Fürchte Dich Nicht
von MC Appetizer
Kurzbeschreibung
Jessica ist alles andere als glücklich. Sie findet weder Sinn noch Sicherheit in ihrem Leben, obwohl sie sich viele marternde Gedanken um sich und die Welt um sie herum macht. Eines Tages trifft sie auf die freundliche Charlotte, eine gläubige Christin, und kommt mit ihr ins Gespräch. Jessica fragt Charlotte Löcher in den Bauch und gemütlich beisammensitzend durchstreifen sie zusammen den christlichen Glauben. [Hinweis: Manche Textstellen sind fett hervorgehoben. Zu diesen Stellen finden sich für Interessierte weiterführende Informationen (Quellenangaben etc.) auf meiner Webseite (siehe Profil). Man kann der Geschichte aber auch gut ohne diese zusätzlichen Infos folgen.]
GeschichteAllgemein / P16 / Gen
07.01.2023
28.05.2023
10
30.174
15.01.2023
3.359
„Ich … das ist … ähm …“
Jessica wusste nicht recht, was sie antworten sollte. Meinte das Mädchen das ernst?
„Sorry, ich wollte dich nicht verschrecken“, sagte die vor ihr Stehende, „Aber du wirkst ziemlich mitgenommen und ich dachte, vielleicht brauchst du jemanden zum Reden.“
„Ich … ich weiß nicht, ob ich das brauche“, brachte Jessica hervor. Ihre Stimme zitterte, aber sie bemühte sich, einigermaßen gefasst zu klingen. Ihr war die Situation ein wenig peinlich. Bis eben war es ihr noch egal gewesen, ob jemand sie hier traurig sitzen sah, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand sie ansprach. Und schon gar nicht mit einem solchen Angebot.
„Wenn ich dich lieber alleine lassen soll, dann kannst du’s ruhig sagen, ich dachte nur …“, das Mädchen machte eine Pause, „Ich dachte nur, ich frage mal nach.“
„Ist schon okay“, sagte Jessica freundlich und nickte zur Bestätigung.
Warum denn das Angebot nicht annehmen? Neinsagen war immer das einfachste, aber nicht immer das Beste.
„Ähm … wenn du das ernst meinst, dann…“
Sie nickte zur leeren Sitzfläche neben sich.
„Klar mein ich das ernst!“, sagte das Mädchen und nahm neben Jessica Platz. Ihr Lächeln war wirklich ansteckend, aber im Moment konnte sich Jessica nicht dafür erwärmen, es zu erwidern. Ihre Stimmung war gerade nicht gut genug. Außerdem war sie noch immer nicht sicher, ob sie wirklich reden wollte, noch dazu mit jemandem, den sie gar nicht kannte.
Jessica wandte ihren Blick nach links zu dem Mädchen, das sich im Schneidersitz auf die Bank gesetzt hatte und sie freundlich ansah.
„Ich bin Charlotte“, sagte die neu Angekommene und reichte Jessica die Hand. Jessica ergriff diese. Charlottes Händedruck war ernst gemeint und nicht so lasch wie ihr eigener.
„Ich heiße Jessica. Ich … ähm … habe dich schon zwei, drei Mal gesehen. Du wohnst hier in der Nähe, oder?“
„Ja, in der Nähe. In grober Nähe“, antwortete Charlotte und nickte leicht, „Nicht hier, bei den ganzen neuen Häusern, aber so weit ist es nicht von hier weg. Und du?“
„Wir sind hierhergezogen“, antwortete Jessica, „Meine Familie und ich. Wir wohnen ein paar Straßen weiter.“
Inzwischen klang Jessicas Stimme wieder einigermaßen normal.
„Wegen eben“, begann Charlotte vorsichtig, „Ich hab das ernst gemeint. Also, wenn du über etwas reden willst, dann … würde ich dir zuhören. Also, nur, wenn du überhaupt mit mir reden möchtest.“
Jessica war Charlotte nicht allein dafür dankbar, dass sie das offenbar wirklich ernst meinte, sondern auch deshalb, weil sie selbst bereits durch dieses kurze Gespräch aus dem Fokus verlor, worüber sie eben nachgedacht hatte. Was der vielen Dinge, die sie runterzogen, es diesmal gewesen war. Klar, nachher daheim oder bloß auf dem Weg dorthin dürfte es ihr wieder einfallen – oder ein gleichwertiges oder noch anstrengenderes Thema würde sich in ihrem Kopf breitmachen, aber für jetzt hatte sie mal Ruhe. Das war etwas durch und durch Positives. Allein dafür hatte Charlotte ihren Dank verdient. Und ihre Aufmerksamkeit.
„Ich … also …“, begann Jessica unsicher. Dann verstummte sie. Erst Denken, dann Reden. Hatte ja gut geklappt mit dem Fortführen der Konversation.
Schließlich wurde doch noch ein Satz daraus:
„Ich finde es irgendwie … cool, dass du mich angesprochen hast. Ich meine – die meisten Leute hätten mich wahrscheinlich … na ja, halt … nicht angesprochen.“
„Ja, das stimmt wohl“, sagte Charlotte nachdenklich, „Aber ich dachte mir: Warum nicht? Du kannst doch nichts verlieren. Und vielleicht helfen.“
„So denken nicht viele“, kommentierte Jessica und fügte hinzu, „Ich wäre vermutlich auch einfach weitergegangen.“
„Noch weißt du ja gar nicht, ob es was genutzt hat, oder?“, fragte Charlotte und schmunzelte, „Vielleicht wünschst du dir ja im Nachhinein, ich wäre auch einfach weitergegangen.“
„Nein, du hast schon was erreicht.“
„Ich hab dich aus deinen Gedanken gerissen.“
„Ja“, bestätigte Jessica, „Genau. Das kann dir schon mal keiner mehr nehmen. Das war definitiv gut.“
„Was bedrückt dich denn so sehr, dass du weinen musst?“, fragte Charlotte und Jessica wunderte sich, dass die Art, auf die Charlotte die Frage formulierte, sie innerlich berührte. So hätte auch ihre Mutter die Frage formulieren können, ziemlich persönlich, ziemlich – nah. Viel näher, direkter, als Jessica sie formuliert hätte, aber es kam ihr nicht unangenehm vor. Zu Charlotte passte es irgendwie, sie hatte eine aus dem tiefsten Inneren kommende Fröhlichkeit, vor der sich vermutlich jeder normale Mensch anspornen ließe. Hoffentlich gab Charlotte nicht nach ein paar frustrierenden Minuten auf, wenn ihre Energie Jessica so überhaupt nicht befeuern konnte – das läge dann wohl in der Natur der Sache.
„Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen soll“, begann Jessica und fügte direkt hinzu, nur um Missverständnisse zu vermeiden:
„Das heißt nicht, dass ich es dir nicht erzählen will, weil ich dir … keine Ahnung, nicht traue, oder so, nein, aber …“
„Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst. Egal, aus welchem Grund du das nicht willst“, sagte Charlotte.
„Es hört sich einfach nur … ziemlich blöd an. Und altbacken. Und außerdem – kann ich es selbst nicht so recht benennen. Ich versuche es trotzdem. Nur noch ein Kommentar meinerseits. Ich habe gerade gedacht: Von deiner Sorte müsste es echt mehr auf der Welt geben.“
„Ich hab doch noch gar nichts Richtiges gemacht!“, versuchte sich Charlotte lächelnd zu rechtfertigen und schüttelte sachte den Kopf, aber Jessica intervenierte:
„Also, allein damit, was du bisher gemacht hast, hast du schon meinen Tag verschönert. Da brauchen andere deutlich mehr Zeit und Aufwand für. Danke.“
„Sehr gerne“, sagte Charlotte.
Jessica seufzte.
„Also gut, ich kann mal versuchen, es irgendwie in Worte zu fassen. Ich bin wahrscheinlich ziemlich blöd, wenn ich diese Probleme habe, aber ich mache mir immer eine ganze Menge Gedanken über alles Mögliche. Ich hinterfrage viel von dem, was ich tue, was meine Mitmenschen machen, was auf der Welt passiert – halt irgendwie alles, was man so hinterfragen kann. Ich zweifle oft an mir, an dem, was für das eigene Leben wirklich von Bedeutung ist. So Dinge halt. Das ganze Programm. Und ich habe Angst, dass … ja, keine Ahnung, dass ich irgendwie mein Leben falsch lebe. Dass ich alles falsch mache. Dass ich einfach nur so dahinlebe, aber eigentlich … ich weiß auch nicht, mir scheint einfach alles irgendwie sinnlos. Kannst du das nachvollziehen?“
„Ja“, antwortete Charlotte, kurz und knapp, aber Jessica konnte unmittelbar erkennen, dass sie es wirklich nachvollziehen konnte und es sich nicht um eine leere Behauptung handelte.
„Und, ja…“, fuhr Jessica fort, machte eine kurze Pause und überlegte, was es noch hinzuzufügen gab, „… ja, keine Ahnung, ich sehe halt in gar nichts Sinn. Und ich habe keine Ziele im Leben. Und ich denke mich an allem kaputt. Das ist halt … eine ungesunde Mischung, um es mal so zu sagen.“
Jessica seufzte abermals.
„Wenn das so ist, dann wundert es mich nicht, dass du traurig bist. Das klingt wirklich schlimm.“
Jessica zuckte mit den Schultern und fügte ihrer Schilderung noch hinzu:
„Und dann kommen immer noch so Gedanken wie: Ja, aber warum machen sich denn die anderen Leute nicht solche Gedanken? Warum leben die ihr Leben einfach und nur du machst dir so einen Kopf wegen – ja, wegen allem halt! Und ich habe inzwischen wegen diesem ganzen Nachgedenke und dem Sorgenmachen eine fast unterirdische Laune. Ich habe manchmal die Sorge, dass ich gar nicht mehr glücklich werden kann, weil mir inzwischen die Übung darin fehlt. Ja, das klingt vielleicht blöd, aber manchmal denke ich mir das. Meine Eltern machen sich oft Sorgen um mich. Ich würde am liebsten mit diesem ganzen Grübeln aufhören und einfach leben. Was ginge es mir dann so gut!“
„Du bist ganz schön wütend, dass es so ist, oder?“, fragte Charlotte.
„Ja. Manchmal schon. Es geht mir echt gegen den Strich.“
Charlotte nickte und wirkte nachdenklich.
Dann sagte sie:
„Ich glaube, dass sich nur wenige Leute so weitreichende Gedanken machen wie du, in dieser Häufigkeit.“
„Wahrscheinlich. Und sie haben doch Recht damit! Ihnen geht es deutlich besser als mir. Das bringt einem also das doch ach so tolle Nachdenken über Dinge. Dass man nicht mehr kann!“
„Wie fühlst du dich jetzt gerade?“, fragte Charlotte und allein diese Worte hatten eine beruhigende Wirkung auf Jessica. Ihre Stimme klang wieder sanfter, als sie wahrheitsgemäß antwortete:
„Besser als vorher. Dank dir.“
„Wie lange denkst du denn schon so gewissenhaft über Dinge nach?“
„Das ist schon länger her. Aber die negativen Effekte davon werden im Moment immer stärker. Die Erschöpfung, immer dieses Resignieren, dieses Ach-das-wird-doch-eh-nichts-mit-dir. Und dass ich Angst habe.“
„Entschuldige, wenn ich nochmal genau nachfrage, Jessica, aber: Wovor genau hast du Angst?“
Jessica überlegte kurz, um die richtigen Worte zu finden.
„Ich fühle mich ein bisschen wie auf die Welt geworfen, ohne zu wissen, was ich hier soll. Und ich habe einfach Angst, dass ich mein Leben lebe und dabei was Wichtiges übersehe. Dass ich einfach … ja, ohne ein stimmiges Konzept einfach vor mich hin lebe und dann sterbe. Ich weiß nicht, es ist schwierig, das zu formulieren. Verstehst du es so ungefähr?“
„Hm…“, machte Charlotte, „Also, kann man sagen, du suchst nach dem Sinn des Lebens und hast Angst, dass du ihn nicht findest?“
„Also … ja. Ganz genau.“
„Puh! Kein Wunder, dass du so mitgenommen bist. Das ist ja auch kein leichtes Thema.“
Jessica nickte kraftlos und blickte auf den Boden neben der Bank.
