Schattenjäger-Herzlos
von Propella
Kurzbeschreibung
Cora ist dabei ihre Ausbildung als Schattenjägerin zu beenden, als sie unverhofft ihren ersten Auftrag in die Außenwelt erhält. Noch dazu einen ziemlichen wichtige! Doch er verläuft nicht so, wie erhofft...
GeschichteFantasy / P12 / Gen
07.01.2023
07.01.2023
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2.620
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07.01.2023
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Der Schweiß tropfte von Coras Schläfen und ihr Herz pochte unnormal schnell, als sie sich mit letzter Kraft mit der schweren Körpersimulation aus den Portal hinauswarf und geschmeidig auf den Beinen landete. „Fantastisch, 98!“, lobte Generalin M2. Unter den Schattenjägern wurde sie nur „das Steinchen“ genannt. Man sah von 200 Metern Entfernung, wie angestrengt sie versuchte, streng und hart zu sein -wie ein Stein-, doch leider gelang es ihr meistens nur bedingt… Mit großer Genugtuung beobachtete Cora, wie ihr Konkurrent, Schattenjäger 07597 (beziehungsweise „der 97er“, wie er von Betsi und Cora genannt wurde) eine säuerliche Miene zog und sich gespielt desinteressiert wegdrehte. Für ihm hatte Generalin M2 nur ein schlicht und einfaches: „Gut.“ übriggehabt. Am liebsten hätte sie ein Foto, oder noch besser ein Video, für Betsi gemacht, doch das wäre dann doch etwas seltsam gewesen und außerdem hatte sie ihr Handy nicht dabei, also mussten ihr Coras Erzählungen genügen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht reihte sie sich hinten wieder ein und sah ihren Trainingskollegen dabei zu, wie sie auf der einen Seite des Raumes mit verschieden schweren Körpersimulationen in das Portal sprangen und wenige Minuten später am anderen Ende komplett verschwitzt aus einem zweiten Portal wieder herauskamen. Schließlich stand „der 97er“ ganz vorne und trottete mit einem selbstgefälligen Grinsen, das sie ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte, zum Anfang des Raumes, wo er von Generalin M1 (auch als „Schlange“ bekannt) eine schlanke Frauenkörpersimulation in die Hand gedrückt bekam. Selbst von ihrem Standort aus, konnte Cora sein enttäuschtes Gesicht sehen, über die sehr leichte Simulation, die er von der „Schlange“ bekommen hatte. Dennoch begab er sich in Ausgangsposition und wartete angespannt auf das Zeichen der Generalin M2. Dabei spannte sich seine gebräunte Haut über die muskulösen Arme, die die Körpersimulation fest umklammert hielten. Seine falkengelben Augen fokussierten dabei das „Steinchen“, die farblosen Lippen fest zusammengepresst. Er blies sich eine brünette Locke aus der Stirn. Cora musste zugeben, dass wenn er nicht so selbstgefällig wäre und sie ihn nicht so sehr hassen würde, er eigentlich ganz hübsch wäre. Eigentlich. Da hob Generalin M2 die Hand und der „97er“ sprintete los, während das „Steinchen“ auf ihre Stoppuhr drückte. Mit einem Satz sprang der „97er“ in das Portal und wurde davon verschluckt. Nach einigen Minuten -zu vielen Minuten- spuckte in das Zweite wieder aus. Das „Steinchen“ nickte ihm zu und nahm ihm die Simulation ab. Sein Ausdruck war, wenn das überhaupt möglich war, noch unzufriedener als vorher.
