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Neue Drabbles braucht das Land (Alternativtitel: Wat is ’n Drabble?)

Kurzbeschreibung
OneshotAllgemein / P6 / Gen
03.01.2023
03.01.2023
1
2.229
6
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Dieses Kapitel
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03.01.2023 2.229
 
Der (fragwürdige) Erstkontakt, viel Distanz und vorsichtige Annäherung

An meine erste Begegnung (als Leser) mit Drabbles kann ich mich noch gut erinnern. Im englischsprachigen Fanfiction-Bereich kamen mir hier und da diese vorwitzigen 100-Wort-Geschichtchen unter und sofort überkamen mich zwei Gefühle: minimale Anerkennung, aber wesentlich mehr Unverständnis – Was ist daran jetzt bitte so toll? Ja gut, du kannst bis 100 zählen, aber sonst? Warum dieses sinnlose Limit? Brotlose Kunst!
Mit solcherlei Vorbehalten übersprang ich fortan die als Drabble gekennzeichneten Storys bzw. verdrehte bei der 100 in der Geschichtenzusammenfassung die Augen – Wieder so einer!
Aber dennoch – die Saat war gelegt und ganz dunkel im Hinterstübchen verfestigte sich die anfängliche Ignoranz mit jedem (übersprungenen) Werk mehr allmählich zu Toleranz – Ja, das ist wohl eine Kunst für sich … Nur nicht mein Geschmack.
Lange Zeit passierte nichts, bis mir während einer schönen Vorweihnachtszeit ein bis dahin gänzlich abwegiger Gedanke kam: Mensch, jeden Tag für die Community und ’s Fandom eine Geschichte, wie bei einem Adventskalender – das wäre doch mal cool! Aber ach, 24 Geschichten innerhalb kürzester Zeit? So produktiv bin ich dann auch wieder nicht! Und mit einem Mal machte es Klick: Dann schreib‘ doch einfach Drabbles! 24 x 100 ist nun echt nicht so viel und hey – für einen Schmunzler wird es schon reichen!
Obwohl das Projekt damals glückte (und bereits zum dritten Mal in Folge wiederholt wurde, sowie darüber hinaus eine Drabble-Dauersammlung entstand) musste ich mit Erschrecken feststellen, dass es bei Weitem nicht so ohne mit dem Drabblen ist! Zurecht ist es eine ganz eigene Kunstform, mit der ich seither sehr viel mehr verbinde …


Was Drabbles für mich (als Autor und Leser) attraktiv macht respektive herausfordert/nervt

Leser: Gut, hier kann ich mit nur zwei positiven Aspekten glänzen: 1. Lieferant von Plot-Ideen (Drabbles sind meist aufgrund ihrer Kürze derart komprimiert, dass die Fantasie des Lesers einspringen muss bzw. gerne noch mit dem Mini-Szenario weiterspielen möchte); 2. Unterhaltung (Deswegen lesen wir, richtig? Und nicht immer, aber häufig, bestechen Drabbles durch lustige/exotische/unerwartete Geschehnisse, die einen mal eben zwischendurch binnen von einhundert Wörtern den Tag versüßen können). Abgesehen davon können Drabbles aber auch wie oben erwähnt nerven … Da quält man sich wochenlang mit einem neuen Monsterkapitel einer extrem aufgeblasenen Über-Story, ist froh, es damit bis zum Upload ohne Logikpatzer und Plotdivergenzen zur Vorlage geschafft zu haben, freut sich bereits auf etwaige Reaktionen … Und wird direkt eine Minute darauf von den oberen Plätzen des Archivs verdrängt, weil wieder mal so ein Drabble-Kasper seinen alltäglichen Schuss ins Blaue machen muss. Das ist nicht immer einfach, aber hat zumindest bisher auch (nach meinem Kenntnisstand) zu keinen ernsthaften Zerwürfnissen geführt :-)