„Und … ich meine, ich kann mich auch irren, so ist es nicht“, begann Jessica vorsichtig, „aber mein Eindruck ist, dass ich so ziemlich die Einzige bin, die sich wegen solchen Überlegungen kaputtmacht. Wahrscheinlich kann man das so auch wieder nicht sagen, aber … du begegnest vermutlich nicht jeden Tag so Leuten wie mir, die hier auf einer Bank sitzen und es nicht schaffen, sich über echte Probleme Gedanken zu machen, aber dafür an so einem Mist scheitern.“
„Du hast insofern recht“, begann Charlotte, „als dass ich in der Tat nicht andauernd Menschen wie dir begegnete. Aber ich muss dir widersprechen, wenn du sagst, dass die Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens und allem, was dazu gehört, Mist ist.“
Jessica hob ihren Blick wieder an und schaute in Charlottes freundliche Augen.
„Weißt du, inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher“, sagte sie und bevor Charlotte nachfragen konnte, ließ sie eine Erklärung folgen:
„Ich merke nur, wie mich das ganze Herumüberlegen kraftlos macht. Ich meine, dass es mich unglücklich macht, ist das eine, aber ich habe auch oft Kopfschmerzen. Ich bin manchmal abends todmüde, obwohl ich effektiv nichts gemacht habe, nur eben – mir selbst Sorgen. Das ist doch bescheuert! Ich komme mir manchmal vor wie Faust, der – du kennst Faust, oder?“
Charlotte nickte.
„Sorry, wollte nur auf Nummer sicher gehen. Jedenfalls hat der doch auch was weiß ich was studiert und sich mit allem ganz intensiv befasst und am Ende sitzt er da rum und kann nicht mehr. So fühle ich mich auch manchmal. Ich kann einfach nicht mehr. Aber ich habe auch Angst, all meine Überlegungen, all das sein zu lassen, weil es … ja, keine Ahnung. Weil ich es doch irgendwie wichtig finde.“
„Ich kann verstehen, dass dich das sehr mitnimmt“, sagte Charlotte nach einer Weile, „Du hast Angst davor, dass du irgendwas Großes in deinem Leben übersiehst, dass du den Sinn hinter allem nicht findest, nicht erkennst. Und daher machst du dir Gedanken. Du spürst in dich hinein. Du hältst dich eher zurück und beobachtest das Leben, in der Hoffnung, dass sich ein Sinn zeigt. Und du versuchst, dadurch, dass du dir über alles nur Erdenkliche Gedanken machst, eine Antwort zu finden. Für dich. Eine, die dir etwas gibt.“
Jessica ließ die Worte einen Moment lang in ihrem Kopf widerhallen. Dann nickte sie zustimmend.
„Ich glaube, dass du dir den Sinn des Lebens nicht durch Grübeln erschließen kannst“, sagte Charlotte, „Das kann niemand. Das heißt nicht, dass du nicht clever bist. Ich glaube, so etwas ist einfach generell nicht möglich.“
„Hm…“, machte Jessica nachdenklich. In ihrem Kopf formte sich eine Frage, die sie Charlotte eben schon stellen wollte.
„Du musst mir da drauf keine Antwort geben, aber – ich habe ja eben groß getönt, niemand außer mir macht sich so großartig Gedanken. Darf ich dich fragen, was – deine Antwort auf diese großen Fragen ist? Ich meine, wenn du eine hast? Wie gehst du mit so was um?“
„Klar darfst du das fragen. Ich antworte dir auch gerne darauf. Aber meine Antwort ist sehr subjektiv.“
„Das ist bei Menschen nun einmal so.“
Charlotte schmunzelte.
Dann sagte sie:
„Ich bin Christin. Ich glaube an einen liebenden Gott, der mich geschaffen hat. Und ich versuche, die Antworten auf das, was du eben die ‚großen Fragen‘ genannt hast, auf dieser Basis zu beantworten.“
Jessica war gleichermaßen beeindruckt wie verwundert.
„Das klingt, als wärst du von diesem Glauben ziemlich überzeugt.“
„Ziemlich, ja. Aber mit Sicherheit gibt es noch fester Überzeugtere als mich.“
„Ich weiß nicht … irgendwie …“
Jessica dachte nach.
„Irgendwie freut mich das für dich“, brachte Jessica schließlich hervor, „Ich meine, dass du so fest an einen Gott glauben kannst. Ich könnte das vermutlich nicht. Ich bin konfirmiert worden und all das, aber im Moment – spielt Gott keine große Rolle in meinem Leben. Aber wenn du so überzeugt bist von diesem Glauben, dann hilft dir das sicher bei vielen Unsicherheiten. Das kann ich mir gut vorstellen. Mir fehlt dafür einfach die Überzeugtheit.“
„Ich glaube nicht, dass man felsenfest überzeugt sein muss“, sagte Charlotte, „Für mich heißt Glauben jedenfalls nicht, dass ich jederzeit hundertprozentig der Ansicht bin, auf alle Glaubensfragen die richtigen Antworten zu haben. Und vor allem sind Zweifel ganz normal.“
„Zweifel sind normal? Bist du dir da sicher?“, fragte Jessica, „Aber wie soll das denn dann funktionieren, mit dem Glauben? Ich bin ja, wie gesagt, mal konfirmiert worden und da habe ich mich jede Woche brav zum Konfirmationsunterricht begeben. Und habe mich jedes Mal gefragt, als der Pfarrer uns was erzählt hat: Ist das alles tatsächlich so? Gibt es Gott überhaupt wirklich? Und was genau war denn das mit Jesus? Man hat uns viel erzählt, aber letzten Endes musst du halt dran glauben oder du lässt es bleiben, oder? Und – warum sollte ausgerechnet das Christentum Recht haben, warum nicht der Islam oder der Buddhismus oder irgendetwas komplett anderes, das noch keiner auf dem Schirm hat?“
Jessica kam der Gedanke, dass sie Charlotte mit diesen Worten eventuell ungewollt auf den Schlips trat, doch ihre Gesprächspartnerin saß ihr noch immer neugierig und mit freundlich leuchtenden Augen gegenüber. Eigentlich erstaunlich. Jessica hätte vermutlich schon vor einer ganzen Weile kapituliert und sich einfach die ganze Mühe, mit einem Menschen wie ihr selbst zu sprechen, noch dazu über solche hochtrabenden Themen, nicht gemacht.