Schüler um Schüler sprang durch die Portale, bis Cora schließlich an der Reihe war. Langsam ging sie zum Anfang des Raumes, zu Generalin M1. Es erfüllte sie mit Genugtuung, als die „Schlange“ ihr eine der schwersten Männerkörpersimulationen übergab. Mit einem Grinsen drehte sie sich in Richtung des Portals und ging in Stellung. Nach einer Weile hob das „Steinchen“ langsam die Hand und Cora sprintete los. Auch wenn sie für ihr Alter eher klein und schlank war, hatte sie ordentliche Muskeln, die sie nun mit einem großen Sprung in das erste Portal beförderten. Sobald die Strömungen des Portals sie erfassten, zog sie sich zu einer Kugel zusammen und hielt die Simulation ausgestreckt vor sich. Sie stellte sich vor, wie es wäre einen echten Menschen ihres Alters so vor sich zu halten. Ein Mensch voller Liebe, so viel Liebe, dass sie das ganze Schattenvolk für ein ganzes Jahr versorgen könnte. Cora sah das zweite Portal auf sie zurasen und machte sich für den Absprung bereit. Im letzten Moment streckte sie sich, soweit sie konnte und schleuderte sich und die Simulation aus dem Portal. In der Luft warf sie die Simulation von sich und drehte sich, sodass sie eine perfekte Landung, direkt vor Generalin M2, vollführte. Ihre Trainingskameraden applaudierten, alle außer dem „97er“ natürlich, und das „Steinchen“ sagte beeindruckt: „Eine Glanzleistung, Miss! Ein neuer Rekord!“ Coras Herz machte einen Sprung. Ein neuer Rekord! Wie unglaublich schön diese Worte aus den schmalen Lippen der Generalin klangen. Als sie zurück zu den anderen ging, warf sie dem „97er“ einen triumphierenden Blick zu, dann wandte sie sich um und reihte sich wieder ein. Die restliche Stunde verging wie im Flug. Zu Coras Enttäuschung kam sie kein weiteres Mal dran, doch irgendwie störte sie das heute weniger, als es das sonst tun würde. Als sie durch die Tür der Trainingshalle in den schmalen Korridor trat, war sie sich sicher: Portalsprung war ihr absolutes Lieblingsfach! Sie würde die kommenden Prüfungen meistern, so wie sie alle bisher gemeistert hatte! Da schritt der „97er“ an ihr vorbei und blaffte: „Hör auf so zu stolzieren! Da kriegt man ja Kopfweh!“ „So wie bei deinen Sprüngen meinst du?“, antwortete sie kalt. Er verdrehte die Augen. „Ja, verdreh nur die Augen! Vielleicht findest du dabei ja dein Gehirn?!“, sagte sie mit gespielter Hoffnung und mit diesen Worten ging sie mit schnellen Schritten davon und lies einen, vor Wut bebenden, Schattenjäger zurück. Sie eilte den Korridor entlang, bis zu Zimmer Nummer 4, an dem ein großes Schild hing:
Betsi, Coras beste Freundin am Trainingshof, hasste diese Nummern. Cora mochte sie, da sie ihr einen sicheren Durchblick gaben und für Ordnung sorgten. Die ersten drei Ziffern standen für den Jahrgang, in ihrem Fall also der 75., und die letzten Zwei waren individuell, je nach Rang in eben diesem. In Coras waren 98 Schattenjäger, somit bekam sie, als Jahrgangsbeste, die Zahl 98. Der schlechteste Schattenjäger hatte also 01. Cora zog den kleinen, golden Schlüssel mit dem Kolibri Anhänger, den ihr ihre kleine Schwester Tomma zum Abschied geschenkt hatte, aus der Tasche. Immer wenn es dir zu viel wird, schau diesen Anhänger an und denk an meine Worte: Es gibt immer einen Weg, frei zu sein! Das hatte sie damals zu ihr gesagt. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Coras herzförmige Lippen. Ja, sie vermisste ihr Zuhause, mehr als sie sich jemals hätte träume n lassen, aber sie war glücklich hier, hier gehörte sie her! Sie konnte sich noch ganz genau an den Tag erinnern, als sie abgeholt wurde… Sie war mit ihrer Familie beim Abendessen gesessen, ihre Koffer hatten fertig gepackt auf der Veranda gestanden. Die Stimmung war angespannt gewesen, niemand hatte viel gegessen und Tomma war den Tränen nahe gewesen. Und dann hatte es an der Tür geklopft. Drei kurze Schläge, die bis ins Esszimmer laut hallten. Ihr Vater hatte sich geräuspert und alle waren aufgestanden und rasch zur Tür gegangen. Königliche Boten ließ man nicht warten. Ihr Vater hatte vorsichtig die Tür geöffnet und den Boten hineingebeten. Dieser hatte allerdings abgewinkt und gesagt: „Mein Auftrag ist lediglich, Cora Rouven zum Königshof zu bringen. Also Miss Rouven, eine schnelle Verabschiedung bitte.