Autor (dazu wechsle ich mal die Form):
1  Herausforderung (und dies gleich dreifach!):
1.1  linguistisch (Man verbiegt sich sprachlich manchmal außerordentlich, entdeckt grammatikalische Abkürzungen, spielt mit Auslassungen, greift auf ungewöhnliche Formulierungen und Strukturen zurück – experimentiert, lernt und wächst dadurch.)
1.2  ideell (Eine Geschichte, die ihrem Namen noch halbwegs gerecht wird, in hundert Worte zu packen, erfordert viel Improvisationskunst und Erfindergeist! Man fängt bereits innerhalb der Konstruktion mit lean management an und versucht, das spätere Streichpotential bereits möglichst gut vorwegzunehmen. Will sagen: Man findet neue Strategien und Wege bereits beim Denken und nicht erst beim Schreiben. Der Mindset ist ein anderer.)
1.3  Verständnis (Der ultimative Prüfstein eines Drabbles ist in meinen Augen immer die Kluft zwischen Leser und Autor, was das Verständnis und den Anklang der Idee / des gewählten Weges betrifft. Beim Schreiben hat der Autor meist eine ganze Fantasiewelt im Kopf, die locker tausend Worte sprengt – genaue Beschreibungen von Charakteren, Umgebung, usw.. Auf einhundert Wörter verkürzt hat der Autor beim Kontrolllesen automatisch immer noch dieses vollständige Bild vor Augen und es besteht die Gefahr, dass der finale Leser dann mit der schmalen Version in der Luft hängt, respektive in seinem Kopf ein völlig anderes Bild entsteht. Von alles entscheidender Wichtigkeit ist hier, dass Autor und Leser eine identische Vorstellung haben, bzw. der Autor soviel Umschreibungen trotz Limit einbaut, dass das Bild wieder stimmt, dekomprimiert/rekonstruiert werden kann und auf einen gemeinsamen Nenner hinausläuft. Eine einheitliche Auffassung beispielsweise einer Figur ist das A und O. Wenn sowohl Leser als auch Autor eine Figur zu 100% als in-character meinen, schreiben und verstehen, reicht ein Name, damit charakteristische Wesenszüge, ikonische Outfits und so weiter auch ganz ohne Worte zum Leben erwachen. Aber wie gesagt: Was kann man voraussetzen? Wie viel kann die Fantasie des Lesers aus der angedeuteten Ursprungsidee des Autors ableiten? Trifft es am Ende die Intention? Oder driftet das Verständnis auseinander und es kommt zu ganz neuen, unbeabsichtigten Szenarien? In diesem Sinne sind Reviews immer sehr aufschlussreich – manchmal versteht man sich sprichwörtlich auch ohne Worte blind und ist auf einer Wellenlänge, manchmal hat man vorher selbst nur einen Weg gesehen und ist dann von den ungeahnten Möglichkeiten der Auslegung überrascht und manchmal könnte man buchstäblich aus der Haut fahren, was einem da alles retrospektiv in den Mund gelegt und unterstellt wird. Definitiv für mich die interessanteste Herausforderung eines Drabbles).

2  daraus resultierende Vorteile:
2.1  Gefühl für die Wortzahl (Es kommt von ganz allein, dass man beim Schreiben zu Gliederungen und Satzstrukturen übergeht, die man bereits gefühlsmäßig sehr gut einschätzen kann – nicht selten landet man an guten Tagen schon mit dem Ur-Konzept ganz gut in der Zielzone, wo nur noch wenig gekürzt/ergänzt werden muss. Das mag nicht gerade ein hilfreiches Alltagstalent sein, aber hat etwas von Disziplin.)
2.2  Erweiterung des eigenen Horizonts und der eigenen Fähigkeiten (Je länger man sich mit Drabbles quält, umso erfinderischer und flüssiger wird man mit ihnen. Man mag es vielleicht nicht unbedingt immer nutzen, aber das eigene Repertoire wächst unbestreitbar!)