„Versteh mich nicht falsch“, fügte Jessica sicherheitshalber hinzu, „Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass du an Gott glaubst. Ich würde das auch gerne können, aber ich kann in meinem Kopf keinen Schalter umlegen und dann bin ich überzeugt, dass es Gott gibt. Leider. Wenn ich so einen Schalter hätte, wäre mein Leben vermutlich zumindest angenehmer. Ich bin nicht aus dem Grund in den Konfirmandenunterricht gegangen, weil es, sobald man’s hinter sich hat, eine Menge Kohle gibt. Ich hatte gehofft, dass mir das echt was bringt. Aber irgendwie … na ja, hat es das wohl nicht.“
„Ich habe so einen Schalter auch nicht“, sagte Charlotte, „Aber ich habe den Eindruck, einige Dinge, die den Glauben an Gott angehen, möglicherweise anders zu sehen als du.“
„Wie meinst du das, ‚anders‘?“
„Ich meine die prinzipielle Herangehensweise. Das mit dem hundertprozentigen Überzeugt-Sein zum Beispiel. Aber dass der Konfirmandenunterricht einem nicht immer etwas gibt, weiß ich auch nur zu gut aus Erfahrung.“
Dank Charlotte hatte Jessica bereits eine gute Viertelstunde lang keine nervigen Gedanken mehr um sich herum gehabt. Das war super. Und man konnte gut mit Charlotte reden.
Nur: Bald sollte sie wieder nach Hause gehen, teils ihren Eltern, teils ihrem schlechten Gewissen ihren Eltern gegenüber zuliebe – doch im Moment wünschte sie sich, sie hätte noch länger Zeit.
Jessica fand es interessant, wirklich interessant, mit jemandem zu sprechen, der von etwas stark überzeugt war – für sie erschien jede tiefgehende Überzeugung als etwas völlig Utopisches.
Klar setzte so was, wenn man es denn wirklich hatte, einen Schlussstrich unter viele Unsicherheiten.
Aber dann war da noch die Frage, welchen man denn nahm, welchen Schlussstrich. Charlotte war Christin, aber was qualifizierte diese Entscheidung denn nun mehr als andere? War es nicht ein bisschen wie Würfeln, wenn man sich für eine Weltanschauung entschied? Falls man sich denn entscheiden konnte, ihr fiel das ja recht schwer.
Aber Charlotte faszinierte sie. Ihre Art, ihre Fröhlichkeit. Ihr Wesen. Dass sie so durch und durch hinter ihrer Sache zu stehen schien und dass man dennoch keine Angst haben musste, mit malträtierenden Mahnworten bombardiert zu werden, die besagten, dass man sich diesem Glauben nun auch anzuschließen habe. Ihr Eindruck war manchmal: Entweder die Menschen glaubten an gar nichts oder sie glaubten zu vehement an etwas und dann wurde es für andere Ansichten eng.
Charlotte wirkte glücklich, irgendwie ausgeglichen und sie hatte offenbar in etwas Halt gefunden, das Jessica möglicherweise nicht auf die Art verstand, wie das Mädchen vor ihr es tat. Und das machte Jessica neugierig.
„Ähm … ich habe eine Frage, Charlotte…“, begann sie zögerlich.
„Nur raus damit!“
„Ähm – also, erstmal noch danke, dass du dich überhaupt mit mir abgibst. Ich wollte fragen, ob du dir vielleicht vorstellen könntest … hm …“
Klang das jetzt merkwürdig? Andererseits, wenn Charlotte der Rest von Merkwürdigkeiten, den Jessica ausgesprochen hatte, nicht schon schreiend hatte davonlaufen lassen, dann sollte es auf diese Frage auch nicht mehr ankommen.
„Also“, sprach Jessica aus, sicher, dass sie die Frage letzten Endes stellen würde, doch sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen.
„Ähm … ich wollte nur kurz sagen, dass ich bei Gelegenheit heimmuss. Ist nicht böse gemeint und ich will aktuell auch gar nicht gehen, nur – ich war eigentlich schon zu spät dran, als ich mich hierhin gesetzt habe. Aber ich … ich weiß nicht, ich finde es irgendwie gut, mit dir zu sprechen. Und ich finde das interessant, was du eben gesagt hast. Zum Glauben.“
Charlotte lächelte freundlich.
„Mir gefällt es auch, mit dir zu reden. Du bist so offen und … ja, man merkt richtig, dass es dich interessiert, was ich sage. Den Eindruck habe ich nicht bei jedem.“
Jessica dachte zurück an die Zeit, in der sie noch mit einem Duzend anderer im Konfirmationsunterricht gesessen hatte. Bisher hatte sie sich oft in diese Situation zurückversetzt gefühlt, wenn sie sich Gedanken machte bezüglich des Christentums, Gott, Jesus, des Heiligen Geists, Engeln, und allem, was noch so zum Gesamtpaket Glauben gehörte. Ja, sie hatte damals wirklich gehofft, dass ihr der Unterricht etwas gab, etwas vermittelte. Etwas für das Leben mit auf den Weg gab. Retrospektiv hatte sie nicht den Eindruck, dass sie wirklich etwas von damals mitgenommen hatte. Überhaupt schien ihr das Thema, nicht zuletzt wegen des Religionsunterrichts am Gymnasium, eine von ihr eher grob gefühlte als tatsächlich genau verstandene Angelegenheit zu sein.
Sie fragte jetzt einfach.
„Charlotte, hast du vielleicht morgen Zeit? Ich dachte, vielleicht kannst du mir ein bisschen erzählen, was dieser Glauben so mit dir macht, was er für dich bedeutet. Ich … ich muss sagen, das würde mich wirklich interessieren. Du hast da was für dich gefunden, was ich in ähnlicher Form … ja, halt irgendwie nicht für mich entdecken konnte. Aber du faszinierst mich.“
„Wirklich?“, fragte Charlotte verwundert.
„Ja, wirklich! Ich bin wirklich neugierig. Und allein das ist schon verwunderlich. Ich bin sonst eher … verschlossen. Vor … allem. Sicherheitshalber.“
Jessica ertappte sich bei einem Grinsen, dann sagte sie:
„Bitte tu mir den Gefallen und hab morgen Zeit!“
„Morgen ist Samstag, also Wochenende. Da hab ich Zeit, ja.“
„Wenn du jetzt noch Interesse daran hast, haben wir einen Deal!“
„Soll ich dir was sagen?“, fragte Charlotte und schob ihrer Frage dann die zugehörige Aussage nach:
„Ich kann mir das sehr cool vorstellen, mit dir morgen mal ein bisschen zu quatschen. Ich finde es toll, dass du mir so viel Vertrauen entgegenbringst. Und ich bin gespannt, was da morgen bei rumkommt, für dich und für mich!“
„Klasse!“
Später, auf dem Weg nach Hause, fragte Jessica sich, was sie mehr verwundern sollte:
Dass sie es tatsächlich innerhalb so kurzer Zeit geschafft hatte, einen anderen Menschen kennenzulernen, wenn auch nicht ganz ohne Mithilfe ebendieses Menschen – oder, dass sie sich für diesen Moment tatsächlich aus dem Grund freute, dass morgen noch ein weiterer Tag kam. Hoffentlich hielt die positive Stimmung, die sie gerade hatte, zumindest noch ein Weilchen an.
