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Die letzte Reise

von Romy95
Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer, Tragödie / P16 / Mix
Buggy Gol D. Roger OC (Own Character) Shanks / Rothaar Silvers Rayleigh
03.01.2023
18.09.2023
35
136.700
21
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18.09.2023 3.888
 
Kapitel 35: Der Preis ist heiß!

„Sch… Alles gut, Beanie. Alles ist gut“, wisperte Kalle gegen Beans Haaransatz und wiegte das aufgelöste Bündel sachte hin und her. Eine seiner Hände lag in ihrem Nacken, wo er sanft mit dem Daumen über die erstaunlich glatte Haut streichelte. Mit seinem anderen Arm hielt er sie nach wie vor dicht an sich gedrückt und rieb ihr über den Rücken.
„Es tut mir leid“, hörte er sie plötzlich gegen sein Hemd murmeln, dass von warmer Nässe getränkt war.
„Mir auch, Beanie. Ich wollte dich nicht ausbooten. Marie und ich waren uns nur sehr… zugetan. Wenn ich gewusst hätte, wie viel es dir bedeutet, hätte ich die Finger von ihr gelassen.“
Er spürte, wie sie langsam den Kopf schüttelte. „Ist schon okay.“
Er lockerte seinen Griff um sie, nachdem sie sich gefangen hatte und nahm stattdessen ihr Gesicht in seine Hände und wischte die überquellenden Tränen von ihren geröteten, aufgerauten Wangen. Das Schöne daran war, dass sie es zuließ. „Man hat dir ganz schön zugesetzt als Kind, hm?“
Bean zuckte nur mit den Schultern und wich seinem Blick aus. Sie tat ihm leid. Die Pubertät an sich war schon eine Herausforderung, aber wenn man zusätzlich noch gegen die Dämonen der Kindheit ankommen musste…
„Ich wünschte nur, ich käme endlich drüber hinweg. Es ist ja nun schon Jahre her. Ich weiß nur nicht, wie. Ich komme nicht aus meiner Haut und es nervt mich selbst so unglaublich.“ Beans Stimme gewann wieder an Sicherheit, auch wenn sie noch immer etwas kläglich klang. Das und der Inhalt ihrer Worte freuten ihn jedoch. Es bedeutete, dass Bean sich nicht nur des Problems bewusst, sondern auch gewillt war, dagegen anzukämpfen. Alles, was noch fehlte, war die Akzeptanz von Hilfe – und natürlich eine gute Portion Nachsichtig und Verständnis auf der Gegenseite.
Kalle bewunderte Zobar. Er hatte ihr uneingeschränktes Vertrauen erlangt und war all die Jahre alleine mit ihr zurechtgekommen. Grundsätzlich wurde sie durch ihn gut erzogen. Er lehrte sie nicht nur seine beruflichen Fähigkeiten, sondern hatte ihr auch – trotz gelegentlicher Aussetzer – Vernunft eingebläut. Dafür musste er wohl, soweit Kalle es in den vergangenen Wochen ihrer gemeinsamen Reise und nun auch auf der Insel beobachtet hatte, sein eigenes Leben, seine Vergnügungen, komplett hintenangestellt haben, damit Bean nicht alleine war und all die Liebe, Zuwendung und Bestätigung erhielt, die sie so dringend benötigte. Kalle wusste, welches Opfer eine derart aufopferungsvolle Liebe von einem Menschen abverlangte. Es war in seinen Augen jedoch keinesfalls gesund. Auch wenn es Zobar dem Anschein nach nichts auszumachen schien, jedweden Annäherungsversuchen schöner Frauen zu widerstehen und ständig auf Empfang zu laufen, um Beans Wohlbefinden im Auge zu behalten. Dabei war sie beinahe volljährig und schon ziemlich selbstständig. Sie verbrachten zwar oft ihre Zeit getrennt voneinander, allerdings konnte Kalle sich nur zu gut vorstellen, dass das vor gar nicht allzu vielen Jahren anders war. Zumal er Zobar selbst hatte sagen hören, dass er Bean als Kind stets überall mit hingenommen hatte, weil sie sich an ihn festgehalten hatte, wie ein Klammeräffchen. Zobar hatte dabei gelacht, doch die Wahrheit hinter diesen Worten besaß einen bitteren Beigeschmack. Noch heute kreisten sie umeinander wie zwei Planeten, auch wenn sich ihre Laufbahnen erweitert hatten und jedem mehr Raum gewährten.