“ Cora hatte nacheinander ihre Mutter Sylvia, ihren Vater Lore und natürlich Tomma gedrückt und ihr Vater hatte gesagt: „Du weißt nicht, wie stolz wir sind! Das ist dein Traum! Genieße ihn!“ Er hatte gelächelt, so wie ihre Mutter und Tomma. Dann hatte der Bote ihre Koffer aufgehoben, sie am Arm genommen und war mit ihr in die Schatten der Nacht verschwunden…Damals war sie 14 gewesen. Nach fast fünf Jahren am Trainingshof verfolgten sie diese Erinnerungen immer noch und trieben ihr fast die Tränen in die Augen. Gott, sie war 19! Cora riss sich zusammen und stieß die Zimmertür auf. Wie erwartet war sie die Erste im Zimmer, Lilith und Betsi trödelten immer und Tory und Sina hatten Generalin M4 (beziehungsweise „Karamell“) am Hals, die immer überzog. Cora atmete tief den vertrauten Duft von Zimmer 4 ein, der zarte Mandelduft von Liliths Parfum, der Kirschduft von Betsis Shampoo und die intensiven Gerüche des Ringelblumenstraußes am Fensterbrett. Alle Betten, außer Coras, waren unordentlich, die Decken hingen halb über die Kanten, zwei Pölster lagen am Boden und Pyjamas waren über Sessellehnen geworfen worden. Cora rollte mit den Augen und ließ sich auf den Sitzsack in der Zimmerecke fallen. Die vier Stunden Portalsprung hatten sie doch mehr angestrengt, als gedacht und die Aussicht auf weitere vier Stunden Runen legen heute Nachmittag waren nicht gerade verlockend. Trotzdem räumte sie so schnell wie möglich alles her und eilte dann hinaus auf den Korridor, den sie entlanglief, bis sie den weitläufigen Speisesaal erreichte. Gierig schnappte sie sich ein Tablet und reihte sich in die Schlange ein. Sie warf einen Blick auf das Menu: Chili con Carne oder Steinpilzrisotto, dazu freiwillig ein gemischter Salat mit Schafskäse und Früchten. Zur Nachspeise entweder Creme Brûlée oder Brownie mit Himbeerragout. Auf einmal stand Betsi neben ihr und grinste sie an. „Du weißt es.“, stellte Cora fest. Auch sie grinste. „Jap! Du hasst es diesem Trottel von 97er gezeigt!“, ihr Lächeln wurde immer breiter. „Aber sowas von! Du hättest sein Gesicht sehen müssen!“ , Cora machte es so gut es ging nach. Betsi kringelte sich vor Lachen. „So doof schaut nicht einmal er drein!“ Sie lachten so laut, dass einige Umstehende sie komisch musterten. Da räusperte sich eine Küchenlady und sie verstummten. Cora blickte sie entschuldigend an und bestellte: „Einmal Chili con Carne mit gemischtem Salat.“ „Nachspeise?“, schnarrte die Dame. Cora winkte ab, doch Betsi stupste sie an: „Komm schon. Gönn dir doch mal was! Zur Feier des Tages, schon vergessen?!“ „Na schön. Aber wir teilen es uns, ok?“ Betsi nickte glücklich und Cora wandte sich seufzend wieder der Frau zu: „Und einen Brownie mit Himbeerragout, bitte.“ Betsi bestellte sich ebenfalls Chili con Carne, jedoch ohne Salat („Viel zu gesund!“), und ein Creme Brûlée und führte sie zu einem Tisch in der Nähe eines der großen Bogenfenster. Sie ließen sich auf die Bänke fallen und begannen gierig zu essen. „Schu hascht ech dieschem Pfoschten gescheigt!“, sagte Betsi mit vollem Mund und Cora musste kichern. Wieder begannen sie haltlos zu lachen, bis jemand Cora von hinten anstupste und sie zusammenschrak. Es war Tory, die Sina und Lilith im Schlepptau hatte: „Hello Guys!“ Betsi nickte ihnen, mit Chili con Carne im Mund, zu und sie setzten sich neben sie auf die Bank. Auch sie begannen gierig zu essen, während Betsi und Cora ihr Mahl fortsetzten. Eine Zeit lang saßen sie schweigend da, bis Lilith einen Blick auf die Uhr warf und erschrocken rief: „Cora! Du musst los! In fünf Minuten beginnt Schatten deuten!!!