Jessica wusste nicht recht, was sie antworten sollte. Meinte das Mädchen das ernst?
„Sorry, ich wollte dich nicht verschrecken“, sagte die vor ihr Stehende, „Aber du wirkst ziemlich mitgenommen und ich dachte, vielleicht brauchst du jemanden zum Reden.“
„Ich … ich weiß nicht, ob ich das brauche“, brachte Jessica hervor. Ihre Stimme zitterte, aber sie bemühte sich, einigermaßen gefasst zu klingen. Ihr war die Situation ein wenig peinlich. Bis eben war es ihr noch egal gewesen, ob jemand sie hier traurig sitzen sah, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand sie ansprach. Und schon gar nicht mit einem solchen Angebot.
„Wenn ich dich lieber alleine lassen soll, dann kannst du’s ruhig sagen, ich dachte nur …“, das Mädchen machte eine Pause, „Ich dachte nur, ich frage mal nach.“
„Ist schon okay“, sagte Jessica freundlich und nickte zur Bestätigung.
Warum denn das Angebot nicht annehmen? Neinsagen war immer das einfachste, aber nicht immer das Beste.
„Ähm … wenn du das ernst meinst, dann…“
Sie nickte zur leeren Sitzfläche neben sich.
„Klar mein ich das ernst!“, sagte das Mädchen und nahm neben Jessica Platz. Ihr Lächeln war wirklich ansteckend, aber im Moment konnte sich Jessica nicht dafür erwärmen, es zu erwidern. Ihre Stimmung war gerade nicht gut genug. Außerdem war sie noch immer nicht sicher, ob sie wirklich reden wollte, noch dazu mit jemandem, den sie gar nicht kannte.
Jessica wandte ihren Blick nach links zu dem Mädchen, das sich im Schneidersitz auf die Bank gesetzt hatte und sie freundlich ansah.
„Ich bin Charlotte“, sagte die neu Angekommene und reichte Jessica die Hand. Jessica ergriff diese. Charlottes Händedruck war ernst gemeint und nicht so lasch wie ihr eigener.
„Ich heiße Jessica. Ich … ähm … habe dich schon zwei, drei Mal gesehen. Du wohnst hier in der Nähe, oder?“
„Ja, in der Nähe. In grober Nähe“, antwortete Charlotte und nickte leicht, „Nicht hier, bei den ganzen neuen Häusern, aber so weit ist es nicht von hier weg. Und du?“
„Wir sind hierhergezogen“, antwortete Jessica, „Meine Familie und ich. Wir wohnen ein paar Straßen weiter.“
Inzwischen klang Jessicas Stimme wieder einigermaßen normal.
„Wegen eben“, begann Charlotte vorsichtig, „Ich hab das ernst gemeint. Also, wenn du über etwas reden willst, dann … würde ich dir zuhören. Also, nur, wenn du überhaupt mit mir reden möchtest.“
Jessica war Charlotte nicht allein dafür dankbar, dass sie das offenbar wirklich ernst meinte, sondern auch deshalb, weil sie selbst bereits durch dieses kurze Gespräch aus dem Fokus verlor, worüber sie eben nachgedacht hatte. Was der vielen Dinge, die sie runterzogen, es diesmal gewesen war. Klar, nachher daheim oder bloß auf dem Weg dorthin dürfte es ihr wieder einfallen – oder ein gleichwertiges oder noch anstrengenderes Thema würde sich in ihrem Kopf breitmachen, aber für jetzt hatte sie mal Ruhe. Das war etwas durch und durch Positives. Allein dafür hatte Charlotte ihren Dank verdient. Und ihre Aufmerksamkeit.
„Ich … also …“, begann Jessica unsicher. Dann verstummte sie. Erst Denken, dann Reden. Hatte ja gut geklappt mit dem Fortführen der Konversation.
Schließlich wurde doch noch ein Satz daraus:
„Ich finde es irgendwie … cool, dass du mich angesprochen hast. Ich meine – die meisten Leute hätten mich wahrscheinlich … na ja, halt … nicht angesprochen.“
„Ja, das stimmt wohl“, sagte Charlotte nachdenklich, „Aber ich dachte mir: Warum nicht? Du kannst doch nichts verlieren. Und vielleicht helfen.“
„So denken nicht viele“, kommentierte Jessica und fügte hinzu, „Ich wäre vermutlich auch einfach weitergegangen.“
„Noch weißt du ja gar nicht, ob es was genutzt hat, oder?“, fragte Charlotte und schmunzelte, „Vielleicht wünschst du dir ja im Nachhinein, ich wäre auch einfach weitergegangen.“
„Nein, du hast schon was erreicht.“
„Ich hab dich aus deinen Gedanken gerissen.“
„Ja“, bestätigte Jessica, „Genau. Das kann dir schon mal keiner mehr nehmen. Das war definitiv gut.“
„Was bedrückt dich denn so sehr, dass du weinen musst?“, fragte Charlotte und Jessica wunderte sich, dass die Art, auf die Charlotte die Frage formulierte, sie innerlich berührte. So hätte auch ihre Mutter die Frage formulieren können, ziemlich persönlich, ziemlich – nah. Viel näher, direkter, als Jessica sie formuliert hätte, aber es kam ihr nicht unangenehm vor. Zu Charlotte passte es irgendwie, sie hatte eine aus dem tiefsten Inneren kommende Fröhlichkeit, vor der sich vermutlich jeder normale Mensch anspornen ließe. Hoffentlich gab Charlotte nicht nach ein paar frustrierenden Minuten auf, wenn ihre Energie Jessica so überhaupt nicht befeuern konnte – das läge dann wohl in der Natur der Sache.
„Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen soll“, begann Jessica und fügte direkt hinzu, nur um Missverständnisse zu vermeiden:
„Das heißt nicht, dass ich es dir nicht erzählen will, weil ich dir … keine Ahnung, nicht traue, oder so, nein, aber …“
„Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst. Egal, aus welchem Grund du das nicht willst“, sagte Charlotte.