„Das wird schon“, versprach er ihr. „Einfach immer weiter versuchen, irgendwann klappt es. Außerdem nehme ich an, dass du dich im Vergleich von vor fünf oder sechs Jahren, wo du kaum mehr als ein Stöpsel warst, schon deutlich gesteigert hast, oder nicht?“
Ein kleines, unwilliges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Trotzdem.“
„Auch kleine Schritte sind wichtig und richtig, Beanie.“ Er sagte diese Worte mit Nachdruck, damit sie sie auch wirklich aufnahm. „Und jetzt lass uns mal den Kühlschrank plündern gehen, bevor uns jemand zuvorkommt. Ich habe einen Bärenhunger.“

„Hast du schon einmal um Preise gefeilscht?“ Ganryū hatte sie nach dem Frühstück direkt mitgenommen, zusammen mit ein paar anderen seiner Männer, darunter auch Eugen, waren sie nun in der Stadt unterwegs. Kain hatte sich für heute freigenommen. Sie zogen einige Wägen hinter sich her, die sie im Laufe des Tages mit Proviant bestücken würden. Bean hatte das Glück, die Listen halten zu dürfen, während sie neben den anderen herging. Doch ihr war bewusst, dass sie im Laufe der Zeit einander abwechseln würden und spätestens, wenn sie auf dem Heimweg waren, jeder mit anpacken musste, um die Steigung nach oben zu schaffen.
„Nein.“
Zobar und Bean hatten schon immer so günstig wie möglich und nötig eingekauft. Noch billiger und man hätte es schon herschenken müssen. Doch die Schnäppchenjagd gelang nicht immer. Vor allem beim Handwerk war ein gewisser Qualitätsstandard unablässig, aber dann hatten sie in den sauren Apfel beißen müssen, wobei sie die Kosten zumeist ohnehin an ihre Kunden weitergegeben hatten.
Ganryūs Blick wanderte hinab zu ihr. Sein Mantel, der wie stets tiefe Einblicke auf seine behaarte Brust ermöglichte, sah heute besonders vornehm aus. Ganryū hatte rein äußerlich schon etwas von einem Kaufmann. Einem rockigen Kaufmann. Mit Punkfrisur und Handschuhen. Irgendwie stylisch. Und scheinbar mittlerweile ohne Beschwerden im Schrittbereich. Wie schön für ihn.
„Ich glaube, das ist ein Themengebiet, das dir liegen könnte, wenn ich Gabans Gemecker richtig gedeutet habe.“
Neugierig blickte sie zu ihm auf. Er tat ihr den Gefallen und erläuterte seine Gedanken: „Gaban ist nicht umsonst unser Schatzmeister. Er liebt es nicht nur, wie die meisten von uns, Schätze zu bergen oder zu erbeuten, nein, wenn er könnte, würde er sich wie ein Drache den ganzen Tag auf diesen zusammenrollen. Einem solchen Biest seinen für sich beanspruchten Anteil streitig zu machen, zeugt entweder von großem Mut oder gefährlicher Dummheit“, er warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu, woraufhin Bean mit den Schultern zuckte. „Ich hoffe auf ersteres.“
„Zobar war da, was hätte mir da passieren sollen?“
Der große Mann schnaubte. „Mag sein, dass dein Alter dich in diesem Augenblick gerettet hat, aber ich möchte dir einen gut gemeinten Rat geben: Sei vorsichtig, wenn du demnächst mit Gaban zutun hast. Er wird dir selbstverständlich kein Haar krümmen. Aber er kann ziemlich hinterhältig werden – und ehe man es sich versieht, hängt man mit dem Kopf in einer Schlinge.“
Bean war überrascht. Einerseits, weil sie sowas von Gaban nicht erwartet hatte. Klar, er war ihr unheimlich, vor allem dieses animalische Grienen, wie das des bösen Wolfes aus den Märchenbüchern, aber er hatte sich rasch wieder abgekühlt. Doch vielleicht war genau das der Punkt. Vielleicht hatte er sich so schnell abgeregt, weil er bereits am Pläneschmieden war, wie er ihr alles Stück für Stück heimzahlen konnte. So war das also… Andererseits war sie verblüfft, weil Ganryū dieses Wissen so bereitwillig mit ihr teilte. War das vielleicht auch schon Teil von Gabans Plan oder verbarg sich etwas anderes dahinter?