“ Coras Herz setzte einen Schlag aus und sie sprang auf. Während sie schon durch die Speisesaaltüren stürzte, hörte sie Sina entnervt murmeln: „Ich verstehe immer noch nicht, warum sie sich so viele Kurse antut.“ Cora konnte Sina förmlich sehen, wie sie mit den Augen rollte. Sie sprintete den Korridor entlang und kam schlitternd vor Zimmer 4 an und fummelte den Schlüssel aus der Tasche ihres langen Mantels, der sie warmhielt. Es war Vesperi, der letzte Monat der Schwindezeit und somit stand die Dunkelzeit kurz bevor, die dunkelste und kälteste Jahreszeit. Darauf folgte die Blütezeit, die Jahreszeit, in der alles zu blühen begann und die Welt nach der Dunkelzeit wieder auflebte. Dann kam die Sonnenzeit, die Monate der Wärme und des Glücks. Alles blühte, es gab reiche Ernte, jedoch brachte die Sonnenzeit auch die Vorbereitungen für die Schwindezeit mit sich. Jede Jahreszeit hatte dreieinhalb Monate, somit lag Vesperi schon zur Hälfte in der Dunkelzeit und zeigte auch entsprechende Eigenschaften. Es war kühl, regnerisch, die Sonne ging früh unter und ging spät auf und der Hof in der Mitte des Trainingsflügels war kaum besucht. Meldungen für den Hofdienst gab es selten, die Küche wurde zunehmend suppen- und eintopflastiger. Cora atmete erleichtert auf, als sie in das warme Zimmer trat und sich ihre Bücher für Schatten deuten schnappte. Dann stürzte sie auf den Gang hinaus, schloss das Zimmer ab und eilte auf die Wendeltreppen zu. Sie rannte sie hoch, erster Stock, zweiter Stock, RUMMS! Sie war direkt in einen kleinen Jungen hineingerannt. Er sah jung aus, kaum älter als 15, er musste in seinem ersten oder zweite Jahr sein. Er hatte große, braune Rehaugen, die hinter zwei noch größeren Brillengläsern hervorschauten. Cora murmelte eine Entschuldigung, hob ihre Bücher auf und stürzte weiter den Gang entlang. Sie spürte den Blick des Jungen in ihrem Rücken, bis sie um eine Ecke bog und keuchend vor dem Klassenzimmer für Schatten deuten ankam. Sie stieß die Klassenzimmertür auf und ließ sich auf einen Platz in der ersten Reihe fallen. Der halbe Brownie lag ihr noch schwer im Magen und sie bemühte sich, sie nicht über ihre Schulbücher zu verteilen. Kaum eine Minute später trat Herr Fijel durch die Tür, ein großgewachsener Mann mit dunklem Haar und Bart, einer Nickelbrille, schokobraunen Augen und einem warmen Lächeln. Der Lehrer für Runen legen ging zum Lehrertisch und legte seine Bücher darauf ab. Dann begann er, mit seiner tiefen, ruhigen Stimme zu sprechen: „Meine Lieben, ich wünsche euch einen großartigen Nachmittag! Wie ihr sicher wisst, befinden wir uns in der letzten Prüfungsvorbereitungswoche und es ist bereits Mittwoch. Uns bleiben uns also nur noch zwei Tage, also insgesamt noch neun Stunden, die heutigen mitgezählt, um euch auf die Prüfung des Schattendeutens vorzubereiten. Unser Plan für heute wird sein, dass ich euch alle Prüfungsthemen an die Tafel schreiben werde und ihr werdet selbst entscheiden, bei welchem Thema ihr euch am unsichersten fühlt. Kommt bitte zu mir, wenn ihr euch entschlossen habt, und ich gebe euch die nötigen Übungen! Keine Sorge, wir werden morgen und übermorgen noch genügend Zeit haben, um Themen zu vertiefen und zu Wiederholen.“ Er streckte seine Hand aus und machte eine flüssige Handbewegung, die etwas wie ein Kreis aussah. Dunkler Rauch floss aus seinen Fingerspitzen und tauchte in die reinweiße Schiefertafel ein. Im Schattenreich nannte man das die kleine Schattenmagie. Auf der Oberfläche der Tafel erschienen Worte in dunklem Farbton:
Prüfungsthemen:
Die schwarzen Runen, Die weißen Runen, Die Ursprünge der Runen, Runen nutzen
