Herzdröhnen
von Carolynn
Kurzbeschreibung
Der Lebensweg von Lisa und Henrik bleibt weiterhin turbulent. Inzwischen schreiben wir das Jahr 1997. Die Familie ist jetzt komplett, denn neben Tochter Katja gibt es noch einen Sohn, Erik. Der ist mittlerweile neun Jahre alt, hat es faustdick hinter den Ohren und lässt kaum einen Streich aus. Kopfzerbrechen bereitet Lisa jedoch vor allem die 15jährige Katja. Nicht nur die Pubertät schlägt mit all ihren Höhen und Tiefen zu, sondern Katja hat sich auch noch in einen Schulkameraden verliebt, der ihren Eltern ein Dorn im Auge ist. Lisa und Henrik brauchen eine Auszeit, um wieder Kraft zu sammeln. Doch als sie von ihrem verlängerten Wochenende zurückkommen, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Und dann wird Lisa plötzlich mit dem düstersten Kapitel ihrer Vergangenheit konfrontiert, was sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt und die Familie in ihren Grundfesten erschüttert.
GeschichteFamilie, Freundschaft / P16 / Het
08.01.2023
26.03.2023
12
64.607
2
Alle Kapitel
10 Reviews
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Dieses Kapitel
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18.03.2023
5.383
Hier kommt der 11. Teil – wieder mal einen Tag früher, weil ich es morgen nicht schaffen werde… Viel Spaß beim Lesen ;)
Endlich war es soweit! Die lange geplante Reise konnte losgehen.
Obwohl wir nur wenige Tage unterwegs sein würden, hatte das Ganze im Vorfeld schon riesige Schatten geworfen. Jetzt ging es an die Ausführung und daran, unser gemeinsames Abenteuer in vollen Zügen zu genießen.
Schon um halb sieben am Samstagmorgen hatten Henrik und ich die Kinder geweckt, damit wir noch gemeinsam frühstücken konnten. Die Beiden waren entsprechend verschlafen und nörgelten, dass es sich heute wie ein Schultag anfühlte, obwohl Wochenende war. Katja als Morgenmuffel redete nicht viel und bewegte sich wie in Trance. Wenigstens hatte sie am Abend zuvor noch ihre Sachen gepackt, das heißt, alles Nötige ungeordnet in die Reisetasche gestopft. Erik dagegen hatte Tage zuvor mehr als die Hälfte seiner Spielsachen in einer Zimmerecke gestapelt und protestierte lautstark, weil wir nur einen Bruchteil davon mitnehmen konnten, denn sonst hätten wir einen Anhänger fürs Auto besorgen müssen.
Jetzt saßen die Kinder brav auf dem Rücksitz unseres blauen VW Passat. Erik war aufgekratzt und in Vorfreude auf seine Großeltern, während Katja die Kopfhörer in den Ohren hatte und uns andere keines Blickes würdigte. Noch immer war sie sauer, dass wir sie gezwungen hatten, die nächsten Tage in Eibenholtz zu verbringen. Sie und ihr Bruder mussten die Reisetaschen auf dem Schoß tragen, weil der Kofferraum des Kombis brechend voll war. Neben zwei Kisten Bier, einer Familienpackung Toilettenpapier und zwei Beuteln Grillkohle hatten wir noch unsere eigenen Reisetaschen, Wanderschuhe und Gummistiefel unterbringen müssen. Viel Kleidung brauchten wir nicht, aber dafür die verschiedensten Gebrauchsgegenstände, welche in der Hütte nicht vorhanden waren. Unser Bettzeug krönte schließlich das ganze Gepäck.
Henrik und ich waren bester Laune. Nichts konnte uns jetzt noch die Stimmung verderben, denn nun ging es tatsächlich los, und alle Hindernisse, die eventuell noch im Weg gestanden hatten, waren beseitigt. Endlich waren wir mal dran, uns zu amüsieren und Spaß zu haben. Das hatten wir uns redlich verdient, und wir würden es bis zum letzten Moment auskosten.
Die ersten zwei Etappen unserer Fahrt waren kurz. Zunächst mussten wir nach Waldbad, um Erik bei meinen Eltern abzuliefern. Die Beiden standen schon in den Startlöchern und kamen aus dem Haus, sobald wir dort vorfuhren. Wahrscheinlich hatten sie oben in der Küche aus dem Fenster geschaut, um uns bloß rechtzeitig zu sehen.
Erik sprang aus dem Auto und lief meinem Vater in die Arme. Dabei vergaß er seine Reisetasche, die vom Rücksitz fiel und mitten auf die Straße kullerte. Henrik stieg aus, nachdem er die Handbremse angezogen hatte, und schnappte sich die Tasche. Auch ich und Katja stiegen kurz aus, letztere widerwillig und erst nach Aufforderung, um meine Eltern zu begrüßen.
„Was machst du denn für ein Gesicht, Katja?“ fragte meine Mutter irritiert, nachdem sie sie umarmt hatte.
„Sie würde lieber hierbleiben anstatt nach Eibenholtz zu fahren,“ erklärte ich unbeeindruckt.
„Das muss sie doch auch nicht,“ gab meine Mutter zurück, obwohl wir zuvor lang und breit darüber gesprochen hatten. „Sie kann genauso gut bei uns bleiben, mir macht das gar nichts aus, wenn beide Kinder hier sind – ganz im Gegenteil!“
Katjas Miene erhellte sich sofort, aber ich grätschte dazwischen. „Nein, Mama, wir machen es so, wie wir beschlossen hatten. Daran wird nichts mehr geändert. Und Christina freut sich schon, da werden wir nicht plötzlich alles umwerfen.“
„Ich dachte ja nur…“ Mittlerweile hatte meine Mutter gelernt, mir nicht mehr allzu viel entgegenzusetzen, obwohl sie es zeitweise noch versuchte. Da ich nun aus den Zwanzigern heraus war und sogar bald die Vierziger erreicht hatte, blieb ihr nichts anderes übrig. Außerdem hatte sie noch eine weitere Tochter und einen Sohn, die sie bevormunden konnte, wobei mein Bruder viel in der Weltgeschichte herumreiste und oft außer Reichweite war.
„Ist schon gut,“ meldete sich mein Vater zu Wort, wie immer beschwichtigend. „Umso mehr können wir uns auf Erik konzentrieren, nicht wahr?“
Der Junge nickte eifrig und sah äußerst zufrieden aus. Wenigstens eines unserer Kinder, das sich über die Planung freute.
Wir fuhren weiter und kamen wie verabredet um kurz nach neun Uhr in Graef bei Giselas Eltern an. Martins silberfarbener Ford Escort stand schon vor dem Haus, aber es war niemand darin. Die Hälfte der Rückbank war voller Gepäck, den Inhalt des Kofferraums konnten wir durch das Stufenheck nicht sehen.
Wir stiegen wieder alle aus und klingelten an der Haustür. Giselas Mutter öffnete, und mir fielen sofort die Falten in ihrem Gesicht auf und dass sie sich etwas schwerfälliger bewegte. Nur die Frisur war unverändert, die Haare offensichtlich gefärbt. Ich hatte Giselas Mutter viele Jahre nicht mehr gesehen, zuletzt bei Sebastians Taufe, und er war nun schon elf Jahre alt. Es hatte ja auch keinen Anlass gegeben, nach Graef zu kommen, da meine beste Freundin seit langem in Köln wohnte und wir uns entweder dort oder in Neustadt trafen. Umso mehr freute ich mich, ihre Mutter bei der jetzigen Gelegenheit wiederzusehen, und auch sie strahlte und zog mich sofort in ihre Arme.
„Du hast dich gar nicht verändert, Lisa!“ behauptete sie.
„Na ja, ein bisschen schon, aber vielen Dank.“ Zu meinem Leidwesen hatte ich ein wenig an Gewicht zugelegt und freute mich, dass es offenbar nicht zu sehr auffiel.
Gisela kam herbeigestürmt. „Liebes, da seid ihr ja!“ rief sie übermütig und fiel mir um den Hals. Sie war mittlerweile sehr schlank geworden, ganz im Gegensatz zu noch vor zehn Jahren, als sie dicker gewesen war als ich. Jetzt war es umgekehrt. Sie trieb Sport und achtete sehr auf ihre Ernährung, doch ansonsten blieb sie ganz die alte, und darüber war ich froh.
„Du siehst toll aus!“ sagte ich. „Wie schön, dass wir alle zusammen wegfahren, ich freu‘ mich so.“
„Ich auch! Das wird uns richtig gut tun, und wir machen lauter schöne Dinge zusammen.“
„Aber hallo!“ Wir kicherten, so wie meistens, wenn wir uns trafen. Katja verdrehte die Augen.
„Komm‘ her, Schätzchen!“ wandte Gisela sich nun ihr zu und drückte sie erbarmungslos an sich. „Wie guckst du denn?“ fragte sie missbilligend. „Es ist so ein schöner Tag, du hast Ferien und bist deine Eltern mal für ein paar Tage los.“
„Aber dafür hätten sie mich nicht in die Walachei verfrachten müssen,“ murrte Katja an die Schulter meiner Freundin, was ich gut hören konnte, da ich unmittelbar neben ihr stand.
„In der Walachei kann es superschön sein,“ erklärte ich. „Wir fahren ja auch in die Einöde.“
Katja grummelte und machte sich wieder los. Wir gingen ins kleine Wohnzimmer, das nun überfüllt war von unseren Familien. Hier trafen wir auf Martin, Giselas Vater und Sebastian, die wir lautstark begrüßten. Basti, ein hübscher braunhaariger Junge, der Gisela ziemlich ähnlich sah, hielt sich eher im Hintergrund. Er hatte die zurückhaltende Art von Martin geerbt, redete nicht viel, schaute aber immer wieder vom einen zum anderen, während wir uns unterhielten.
„Wollten Carsten und Gert nicht auch hierher kommen?“ fragte Martin schließlich. „Warum seid ihr nicht zusammen gefahren?“
„Dann hätten sie mit uns noch den Abstecher nach Waldbad machen müssen,“ sagte ich. „Außerdem wollte Gert vorher noch bei einem Kunden vorbei. Ich hoffe, das dauert nicht so lange.“ Carstens Lebensgefährte hatte eine eigene Dachdeckerfirma und war in Notfällen auch am Wochenende für seine Kunden erreichbar. Heute Morgen ging es jedoch nur darum, noch etwas zu überprüfen, und Gert hatte versprochen, dass sie sich nicht lange aufhalten würden.