Ganryū schien auch diese Frage von ihrem Gesicht abzulesen. „Ich schätze es, wenn jemand Geheimnisse für sich behalten kann.“
Beans Miene hellte sich augenblicklich auf und tiefe Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen. Endlich mal jemand, der mehr Wert aufs Schweigen legte, statt aufs Plaudern. „Danke für den Tipp. Aber was hat all das nun mit Feilschen zu tun?“
„Da du offenbar sehr darauf bedacht bist, dein und Zobars Geld zusammenzuhalten, kann ich schon mal davon ausgehen, dass du keinen überteuerten Müll kaufst oder auf vermeintliche Schnäppchen und andere Tricks hereinfällst.“
Es war meistens eher dem geschuldet, dass wir selten viel Geld besaßen, was wir auf dem Kopf hätten hauen können, dachte sie peinlich berührt. Seit sie damit konfrontiert war, dass die Roger-Piraten wohl zumeist nicht unter Geldmangel litten, schämte sie sich ein wenig dafür, arm gewesen zu sein, obwohl das Leben mit Zobar dennoch wundervoll gewesen war.
„Es ist vollkommen egal, was genau der Grund für eure Sparsamkeit war. Die knausrige Grundhaltung, die du besitzt, wird dir im Leben mehr Vorteile als Nachteile bescheren, glaube mir. Wenn du nun noch lernst, wie man den vorhandenen Preis geschickt weiter drückt, um den größtmöglichen Nutzen aus deinem Geld zu ziehen, wirst du noch viel mehr Freude damit haben.“
Und erneut schien Ganryū problemlos ihre Gedanken erraten zu haben. War sie so leicht zu lesen oder hatte er einfach nur ein besonderes Gespür für seine Mitmenschen?
Der Quartiermeister lächelte und entblößte dabei perfekte Zähne, von denen zwei vergoldet waren, als er erneut ihre Gedanken erriet. „Ich bin tatsächlich so gut. Mein Vater war ein äußerst bekannter Kaufmann im Southblue, musst du wissen. Er hat immer gesagt: Der Weg zu einem besonders guten Preis, ist der gleiche, wie zu dem Herzen eines Menschen – man muss auf die Gefühle seines Gegenübers achten.“ Er hob seinen Zeigefinger in die Lüfte, als er seinen Vater rezitierte und dabei seine Stimme verstellte. Bean musste schmunzeln. „Und es stimmt! Zu einem guten Freund ist man viel freigiebiger, als man es bei einem Fremden wäre, nicht wahr? Also muss man den Verkäufern das Gefühl geben, man wäre einer. Das ist es eigentlich schon. Doch so leicht das klingen mag, die Umsetzung bedarf viel Fingerspitzengefühl. Man muss die emotionale Verfassung seines Gegenübers richtig einschätzen, sich gesellig und freundlich zeigen, aber sich auf keinen Fall anbiedern.“
Bean bezweifelte, dass ihr das so rasch gelingen würde. Sie kam mit ihren eigenen Gefühlen kaum zurecht und jetzt sollte sie noch die Gefühle anderer begreifen?
„Natürlich hängt das eigene Vorgehen auch davon ab, was man selbst in die Waagschale wirft und welche Wirkung man auf andere hat. Am besten, du schaust und hörst mir eine Weile zu, dann verstehst du schon, wie ich es meine, was man sagen und wie man sich verhalten kann. Aber sei aufmerksam, ja? Im Anschluss können wir uns darüber Gedanken machen, wie deine Taktik aussehen könnte.“
„Okay!“ Das war ein Versprechen, was sie gerne gab. Sie war tatsächlich sehr neugierig auf seine Tricks.

Ganryū war die ideale Verkörperung einer guten Bekanntschaft, nach der sich viele zu sehnen schienen. Die Sorte Mensch, von der man wenig wusste, aber über die man sich stets freute, wenn man ihr im Einkaufsladen, im Wohnungsflur oder in der Warteschlange begegnete, weil man sich bei diesem Menschen so wunderbar auskotzen und über Gott und die Welt reden konnte, ohne Gefahr zu laufen, irgendjemanden damit auf die Füße zu treten. Denn man kannte einander kaum. Man hegte nur Sympathie füreinander. Er verurteilte nie jemanden ob seiner Meinung, übte keine Kritik, hatte stets ein freundliches Lächeln und ein paar nette Worte im Gepäck, die so passend platziert wurden, als wäre das gesamte Gespräch ein glaubhaft einstudiertes Theaterstück.