Cora begann es in den Fingern zu kribbeln. Am liebsten hätte sie alle Themen noch einmal durchgemacht; sie waren einfach so faszinierend! Doch schließlich entschied sie sich für „Runen nutzen“ und eilte vor zu Mr. Fijel. „Ich nehme..“, begann sie, doch er unterbrach sie: „…Runen nutzen.“ Er lächelte und Cora lief ein Schauer über den Rücken. Manchmal kam es ihr so vor, als ob er Gedanken lesen könnte. Er reichte ihr einen Stapel Arbeitsblätter, den sie glücklich entgegennahm und damit zu ihrem Tisch zurückging. Sie holte ihr Runenset hervor und nahm sich das erste Arbeitsblatt vor. Ihre Runen waren aus schwarzem Onyx gemacht, in dem sich goldene Symbole – Runen - befanden. Eifrig begann sie Runen zu legen, auf Arbeitsblätter gemalte Runen zu deuten und ihre Bedeutungen zu studieren. Die Stunden schwanden dahin, so wie ihre Arbeitsblätter und schon bald hatte sie alles durcharbeitet, was Mr. Fijel ihr gegeben hatte. Sie ging zu seinem Pult und er überreichte ihr wortlos einen weiteren Stapel überreicht, diesmal für „die Ursprünge der Runen“. Hierfür holte sie ihre dicken Bücher für Runen legen heraus und begann die, von den Arbeitsblättern vorgegebenen, Texte zu lesen und die Aufgaben dazu auszufüllen. Kaum eine Minute nach dem Vervollständigen ihres letzten Blattes, erklang der laute, durchdringende Ton des Nachmittagsgeläuts. Erleichtert packte Cora ihre Sachen ein, und verließ den Raum. Mr. Fijel winkte ihr zu, bevor sie aus dem Raum schritt und um die Ecke bog, während er in die andere Richtung zu den Gemächern der Lehrer und Lehrerinnen davonging. Sie schlenderte die Treppen hinunter und rechnete fast damit, wieder in den Jungen von vorher hineinzulaufen, doch der erste Stock war leer. Seltsam eigentlich, dass ein Schüler aus der ersten oder zweiten Stufe sich im Lehrergeschoss befand, aber Cora war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie wollte einfach nur in ihr Zimmer und sich ausruhen, ein gutes Buch lesen, bis es Abendessen gab. Wie in Trance trugen ihre Beine sie die Treppen hinunter, den Korridor entlang, bis zu Zimmer 4. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, stieß die Tür auf, warf ihre Sachen von sich und ließ sich ohne ein weiteres Wort ins Bett fallen.
Schüler um Schüler sprang durch die Portale, bis Cora schließlich an der Reihe war. Langsam ging sie zum Anfang des Raumes, zu Generalin M1. Es erfüllte sie mit Genugtuung, als die „Schlange“ ihr eine der schwersten Männerkörpersimulationen übergab. Mit einem Grinsen drehte sie sich in Richtung des Portals und ging in Stellung. Nach einer Weile hob das „Steinchen“ langsam die Hand und Cora sprintete los. Auch wenn sie für ihr Alter eher klein und schlank war, hatte sie ordentliche Muskeln, die sie nun mit einem großen Sprung in das erste Portal beförderten. Sobald die Strömungen des Portals sie erfassten, zog sie sich zu einer Kugel zusammen und hielt die Simulation ausgestreckt vor sich. Sie stellte sich vor, wie es wäre einen echten Menschen ihres Alters so vor sich zu halten. Ein Mensch voller Liebe, so viel Liebe, dass sie das ganze Schattenvolk für ein ganzes Jahr versorgen könnte. Cora sah das zweite Portal auf sie zurasen und machte sich für den Absprung bereit. Im letzten Moment streckte sie sich, soweit sie konnte und schleuderte sich und die Simulation aus dem Portal. In der Luft warf sie die Simulation von sich und drehte sich, sodass sie eine perfekte Landung, direkt vor Generalin M2, vollführte. Ihre Trainingskameraden applaudierten, alle außer dem „97er“ natürlich, und das „Steinchen“ sagte beeindruckt: „Eine Glanzleistung, Miss! Ein neuer Rekord!“ Coras Herz machte einen Sprung. Ein neuer Rekord! Wie unglaublich schön diese Worte aus den schmalen Lippen der Generalin klangen. Als sie zurück zu den anderen ging, warf sie dem „97er“ einen triumphierenden Blick zu, dann wandte sie sich um und reihte sich wieder ein. Die restliche Stunde verging wie im Flug. Zu Coras Enttäuschung kam sie kein weiteres Mal dran, doch irgendwie störte sie das heute weniger, als es das sonst tun würde. Als sie durch die Tür der Trainingshalle in den schmalen Korridor trat, war sie sich sicher: Portalsprung war ihr absolutes Lieblingsfach! Sie würde die kommenden Prüfungen meistern, so wie sie alle bisher gemeistert hatte! Da schritt der „97er“ an ihr vorbei und blaffte: „Hör auf so zu stolzieren! Da kriegt man ja Kopfweh!“ „So wie bei deinen Sprüngen meinst du?“, antwortete sie kalt. Er verdrehte die Augen. „Ja, verdreh nur die Augen! Vielleicht findest du dabei ja dein Gehirn?!“, sagte sie mit gespielter Hoffnung und mit diesen Worten ging sie mit schnellen Schritten davon und lies einen, vor Wut bebenden, Schattenjäger zurück. Sie eilte den Korridor entlang, bis zu Zimmer Nummer 4, an dem ein großes Schild hing:
Hier wohnen die Schattenjägerinnen:
07598
07575
07570
07529
07528
Betsi, Coras beste Freundin am Trainingshof, hasste diese Nummern. Cora mochte sie, da sie ihr einen sicheren Durchblick gaben und für Ordnung sorgten. Die ersten drei Ziffern standen für den Jahrgang, in ihrem Fall also der 75., und die letzten Zwei waren individuell, je nach Rang in eben diesem. In Coras waren 98 Schattenjäger, somit bekam sie, als Jahrgangsbeste, die Zahl 98. Der schlechteste Schattenjäger hatte also 01. Cora zog den kleinen, golden Schlüssel mit dem Kolibri Anhänger, den ihr ihre kleine Schwester Tomma zum Abschied geschenkt hatte, aus der Tasche. Immer wenn es dir zu viel wird, schau diesen Anhänger an und denk an meine Worte: Es gibt immer einen Weg, frei zu sein! Das hatte sie damals zu ihr gesagt. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Coras herzförmige Lippen. Ja, sie vermisste ihr Zuhause, mehr als sie sich jemals hätte träume n lassen, aber sie war glücklich hier, hier gehörte sie her! Sie konnte sich noch ganz genau an den Tag erinnern, als sie abgeholt wurde… Sie war mit ihrer Familie beim Abendessen gesessen, ihre Koffer hatten fertig gepackt auf der Veranda gestanden. Die Stimmung war angespannt gewesen, niemand hatte viel gegessen und Tomma war den Tränen nahe gewesen. Und dann hatte es an der Tür geklopft. Drei kurze Schläge, die bis ins Esszimmer laut hallten. Ihr Vater hatte sich geräuspert und alle waren aufgestanden und rasch zur Tür gegangen. Königliche Boten ließ man nicht warten. Ihr Vater hatte vorsichtig die Tür geöffnet und den Boten hineingebeten. Dieser hatte allerdings abgewinkt und gesagt: „Mein Auftrag ist lediglich, Cora Rouven zum Königshof zu bringen. Also Miss Rouven, eine schnelle Verabschiedung bitte.“ Cora hatte nacheinander ihre Mutter Sylvia, ihren Vater Lore und natürlich Tomma gedrückt und ihr Vater hatte gesagt: „Du weißt nicht, wie stolz wir sind! Das ist dein Traum! Genieße ihn!“ Er hatte gelächelt, so wie ihre Mutter und Tomma. Dann hatte der Bote ihre Koffer aufgehoben, sie am Arm genommen und war mit ihr in die Schatten der Nacht verschwunden…Damals war sie 14 gewesen. Nach fast fünf Jahren am Trainingshof verfolgten sie diese Erinnerungen immer noch und trieben ihr fast die Tränen in die Augen. Gott, sie war 19! Cora riss sich zusammen und stieß die Zimmertür auf. Wie erwartet war sie die Erste im Zimmer, Lilith und Betsi trödelten immer und Tory und Sina hatten Generalin M4 (beziehungsweise „Karamell“) am Hals, die immer überzog. Cora atmete tief den vertrauten Duft von Zimmer 4 ein, der zarte Mandelduft von Liliths Parfum, der Kirschduft von Betsis Shampoo und die intensiven Gerüche des Ringelblumenstraußes am Fensterbrett. Alle Betten, außer Coras, waren unordentlich, die Decken hingen halb über die Kanten, zwei Pölster lagen am Boden und Pyjamas waren über Sessellehnen geworfen worden. Cora rollte mit den Augen und ließ sich auf den Sitzsack in der Zimmerecke fallen. Die vier Stunden Portalsprung hatten sie doch mehr angestrengt, als gedacht und die Aussicht auf weitere vier Stunden Runen legen heute Nachmittag waren nicht gerade verlockend. Trotzdem räumte sie so schnell wie möglich alles her und eilte dann hinaus auf den Korridor, den sie entlanglief, bis sie den weitläufigen Speisesaal erreichte. Gierig schnappte sie sich ein Tablet und reihte sich in die Schlange ein. Sie warf einen Blick auf das Menu: Chili con Carne oder Steinpilzrisotto, dazu freiwillig ein gemischter Salat mit Schafskäse und Früchten. Zur Nachspeise entweder Creme Brûlée oder Brownie mit Himbeerragout. Auf einmal stand Betsi neben ihr und grinste sie an. „Du weißt es.