„Gert ist zuverlässig,“ meinte Henrik und grinste. „Bei Carsten wäre es etwas anderes. Der ist halt wie eine Frau und wird manchmal nicht fertig.“
„Macho!“ riefen Gisela und ich unisono, und wir mussten alle lachen, sogar Katja.
Giselas Vater schaute aus dem Fenster, das direkt auf die Straße ging. „Da parkt gerade ein weißer Ford Transit ein,“ berichtete er. „Jetzt ist der Bürgersteig aber voll.“
„Das sind sie!“ Wir gingen nach draußen.
Auch hier fand die Begrüßung mit lautem Hallo statt. Die Männer begannen das Gepäck der Kölner in Gerts Firmenwagen umzuladen. Der Van war groß genug, um alles bequem unterzubringen und auch die beiden Rücksitze frei zu halten, damit Gisela und Martin noch Platz hatten. Ihr eigenes Auto stellten sie in den Hof von Giselas Eltern, denn ein dritter Wagen war für uns sechs Personen nicht erforderlich. Außerdem hatten Walczak’s schon die erste größere Etappe von Köln bis hierher hinter sich.
Die Beiden verabschiedeten sich ausgiebig von ihrem Sohn und ermahnten ihn, brav zu sein. Das erschien mir mehr als überflüssig, denn Basti machte im Allgemeinen nur wenig Schwierigkeiten, jedenfalls im Vergleich zu unseren Kindern.
Gisela und Martin fuhren zunächst bei Carsten und Gert mit, Sitze tauschen wollten wir erst in Eibenholtz. Bis dahin war es mir wichtig, noch mit Katja in einem Auto zu sein, da wir sie für einige Tage nicht sehen würden.
Während der nächsten halben Stunde fuhr Henrik vorneweg, und unsere Freunde folgten. Unterwegs schärfte er Katja zum wiederholten Male ein, dass sie sich bei Chris und Dieter ordentlich zu benehmen hätte, da sonst ihr Taschengeld für den nächsten Monat gestrichen würde. Ich bezweifelte, dass Katja viel von den Ermahnungen mitbekam, da sie schon wieder ihre Kopfhörer in die Ohren gesteckt und den Walkman eingeschaltet hatte.
Gegen zehn Uhr erreichten wir Eibenholtz. Das kleine idyllische Dorf im Hunsrück, wo Christina mit ihrer Familie lebte, war seit zehn Jahren nahezu unverändert. Ein paar Häuser waren hinzugebaut worden, einige wenige Leute weg- oder zugezogen, die meisten jedoch geblieben. Noch immer existierte der Ökobauernhof am Ortseingang. Mittlerweile war er erweitert und auch eine geräumige Ferienwohnung hinzugefügt worden. Diese war stets ausgebucht, denn Urlaub auf dem Bauernhof erfreute sich großer Beliebtheit. Der Schamane Johannes wohnte ebenfalls noch dort und bot Seminare an, allerdings war seine damalige Freundin Anke inzwischen weggezogen. Den Namen seiner neuen Lebensgefährtin kannte ich nicht, hatte sie auch nur einmal kurz gesehen.
Die einschneidendste Veränderung gab es am anderen Ende des Dorfes, dort wo wir damals das Haus der Familie Glanz gehütet hatten, während diese sich in einem sechswöchigen Urlaub befand. Glanzens lebten noch immer dort, ebenso die Eheleute Birnbach mit ihrer Tochter Paula, die damals oft mit Katja gespielt hatte und nun sechzehn Jahre alt war.
Das Haus, welches an jenes der Familie Glanz grenzte, hatte damals einem alten Mann gehört, Herrn Schneider. Er war dement gewesen und hatte unter Verfolgungswahn gelitten, was schließlich in einer wilden Schießerei endete, glücklicherweise nur mit Platzpatronen. Daraufhin war er ins Pflegeheim gekommen und das Haus verkauft worden. Nach jahrelanger Grundsanierung hatte eine junge Familie mit zwei Kindern das Haus übernommen, und die nachbarschaftlichen Beziehungen verbesserten sich zusehends.
Anders verhielt es sich mit dem Haus der Geschwister Klett. Vor vier Jahren war Tabea Klett, die an fortschreitender multipler Sklerose litt, verstorben. Ich war traurig gewesen, denn trotz der Differenzen, die mit ihrem Bruder Simon weiter bestanden, hatte ich doch einen lockeren Kontakt zu ihr pflegen können. Nur wenige Wochen nach ihrem Tod setzte Simon das Haus zum Verkauf in die Zeitung, und zwei Monate später war die Transaktion schon abgewickelt. Der Käufer, ein Immobilienmakler, ließ das Gebäude aufwändig renovieren und verkaufte es dann teuer weiter. Jetzt gehörte es einem Unternehmerpaar in mittleren Jahren, die sich nicht groß um ihre Nachbarn kümmerten und ganz für sich lebten. Da das Haus an Felder grenzte, hatten sie noch ein Grundstück hinzu erworben, den Garten erweitert und einen Swimming Pool angelegt. Simon war nach Frankfurt in eine geräumige Wohnung gezogen, wo er weiterhin seiner künstlerischen Tätigkeit, der Bildhauerei, nachging. Das war das einzige, was ich noch von ihm hörte, gesehen hatte ich ihn seitdem nicht mehr.
Christina und Dieter Funke wohnten nach wie vor in ihrem alten Bauernhaus, das inzwischen vollständig renoviert und hübsch anzusehen war, mit seiner Fachwerkfassade zur Straße hin.
Mit einem tiefen Seufzer, den ich geflissentlich ignorierte, stieg Katja aus dem Auto, ihre Reisetasche in der Hand. Auf Henriks strengen Blick zog sie die Stöpsel aus den Ohren. Wir bedeuteten den Anderen, ebenfalls aus dem Van zu steigen. Wenigstens eine Viertelstunde mussten wir uns hier schon Zeit lassen.
Das Tor zum Hof war diesmal geschlossen. Kein Wunder, jetzt Mitte Oktober hielt sich morgens niemand mehr im Garten auf. Also stiegen wir die wenigen Stufen zur Haustür hoch, die aber aufgerissen wurde, bevor Henrik den Klingelknopf betätigen konnte.
Vor uns stand ein etwa siebenjähriges Mädchen mit rotbraunen schulterlangen Haaren und grinste uns breit an. Es hatte helle Haut und wirkte elfenhaft. Die blaue Leinenhose und das verwaschene T-Shirt schienen mindestens zwei Nummern zu groß.
„Hallooo!“ machte sie, drehte sich nach drinnen ins Haus um und rief: „Mama, die sind da!“
Die – also Henrik und ich – wechselten einen belustigten Blick und traten als erste ein, nachdem seine Nichte den Weg frei gemacht hatte.
„Hallo Julia,“ begrüßte Henrik sie und beugte sich zu ihr herunter. „Bist du so dünn geworden, oder hast du nur Sonjas Klamotten angezogen?“ fragte er augenzwinkernd.
„In der Tat!“ ertönte Christinas Stimme etwas genervt aus dem angrenzenden Zimmer. Sogleich kam sie heraus und strahlte übers ganze Gesicht, als sie uns sah. „Wie schön, dass ihr hier seid!“
Chris, Henriks jüngste Schwester, war trotz dreier Geburten – eine davon Zwillinge – noch immer rank und schlank geblieben. Ihr Leben verlief zweifellos turbulent und oft auch stressig, dennoch war sie mit ihren vierunddreißig Jahren zufrieden und ausgeglichen. Sie hatte ein hübsches Gesicht, dunkelbraune Haare und war groß, Henrik überragte sie nur um wenige Zentimeter. Jetzt trug sie einen Jogging-Anzug und die Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Es schien ihr nichts auszumachen, dass unsere Freunde heute ebenfalls vor der Tür standen und ihr lässiges Erscheinungsbild sahen. Sie kannte alle vier von Feiern und Zusammenkünften in Neustadt, wenn auch eher flüchtig.
Wie es ihre herzliche Art war, bekam jeder von ihr eine Umarmung, und wir traten ein. Da sich in der unteren Etage des Hauses nur die Küche und das große Spielzimmer für die Tageskinder befanden, gingen wir nach oben ins Wohnzimmer. Dort saßen zwei weitere Kinder, nämlich Sonja und die fünfjährige Sarah. Sonja war mit zwölf Jahren die Älteste, zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Max, der sich aber nicht im Raum befand. Sie glich ihrem Vater bis aufs Haar, denn dies war von einem leuchtenden Rot, im Vergleich zu Dieter trug seine Tochter es allerdings fast hüftlang und heute offen. Sie hatte unzählige Sommersprossen im Gesicht und grüne Augen. Ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, fanden alle, und manchmal benahm sie sich schon wie eine kleine Diva. Da würden ihre Eltern demnächst auch Spaß haben, dachte ich, denn die Pubertät stand ihnen erst noch bevor. Die zweieiigen Zwillinge sahen sich kaum ähnlich, denn Max war dunkelhaarig wie seine Mutter, ein paar Sommersprossen hatte er allerdings auch.
Während Sarah, das Pummelchen, freudestrahlend auf Henrik und mich zulief und jeden von uns beiden fest drückte, winkte Sonja von ihrer Sofaecke nur lässig herüber und beschäftigte sich dann weiter mit ihrem Tamagotchi.
„Leg‘ das doch mal weg!“ forderte Chris ihre Tochter auf, doch die schüttelte nur den Kopf und blickte gar nicht mehr hoch. Die langen Haare fielen ihr ins Gesicht, so dass sie nun ganz abgeschirmt war.