Kurzum: Bean hatte keinerlei Ahnung, wie sie das nachahmen sollte. Die Lebensgeschichten anderer interessierten sie einen feuchten Furz. Prinzipiell war es ihr sogar unangenehm, so viel von Fremden zu erfahren. Sie wusste dann nie, was sie ihnen sagen sollte. Aber scheinbar erwarteten die Menschen auch keine Tipps, keine Ratschläge oder eine Umarmung, die sie von ihr ohnehin niemals bekommen würden. Scheinbar war es vollkommen ausreichend, zu nicken und an den richtigen Stellen betroffen zu wirken. Oder zu lachen, wenn jemand einen Witz gemacht hatte, auch wenn er grottenschlecht war. Wollten alle Menschen am Ende bloß angelogen werden? Selbst wenn sie so viel Mitgefühl glaubhaft vorspielen könnte, woran sie erhebliche Zweifel hegte, wäre ihr das zuwider. Glaubte sie. Wäre so ein Verhalten nicht die reinste Verarsche?
Bean konnte vor Erstaunen nur den Kopf schütteln, da wurde ihr plötzlich ein Eis unter die Nase gehalten. Sie zuckte instinktiv zurück, doch als sie Eugens Gesicht in Kombination mit einem schelmischen Augenzwinkern sah, entspannte sie sich wieder.
„Dankeschön!“, trötete sie und begann augenblicklich am Eis zu schlabbern.
„Die ersten beiden Karren sind fast voll und werden demnächst zurück zum Schiff geschoben“, teilte er ihr mit. „Aber keine Sorge, ich bleibe bei dir. Immerhin will ich mit eigenen Augen sehen, wie du dich beim Feilschen schlägst.“
„Oh bitte nicht!“
„Oh bitte doch! Das lasse ich mir doch nicht entgehen. Der harte Arbeitstag muss belohnt werden.“
„Hart? Du machst nicht mehr als ich.“
„Nicht so voreilig, Madame! Du bist schließlich erst zu uns gestoßen, da war der Lagerraum schon vorbereitet für die frischen Waren und die Kisten auf den Wägen leer und bereit. Beim Abladen am Schiff und das planmäßige Verstauen der Einkäufe, wirst du zwar mithelfen, aber eher im Kleinen. Und das ist in Ordnung so, du sollst schließlich nur einen Überblick erhalten.“
„Hm.“ Das stimmte wohl, aber je mehr Zuschauer, desto niedriger die Chance, dass sie nicht in Angstschweiß ausbrach und vor lauter Aufregung den Markt zusammenschrie, wenn etwas nicht wie erhofft lief. Sie boxte ihm gegen den Arm. „Du guckst nicht zu! Immerhin hast du die letzten Tage nicht mit mir trainiert!“
„Oha, ich wusste gar nicht, dass du plötzlich die Regeln machst. Aber keine Sorge, sobald wir aus der brütenden Hitze raus sind, versohle ich dir ordentlich den Hintern mit deinem eigenen Baseballschläger.“
„Hey! Warum plötzlich so fies?“
„Wer große Töne zu spucken weiß und glaubt, den Erwachsenen an Bord Vorschriften machen zu können, muss mit den Konsequenzen leben.“
„Dann versohle ich dir eben auch den Hintern!“
Eugen brach in schallendes Gelächter aus, in welches zwei weitere ihrer Kameraden, die Bean bis dato noch gar nicht bemerkt hatte, miteinstimmten. Wenn sie nicht wieder irgendetwas durcheinanderbrachte, hieß der Hüne mit den schwarzen struppigen Haaren Gin und der andere schlaksigere Mann mit den kurzen weißen, die er sich am Hinterkopf einem Igel gleich mit Gel gestylt hatte, Tomec. Sie waren beide etwas jünger als Eugen, also etwa Mitte, Ende dreißig.