„Es hört sich einfach nur … ziemlich blöd an. Und altbacken. Und außerdem – kann ich es selbst nicht so recht benennen. Ich versuche es trotzdem. Nur noch ein Kommentar meinerseits. Ich habe gerade gedacht: Von deiner Sorte müsste es echt mehr auf der Welt geben.“
„Ich hab doch noch gar nichts Richtiges gemacht!“, versuchte sich Charlotte lächelnd zu rechtfertigen und schüttelte sachte den Kopf, aber Jessica intervenierte:
„Also, allein damit, was du bisher gemacht hast, hast du schon meinen Tag verschönert. Da brauchen andere deutlich mehr Zeit und Aufwand für. Danke.“
„Sehr gerne“, sagte Charlotte.
Jessica seufzte.
„Also gut, ich kann mal versuchen, es irgendwie in Worte zu fassen. Ich bin wahrscheinlich ziemlich blöd, wenn ich diese Probleme habe, aber ich mache mir immer eine ganze Menge Gedanken über alles Mögliche. Ich hinterfrage viel von dem, was ich tue, was meine Mitmenschen machen, was auf der Welt passiert – halt irgendwie alles, was man so hinterfragen kann. Ich zweifle oft an mir, an dem, was für das eigene Leben wirklich von Bedeutung ist. So Dinge halt. Das ganze Programm. Und ich habe Angst, dass … ja, keine Ahnung, dass ich irgendwie mein Leben falsch lebe. Dass ich alles falsch mache. Dass ich einfach nur so dahinlebe, aber eigentlich … ich weiß auch nicht, mir scheint einfach alles irgendwie sinnlos. Kannst du das nachvollziehen?“
„Ja“, antwortete Charlotte, kurz und knapp, aber Jessica konnte unmittelbar erkennen, dass sie es wirklich nachvollziehen konnte und es sich nicht um eine leere Behauptung handelte.
„Und, ja…“, fuhr Jessica fort, machte eine kurze Pause und überlegte, was es noch hinzuzufügen gab, „… ja, keine Ahnung, ich sehe halt in gar nichts Sinn. Und ich habe keine Ziele im Leben. Und ich denke mich an allem kaputt. Das ist halt … eine ungesunde Mischung, um es mal so zu sagen.“
Jessica seufzte abermals.
„Wenn das so ist, dann wundert es mich nicht, dass du traurig bist. Das klingt wirklich schlimm.“
Jessica zuckte mit den Schultern und fügte ihrer Schilderung noch hinzu:
„Und dann kommen immer noch so Gedanken wie: Ja, aber warum machen sich denn die anderen Leute nicht solche Gedanken? Warum leben die ihr Leben einfach und nur du machst dir so einen Kopf wegen – ja, wegen allem halt! Und ich habe inzwischen wegen diesem ganzen Nachgedenke und dem Sorgenmachen eine fast unterirdische Laune. Ich habe manchmal die Sorge, dass ich gar nicht mehr glücklich werden kann, weil mir inzwischen die Übung darin fehlt. Ja, das klingt vielleicht blöd, aber manchmal denke ich mir das. Meine Eltern machen sich oft Sorgen um mich. Ich würde am liebsten mit diesem ganzen Grübeln aufhören und einfach leben. Was ginge es mir dann so gut!“
„Du bist ganz schön wütend, dass es so ist, oder?“, fragte Charlotte.
„Ja. Manchmal schon. Es geht mir echt gegen den Strich.“
Charlotte nickte und wirkte nachdenklich.
Dann sagte sie:
„Ich glaube, dass sich nur wenige Leute so weitreichende Gedanken machen wie du, in dieser Häufigkeit.“
„Wahrscheinlich. Und sie haben doch Recht damit! Ihnen geht es deutlich besser als mir. Das bringt einem also das doch ach so tolle Nachdenken über Dinge. Dass man nicht mehr kann!“
„Wie fühlst du dich jetzt gerade?“, fragte Charlotte und allein diese Worte hatten eine beruhigende Wirkung auf Jessica. Ihre Stimme klang wieder sanfter, als sie wahrheitsgemäß antwortete:
„Besser als vorher. Dank dir.“
„Wie lange denkst du denn schon so gewissenhaft über Dinge nach?“
„Das ist schon länger her. Aber die negativen Effekte davon werden im Moment immer stärker. Die Erschöpfung, immer dieses Resignieren, dieses Ach-das-wird-doch-eh-nichts-mit-dir. Und dass ich Angst habe.“
„Entschuldige, wenn ich nochmal genau nachfrage, Jessica, aber: Wovor genau hast du Angst?“
Jessica überlegte kurz, um die richtigen Worte zu finden.
„Ich fühle mich ein bisschen wie auf die Welt geworfen, ohne zu wissen, was ich hier soll. Und ich habe einfach Angst, dass ich mein Leben lebe und dabei was Wichtiges übersehe. Dass ich einfach … ja, ohne ein stimmiges Konzept einfach vor mich hin lebe und dann sterbe. Ich weiß nicht, es ist schwierig, das zu formulieren. Verstehst du es so ungefähr?“
„Hm…“, machte Charlotte, „Also, kann man sagen, du suchst nach dem Sinn des Lebens und hast Angst, dass du ihn nicht findest?“
„Also … ja. Ganz genau.“
„Puh! Kein Wunder, dass du so mitgenommen bist. Das ist ja auch kein leichtes Thema.“
Jessica nickte kraftlos und blickte auf den Boden neben der Bank.
„Und … ich meine, ich kann mich auch irren, so ist es nicht“, begann Jessica vorsichtig, „aber mein Eindruck ist, dass ich so ziemlich die Einzige bin, die sich wegen solchen Überlegungen kaputtmacht. Wahrscheinlich kann man das so auch wieder nicht sagen, aber … du begegnest vermutlich nicht jeden Tag so Leuten wie mir, die hier auf einer Bank sitzen und es nicht schaffen, sich über echte Probleme Gedanken zu machen, aber dafür an so einem Mist scheitern.“
„Du hast insofern recht“, begann Charlotte, „als dass ich in der Tat nicht andauernd Menschen wie dir begegnete. Aber ich muss dir widersprechen, wenn du sagst, dass die Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens und allem, was dazu gehört, Mist ist.“
Jessica hob ihren Blick wieder an und schaute in Charlottes freundliche Augen.