„Geht nicht,“ hörten wir sie murmeln. „Das stirbt sonst.“
„Besser wäre es,“ schnaubte Chris. „Wenn du dich um andere Dinge genauso kümmern würdest, hätten wir keine Probleme mehr – jedenfalls was die Schule betrifft!“
Henrik lachte. „Sieh an, hier ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Warum sollte es euch besser gehen als uns?“
„Das hab‘ ich nie behauptet,“ protestierte seine Schwester. „Wenn ihr wüsstet, was bei uns manchmal für ein Theater ist. Dagegen sind die Tageskinder kleine Engel.“
„Und ihr habt auch noch gleich drei Töchter, die alle irgendwann in die Pubertät kommen.“ Henrik grinste höhnisch. „Dann hast du dieses Wochenende schon mal einen Vorgeschmack.“
„Jetzt übertreib‘ mal nicht,“ mischte ich mich ein und schaute Katja, die aufbrausen wollte, mit einem Blick an, der bedeutete: Nimm‘ Papa nicht so ernst, du weißt doch, wie er ist.
Chris stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Mich kann nichts so schnell abschrecken, auch nicht deine dummen Bemerkungen.“ Die Geschwister sahen sich breit grinsend an.
Unsere vier Freunde standen daneben und beobachteten alles interessiert. Meine Schwägerin wandte sich jetzt ihnen zu. „So, genug gefrotzelt. Setzt euch doch hin, einfach da, wo Platz ist. Wollt ihr vielleicht etwas trinken?“
„Nein, danke.“ Wir schüttelten unisono den Kopf.
„Wir müssen ja gleich weiter,“ meinte Gerd. „Und ich bleib‘ einfach mal stehen, im Auto sitzen wir noch mindestens zweieinhalb Stunden.“
„Wenn ich vielleicht auf die Toilette dürfte?“ fragte Gisela.
„Ich gehe mit,“ sagte ich sofort, und da ich ja wusste, wo das Badezimmer war, brauchte Chris nichts zu erklären. Wir verschwanden für ein paar Minuten.
„Wie geht’s dir denn?“ fragte ich, sobald Gisela und ich allein waren. „Läuft es ein bisschen besser mit Martin? Ihr kommt mir eigentlich ganz entspannt vor.“ Bei unserem letzten kurzen Telefonat diese Woche war kein vertrauliches Gespräch möglich gewesen, weil Henrik neben mir gestanden hatte.
Sie seufzte. „Na ja, wir hatten eine Menge Diskussionen die letzten Monate. Aber wir wollen beide, dass es wieder besser wird. Deshalb sehen wir die Schwarzwald-Tour als Chance, uns wieder näherzukommen.“
„Das hoffe ich sehr, Gisi. Wir unterstützen euch, wo es nur geht,“ versprach ich.
„Lieb von dir, aber ich glaube, das müssen wir ganz allein hinbekommen.“ Gisela lachte, dann schob sie mich Richtung Badezimmertür. „Geh‘ mal bitte raus, wenn ich mich aufs Klo setze. In letzter Zeit habe ich irgendwie eine schwache Blase, wahrscheinlich gibt das gleich eine Raststätten-Rallye…“
„Wir reden nachher im Auto weiter,“ versprach ich, die Klinke in der Hand.
Nachdem auch ich auf der Toilette gewesen war, gingen wir wieder ins Wohnzimmer zurück. Die Anderen saßen bzw. standen noch immer da und unterhielten sich über Einrichtung und Aufteilung des Hauses.
„Wo ist eigentlich Max?“ wollte ich wissen. „Den Hund haben wir auch noch nicht gesehen.“
„Die Beiden habe ich Gassi geschickt,“ sagte Chris. „Allerdings schon vor fast einer Stunde. Wahrscheinlich haben sie wieder Hinz und Kunz getroffen und lassen sich aufhalten. Irgendwie erinnert mich unser Sohn langsam an den alten Willi, der immer beim halben Dorf eingekehrt ist, wenn er mit dem Dackel unterwegs war.“
Willi, den früheren Förster, kannten wir auch noch von unserem mehrwöchigen Aufenthalt in Eibenholtz. Inzwischen war er im Ruhestand und nicht mehr so gut zu Fuß.
„Solange Max nicht überall Schnaps oder Bier bekommt, müsst ihr euch bestimmt keine Sorgen machen,“ lachte ich.
„Zum Glück ist er dafür noch zu jung. Hoffe ich jedenfalls. Zumindest ist er noch nicht betrunken heimgekommen.“ Chris zwinkerte mir zu.
„Und Dieter ist bestimmt auf der Arbeit,“ stellte Henrik fest.
„Wo sonst? Seit er Bereichsleiter ist, sehen wir ihn kaum noch. Täglich fährt er die Supermärkte in der Umgebung ab, und sonntags schläft er bis in die Puppen, weil er so fertig ist.“
„Wem sagst du das?“ kam es resigniert von Gisela, und Martin warf ihr einen gereizten Blick zu.
Bevor eine seltsame Stimmung aufkommen konnte, wandte Chris sich an Katja, die mitten auf dem Sofa saß und ein bisschen verloren wirkte, wie mir in diesem Moment auffiel.
„Komm‘ mal mit, Schätzchen, ich zeig‘ dir jetzt dein Zimmer. Schließlich bist du doch die Hauptperson, weshalb heute alle hier sind.“ Sie lächelte ihr aufmunternd zu, und Katjas verdrießliche Miene wurde freundlicher, während sie aufstand.
„Du schläfst ganz oben, da ist genug Platz für dich, und du hast deine Ruhe,“ versprach meine Schwägerin. „Jedenfalls nachts und wenn du dich sonst mal zurückziehen willst.“
Letztendlich kamen Gisela, Carsten und ich auch mit, um Katjas Wochenenddomizil zu begutachten. Im Flur stiegen wir eine schmale Holztreppe nach oben, und Carsten trug die Reisetasche. Wir kamen in einen Vorraum, der offenbar zum Wäschetrocknen diente, weil dort Leinen von einer Seite zur anderen gespannt waren. Auf der rechten Seite öffnete Chris eine Tür, und wir traten in ein geräumiges, lichtdurchflutetes Wohnschlafzimmer. Darin befanden sich ein breites Bett, ein Kleiderschrank und sogar ein Schreibtisch mit Stuhl. In der Ecke stand ein hellblauer Plüschsessel. Das große Fenster bot eine herrliche Sicht über das Dorf und die Felder bis hin zum Wald.
„Das ist aber schön!“ rief ich. „Dieses Zimmer kannte ich noch gar nicht.“ Auch Katja machte endlich ein zufriedeneres Gesicht.
„Ja, nicht wahr?“ meinte Chris stolz. „Es war noch nicht ganz fertig, als ihr uns das letzte Mal besucht habt. Aber jetzt ist es das perfekte Gästezimmer – und zwar nur für ganz besondere, liebe Gäste.“ Sie lächelte Katja erwartungsvoll an.
„Gefällt mir,“ sagte diese, und das durfte schon etwas heißen, nachdem sie zuvor nur Widerstand gezeigt hatte.
„Also, das ist wirklich toll,“ sagte Carsten, der ebenso wie Gisela ganz angetan war. „Hier würde ich glatt auch mal ein Wochenende verbringen wollen.“ Er zwinkerte Katja zu und stellte die Reisetasche vor dem Bett ab.
„Du bist jederzeit willkommen,“ erklärte Chris, und wir lachten.
„Also Katja,“ fuhr sie fort. „Wenn du die Tür zumachst, hörst du kaum was von unten. Du kannst morgens so lange schlafen, wie du willst. Natürlich würde ich auch gerne Zeit mit dir verbringen, denn sonst sehen wir uns ja immer nur kurz. Ich freue mich, dass wir mal ein ganzes Wochenende zusammen haben.“
„Danke, Chris, du bist wirklich lieb,“ sagte Katja unvermittelt und umarmte ihre Tante spontan. Anscheinend hatte deren lockere Art etwas Positives in ihr ausgelöst, und obwohl ich froh darüber war, meldete sich ein Anflug von Eifersucht. Mich hatte sie in letzter Zeit fast nur von oben herab behandelt.
Carsten bemerkte es sofort und lächelte mich beruhigend an. Vor ihm konnte ich nahezu gar nichts verbergen, da war er noch scharfsinniger als Gisela.
Chris freute sich über die Umarmung und hielt Katja weiter fest, als sie verkündete: „Und damit du nicht ganz auf deinesgleichen verzichten musst, findet heute Abend sogar ein Event statt: Eine Party mit DJ nur für Jugendliche im Gemeinschaftshaus! Das haben wir immer zu Beginn der Ferien, und da kommen nicht nur die Teenies hier aus dem Dorf, sondern auch aus der Umgebung. Ich finde, das passt super, jetzt wo du gerade da bist, da kannst du ein paar nette Leute kennenlernen.“
Katjas Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig wieder, und zwar hin zu misstrauisch. „Echt?“ fragte sie. „Ich weiß nicht… die sind bestimmt nicht auf meiner Wellenlänge, hier im Dorf…“
„Warum denn nicht?“ fuhr ich sie an. „Das ist doch eine tolle Idee. Bloß weil die Kids nicht aus der Stadt kommen, sind sie noch lange keine Bauerntrampel!“ Das war vielleicht ein bisschen heftig, aber ich konnte mich in dem Moment nicht zügeln.
Die Reaktion war natürlich entsprechend. „Das hab‘ ich doch gar nicht behauptet!“ rief Katja empört, und ihre Augen blitzten.
„So hab‘ ich das auch nicht aufgefasst.“ Chris bedachte mich mit einem strengen Blick und wandte sich dann wieder dem Mädchen zu. „Aber ich versteh‘ schon, dass es ein bisschen blöd für dich ist, weil du niemanden von denen richtig kennst. Höchstens vielleicht Paula, aber ich weiß nicht, ob sie dort hingeht. Sie hat sich ein bisschen verändert, und du würdest sie wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Aber vielleicht erinnerst du dich noch an Philipp Glanz, der ist so alt wie du, glaube ich. Und Jan, der Sohn von Marion, der ist allerdings ein Jahr älter, aber total nett. Die würden sich bestimmt alle freuen, ein so hübsches Mädchen wie dich in ihrer Clique zu haben.“
Katja verzog das Gesicht und zuckte die Schultern. Zum Glück ließ meine Schwägerin sich nicht davon irritieren, möglicherweise kannte sie solche Verhaltensweisen schon von Sonja.