„Wenn uns die Händler bei so viel Charme mal nicht in Scharen davonlaufen!“, gluckste Gin im tiefsten Bariton.
„Dann hätten wir wenigstens alles umsonst!“, maulte Bean, die das Gefühl bekam, noch mehr ungewollte Zuschauer gewonnen zu haben, die wie die Raben alles mitverfolgen würden und anfingen zu keckern, wenn sie sich eine Blöße gab.
„Du hast echt Haare auf den Zähnen“, meinte Tomec.
Bean zuckte mit den Schultern. „Und du auf deinen Füßen“, konterte sie, als sie seiner Sandalen gewahr wurde. „Wie ein Kobold.“

Nachdem sie zwanzig Säcke Mehl erfolgreich zum Bestpreis verstaut hatten, fuhren zwei der Wägen vollbepackt zurück zum Schiff. Ganryū rief sie zu sich und läutete damit das Ende ihrer guten Laune ein.
„Nun geh schon, Frechdachs, und zeig, was du kannst!“, meinte Eugen bester Laune und setzte sich zu den anderen auf den verbliebenen Wagen.
„Viel Glück, Tomboy“, rief Gin ihr nach.
Bean warf den Männern einen bösen Blick zu, ehe sie auf Ganryū zulief.
„Und, hast du gut aufgepasst, wie ich es mache?“, wollte er von ihr wissen.
„Schon, aber ich glaube nicht, dass deine Herangehensweise so geeignet für mich ist. Ich bin nicht sonderlich… redselig…“
Ganryū nickte. „Das stimmt, aber du musst oder sollst mich auch nicht kopieren. Entweder man wählt beim Feilschen eine Herangehensweise, die dem eigenen Naturell entspricht oder eine von Grund auf Gegensätzliche. Bei dir würde ich empfehlen, letzteres zu versuchen, sonst geht es schief.“
Na vielen Dank auch…, dachte Bean. Wo war plötzlich diese herzliche Höflichkeit geblieben, die er den Händlern angedeihen ließ?
Es war eine Sache, wenn sie sich selber mobbte, aber von ihm gefoppt zu werden… Selbst wenn es grundsätzlich richtig und nachvollziehbar war, was er sagte.
„Setze auf deine Niedlichkeit. Du bist jung, da geht das. Sei charmant, keck oder flirte ein wenig – dir stehen viele Türen offen. Außerdem ist es bei deiner Optik der Fantasie des Händlers überlassen, ob er dich als Jungen oder Mädchen wahrnimmt. Du bist zwar eigentlich noch ein bisschen zu jung, aber jeder Erwachsene fühlt sich zumindest geschmeichelt, wenn ein junges Ding, wie du eines bist, ihm oder ihr ein paar Komplimente schenkt. Bei mir würden die Leute Reißaus nehmen oder mich mit dem Besen fortjagen, wenn ich anfangen würde zu kokettieren.“
Die Vorstellung, wie ein in die Jahre gekommener Händler mit dem Besen auf Ganryū losging, entlockte ihr ein Kichern. „Das würden sie nicht wagen, du bist ein gesuchter Pirat.“
„Mag sein, aber erfolgreiche Kaufmänner interessiert das meist nicht. Ihr Kapital und ihren Ruf verteidigen sie mit ihrem Leben. Das ist schließlich alles, was sie haben. Du musst dich jetzt erst einmal auf dich selbst konzentrieren und dir einreden, dass du ein vor Zartheit erstrahlendes Blümlein bist. Liebreizend und warmherzig.“
„Ich bin aber kein zartes Pflänzchen!“
„Stimmt, du bist eher Gestrüpp.“
„Warum bist du nur so zu mir?“
„Schlüpf einfach in eine Rolle, Bean. Schenk den Leuten ein gutes Gefühl. Spiel jemanden, der süß, unschuldig und zu lieb für diese Welt ist. Das ist nichts, was einem peinlich sein muss. Was zählt, ist das Ergebnis. Du schaffst das.“
Na ganz toll. Das sagt er so, in seinem jugendlichen Leichtsinn. Wie sollte sie in eine Rolle reinfinden, die nicht ihrem Selbst entsprach?