„Weißt du, inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher“, sagte sie und bevor Charlotte nachfragen konnte, ließ sie eine Erklärung folgen:
„Ich merke nur, wie mich das ganze Herumüberlegen kraftlos macht. Ich meine, dass es mich unglücklich macht, ist das eine, aber ich habe auch oft Kopfschmerzen. Ich bin manchmal abends todmüde, obwohl ich effektiv nichts gemacht habe, nur eben – mir selbst Sorgen. Das ist doch bescheuert! Ich komme mir manchmal vor wie Faust, der – du kennst Faust, oder?“
Charlotte nickte.
„Sorry, wollte nur auf Nummer sicher gehen. Jedenfalls hat der doch auch was weiß ich was studiert und sich mit allem ganz intensiv befasst und am Ende sitzt er da rum und kann nicht mehr. So fühle ich mich auch manchmal. Ich kann einfach nicht mehr. Aber ich habe auch Angst, all meine Überlegungen, all das sein zu lassen, weil es … ja, keine Ahnung. Weil ich es doch irgendwie wichtig finde.“
„Ich kann verstehen, dass dich das sehr mitnimmt“, sagte Charlotte nach einer Weile, „Du hast Angst davor, dass du irgendwas Großes in deinem Leben übersiehst, dass du den Sinn hinter allem nicht findest, nicht erkennst. Und daher machst du dir Gedanken. Du spürst in dich hinein. Du hältst dich eher zurück und beobachtest das Leben, in der Hoffnung, dass sich ein Sinn zeigt. Und du versuchst, dadurch, dass du dir über alles nur Erdenkliche Gedanken machst, eine Antwort zu finden. Für dich. Eine, die dir etwas gibt.“
Jessica ließ die Worte einen Moment lang in ihrem Kopf widerhallen. Dann nickte sie zustimmend.
„Ich glaube, dass du dir den Sinn des Lebens nicht durch Grübeln erschließen kannst“, sagte Charlotte, „Das kann niemand. Das heißt nicht, dass du nicht clever bist. Ich glaube, so etwas ist einfach generell nicht möglich.“
„Hm…“, machte Jessica nachdenklich. In ihrem Kopf formte sich eine Frage, die sie Charlotte eben schon stellen wollte.
„Du musst mir da drauf keine Antwort geben, aber – ich habe ja eben groß getönt, niemand außer mir macht sich so großartig Gedanken. Darf ich dich fragen, was – deine Antwort auf diese großen Fragen ist? Ich meine, wenn du eine hast? Wie gehst du mit so was um?“
„Klar darfst du das fragen. Ich antworte dir auch gerne darauf. Aber meine Antwort ist sehr subjektiv.“
„Das ist bei Menschen nun einmal so.“
Charlotte schmunzelte.
Dann sagte sie:
„Ich bin Christin. Ich glaube an einen liebenden Gott, der mich geschaffen hat. Und ich versuche, die Antworten auf das, was du eben die ‚großen Fragen‘ genannt hast, auf dieser Basis zu beantworten.“
Jessica war gleichermaßen beeindruckt wie verwundert.
„Das klingt, als wärst du von diesem Glauben ziemlich überzeugt.“
„Ziemlich, ja. Aber mit Sicherheit gibt es noch fester Überzeugtere als mich.“
„Ich weiß nicht … irgendwie …“
Jessica dachte nach.
„Irgendwie freut mich das für dich“, brachte Jessica schließlich hervor, „Ich meine, dass du so fest an einen Gott glauben kannst. Ich könnte das vermutlich nicht. Ich bin konfirmiert worden und all das, aber im Moment – spielt Gott keine große Rolle in meinem Leben. Aber wenn du so überzeugt bist von diesem Glauben, dann hilft dir das sicher bei vielen Unsicherheiten. Das kann ich mir gut vorstellen. Mir fehlt dafür einfach die Überzeugtheit.“
„Ich glaube nicht, dass man felsenfest überzeugt sein muss“, sagte Charlotte, „Für mich heißt Glauben jedenfalls nicht, dass ich jederzeit hundertprozentig der Ansicht bin, auf alle Glaubensfragen die richtigen Antworten zu haben. Und vor allem sind Zweifel ganz normal.“
„Zweifel sind normal? Bist du dir da sicher?“, fragte Jessica, „Aber wie soll das denn dann funktionieren, mit dem Glauben? Ich bin ja, wie gesagt, mal konfirmiert worden und da habe ich mich jede Woche brav zum Konfirmationsunterricht begeben. Und habe mich jedes Mal gefragt, als der Pfarrer uns was erzählt hat: Ist das alles tatsächlich so? Gibt es Gott überhaupt wirklich? Und was genau war denn das mit Jesus? Man hat uns viel erzählt, aber letzten Endes musst du halt dran glauben oder du lässt es bleiben, oder? Und – warum sollte ausgerechnet das Christentum Recht haben, warum nicht der Islam oder der Buddhismus oder irgendetwas komplett anderes, das noch keiner auf dem Schirm hat?“
Jessica kam der Gedanke, dass sie Charlotte mit diesen Worten eventuell ungewollt auf den Schlips trat, doch ihre Gesprächspartnerin saß ihr noch immer neugierig und mit freundlich leuchtenden Augen gegenüber. Eigentlich erstaunlich. Jessica hätte vermutlich schon vor einer ganzen Weile kapituliert und sich einfach die ganze Mühe, mit einem Menschen wie ihr selbst zu sprechen, noch dazu über solche hochtrabenden Themen, nicht gemacht.
„Versteh mich nicht falsch“, fügte Jessica sicherheitshalber hinzu, „Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass du an Gott glaubst. Ich würde das auch gerne können, aber ich kann in meinem Kopf keinen Schalter umlegen und dann bin ich überzeugt, dass es Gott gibt. Leider. Wenn ich so einen Schalter hätte, wäre mein Leben vermutlich zumindest angenehmer. Ich bin nicht aus dem Grund in den Konfirmandenunterricht gegangen, weil es, sobald man’s hinter sich hat, eine Menge Kohle gibt. Ich hatte gehofft, dass mir das echt was bringt. Aber irgendwie … na ja, hat es das wohl nicht.“
„Ich habe so einen Schalter auch nicht“, sagte Charlotte, „Aber ich habe den Eindruck, einige Dinge, die den Glauben an Gott angehen, möglicherweise anders zu sehen als du.“
„Wie meinst du das, ‚anders‘?“
„Ich meine die prinzipielle Herangehensweise. Das mit dem hundertprozentigen Überzeugt-Sein zum Beispiel. Aber dass der Konfirmandenunterricht einem nicht immer etwas gibt, weiß ich auch nur zu gut aus Erfahrung.“
Dank Charlotte hatte Jessica bereits eine gute Viertelstunde lang keine nervigen Gedanken mehr um sich herum gehabt. Das war super. Und man konnte gut mit Charlotte reden.