„Du kannst es dir ja überlegen,“ schlug sie vor. „Du brauchst auch nicht allein hinzugehen, ich könnte dich bringen. Oder – vielleicht noch besser – wir fragen Jan, ob er dich mitnimmt.“
„Mal sehen,“ sagte Katja immerhin. „Ich weiß noch nicht. Erst packe ich mal meine Sachen aus.“
„Da hast du Recht,“ pflichtete Chris ihr bei. „Und nachher essen wir zusammen zu Mittag.“
Katja blickte uns nacheinander an, so als wollte sie, dass wir sie jetzt allein ließen. Ganz schön kess, dachte ich.
Aber Chris schien das nichts auszumachen. „So, dann lassen wir dich jetzt mal in Ruhe.“ Sie drückte ihre Nichte noch einmal kurz und wandte sich zum Gehen, blickte uns Anderen auffordernd an.
Ich seufzte. „Okay, ich gehe mal davon aus, dass du nicht mit herunterkommst, um dich zu verabschieden. Dann schicke ich Papa gleich nochmal rauf, so sieht er wenigstens auch das Zimmer.“ Damit zog ich Katja an mich und umarmte sie fest. Zunächst stand sie da wie ein Brett, weil sie noch sauer war wegen vorhin. „Maus, ich wünsch‘ dir eine schöne Zeit hier. Chris ist so lieb, es wird dir bestimmt gefallen.“ Ich gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Hab‘ dich lieb, pass‘ auf dich auf, ja?“
Jetzt ließ ihr Widerstand ein wenig nach. „Ich hab‘ dich auch lieb, Mama,“ murmelte sie, und da war ich froh. In unserer Familie galt die Devise, dass man sich immer versöhnlich voneinander verabschiedete und im Frieden auseinander ging. Daheim war das in letzter Zeit zwar oft nicht der Fall gewesen, aber jetzt bedeutete es mir viel, weil wir uns tagelang nicht sehen und etliche Kilometer voneinander entfernt sein würden.
Auch Gisela und Carsten verabschiedeten sich von Katja, dann stiegen wir zuversichtlich die Treppe hinunter. Während Henrik oben bei unserer Tochter war, was einige Minuten dauerte, gingen wir Anderen zu den Autos und besprachen die Sitzordnung für die nächste Etappe der Reise. Wir einigten uns auf den Idealzustand, nämlich Carsten, Gisela und ich im Van, während Gert und Martin in unserem Auto mit Henrik fahren sollten.
Gerade als dieser aus dem Haus trat, tauchten Max und Benni auf. Es gab nochmals eine lebhafte Begrüßung, besonders von Seiten des Hundes, aber dann konnten wir endlich starten. Chris, Julia und Max winkten uns nach, bis wir hinter der nächsten Kurve verschwunden waren.
Der Van sollte vorneweg fahren, weil Carsten mit dem Firmenwagen nicht ganz so vertraut war wie Henrik mit unserem Passat, und er außerdem nicht so viel PS hatte wie ein PKW. Aber wir waren entspannt und hatten keine Eile, außerdem würde die Fahrt kaum länger als drei Stunden dauern. Hofften wir zumindest, falls kein größerer Stau oder sonstige Hindernisse dazwischenkamen.
Während der ersten Kilometer redeten wir mehr oder weniger Smalltalk. Carsten musste sich aufs Fahren konzentrieren, und ich hing noch einigen Gedanken nach. Ich fragte mich, ob mit Katja in Eibenholtz alles ohne größere Probleme laufen würde und ob Chris auch nicht überfordert war. Um Erik machte ich mir weniger Sorgen, denn er blieb gern bei meinen Eltern, und sie würden sicher gut zurechtkommen. Hoffentlich hatten wir in Neustadt in der Wohnung alle Elektrogeräte ausgeschaltet und die Stecker gezogen, insbesondere bei der Kaffeemaschine. Waren alle Fenster geschlossen, die Wasserhähne richtig zugedreht?
Irgendwann legte Gisela – wir beide saßen auf der Rückbank unmittelbar hinter Carsten – ihre Hand auf meine und lächelte mich aufmunternd an. Sie hatte schon bemerkt, was gerade in mir vorging. Da beschloss ich, allen überflüssigen Ballast abzuwerfen und mich nicht länger verrückt zu machen. Jetzt konnte ich sowieso nichts mehr ändern. Ich war unterwegs mit meinem Mann und unseren besten Freunden zu einem Ort, wo unsere kleinlichen Alltagsprobleme an Bedeutung verloren, wo alles andere unwichtig war außer uns selber und wo wir Spaß haben und die Seele baumeln lassen konnten. Wenigstens für ein verlängertes Wochenende.
Ich gab mir einen Ruck und rief übermütig: „He ihr Beiden, was geht ab?“ Wir lachten und begannen, uns gegenseitig ein bisschen aufzuziehen. Inzwischen hatte sich Carsten ans Van-Fahren gewöhnt, und bald führten wir tiefgründigere Gespräche über alles Mögliche und besonders das, was uns in den letzten Wochen bewegt hatte. Ich hoffte, dass es den anderen Dreien hinter uns ebenso gut erging, was offenbar der Fall war. Als ich mich umdrehte, sah ich den Passat dicht hinter uns und Henriks grinsendes Gesicht, während er kurz die Lichthupe betätigte, weil er meinen Blick bemerkt hatte.
Während wir mehrmals die Autobahn wechseln mussten, blieb das Wetter trocken, aber ein bisschen diesig. An zwei Raststätten hielten wir für Toilettenpausen an. Ich fand das gar nicht schlecht, denn so konnten wir uns die Beine vertreten und auch mit den Anderen reden. Henrik schien es gut zu gehen, und darüber war ich froh, denn er hatte, einmal abgesehen von den Sorgen wegen Katja, auch beruflich in letzter Zeit großen Stress gehabt. Wenn irgendjemand einmal Ruhe und Spaß verdient hatte, dann war er es. Wir umarmten uns und standen ein bisschen einfach so vor dem Auto, genossen es, dass wir zusammen waren.
An der letzten Raststätte gingen wir etwas essen, und Gert wollte wieder ans Lenkrad des Van, weil die Strecke nun kniffliger wurde. Er war der typische männliche Beschützer, der glaubte, sein Partner würde die vielen Kurven nicht schaffen. Carsten kannte das zur Genüge, und obwohl ich ihm durchaus zutraute, uns auch noch durch den Schwarzwald bis zur Hütte zu bringen, machte Gerts Fürsorge ihn bequem. Also überließ er ihm gerne den Fahrersitz und nahm stattdessen den Autoatlas, um Gert zu den richtigen Abfahrten zu dirigieren.
Während der restlichen Kilometer hatte ich das Bedürfnis, mit Henrik in einem Auto zu sitzen. Ich wollte das Schöne und Neue, das wir jetzt zu sehen bekamen, mit ihm teilen und mich zusammen mit ihm darüber freuen können. Den anderen beiden Paaren schien es ähnlich zu gehen. Deshalb wechselte Martin nun auch hinüber in den Van, so dass Henrik und ich allein waren. Wir hatten ebenfalls eine Straßenkarte, aber im Grunde mussten wir ja nur dem Van folgen, und es gab nichts weiter Anstrengendes zu tun. Außer Autofahren natürlich, aber das machte Henrik Spaß, und er wollte auch nicht abgelöst werden, was mir nur recht war.
Jetzt nach über zwei Stunden waren wir im Schwarzwald angekommen. Als wir bei Rastatt die Autobahn verließen, herrschte überwiegend Waldgebiet vor. Oft säumten hohe Tannen und Eichen die Bundesstraße, auf der noch relativ viel Verkehr war. Es war kühler geworden, das Außenthermometer zeigte zwölf Grad an, und leichter Wind bewegte die Baumkronen.
Nachdem wir einen Ort mit nahegelegenem kleinem See durchquert hatten, begann der letzte Abschnitt unserer Fahrt. Eine unbefestigte einspurige Straße führte mitten in die tiefste Wildnis hinein. Ab und zu gab es eine Haltebucht, und ich betete und hoffte, dass uns niemand entgegenkam, denn dann hätte einer von Beiden bis zur letzten Haltebucht zurücksetzen müssen. Zum Glück passierte das aber nicht. Henrik gefiel die holprige Fahrerei, er lachte und machte jede Menge Witze, aber mir wurde ein bisschen übel, zumal es auch immer wieder um scharfe Kurven ging. Der Van war geländegängig und kam nun schneller voran als wir.
Das ist also der Schwarzwald, dachte ich mulmig. Düster mit wolkenkratzerhohen Bäumen, undurchdringlich und einsam. Hier konnte wer weiß was passieren, und kein Außenstehender würde es mitbekommen. Auch Menschen konnten hier verschwinden, ohne dass man jemals eine Spur von ihnen finden würde. Der Wald war ideal für Hexenhäuser, satanistische Versammlungen und Angriffe aus dem Hinterhalt. Machten wir auch keinen Fehler, hierher zu kommen? Wer wusste, was uns zustoßen konnte? Plötzlich erschien mir die Gegend bedrohlich.
Ich hatte nicht gemerkt, dass Henrik mich von der Seite beobachtete, bevor er mich ansprach: „Na Angsthase, was ist los? Laufen da wieder Horrorfilme in deinem Kopf ab?“ Er grinste ein bisschen spöttisch.
Das brachte mich ins Hier und Jetzt zurück. „Ein bisschen schon,“ gab ich zu. „Das ist alles so gewaltig… und irgendwie unheimlich.“
„Das Unheimlichste, was uns hier passieren kann, ist, dass Hubert den Schlüssel für die Hütte vergessen hat,“ meinte Henrik trocken. „Oder dass uns eine Rotte Wildschweine über den Weg läuft,“ fügte er nach kurzer Pause hinzu.
„Sag‘ doch sowas nicht!“ rief ich entsetzt. „Dann will ich lieber gleich wieder heim!“
Er lachte mich aus. „Ich finde es toll hier. Und vor Dienstag kommst du nicht wieder weg. Du musst das positiv sehen: Wir sind fast völlig abgeschottet, also nervt uns auch niemand. Wilde Tiere gibt es nicht – okay, höchstens Wildschweine, aber es sieht nicht so aus, als ob hier in der Nähe welche wären – und außerdem sind wir zu acht, da überfällt uns niemand.“
„Hast ja Recht,“ seufzte ich und versuchte, dem tiefen Wald etwas Schönes abzugewinnen. Was Gisela wohl gerade dachte? Oder Carsten?