„Nimm dir einfach jemanden zum Vorbild, den du kennst, der dieses Bild verkörpert und ahme es nach“, half er ihr ein letztes Mal auf die Sprünge, ehe er sie zum Gemüsehändler schickte. Sie sollte vierzig Kisten Gurken und Möhren, zweiunddreißig Kästen mit Zucchini, Paprika und Tomaten sowie zwanzig Kisten Mais, Brokkoli und achtzig Salatköpfe und allerhand anderen Kram einkaufen. Das konnte ja heiter werden.
Je näher sie den Ständen kam, desto aufgeregter und ratloser wurde sie. Als sie sich hilfesuchend umdrehte, sah sie die Jungs auf dem Wagen sitzen, wie sie ihr die Daumen entgegenstreckten.
Oh man, oh man, oh man… Was soll ich nur tun?! Wann war sie jemals jemandem begegnet, der so drauf war, wie von Ganryū beschrieben?
Nervös umfasste sie für einen Moment ihren Hals und rieb sich dann mit der flachen Hand übers Dekolletee, um sich zu beruhigen, als eine Erhebung unter der Kleidung sie plötzlich aus der Gedankenspirale, die stetig abwärtsführte, herausriss. Der Ring! Marnie! Natürlich! Sie hatte seit Ewigkeiten nicht mehr an sie gedacht, obwohl sie ihr hoch und heilig versprochen hatte, sie niemals zu vergessen! Nun, das würde sie auch nie, aber dennoch war sie gerade in letzter Zeit ziemlich häufig in den Hintergrund gedrängt worden. Beans Ohren begannen zu glühen, als sie an Marnie und die Zeit mit ihr denken musste. Es war nur ein Tag gewesen. Ein ewig währender und doch viel zu kurzer Tag, der seinen Höhepunkt in der Nacht fand, als sie sich auf einer Lichtung zurückgezogen hatten, Marnie ihr diesen Ring schenkte und sie sich schworen, sich bis an ihr Lebensende an einander zu erinnern. Und dann hatten sie sich geküsst.
Das war nun beinahe zwei Jahre her, Bean war erst vierzehn gewesen, doch allein die Erinnerungen ließen ihren Bauch mit Schmetterlingen überfluten und sie über beide Ohren Grinsen, wie ein verliebter Vollidiot.
Bean schlug sich die Hände vor die warmen Wangen und schloss die Augen. Marnie… Ihr erster Crush. Sie hatte eine kurze Latzhose getragen, die modisch zerschlissen war, dazu bequeme Chucks, die sie niemals aufgeschnürt hatte, sondern aus ihnen einfach hinausgeschlüpft war, als sie baden liefen. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von wundervollen, kastanienbraunen, kurzen, lockigen Haaren umrahmt. Und ihre Augen erst! Sie waren von einer unglaublichen Strahlkraft, dass Bean bei ihrer ersten Begegnung die Kinnlade hinuntergeklappt war. Bean quietschte verzückt, als sie daran und an Marnies Orchideengeruch dachte. Sie war vieles von dem, was Ganryū ihr aufgetragen hatte zu sein und doch so viel mehr.
„Na, das freut mich aber, eine junge Dame so vergnügt zu sehen! Etwa frisch verliebt? Dieser jemand darf sich aber glücklich schätzen! Wie wäre es da mit erntefrischem Gemüse? Auf Onkel Bobs Gemüsehof gibt es alles, was das Herz begehrt. Das erhält die jugendliche Schönheit und lässt die Haut erstrahlen. Noch dazu ist es gesund – bestens geeignet also für ein langes, erfülltes Leben mit dem Liebsten“, wurde der Gemüsehändler auf sie aufmerksam, in dessen Richtung sie beständig fortgeschritten war. Er hatte ein freundliches großväterliches Gesicht und sein Bart verzeichnete bereits einige weiße Härchen.
Marnie. In ihre Fußstapfen musste sie treten, wollte sie erfolgreich sein. An diesen Gedanken hielt sie sich fest, als sie den letzten Meter zum Gemüsestand überbrückte. Sie schenkte dem Händler ihr schönstes Lächeln, welches noch immer von ihren Erinnerungen getragen wurde. „Einen schönen guten Tag, wünsche ich!“, flötete sie höflich einige Oktaven höher und vollführte dabei sogar einen kleinen Knicks, der beim Händler für ein heiteres Lachen sorgte.
„Ich könnte tatsächlich etwas Gemüse gebrauchen, aber nicht für mich alleine“, zwinkerte sie ihm zu.