Nur: Bald sollte sie wieder nach Hause gehen, teils ihren Eltern, teils ihrem schlechten Gewissen ihren Eltern gegenüber zuliebe – doch im Moment wünschte sie sich, sie hätte noch länger Zeit.
Jessica fand es interessant, wirklich interessant, mit jemandem zu sprechen, der von etwas stark überzeugt war – für sie erschien jede tiefgehende Überzeugung als etwas völlig Utopisches.
Klar setzte so was, wenn man es denn wirklich hatte, einen Schlussstrich unter viele Unsicherheiten.
Aber dann war da noch die Frage, welchen man denn nahm, welchen Schlussstrich. Charlotte war Christin, aber was qualifizierte diese Entscheidung denn nun mehr als andere? War es nicht ein bisschen wie Würfeln, wenn man sich für eine Weltanschauung entschied? Falls man sich denn entscheiden konnte, ihr fiel das ja recht schwer.
Aber Charlotte faszinierte sie. Ihre Art, ihre Fröhlichkeit. Ihr Wesen. Dass sie so durch und durch hinter ihrer Sache zu stehen schien und dass man dennoch keine Angst haben musste, mit malträtierenden Mahnworten bombardiert zu werden, die besagten, dass man sich diesem Glauben nun auch anzuschließen habe. Ihr Eindruck war manchmal: Entweder die Menschen glaubten an gar nichts oder sie glaubten zu vehement an etwas und dann wurde es für andere Ansichten eng.
Charlotte wirkte glücklich, irgendwie ausgeglichen und sie hatte offenbar in etwas Halt gefunden, das Jessica möglicherweise nicht auf die Art verstand, wie das Mädchen vor ihr es tat. Und das machte Jessica neugierig.
„Ähm … ich habe eine Frage, Charlotte…“, begann sie zögerlich.
„Nur raus damit!“
„Ähm – also, erstmal noch danke, dass du dich überhaupt mit mir abgibst. Ich wollte fragen, ob du dir vielleicht vorstellen könntest … hm …“
Klang das jetzt merkwürdig? Andererseits, wenn Charlotte der Rest von Merkwürdigkeiten, den Jessica ausgesprochen hatte, nicht schon schreiend hatte davonlaufen lassen, dann sollte es auf diese Frage auch nicht mehr ankommen.
„Also“, sprach Jessica aus, sicher, dass sie die Frage letzten Endes stellen würde, doch sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen.
„Ähm … ich wollte nur kurz sagen, dass ich bei Gelegenheit heimmuss. Ist nicht böse gemeint und ich will aktuell auch gar nicht gehen, nur – ich war eigentlich schon zu spät dran, als ich mich hierhin gesetzt habe. Aber ich … ich weiß nicht, ich finde es irgendwie gut, mit dir zu sprechen. Und ich finde das interessant, was du eben gesagt hast. Zum Glauben.“
Charlotte lächelte freundlich.
„Mir gefällt es auch, mit dir zu reden. Du bist so offen und … ja, man merkt richtig, dass es dich interessiert, was ich sage. Den Eindruck habe ich nicht bei jedem.“
Jessica dachte zurück an die Zeit, in der sie noch mit einem Duzend anderer im Konfirmationsunterricht gesessen hatte. Bisher hatte sie sich oft in diese Situation zurückversetzt gefühlt, wenn sie sich Gedanken machte bezüglich des Christentums, Gott, Jesus, des Heiligen Geists, Engeln, und allem, was noch so zum Gesamtpaket Glauben gehörte. Ja, sie hatte damals wirklich gehofft, dass ihr der Unterricht etwas gab, etwas vermittelte. Etwas für das Leben mit auf den Weg gab. Retrospektiv hatte sie nicht den Eindruck, dass sie wirklich etwas von damals mitgenommen hatte. Überhaupt schien ihr das Thema, nicht zuletzt wegen des Religionsunterrichts am Gymnasium, eine von ihr eher grob gefühlte als tatsächlich genau verstandene Angelegenheit zu sein.
Sie fragte jetzt einfach.
„Charlotte, hast du vielleicht morgen Zeit? Ich dachte, vielleicht kannst du mir ein bisschen erzählen, was dieser Glauben so mit dir macht, was er für dich bedeutet. Ich … ich muss sagen, das würde mich wirklich interessieren. Du hast da was für dich gefunden, was ich in ähnlicher Form … ja, halt irgendwie nicht für mich entdecken konnte. Aber du faszinierst mich.“
„Wirklich?“, fragte Charlotte verwundert.
„Ja, wirklich! Ich bin wirklich neugierig. Und allein das ist schon verwunderlich. Ich bin sonst eher … verschlossen. Vor … allem. Sicherheitshalber.“
Jessica ertappte sich bei einem Grinsen, dann sagte sie:
„Bitte tu mir den Gefallen und hab morgen Zeit!“
„Morgen ist Samstag, also Wochenende. Da hab ich Zeit, ja.“
„Wenn du jetzt noch Interesse daran hast, haben wir einen Deal!“
„Soll ich dir was sagen?“, fragte Charlotte und schob ihrer Frage dann die zugehörige Aussage nach:
„Ich kann mir das sehr cool vorstellen, mit dir morgen mal ein bisschen zu quatschen. Ich finde es toll, dass du mir so viel Vertrauen entgegenbringst. Und ich bin gespannt, was da morgen bei rumkommt, für dich und für mich!“
„Klasse!“
Später, auf dem Weg nach Hause, fragte Jessica sich, was sie mehr verwundern sollte:
Dass sie es tatsächlich innerhalb so kurzer Zeit geschafft hatte, einen anderen Menschen kennenzulernen, wenn auch nicht ganz ohne Mithilfe ebendieses Menschen – oder, dass sie sich für diesen Moment tatsächlich aus dem Grund freute, dass morgen noch ein weiterer Tag kam. Hoffentlich hielt die positive Stimmung, die sie gerade hatte, zumindest noch ein Weilchen an.
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