„Außerdem, Schatz,“ und er strich mir versöhnlich über die Wange. „Ich bin doch auch da und beschütze dich. Vergiss‘ das mal nicht.“
„Stimmt.“ Ich warf ihm einen liebevollen Blick zu und drückte seine Hand. „Da bleibt mir ja nichts anderes übrig, als mich auf das Abenteuer einzulassen.“
Und das fiel mir plötzlich gar nicht mehr schwer, als sich unvermittelt eine Lichtung auftat und die beklemmende Enge verschwand. Am Rand vor den Bäumen, aber genau in einem Sonnenkegel stand eine urig massive Holzhütte, so wie man sie aus amerikanischen Western-Filmen kannte.
Endlich war es soweit! Die lange geplante Reise konnte losgehen.
Obwohl wir nur wenige Tage unterwegs sein würden, hatte das Ganze im Vorfeld schon riesige Schatten geworfen. Jetzt ging es an die Ausführung und daran, unser gemeinsames Abenteuer in vollen Zügen zu genießen.
Schon um halb sieben am Samstagmorgen hatten Henrik und ich die Kinder geweckt, damit wir noch gemeinsam frühstücken konnten. Die Beiden waren entsprechend verschlafen und nörgelten, dass es sich heute wie ein Schultag anfühlte, obwohl Wochenende war. Katja als Morgenmuffel redete nicht viel und bewegte sich wie in Trance. Wenigstens hatte sie am Abend zuvor noch ihre Sachen gepackt, das heißt, alles Nötige ungeordnet in die Reisetasche gestopft. Erik dagegen hatte Tage zuvor mehr als die Hälfte seiner Spielsachen in einer Zimmerecke gestapelt und protestierte lautstark, weil wir nur einen Bruchteil davon mitnehmen konnten, denn sonst hätten wir einen Anhänger fürs Auto besorgen müssen.
Jetzt saßen die Kinder brav auf dem Rücksitz unseres blauen VW Passat. Erik war aufgekratzt und in Vorfreude auf seine Großeltern, während Katja die Kopfhörer in den Ohren hatte und uns andere keines Blickes würdigte. Noch immer war sie sauer, dass wir sie gezwungen hatten, die nächsten Tage in Eibenholtz zu verbringen. Sie und ihr Bruder mussten die Reisetaschen auf dem Schoß tragen, weil der Kofferraum des Kombis brechend voll war. Neben zwei Kisten Bier, einer Familienpackung Toilettenpapier und zwei Beuteln Grillkohle hatten wir noch unsere eigenen Reisetaschen, Wanderschuhe und Gummistiefel unterbringen müssen. Viel Kleidung brauchten wir nicht, aber dafür die verschiedensten Gebrauchsgegenstände, welche in der Hütte nicht vorhanden waren. Unser Bettzeug krönte schließlich das ganze Gepäck.
Henrik und ich waren bester Laune. Nichts konnte uns jetzt noch die Stimmung verderben, denn nun ging es tatsächlich los, und alle Hindernisse, die eventuell noch im Weg gestanden hatten, waren beseitigt. Endlich waren wir mal dran, uns zu amüsieren und Spaß zu haben. Das hatten wir uns redlich verdient, und wir würden es bis zum letzten Moment auskosten.
Die ersten zwei Etappen unserer Fahrt waren kurz. Zunächst mussten wir nach Waldbad, um Erik bei meinen Eltern abzuliefern. Die Beiden standen schon in den Startlöchern und kamen aus dem Haus, sobald wir dort vorfuhren. Wahrscheinlich hatten sie oben in der Küche aus dem Fenster geschaut, um uns bloß rechtzeitig zu sehen.
Erik sprang aus dem Auto und lief meinem Vater in die Arme. Dabei vergaß er seine Reisetasche, die vom Rücksitz fiel und mitten auf die Straße kullerte. Henrik stieg aus, nachdem er die Handbremse angezogen hatte, und schnappte sich die Tasche. Auch ich und Katja stiegen kurz aus, letztere widerwillig und erst nach Aufforderung, um meine Eltern zu begrüßen.
„Was machst du denn für ein Gesicht, Katja?“ fragte meine Mutter irritiert, nachdem sie sie umarmt hatte.
„Sie würde lieber hierbleiben anstatt nach Eibenholtz zu fahren,“ erklärte ich unbeeindruckt.
„Das muss sie doch auch nicht,“ gab meine Mutter zurück, obwohl wir zuvor lang und breit darüber gesprochen hatten. „Sie kann genauso gut bei uns bleiben, mir macht das gar nichts aus, wenn beide Kinder hier sind – ganz im Gegenteil!“
Katjas Miene erhellte sich sofort, aber ich grätschte dazwischen. „Nein, Mama, wir machen es so, wie wir beschlossen hatten. Daran wird nichts mehr geändert. Und Christina freut sich schon, da werden wir nicht plötzlich alles umwerfen.“
„Ich dachte ja nur…“ Mittlerweile hatte meine Mutter gelernt, mir nicht mehr allzu viel entgegenzusetzen, obwohl sie es zeitweise noch versuchte. Da ich nun aus den Zwanzigern heraus war und sogar bald die Vierziger erreicht hatte, blieb ihr nichts anderes übrig. Außerdem hatte sie noch eine weitere Tochter und einen Sohn, die sie bevormunden konnte, wobei mein Bruder viel in der Weltgeschichte herumreiste und oft außer Reichweite war.
„Ist schon gut,“ meldete sich mein Vater zu Wort, wie immer beschwichtigend. „Umso mehr können wir uns auf Erik konzentrieren, nicht wahr?“
Der Junge nickte eifrig und sah äußerst zufrieden aus. Wenigstens eines unserer Kinder, das sich über die Planung freute.
Wir fuhren weiter und kamen wie verabredet um kurz nach neun Uhr in Graef bei Giselas Eltern an. Martins silberfarbener Ford Escort stand schon vor dem Haus, aber es war niemand darin. Die Hälfte der Rückbank war voller Gepäck, den Inhalt des Kofferraums konnten wir durch das Stufenheck nicht sehen.
Wir stiegen wieder alle aus und klingelten an der Haustür. Giselas Mutter öffnete, und mir fielen sofort die Falten in ihrem Gesicht auf und dass sie sich etwas schwerfälliger bewegte. Nur die Frisur war unverändert, die Haare offensichtlich gefärbt. Ich hatte Giselas Mutter viele Jahre nicht mehr gesehen, zuletzt bei Sebastians Taufe, und er war nun schon elf Jahre alt. Es hatte ja auch keinen Anlass gegeben, nach Graef zu kommen, da meine beste Freundin seit langem in Köln wohnte und wir uns entweder dort oder in Neustadt trafen. Umso mehr freute ich mich, ihre Mutter bei der jetzigen Gelegenheit wiederzusehen, und auch sie strahlte und zog mich sofort in ihre Arme.
„Du hast dich gar nicht verändert, Lisa!“ behauptete sie.
„Na ja, ein bisschen schon, aber vielen Dank.“ Zu meinem Leidwesen hatte ich ein wenig an Gewicht zugelegt und freute mich, dass es offenbar nicht zu sehr auffiel.
Gisela kam herbeigestürmt. „Liebes, da seid ihr ja!“ rief sie übermütig und fiel mir um den Hals. Sie war mittlerweile sehr schlank geworden, ganz im Gegensatz zu noch vor zehn Jahren, als sie dicker gewesen war als ich. Jetzt war es umgekehrt. Sie trieb Sport und achtete sehr auf ihre Ernährung, doch ansonsten blieb sie ganz die alte, und darüber war ich froh.
„Du siehst toll aus!“ sagte ich. „Wie schön, dass wir alle zusammen wegfahren, ich freu‘ mich so.“
„Ich auch! Das wird uns richtig gut tun, und wir machen lauter schöne Dinge zusammen.“
„Aber hallo!“ Wir kicherten, so wie meistens, wenn wir uns trafen. Katja verdrehte die Augen.
„Komm‘ her, Schätzchen!“ wandte Gisela sich nun ihr zu und drückte sie erbarmungslos an sich. „Wie guckst du denn?“ fragte sie missbilligend. „Es ist so ein schöner Tag, du hast Ferien und bist deine Eltern mal für ein paar Tage los.“
„Aber dafür hätten sie mich nicht in die Walachei verfrachten müssen,“ murrte Katja an die Schulter meiner Freundin, was ich gut hören konnte, da ich unmittelbar neben ihr stand.
„In der Walachei kann es superschön sein,“ erklärte ich. „Wir fahren ja auch in die Einöde.“
Katja grummelte und machte sich wieder los. Wir gingen ins kleine Wohnzimmer, das nun überfüllt war von unseren Familien. Hier trafen wir auf Martin, Giselas Vater und Sebastian, die wir lautstark begrüßten. Basti, ein hübscher braunhaariger Junge, der Gisela ziemlich ähnlich sah, hielt sich eher im Hintergrund. Er hatte die zurückhaltende Art von Martin geerbt, redete nicht viel, schaute aber immer wieder vom einen zum anderen, während wir uns unterhielten.
„Wollten Carsten und Gert nicht auch hierher kommen?“ fragte Martin schließlich. „Warum seid ihr nicht zusammen gefahren?“
„Dann hätten sie mit uns noch den Abstecher nach Waldbad machen müssen,“ sagte ich. „Außerdem wollte Gert vorher noch bei einem Kunden vorbei. Ich hoffe, das dauert nicht so lange.“ Carstens Lebensgefährte hatte eine eigene Dachdeckerfirma und war in Notfällen auch am Wochenende für seine Kunden erreichbar. Heute Morgen ging es jedoch nur darum, noch etwas zu überprüfen, und Gert hatte versprochen, dass sie sich nicht lange aufhalten würden.
„Gert ist zuverlässig,“ meinte Henrik und grinste. „Bei Carsten wäre es etwas anderes. Der ist halt wie eine Frau und wird manchmal nicht fertig.“
„Macho!“ riefen Gisela und ich unisono, und wir mussten alle lachen, sogar Katja.
Giselas Vater schaute aus dem Fenster, das direkt auf die Straße ging. „Da parkt gerade ein weißer Ford Transit ein,“ berichtete er. „Jetzt ist der Bürgersteig aber voll.“
„Das sind sie!“ Wir gingen nach draußen.