„So? Na das freut mich! Was darf es denn sein, junge Frau?“
Sie kratzte sich etwas verlegen an die Wange. „Etwas mehr als das, was sie hier anbieten… Wissen Sie“, kam sie direkt zum Punkt und lehnte sich zu dem Händler vor, der sich ebenfalls zu ihr hinüberbeugte. „Mein Papa schickt mich. Unser Schiff läuft morgen aus und ich soll mich auf dem Markt nach dem besten Gemüse für unsere Reise umsehen, dass es auf dem Markt zu finden gibt. Er hat mir genau aufgetragen, was ich für ihn einkaufen soll. Ein paar unserer Leute würden es später in ihrem Geschäft abholen kommen. Aber“, sie neigte sich noch ein Stückchen weiter zu ihm hinüber und hielt eine Hand vor dem Mund, als würde sie ihm ein Geheimnis erzählen wollen. „Ich habe leider nicht die geringste Ahnung, ob man für das Geld, dass er mir mitgegeben hat, tatsächlich alles bekommt.“
„Ach wirklich? Na da helfe ich doch gerne weiter! Wie viel hat dir denn dein werter Herr Papa gegeben und was brauchst du? Ich bin sicher, dass dir der alte Bob einen guten Preis machen kann.“
Sie reichte Onkel Bob die Einkaufsliste.
Der ältere Herr überflog nickend die Liste. „Und wie viel hat dir dein Vater an Geld mitgegeben?“
Bean nannte die Summe, die gerade einmal zwei Drittel vom eigentlichen Durchschnittspreis betrug. Onkel Bob war anzusehen, dass das Geld für die Menge an Lebensmitteln ein kleines bisschen zu knapp bemessen war. Einen nennenswerten Gewinn würde er bei diesem Geschäft mit Sicherheit nicht machen, wenn überhaupt. Schuldbewusst zog sie die Schultern hoch und zupfte an eine Haarsträhne. Sie lächelte verschämt, ihre Wangen rot. „Das ist zu wenig, nicht wahr? Das dachte ich mir schon…“, behauptete sie.
„Ja... naja…“
„Ich weiß!“, unterbrach sie ihn und klatschte in die Hände. „Ich habe noch ein Sparschwein mit Geld, dass ich zu Weihnachten bekommen habe. Wenn ich das hole, reicht es bestimmt!“
„Nana…“, meinte Onkel Bob ein bisschen gequält, als er in ihre vor Treuherzigkeit weit aufgerissenen Augen blickte – so voller Hoffnung. „Das lassen wir mal lieber, junge Dame. Onkel Bob kriegt das schon hin. Die Ernte in diesem Jahr war wirklich gut. Du bekommst die Sachen zu dem genannten Preis.“
„Ja, wirklich?“, quietschte sie vergnügt. Sie presste ihre Fäustchen an ihre Wangen und strahlte ihn an.
„Wirklich!“, bekräftigte er. Nun war er es jedoch, der sich zu ihr über den Stand beugte und etwas zuflüsterte. „Das verraten wir aber niemandem!“
„Natürlich nicht! Vielen, vielen lieben Dank! Sie sind der Beste, Onkel Bob!“ Und mit diesen Worten tat sie etwas derart Untypisches, dass es sie beinahe aus ihrer Rolle riss: Sie umarmte den alten Kaufmann freudestrahlend. „Wie unglaublich lieb von Ihnen!“
Der ältere Herr lachte und tätschelte ihren Rücken. Er war augenscheinlich ebenso überrascht wie sie von so viel Nächstenliebe, schien sich aber ehrlich zu freuen. Als sie ihn wieder losließ, machte er die Papiere fertig, mit denen sie im Geschäft die entsprechenden Waren würden abholen können. Den Preis bezahlte sie direkt vor Ort beim ihm.
Zur Verabschiedung winkte er ihr zu, was sie gerne erwiderte, als sie in der Masse untertauchte und in einer Gasse auf ihre Kameraden wartete, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.
Wie zur Hölle hatte sie das nur geschafft?!

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Hallo, nun doch schon das nächste Kapitelchen. Die nächsten Wochen wird wohl mal wöchentlich, mal 14-tägig etwas hochgeladen. Je nachdem, wie es vorwärtsgeht :)
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