, Bistros, Parkhäusern und Shuttlebussen und -zügen machte Shayne ganz kirre. Ihre Iberia Lineas war am Terminal 7 gelandet. „Diese Umsteigerei ist ätzend“, sagte er laut. „Früher gabs mal einen Direktflug von Paris nach Pittsburgh, jetzt müssen wir noch mal umsteigen.“ Sein Blick irrte umher. „Da lang.“
„Und es gibt keine Busse oder so?“, fragte Alessio. Ihm ging dieses riesige Durcheinander auch auf die Nerven, dabei war Airport Mumbai nicht anders gewesen. Shayne lachte auf. „Wir würden elf Stunden brauchen!“ Er blieb stehen. „Na komm, wir haben noch eine Stunde bis zum Einchecken.“
„Ich wusste nicht, dass du letztes Jahr so lange bis nach Hause gebraucht hast.“ Alessio strich sich müde über die Augen. Shayne zog ihn beiseite. „Hauptsache, die laden das Gepäck richtig um.“ Er küsste ihn. „Den Rest schaffen wir jetzt auch noch.“
Ein schlechter, wasserdünner Kaffee in einem der Bistros war kaum dazu angetan, ihre Lebensgeister wieder zu wecken. DAS war amerikanischer Kaffee? Alessio starrte in seine Tasse und dann zu Shayne, hob die Brauen und begann zu lachen. Scheißt der Hund drauf, wie Shayne immer sagte. „So“, zog er ihn zu sich. „Brian will uns abholen? Ich bin gespannt! Und wie lange dauert es dann noch bis nach Waynesburg? Wieder elf Stunden?“
„Nee! Nicht mal eine halbe, ist doch cool.“ Shayne hatte ein bisschen Muffensausen, wie sein großer Bruder auf Alessio reagieren würde. Hoffentlich nicht mit einem Ständer. Er grinste in sich hinein und bemühte sich, nicht wieder verliebte Kalbsaugen zu machen. Das war ihm wohl nicht geglückt, denn Alessios Augen schwebten plötzlich ganz nah vor seinen. Goldgrünblaugrau, alle Farben der Toskana. In diesen Augenblicken war Shayne glücklich über die Gene von Alessios Vater und es hatte ja auch mal eine Zeit gegeben, da der kleine Junge happy mit seinem Dad gewesen war. „Ich dich auch“, flüsterte Alessio und Shayne schmolz dahin. Ganz tief in seinem Inneren fragte er sich, ob er mit der Rückkehr in seine Heimat wieder den Schmutz annehmen würde. Die kühle Schnoddrigkeit des Partygängers, der Männer vor den Kopf stieß, weil auch er unangenehme Gene in sich trug, die sich in Brian manifestiert hatten und vor denen Shayne nie gefeit gewesen war. Das Land formte seine Einwohner. In Italien war er ein anderer geworden. Er hatte zugelassen, dass es sich tief in sein Herz gefressen hatte. All die Weichheit des goldenen Lichts, all die unglaubliche Schönheit.
„Das letzte Mal, als ich auf diesem Flughafen wartete, wollte ich dich einfach nur vergessen“, murmelte er. „Und hatte Schiss, dass alles wieder aufgewühlt werden würde. Es war eine andere Stadt, aber dasselbe Land. Und du wohntest da irgendwo im Norden und warst glücklich.“ Er senkte den Kopf und spürte Alessios Hand in seiner. „Und ich wähnte dich anderswo im kalten Norden und dachte, du seist glücklich“, erwiderte Alessio.
Wie konntest du?, fragten Shaynes Augen. Annehmen, ich sei glücklich?
„Das war die einzige Möglichkeit, mich von dir zu befreien. Ist aber nicht gelungen.“
Shayne schnaufte. Die Servierdame goss ihnen Kaffee nach. Aus Verlegenheit trank Shayne das dünne Gesöff. „Und jetzt bist du hier“, rief er plötzlich, als seien alle Lebensgeister erwacht. „Unglaublich.“
„Incredibile.“ Alessio schmunzelte. „Ich war noch nie in den USA, weißte doch, ich bin gespannt.“
Augenblicklich fragte Shayne sich, ob sie nicht eine Nacht und einen Tag in New York dranhängen sollten. Times Square, Greenwich Village, Schwulenclubs, Theater, das unglaubliche Menschengetöse, Battery Park, die Schluchten von Manhattan, das MoMA, die Freiheitsstatue? Beim nächsten Besuch, schwor er sich. Dann sollte Alessio all das kennenlernen, was mit den Wolkenkratzern in San Gimignano begonnen hatte.
tbc