Auch hier fand die Begrüßung mit lautem Hallo statt. Die Männer begannen das Gepäck der Kölner in Gerts Firmenwagen umzuladen. Der Van war groß genug, um alles bequem unterzubringen und auch die beiden Rücksitze frei zu halten, damit Gisela und Martin noch Platz hatten. Ihr eigenes Auto stellten sie in den Hof von Giselas Eltern, denn ein dritter Wagen war für uns sechs Personen nicht erforderlich. Außerdem hatten Walczak’s schon die erste größere Etappe von Köln bis hierher hinter sich.
Die Beiden verabschiedeten sich ausgiebig von ihrem Sohn und ermahnten ihn, brav zu sein. Das erschien mir mehr als überflüssig, denn Basti machte im Allgemeinen nur wenig Schwierigkeiten, jedenfalls im Vergleich zu unseren Kindern.
Gisela und Martin fuhren zunächst bei Carsten und Gert mit, Sitze tauschen wollten wir erst in Eibenholtz. Bis dahin war es mir wichtig, noch mit Katja in einem Auto zu sein, da wir sie für einige Tage nicht sehen würden.
Während der nächsten halben Stunde fuhr Henrik vorneweg, und unsere Freunde folgten. Unterwegs schärfte er Katja zum wiederholten Male ein, dass sie sich bei Chris und Dieter ordentlich zu benehmen hätte, da sonst ihr Taschengeld für den nächsten Monat gestrichen würde. Ich bezweifelte, dass Katja viel von den Ermahnungen mitbekam, da sie schon wieder ihre Kopfhörer in die Ohren gesteckt und den Walkman eingeschaltet hatte.
Gegen zehn Uhr erreichten wir Eibenholtz. Das kleine idyllische Dorf im Hunsrück, wo Christina mit ihrer Familie lebte, war seit zehn Jahren nahezu unverändert. Ein paar Häuser waren hinzugebaut worden, einige wenige Leute weg- oder zugezogen, die meisten jedoch geblieben. Noch immer existierte der Ökobauernhof am Ortseingang. Mittlerweile war er erweitert und auch eine geräumige Ferienwohnung hinzugefügt worden. Diese war stets ausgebucht, denn Urlaub auf dem Bauernhof erfreute sich großer Beliebtheit. Der Schamane Johannes wohnte ebenfalls noch dort und bot Seminare an, allerdings war seine damalige Freundin Anke inzwischen weggezogen. Den Namen seiner neuen Lebensgefährtin kannte ich nicht, hatte sie auch nur einmal kurz gesehen.
Die einschneidendste Veränderung gab es am anderen Ende des Dorfes, dort wo wir damals das Haus der Familie Glanz gehütet hatten, während diese sich in einem sechswöchigen Urlaub befand. Glanzens lebten noch immer dort, ebenso die Eheleute Birnbach mit ihrer Tochter Paula, die damals oft mit Katja gespielt hatte und nun sechzehn Jahre alt war.
Das Haus, welches an jenes der Familie Glanz grenzte, hatte damals einem alten Mann gehört, Herrn Schneider. Er war dement gewesen und hatte unter Verfolgungswahn gelitten, was schließlich in einer wilden Schießerei endete, glücklicherweise nur mit Platzpatronen. Daraufhin war er ins Pflegeheim gekommen und das Haus verkauft worden. Nach jahrelanger Grundsanierung hatte eine junge Familie mit zwei Kindern das Haus übernommen, und die nachbarschaftlichen Beziehungen verbesserten sich zusehends.
Anders verhielt es sich mit dem Haus der Geschwister Klett. Vor vier Jahren war Tabea Klett, die an fortschreitender multipler Sklerose litt, verstorben. Ich war traurig gewesen, denn trotz der Differenzen, die mit ihrem Bruder Simon weiter bestanden, hatte ich doch einen lockeren Kontakt zu ihr pflegen können. Nur wenige Wochen nach ihrem Tod setzte Simon das Haus zum Verkauf in die Zeitung, und zwei Monate später war die Transaktion schon abgewickelt. Der Käufer, ein Immobilienmakler, ließ das Gebäude aufwändig renovieren und verkaufte es dann teuer weiter. Jetzt gehörte es einem Unternehmerpaar in mittleren Jahren, die sich nicht groß um ihre Nachbarn kümmerten und ganz für sich lebten. Da das Haus an Felder grenzte, hatten sie noch ein Grundstück hinzu erworben, den Garten erweitert und einen Swimming Pool angelegt. Simon war nach Frankfurt in eine geräumige Wohnung gezogen, wo er weiterhin seiner künstlerischen Tätigkeit, der Bildhauerei, nachging. Das war das einzige, was ich noch von ihm hörte, gesehen hatte ich ihn seitdem nicht mehr.
Christina und Dieter Funke wohnten nach wie vor in ihrem alten Bauernhaus, das inzwischen vollständig renoviert und hübsch anzusehen war, mit seiner Fachwerkfassade zur Straße hin.
Mit einem tiefen Seufzer, den ich geflissentlich ignorierte, stieg Katja aus dem Auto, ihre Reisetasche in der Hand. Auf Henriks strengen Blick zog sie die Stöpsel aus den Ohren. Wir bedeuteten den Anderen, ebenfalls aus dem Van zu steigen. Wenigstens eine Viertelstunde mussten wir uns hier schon Zeit lassen.
Das Tor zum Hof war diesmal geschlossen. Kein Wunder, jetzt Mitte Oktober hielt sich morgens niemand mehr im Garten auf. Also stiegen wir die wenigen Stufen zur Haustür hoch, die aber aufgerissen wurde, bevor Henrik den Klingelknopf betätigen konnte.
Vor uns stand ein etwa siebenjähriges Mädchen mit rotbraunen schulterlangen Haaren und grinste uns breit an. Es hatte helle Haut und wirkte elfenhaft. Die blaue Leinenhose und das verwaschene T-Shirt schienen mindestens zwei Nummern zu groß.
„Hallooo!“ machte sie, drehte sich nach drinnen ins Haus um und rief: „Mama, die sind da!“
Die – also Henrik und ich – wechselten einen belustigten Blick und traten als erste ein, nachdem seine Nichte den Weg frei gemacht hatte.
„Hallo Julia,“ begrüßte Henrik sie und beugte sich zu ihr herunter. „Bist du so dünn geworden, oder hast du nur Sonjas Klamotten angezogen?“ fragte er augenzwinkernd.
„In der Tat!“ ertönte Christinas Stimme etwas genervt aus dem angrenzenden Zimmer. Sogleich kam sie heraus und strahlte übers ganze Gesicht, als sie uns sah. „Wie schön, dass ihr hier seid!“
Chris, Henriks jüngste Schwester, war trotz dreier Geburten – eine davon Zwillinge – noch immer rank und schlank geblieben. Ihr Leben verlief zweifellos turbulent und oft auch stressig, dennoch war sie mit ihren vierunddreißig Jahren zufrieden und ausgeglichen. Sie hatte ein hübsches Gesicht, dunkelbraune Haare und war groß, Henrik überragte sie nur um wenige Zentimeter. Jetzt trug sie einen Jogging-Anzug und die Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Es schien ihr nichts auszumachen, dass unsere Freunde heute ebenfalls vor der Tür standen und ihr lässiges Erscheinungsbild sahen. Sie kannte alle vier von Feiern und Zusammenkünften in Neustadt, wenn auch eher flüchtig.
Wie es ihre herzliche Art war, bekam jeder von ihr eine Umarmung, und wir traten ein. Da sich in der unteren Etage des Hauses nur die Küche und das große Spielzimmer für die Tageskinder befanden, gingen wir nach oben ins Wohnzimmer. Dort saßen zwei weitere Kinder, nämlich Sonja und die fünfjährige Sarah. Sonja war mit zwölf Jahren die Älteste, zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Max, der sich aber nicht im Raum befand. Sie glich ihrem Vater bis aufs Haar, denn dies war von einem leuchtenden Rot, im Vergleich zu Dieter trug seine Tochter es allerdings fast hüftlang und heute offen. Sie hatte unzählige Sommersprossen im Gesicht und grüne Augen. Ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, fanden alle, und manchmal benahm sie sich schon wie eine kleine Diva. Da würden ihre Eltern demnächst auch Spaß haben, dachte ich, denn die Pubertät stand ihnen erst noch bevor. Die zweieiigen Zwillinge sahen sich kaum ähnlich, denn Max war dunkelhaarig wie seine Mutter, ein paar Sommersprossen hatte er allerdings auch.
Während Sarah, das Pummelchen, freudestrahlend auf Henrik und mich zulief und jeden von uns beiden fest drückte, winkte Sonja von ihrer Sofaecke nur lässig herüber und beschäftigte sich dann weiter mit ihrem Tamagotchi.
„Leg‘ das doch mal weg!“ forderte Chris ihre Tochter auf, doch die schüttelte nur den Kopf und blickte gar nicht mehr hoch. Die langen Haare fielen ihr ins Gesicht, so dass sie nun ganz abgeschirmt war.
„Geht nicht,“ hörten wir sie murmeln. „Das stirbt sonst.“
„Besser wäre es,“ schnaubte Chris. „Wenn du dich um andere Dinge genauso kümmern würdest, hätten wir keine Probleme mehr – jedenfalls was die Schule betrifft!“
Henrik lachte. „Sieh an, hier ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Warum sollte es euch besser gehen als uns?“
„Das hab‘ ich nie behauptet,“ protestierte seine Schwester. „Wenn ihr wüsstet, was bei uns manchmal für ein Theater ist. Dagegen sind die Tageskinder kleine Engel.“
„Und ihr habt auch noch gleich drei Töchter, die alle irgendwann in die Pubertät kommen.“ Henrik grinste höhnisch. „Dann hast du dieses Wochenende schon mal einen Vorgeschmack.“
„Jetzt übertreib‘ mal nicht,“ mischte ich mich ein und schaute Katja, die aufbrausen wollte, mit einem Blick an, der bedeutete: Nimm‘ Papa nicht so ernst, du weißt doch, wie er ist.
Chris stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Mich kann nichts so schnell abschrecken, auch nicht deine dummen Bemerkungen.“ Die Geschwister sahen sich breit grinsend an.