3  Multifunktions-Spielwiese (MuFuSpiWi?):
3.1  Probieren neuer Ideen (Ihr glaubt gewisse Charaktere haben eine Art Chemie, seid euch jedoch nicht sicher, ob das die Leser ähnlich sehen? Ihr wollt einen bestimmten Mix aus Szenerie, Figuren und Handlung auf Wirksamkeit testen? Schreibt ein kurzes Drabble und hofft auf Feedback! Für mich sind Drabbles sehr oft Testgelände größerer Szenen. Wenn ein Pairing oder gewisse Mechaniken/Interaktionen die Leute bereits auf hundert Wörter faszinieren, dann ist der Grundstein für Größeres gelegt! Ist das Interesse hingegen eher verhalten merkt man, dass man mehr Arbeit investieren muss, um später auf der großen Bühne mit dem gleichen Konzept für Glaubwürdigkeit zu sorgen.)
3.2  Kurzurlaub von anderen Werken (So lieb man gewisse Werke und Baustellen auch haben mag, aber es kommt immer mal die Zeit, in der man Abstand braucht, kurz frische Luft schnappen wenn nicht gar einen schriftstellerischen Seitensprung wagen muss. Gerade langfristige Projekte oder Challenges laugen auf Dauer aus, wenn man aus einem Fandom oder gar einem Akt gar nicht mehr heraus kommt. Man hat den Alltagstrott satt, braucht Urlaub. Ein kurzes Drabble zu einem anderen Thema zwischendrin reißt keine mörderischen Lücken in den Zeitplan, ermöglicht aber erwähnt notwendige Pause. Insofern würde ich Drabbles gar prophylaktisch gegen Schreibblockaden empfehlen, wenn man merkt, dass man sich mal gerade wieder in einem umfangreichen Werk allzu sehr verbeißt. Ein Kurzausflug in andere Welten und schon ist man wieder anders bei der Sache.)
3.3  mal schamlos völlig durchknallen (Jedes Fandom hat sie: Situationen und Charaktere, die sich einfach kanonisch einander ausschließen oder in Kombination geächtet sind. Versucht man dennoch auf eben jenen heiklen Minenfeld zu tanzen, erfordert dies entweder monströses Dehnen der originalen Handlungsstränge bis an die Belastungsgrenze oder aber die Inkaufnahme des oft missbilligenden CrackFic-Attributs. Ich wage zu behaupten, dass Drabbles diesbezüglich fast schon eine Art Narrenfreiheit genießen. Mag es nun daran liegen, dass Drabble-Leser toleranter sind oder allzu überkritische Rezensenten sich lieber richtigen Storys widmen –  für Crack-Drabbles hagelt es oft weitaus weniger Negativkritik bei gleichem Lobanteil im Vergleich zu ihren großen bösen Brüdern. Wofür man bei einer vollwertigen Story gesteinigt werden würde, kommt man bei einem Drabble mit einem blauen Auge davon.)

4  die Freiheit deutlicher spüren (Gerade nach Drabble-Marathons erwische ich mich oft dabei, wie ich es geradezu genieße, unterbewusst gewählte Wortverbindungen wieder zu vereinzeln und auch etliche Umschreibungen und Nebensätze gezielt auszubauen. Das klingt jetzt übertrieben hoch zehn, aber ich würde gar sagen: Man sieht die Schönheit, die komplexer Satzbau, Wortvielfalt und vollwertig nutzbarer Sprachschatz haben können, deutlicher. Die Abwechslung macht sich so oder so bemerkbar und man geht ein Stück weit bewusster mit seinen Worten um. Da war wieder das Prinzip vom Askese-Genuss-Wechselspiel.)

5  Respekt unter Kollegen (Zumindest ich begegne Mit-Drabble-Autoren seitdem ich selbst mit dem Spaß angefangen habe anders als zuvor. Der gemeinsame Fetisch verbindet, wenn auch manchmal ungewollt und/oder unverhofft.)

6  Sucht (Das wird die Wenigsten treffen, aber es gibt durchaus Menschen, für die werden Drabbles zum Leistungssport. Ob dies nun Challenges, Sammlungen zu bestimmten Themen oder was auch immer sein mögen – man findet Gefallen daran, die von anderen als kompliziert oder sinnlos geächtete Hundert wieder und wieder zu treffen, immer neue Einfälle zu liefern.)


Empfehlung an alle

Keine Frage, man kann niemanden zu etwas zwingen, aber versucht euch in einer freien Minute oder wenn ihr mal in Experimentierlaune sein solltet dennoch mal testweise an einem Drabble! Nehmt euch einfach euer Lieblingsfandom und schreibt ganz minimalistisch die schlankeste Storyidee, die euch als Erstes auf die Schnelle in den Sinn kommt. Ihr werdet mit Erschrecken feststellen, dass das (vor allem anfangs) oft schon mehr als hundert Wörter sind. Ich sage ja nicht, dass ihr euch da bis zur Perfektion durchquälen müsst und es abschließend auch noch gepostet oder gar Drabble des Jahres werden muss – es soll einfach nur mal der Selbstversuch sein, der dann auch gerne zeitnah wieder als solches abgebrochen werden kann. Ich verspreche euch, allein der Versuch wird eure Perspektive zu dieser eigenartigen Literaturform ändern. Und wer weiß … Vielleicht wird daraus ja (wie in meinem Fall) trotz anfänglicher Abneigung Liebe auf den zweiten Blick?


Ausbaustufe und ein letzter Widerhaken

Nicht verschweigen möchte ich auch, dass es neben den normalen Hunderter-Drabbles auch Sonderformen mannigfaltiger Ausprägung gibt. Dies beginnt bei Mehrfach-Drabbles (200, 300, 400), geht weiter über Schnapszahlen (111, 222, 333) und beinhaltet alle nur erdenklichen Kombis (ein teuflisches 666er Drabble, ein 123er Straßen-Drabble, Drabbles, deren Wortzahl ein Datum repräsentieren usw.). Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.