“, stellte Cora fest. Auch sie grinste. „Jap! Du hasst es diesem Trottel von 97er gezeigt!“, ihr Lächeln wurde immer breiter. „Aber sowas von! Du hättest sein Gesicht sehen müssen!“ , Cora machte es so gut es ging nach. Betsi kringelte sich vor Lachen. „So doof schaut nicht einmal er drein!“ Sie lachten so laut, dass einige Umstehende sie komisch musterten. Da räusperte sich eine Küchenlady und sie verstummten. Cora blickte sie entschuldigend an und bestellte: „Einmal Chili con Carne mit gemischtem Salat.“ „Nachspeise?“, schnarrte die Dame. Cora winkte ab, doch Betsi stupste sie an: „Komm schon. Gönn dir doch mal was! Zur Feier des Tages, schon vergessen?!“ „Na schön. Aber wir teilen es uns, ok?“ Betsi nickte glücklich und Cora wandte sich seufzend wieder der Frau zu: „Und einen Brownie mit Himbeerragout, bitte.“ Betsi bestellte sich ebenfalls Chili con Carne, jedoch ohne Salat („Viel zu gesund!“), und ein Creme Brûlée und führte sie zu einem Tisch in der Nähe eines der großen Bogenfenster. Sie ließen sich auf die Bänke fallen und begannen gierig zu essen. „Schu hascht ech dieschem Pfoschten gescheigt!“, sagte Betsi mit vollem Mund und Cora musste kichern. Wieder begannen sie haltlos zu lachen, bis jemand Cora von hinten anstupste und sie zusammenschrak. Es war Tory, die Sina und Lilith im Schlepptau hatte: „Hello Guys!“ Betsi nickte ihnen, mit Chili con Carne im Mund, zu und sie setzten sich neben sie auf die Bank. Auch sie begannen gierig zu essen, während Betsi und Cora ihr Mahl fortsetzten. Eine Zeit lang saßen sie schweigend da, bis Lilith einen Blick auf die Uhr warf und erschrocken rief: „Cora! Du musst los! In fünf Minuten beginnt Schatten deuten!!!“ Coras Herz setzte einen Schlag aus und sie sprang auf. Während sie schon durch die Speisesaaltüren stürzte, hörte sie Sina entnervt murmeln: „Ich verstehe immer noch nicht, warum sie sich so viele Kurse antut.“ Cora konnte Sina förmlich sehen, wie sie mit den Augen rollte. Sie sprintete den Korridor entlang und kam schlitternd vor Zimmer 4 an und fummelte den Schlüssel aus der Tasche ihres langen Mantels, der sie warmhielt. Es war Vesperi, der letzte Monat der Schwindezeit und somit stand die Dunkelzeit kurz bevor, die dunkelste und kälteste Jahreszeit. Darauf folgte die Blütezeit, die Jahreszeit, in der alles zu blühen begann und die Welt nach der Dunkelzeit wieder auflebte. Dann kam die Sonnenzeit, die Monate der Wärme und des Glücks. Alles blühte, es gab reiche Ernte, jedoch brachte die Sonnenzeit auch die Vorbereitungen für die Schwindezeit mit sich. Jede Jahreszeit hatte dreieinhalb Monate, somit lag Vesperi schon zur Hälfte in der Dunkelzeit und zeigte auch entsprechende Eigenschaften. Es war kühl, regnerisch, die Sonne ging früh unter und ging spät auf und der Hof in der Mitte des Trainingsflügels war kaum besucht. Meldungen für den Hofdienst gab es selten, die Küche wurde zunehmend suppen- und eintopflastiger. Cora atmete erleichtert auf, als sie in das warme Zimmer trat und sich ihre Bücher für Schatten deuten schnappte. Dann stürzte sie auf den Gang hinaus, schloss das Zimmer ab und eilte auf die Wendeltreppen zu. Sie rannte sie hoch, erster Stock, zweiter Stock, RUMMS! Sie war direkt in einen kleinen Jungen hineingerannt. Er sah jung aus, kaum älter als 15, er musste in seinem ersten oder zweite Jahr sein. Er hatte große, braune Rehaugen, die hinter zwei noch größeren Brillengläsern hervorschauten. Cora murmelte eine Entschuldigung, hob ihre Bücher auf und stürzte weiter den Gang entlang. Sie spürte den Blick des Jungen in ihrem Rücken, bis sie um eine Ecke bog und keuchend vor dem Klassenzimmer