Unsere vier Freunde standen daneben und beobachteten alles interessiert. Meine Schwägerin wandte sich jetzt ihnen zu. „So, genug gefrotzelt. Setzt euch doch hin, einfach da, wo Platz ist. Wollt ihr vielleicht etwas trinken?“
„Nein, danke.“ Wir schüttelten unisono den Kopf.
„Wir müssen ja gleich weiter,“ meinte Gerd. „Und ich bleib‘ einfach mal stehen, im Auto sitzen wir noch mindestens zweieinhalb Stunden.“
„Wenn ich vielleicht auf die Toilette dürfte?“ fragte Gisela.
„Ich gehe mit,“ sagte ich sofort, und da ich ja wusste, wo das Badezimmer war, brauchte Chris nichts zu erklären. Wir verschwanden für ein paar Minuten.
„Wie geht’s dir denn?“ fragte ich, sobald Gisela und ich allein waren. „Läuft es ein bisschen besser mit Martin? Ihr kommt mir eigentlich ganz entspannt vor.“ Bei unserem letzten kurzen Telefonat diese Woche war kein vertrauliches Gespräch möglich gewesen, weil Henrik neben mir gestanden hatte.
Sie seufzte. „Na ja, wir hatten eine Menge Diskussionen die letzten Monate. Aber wir wollen beide, dass es wieder besser wird. Deshalb sehen wir die Schwarzwald-Tour als Chance, uns wieder näherzukommen.“
„Das hoffe ich sehr, Gisi. Wir unterstützen euch, wo es nur geht,“ versprach ich.
„Lieb von dir, aber ich glaube, das müssen wir ganz allein hinbekommen.“ Gisela lachte, dann schob sie mich Richtung Badezimmertür. „Geh‘ mal bitte raus, wenn ich mich aufs Klo setze. In letzter Zeit habe ich irgendwie eine schwache Blase, wahrscheinlich gibt das gleich eine Raststätten-Rallye…“
„Wir reden nachher im Auto weiter,“ versprach ich, die Klinke in der Hand.
Nachdem auch ich auf der Toilette gewesen war, gingen wir wieder ins Wohnzimmer zurück. Die Anderen saßen bzw. standen noch immer da und unterhielten sich über Einrichtung und Aufteilung des Hauses.
„Wo ist eigentlich Max?“ wollte ich wissen. „Den Hund haben wir auch noch nicht gesehen.“
„Die Beiden habe ich Gassi geschickt,“ sagte Chris. „Allerdings schon vor fast einer Stunde. Wahrscheinlich haben sie wieder Hinz und Kunz getroffen und lassen sich aufhalten. Irgendwie erinnert mich unser Sohn langsam an den alten Willi, der immer beim halben Dorf eingekehrt ist, wenn er mit dem Dackel unterwegs war.“
Willi, den früheren Förster, kannten wir auch noch von unserem mehrwöchigen Aufenthalt in Eibenholtz. Inzwischen war er im Ruhestand und nicht mehr so gut zu Fuß.
„Solange Max nicht überall Schnaps oder Bier bekommt, müsst ihr euch bestimmt keine Sorgen machen,“ lachte ich.
„Zum Glück ist er dafür noch zu jung. Hoffe ich jedenfalls. Zumindest ist er noch nicht betrunken heimgekommen.“ Chris zwinkerte mir zu.
„Und Dieter ist bestimmt auf der Arbeit,“ stellte Henrik fest.
„Wo sonst? Seit er Bereichsleiter ist, sehen wir ihn kaum noch. Täglich fährt er die Supermärkte in der Umgebung ab, und sonntags schläft er bis in die Puppen, weil er so fertig ist.“
„Wem sagst du das?“ kam es resigniert von Gisela, und Martin warf ihr einen gereizten Blick zu.
Bevor eine seltsame Stimmung aufkommen konnte, wandte Chris sich an Katja, die mitten auf dem Sofa saß und ein bisschen verloren wirkte, wie mir in diesem Moment auffiel.
„Komm‘ mal mit, Schätzchen, ich zeig‘ dir jetzt dein Zimmer. Schließlich bist du doch die Hauptperson, weshalb heute alle hier sind.“ Sie lächelte ihr aufmunternd zu, und Katjas verdrießliche Miene wurde freundlicher, während sie aufstand.
„Du schläfst ganz oben, da ist genug Platz für dich, und du hast deine Ruhe,“ versprach meine Schwägerin. „Jedenfalls nachts und wenn du dich sonst mal zurückziehen willst.“
Letztendlich kamen Gisela, Carsten und ich auch mit, um Katjas Wochenenddomizil zu begutachten. Im Flur stiegen wir eine schmale Holztreppe nach oben, und Carsten trug die Reisetasche. Wir kamen in einen Vorraum, der offenbar zum Wäschetrocknen diente, weil dort Leinen von einer Seite zur anderen gespannt waren. Auf der rechten Seite öffnete Chris eine Tür, und wir traten in ein geräumiges, lichtdurchflutetes Wohnschlafzimmer. Darin befanden sich ein breites Bett, ein Kleiderschrank und sogar ein Schreibtisch mit Stuhl. In der Ecke stand ein hellblauer Plüschsessel. Das große Fenster bot eine herrliche Sicht über das Dorf und die Felder bis hin zum Wald.
„Das ist aber schön!“ rief ich. „Dieses Zimmer kannte ich noch gar nicht.“ Auch Katja machte endlich ein zufriedeneres Gesicht.
„Ja, nicht wahr?“ meinte Chris stolz. „Es war noch nicht ganz fertig, als ihr uns das letzte Mal besucht habt. Aber jetzt ist es das perfekte Gästezimmer – und zwar nur für ganz besondere, liebe Gäste.“ Sie lächelte Katja erwartungsvoll an.
„Gefällt mir,“ sagte diese, und das durfte schon etwas heißen, nachdem sie zuvor nur Widerstand gezeigt hatte.
„Also, das ist wirklich toll,“ sagte Carsten, der ebenso wie Gisela ganz angetan war. „Hier würde ich glatt auch mal ein Wochenende verbringen wollen.“ Er zwinkerte Katja zu und stellte die Reisetasche vor dem Bett ab.
„Du bist jederzeit willkommen,“ erklärte Chris, und wir lachten.
„Also Katja,“ fuhr sie fort. „Wenn du die Tür zumachst, hörst du kaum was von unten. Du kannst morgens so lange schlafen, wie du willst. Natürlich würde ich auch gerne Zeit mit dir verbringen, denn sonst sehen wir uns ja immer nur kurz. Ich freue mich, dass wir mal ein ganzes Wochenende zusammen haben.“
„Danke, Chris, du bist wirklich lieb,“ sagte Katja unvermittelt und umarmte ihre Tante spontan. Anscheinend hatte deren lockere Art etwas Positives in ihr ausgelöst, und obwohl ich froh darüber war, meldete sich ein Anflug von Eifersucht. Mich hatte sie in letzter Zeit fast nur von oben herab behandelt.
Carsten bemerkte es sofort und lächelte mich beruhigend an. Vor ihm konnte ich nahezu gar nichts verbergen, da war er noch scharfsinniger als Gisela.
Chris freute sich über die Umarmung und hielt Katja weiter fest, als sie verkündete: „Und damit du nicht ganz auf deinesgleichen verzichten musst, findet heute Abend sogar ein Event statt: Eine Party mit DJ nur für Jugendliche im Gemeinschaftshaus! Das haben wir immer zu Beginn der Ferien, und da kommen nicht nur die Teenies hier aus dem Dorf, sondern auch aus der Umgebung. Ich finde, das passt super, jetzt wo du gerade da bist, da kannst du ein paar nette Leute kennenlernen.“
Katjas Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig wieder, und zwar hin zu misstrauisch. „Echt?“ fragte sie. „Ich weiß nicht… die sind bestimmt nicht auf meiner Wellenlänge, hier im Dorf…“
„Warum denn nicht?“ fuhr ich sie an. „Das ist doch eine tolle Idee. Bloß weil die Kids nicht aus der Stadt kommen, sind sie noch lange keine Bauerntrampel!“ Das war vielleicht ein bisschen heftig, aber ich konnte mich in dem Moment nicht zügeln.
Die Reaktion war natürlich entsprechend. „Das hab‘ ich doch gar nicht behauptet!“ rief Katja empört, und ihre Augen blitzten.
„So hab‘ ich das auch nicht aufgefasst.“ Chris bedachte mich mit einem strengen Blick und wandte sich dann wieder dem Mädchen zu. „Aber ich versteh‘ schon, dass es ein bisschen blöd für dich ist, weil du niemanden von denen richtig kennst. Höchstens vielleicht Paula, aber ich weiß nicht, ob sie dort hingeht. Sie hat sich ein bisschen verändert, und du würdest sie wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Aber vielleicht erinnerst du dich noch an Philipp Glanz, der ist so alt wie du, glaube ich. Und Jan, der Sohn von Marion, der ist allerdings ein Jahr älter, aber total nett. Die würden sich bestimmt alle freuen, ein so hübsches Mädchen wie dich in ihrer Clique zu haben.“
Katja verzog das Gesicht und zuckte die Schultern. Zum Glück ließ meine Schwägerin sich nicht davon irritieren, möglicherweise kannte sie solche Verhaltensweisen schon von Sonja.
„Du kannst es dir ja überlegen,“ schlug sie vor. „Du brauchst auch nicht allein hinzugehen, ich könnte dich bringen. Oder – vielleicht noch besser – wir fragen Jan, ob er dich mitnimmt.“
„Mal sehen,“ sagte Katja immerhin. „Ich weiß noch nicht. Erst packe ich mal meine Sachen aus.“
„Da hast du Recht,“ pflichtete Chris ihr bei. „Und nachher essen wir zusammen zu Mittag.“
Katja blickte uns nacheinander an, so als wollte sie, dass wir sie jetzt allein ließen. Ganz schön kess, dachte ich.
Aber Chris schien das nichts auszumachen. „So, dann lassen wir dich jetzt mal in Ruhe.“ Sie drückte ihre Nichte noch einmal kurz und wandte sich zum Gehen, blickte uns Anderen auffordernd an.