In diesem Sinne fällt mir dann doch noch ein Fallstrick ein, den ich zuvor vergaß: individuell unterschiedliche Zählweisen und divergierende Ansichten. Solange man sich nicht selbst betrügt, ist es mir persönlich egal, ob ein Autor nun zusammengesetzte Wörter, Symbole, Gedankenstriche, Zahlen, Interjektionen oder Eigennamen aus Buchstaben-Ziffern-Kombinationen penibel genau mitzählt oder nicht. Wichtig für mich ist das ehrliche Bestreben der 100 Worte (oder sonstig avisierter Zielmarke).
Aber natürlich (wie überall) lauern auch hier unverbesserlich detail- (und zuweilen selbst-)verliebte Charaktere, die nur darauf warten, andere oberlehrerhaft aus ihrem ruhigen Kämmerlein heraus maßregeln zu können. Das beginnt bei der einzig wahren Wortzählung, geht weiter bei den automatisch eingeblendeten Zählern der Archive und endet bei der Auffassung, was ein Drabble denn überhaupt ist respektive sich alleinig so mit Fug und Recht nennen darf – mit Vorliebe unter Berufung auf Duden-Seiten, Wikipedia-Artikel, Rechtsparagraphen des BGB und Artikel aus StVZO und Co.. Manche dulden explizit nichts anderes als die sture Hundert bzw. bestehen bei Mehrfach-Drabbles darauf, dass diese dann auch ganz klar aus gegliederten Hunderterblöcken bestehen und explizit als solches deklariert sein müssenKorinthenkacker-Bullshit.
Leben und leben lassen sage ich da nur und lege diesbezüglich wie gesagt mehr wert auf Ehrlichkeit (vor allem gegenüber sich selbst), die ernsthafte Bemühung und das aufrichtige Bestreben, denn Besserwisserei. Olivenzweig dazu jedoch: Natürlich ist das eine Frage der Perspektive und ich kann es ein Stück weit nachvollziehen, wenn es Drabble-Autoren gibt, die an sich selbst extreme Anforderungen und hohe Ansprüche mit gewissen Standards stellen, die dann genervt reagieren, wenn andere es sich im Vergleich dazu zu leicht machen. Man selbst verbietet sich so viele Lösungsmöglichkeiten, die der Nächste dann vielleicht einfach zur Erreichung gleichen Zieles nutzt – unfair? Erst durchatmen, dann nochmal lesen, dann einen Tag Abstand nehmen und wenn es dann immer noch sooo schmerzhaft weh tut halt doch Feedback abgeben – in den meisten Fällen wird sich der stille Ärger aber vorher verflüchtigen … Worüber streitet man da bitte schon?!


Und zum Schluss …

Abschließend muss ich mir selbst eingestehen: Für mich persönlich sind Drabbles in der Hinsicht genial, dass sie mit verhältnismäßig wenig Aufwand (wenn man den Dreh einmal raus hat) unendlich viele Möglichkeiten bieten! Es sind Ideenlieferanten, Spielwiesen und auch für Autoren mit nur mäßiger Kondition eine elegante Lösung, sich aktiv im Fandom beteiligen zu können. Man kann unter dem Deckmantel dieser Kunstform legitim aufs Minimum reduzierte Storyansätze und im wahrsten Sinne des Wortes fantastische Schmalspurkonstrukte als Studie in die Welt hinausposaunen und muss sich nicht fürchten, da würde einer mit überbordenden Logikanalysen o.ä. um die Ecke kommen, solange die Hundert halbwegs eingehalten wird.


… ein Beispiel-Abschieds-Drabble!

Weit über zweitausend Wörter sind hiermit nun also für die Erklärung eines Themas aufgewandt, dass an sich nur aus mickrigen hundert solcher besteht – welch’ haarsträubende Bilanz, wie furchtbar ineffizient, wie paradox!

Viel pseudodiplomatisches Gerede für – wenn es gut läuft – einen winz’gen Hauch Verständnis und was noch? Den harten Kern in eine weich ausgeschäumten Hülle verpackt, auf dass niemand sich direkt daran die Zähne ausbeiße geschweige denn über Widersprüchlichkeiten zur eigenen Wertvorstellung klage.

Welche Folgen diese seltsam dargereichte Pille wohl haben wird? Nur die Zeit (und Leser) werden es zu richten wissen.
So oder so – zumindest einer hatte mal wieder Spaß!
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