für Schatten deuten ankam. Sie stieß die Klassenzimmertür auf und ließ sich auf einen Platz in der ersten Reihe fallen. Der halbe Brownie lag ihr noch schwer im Magen und sie bemühte sich, sie nicht über ihre Schulbücher zu verteilen. Kaum eine Minute später trat Herr Fijel durch die Tür, ein großgewachsener Mann mit dunklem Haar und Bart, einer Nickelbrille, schokobraunen Augen und einem warmen Lächeln. Der Lehrer für Runen legen ging zum Lehrertisch und legte seine Bücher darauf ab. Dann begann er, mit seiner tiefen, ruhigen Stimme zu sprechen: „Meine Lieben, ich wünsche euch einen großartigen Nachmittag! Wie ihr sicher wisst, befinden wir uns in der letzten Prüfungsvorbereitungswoche und es ist bereits Mittwoch. Uns bleiben uns also nur noch zwei Tage, also insgesamt noch neun Stunden, die heutigen mitgezählt, um euch auf die Prüfung des Schattendeutens vorzubereiten. Unser Plan für heute wird sein, dass ich euch alle Prüfungsthemen an die Tafel schreiben werde und ihr werdet selbst entscheiden, bei welchem Thema ihr euch am unsichersten fühlt. Kommt bitte zu mir, wenn ihr euch entschlossen habt, und ich gebe euch die nötigen Übungen! Keine Sorge, wir werden morgen und übermorgen noch genügend Zeit haben, um Themen zu vertiefen und zu Wiederholen.“ Er streckte seine Hand aus und machte eine flüssige Handbewegung, die etwas wie ein Kreis aussah. Dunkler Rauch floss aus seinen Fingerspitzen und tauchte in die reinweiße Schiefertafel ein. Im Schattenreich nannte man das die kleine Schattenmagie. Auf der Oberfläche der Tafel erschienen Worte in dunklem Farbton:
Prüfungsthemen:
Die schwarzen Runen, Die weißen Runen, Die Ursprünge der Runen, Runen nutzen
Cora begann es in den Fingern zu kribbeln. Am liebsten hätte sie alle Themen noch einmal durchgemacht; sie waren einfach so faszinierend! Doch schließlich entschied sie sich für „Runen nutzen“ und eilte vor zu Mr. Fijel. „Ich nehme..“, begann sie, doch er unterbrach sie: „…Runen nutzen.“ Er lächelte und Cora lief ein Schauer über den Rücken. Manchmal kam es ihr so vor, als ob er Gedanken lesen könnte. Er reichte ihr einen Stapel Arbeitsblätter, den sie glücklich entgegennahm und damit zu ihrem Tisch zurückging. Sie holte ihr Runenset hervor und nahm sich das erste Arbeitsblatt vor. Ihre Runen waren aus schwarzem Onyx gemacht, in dem sich goldene Symbole – Runen - befanden. Eifrig begann sie Runen zu legen, auf Arbeitsblätter gemalte Runen zu deuten und ihre Bedeutungen zu studieren. Die Stunden schwanden dahin, so wie ihre Arbeitsblätter und schon bald hatte sie alles durcharbeitet, was Mr. Fijel ihr gegeben hatte. Sie ging zu seinem Pult und er überreichte ihr wortlos einen weiteren Stapel überreicht, diesmal für „die Ursprünge der Runen“. Hierfür holte sie ihre dicken Bücher für Runen legen heraus und begann die, von den Arbeitsblättern vorgegebenen, Texte zu lesen und die Aufgaben dazu auszufüllen. Kaum eine Minute nach dem Vervollständigen ihres letzten Blattes, erklang der laute, durchdringende Ton des Nachmittagsgeläuts. Erleichtert packte Cora ihre Sachen ein, und verließ den Raum. Mr. Fijel winkte ihr zu, bevor sie aus dem Raum schritt und um die Ecke bog, während er in die andere Richtung zu den Gemächern der Lehrer und Lehrerinnen davonging. Sie schlenderte die Treppen hinunter und rechnete fast damit, wieder in den Jungen von vorher hineinzulaufen, doch der erste Stock war leer. Seltsam eigentlich, dass ein Schüler aus der ersten oder zweiten Stufe sich im Lehrergeschoss befand, aber Cora war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie wollte einfach nur in ihr Zimmer und sich ausruhen, ein gutes Buch lesen, bis es Abendessen gab. Wie in Trance trugen ihre Beine sie die Treppen hinunter, den Korridor entlang, bis zu Zimmer 4. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, stieß die Tür auf, warf ihre Sachen von sich und ließ sich ohne ein weiteres Wort ins Bett fallen.