Ich seufzte. „Okay, ich gehe mal davon aus, dass du nicht mit herunterkommst, um dich zu verabschieden. Dann schicke ich Papa gleich nochmal rauf, so sieht er wenigstens auch das Zimmer.“ Damit zog ich Katja an mich und umarmte sie fest. Zunächst stand sie da wie ein Brett, weil sie noch sauer war wegen vorhin. „Maus, ich wünsch‘ dir eine schöne Zeit hier. Chris ist so lieb, es wird dir bestimmt gefallen.“ Ich gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Hab‘ dich lieb, pass‘ auf dich auf, ja?“
Jetzt ließ ihr Widerstand ein wenig nach. „Ich hab‘ dich auch lieb, Mama,“ murmelte sie, und da war ich froh. In unserer Familie galt die Devise, dass man sich immer versöhnlich voneinander verabschiedete und im Frieden auseinander ging. Daheim war das in letzter Zeit zwar oft nicht der Fall gewesen, aber jetzt bedeutete es mir viel, weil wir uns tagelang nicht sehen und etliche Kilometer voneinander entfernt sein würden.
Auch Gisela und Carsten verabschiedeten sich von Katja, dann stiegen wir zuversichtlich die Treppe hinunter. Während Henrik oben bei unserer Tochter war, was einige Minuten dauerte, gingen wir Anderen zu den Autos und besprachen die Sitzordnung für die nächste Etappe der Reise. Wir einigten uns auf den Idealzustand, nämlich Carsten, Gisela und ich im Van, während Gert und Martin in unserem Auto mit Henrik fahren sollten.
Gerade als dieser aus dem Haus trat, tauchten Max und Benni auf. Es gab nochmals eine lebhafte Begrüßung, besonders von Seiten des Hundes, aber dann konnten wir endlich starten. Chris, Julia und Max winkten uns nach, bis wir hinter der nächsten Kurve verschwunden waren.
***
Der Van sollte vorneweg fahren, weil Carsten mit dem Firmenwagen nicht ganz so vertraut war wie Henrik mit unserem Passat, und er außerdem nicht so viel PS hatte wie ein PKW. Aber wir waren entspannt und hatten keine Eile, außerdem würde die Fahrt kaum länger als drei Stunden dauern. Hofften wir zumindest, falls kein größerer Stau oder sonstige Hindernisse dazwischenkamen.
Während der ersten Kilometer redeten wir mehr oder weniger Smalltalk. Carsten musste sich aufs Fahren konzentrieren, und ich hing noch einigen Gedanken nach. Ich fragte mich, ob mit Katja in Eibenholtz alles ohne größere Probleme laufen würde und ob Chris auch nicht überfordert war. Um Erik machte ich mir weniger Sorgen, denn er blieb gern bei meinen Eltern, und sie würden sicher gut zurechtkommen. Hoffentlich hatten wir in Neustadt in der Wohnung alle Elektrogeräte ausgeschaltet und die Stecker gezogen, insbesondere bei der Kaffeemaschine. Waren alle Fenster geschlossen, die Wasserhähne richtig zugedreht?
Irgendwann legte Gisela – wir beide saßen auf der Rückbank unmittelbar hinter Carsten – ihre Hand auf meine und lächelte mich aufmunternd an. Sie hatte schon bemerkt, was gerade in mir vorging. Da beschloss ich, allen überflüssigen Ballast abzuwerfen und mich nicht länger verrückt zu machen. Jetzt konnte ich sowieso nichts mehr ändern. Ich war unterwegs mit meinem Mann und unseren besten Freunden zu einem Ort, wo unsere kleinlichen Alltagsprobleme an Bedeutung verloren, wo alles andere unwichtig war außer uns selber und wo wir Spaß haben und die Seele baumeln lassen konnten. Wenigstens für ein verlängertes Wochenende.
Ich gab mir einen Ruck und rief übermütig: „He ihr Beiden, was geht ab?“ Wir lachten und begannen, uns gegenseitig ein bisschen aufzuziehen. Inzwischen hatte sich Carsten ans Van-Fahren gewöhnt, und bald führten wir tiefgründigere Gespräche über alles Mögliche und besonders das, was uns in den letzten Wochen bewegt hatte. Ich hoffte, dass es den anderen Dreien hinter uns ebenso gut erging, was offenbar der Fall war. Als ich mich umdrehte, sah ich den Passat dicht hinter uns und Henriks grinsendes Gesicht, während er kurz die Lichthupe betätigte, weil er meinen Blick bemerkt hatte.
Während wir mehrmals die Autobahn wechseln mussten, blieb das Wetter trocken, aber ein bisschen diesig. An zwei Raststätten hielten wir für Toilettenpausen an. Ich fand das gar nicht schlecht, denn so konnten wir uns die Beine vertreten und auch mit den Anderen reden. Henrik schien es gut zu gehen, und darüber war ich froh, denn er hatte, einmal abgesehen von den Sorgen wegen Katja, auch beruflich in letzter Zeit großen Stress gehabt. Wenn irgendjemand einmal Ruhe und Spaß verdient hatte, dann war er es. Wir umarmten uns und standen ein bisschen einfach so vor dem Auto, genossen es, dass wir zusammen waren.
An der letzten Raststätte gingen wir etwas essen, und Gert wollte wieder ans Lenkrad des Van, weil die Strecke nun kniffliger wurde. Er war der typische männliche Beschützer, der glaubte, sein Partner würde die vielen Kurven nicht schaffen. Carsten kannte das zur Genüge, und obwohl ich ihm durchaus zutraute, uns auch noch durch den Schwarzwald bis zur Hütte zu bringen, machte Gerts Fürsorge ihn bequem. Also überließ er ihm gerne den Fahrersitz und nahm stattdessen den Autoatlas, um Gert zu den richtigen Abfahrten zu dirigieren.
Während der restlichen Kilometer hatte ich das Bedürfnis, mit Henrik in einem Auto zu sitzen. Ich wollte das Schöne und Neue, das wir jetzt zu sehen bekamen, mit ihm teilen und mich zusammen mit ihm darüber freuen können. Den anderen beiden Paaren schien es ähnlich zu gehen. Deshalb wechselte Martin nun auch hinüber in den Van, so dass Henrik und ich allein waren. Wir hatten ebenfalls eine Straßenkarte, aber im Grunde mussten wir ja nur dem Van folgen, und es gab nichts weiter Anstrengendes zu tun. Außer Autofahren natürlich, aber das machte Henrik Spaß, und er wollte auch nicht abgelöst werden, was mir nur recht war.
Jetzt nach über zwei Stunden waren wir im Schwarzwald angekommen. Als wir bei Rastatt die Autobahn verließen, herrschte überwiegend Waldgebiet vor. Oft säumten hohe Tannen und Eichen die Bundesstraße, auf der noch relativ viel Verkehr war. Es war kühler geworden, das Außenthermometer zeigte zwölf Grad an, und leichter Wind bewegte die Baumkronen.
Nachdem wir einen Ort mit nahegelegenem kleinem See durchquert hatten, begann der letzte Abschnitt unserer Fahrt. Eine unbefestigte einspurige Straße führte mitten in die tiefste Wildnis hinein. Ab und zu gab es eine Haltebucht, und ich betete und hoffte, dass uns niemand entgegenkam, denn dann hätte einer von Beiden bis zur letzten Haltebucht zurücksetzen müssen. Zum Glück passierte das aber nicht. Henrik gefiel die holprige Fahrerei, er lachte und machte jede Menge Witze, aber mir wurde ein bisschen übel, zumal es auch immer wieder um scharfe Kurven ging. Der Van war geländegängig und kam nun schneller voran als wir.
Das ist also der Schwarzwald, dachte ich mulmig. Düster mit wolkenkratzerhohen Bäumen, undurchdringlich und einsam. Hier konnte wer weiß was passieren, und kein Außenstehender würde es mitbekommen. Auch Menschen konnten hier verschwinden, ohne dass man jemals eine Spur von ihnen finden würde. Der Wald war ideal für Hexenhäuser, satanistische Versammlungen und Angriffe aus dem Hinterhalt. Machten wir auch keinen Fehler, hierher zu kommen? Wer wusste, was uns zustoßen konnte? Plötzlich erschien mir die Gegend bedrohlich.
Ich hatte nicht gemerkt, dass Henrik mich von der Seite beobachtete, bevor er mich ansprach: „Na Angsthase, was ist los? Laufen da wieder Horrorfilme in deinem Kopf ab?“ Er grinste ein bisschen spöttisch.
Das brachte mich ins Hier und Jetzt zurück. „Ein bisschen schon,“ gab ich zu. „Das ist alles so gewaltig… und irgendwie unheimlich.“
„Das Unheimlichste, was uns hier passieren kann, ist, dass Hubert den Schlüssel für die Hütte vergessen hat,“ meinte Henrik trocken. „Oder dass uns eine Rotte Wildschweine über den Weg läuft,“ fügte er nach kurzer Pause hinzu.
„Sag‘ doch sowas nicht!“ rief ich entsetzt. „Dann will ich lieber gleich wieder heim!“
Er lachte mich aus. „Ich finde es toll hier. Und vor Dienstag kommst du nicht wieder weg. Du musst das positiv sehen: Wir sind fast völlig abgeschottet, also nervt uns auch niemand. Wilde Tiere gibt es nicht – okay, höchstens Wildschweine, aber es sieht nicht so aus, als ob hier in der Nähe welche wären – und außerdem sind wir zu acht, da überfällt uns niemand.“
„Hast ja Recht,“ seufzte ich und versuchte, dem tiefen Wald etwas Schönes abzugewinnen. Was Gisela wohl gerade dachte? Oder Carsten?
„Außerdem, Schatz,“ und er strich mir versöhnlich über die Wange. „Ich bin doch auch da und beschütze dich. Vergiss‘ das mal nicht.“
„Stimmt.“ Ich warf ihm einen liebevollen Blick zu und drückte seine Hand. „Da bleibt mir ja nichts anderes übrig, als mich auf das Abenteuer einzulassen.“
Und das fiel mir plötzlich gar nicht mehr schwer, als sich unvermittelt eine Lichtung auftat und die beklemmende Enge verschwand. Am Rand vor den Bäumen, aber genau in einem Sonnenkegel stand eine urig massive Holzhütte, so wie man sie aus amerikanischen Western-Filmen kannte.