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Harry Potter Geschichtenkalender 2023

Kurzbeschreibung
SammlungAllgemein / P16 / Mix
Dean Thomas Horace Slughorn Minerva McGonagall Seamus Finnigan Sibyll Trelawney Thomas Riddle
02.01.2023
18.09.2023
38
88.859
22
Alle Kapitel
177 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
 
18.09.2023 8.181
 
F E U E R W H I S K E Y


Autorin: PoldiAndSchweiniFan
Typ: Oneshot
Genre: Schmerz/Trost, Freundschaft, Liebesgeschichte
Rating: P12 Slash
Pairings / Hauptpersonen: Seamus Finnigan (PoV) x Dean Thomas, Ginny Weasley
Anmerkung:
Ein Dankeschön an Pia fürs Betalesen!
Diese Geschichte ist als missing scene zu meiner Story Magie war… gedacht, Vorkenntnisse sind allerdings nicht notwendig, um diesen One-Shot zu verstehen. Für Leute, die die Story jedoch kennen, sind hier einige kleine Bonbons versteckt. Viel Spaß damit!
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F E U E R W H I S K E Y

» I had all and then the most of you
Some and now none of you
Take me back to the night we met
I don’t know what I’m supposed to do
Haunted by the ghost of you
Oh, take me back to the night we met
The Night We Met – Lord Huron

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18. September 1997, Hogwarts, 7. Schuljahr

Seamus sah Dean überall. Im Schlafsaal, in der Großen Halle, im Unterricht, am Rande des Großen Sees im Schatten der Weiden. Er sah ihn nicht als wirkliche körperliche Gestalt, jedoch auch nicht als Geist. Mehr als eine Erinnerung. An manchen Tagen ähnelte Deans Gestalt den Bleistift-Skizzen, mit denen Dean sich in hastigen fünf Minuten zwischen Unterrichtsstunden auf alle möglichen Oberflächen verewigt hatte, auf denen man auch nur ansatzweise zeichnen konnte. An anderen Tagen war die Erinnerung an Dean bleich und verschwommen wie die Landschaftsbilder von Hogwarts und seinen Ländereien, die Dean an heißen Tagen in Freistunden mit Farben angefertigt hatte, die Muggel wohl Aquarellfarben nannten. An manch anderen Tagen war die Erinnerung jedoch auch scharf und farbenreich, beinah im Kontrast überdreht, so wie Deans anfängliche Bilder von Robotern und Comics, die er vor allem im ersten und zweiten Schuljahr als Mittel gegen das Heimweh gemalt hatte.

Seamus sah Dean nachts, wenn er träumte. Es waren weder beunruhigende noch wirklich beruhigende Träume, Dean war einfach nur da und während Seamus sich an schlechten Tagen wünschte, noch einige Stunden länger in diesen Träumen abtauchen zu können, wünschte er sich an richtig schlechten Tagen, nie einzuschlafen, um nach dem Aufwachen nicht schmerzhaft feststellen zu müssen, dass Dean nicht da war. Seamus sah Dean überall. Und auch wenn er es aus einem unbegreiflichen Stolz heraus nicht gerne zugab, waren dieses schmerzhafte Ziehen und unruhige Flattern in seiner Brust, die auf seinen Magen schlugen und eine Art Vakuum hinterließen, pures Vermissen.

Seamus sah Dean überall, aber Dean war nicht da. Er saß in der Großen Halle nicht neben ihm und aß morgens schweigend den Haferbrei mit einer doppelten Menge an Rosinen, die Seamus angeekelt von seinem eigenen Haferbrei pickte und mit einem Löffel Deans Haferbrei unterschmuggelte. Dean saß während Geschichte der Zauberei nicht neben Seamus und kickte ihn aus einem unweigerlichen Halbschlaf, sobald Professor Binns auf eine Antwort von Mr. Finnick hoffte, die Seamus – so wie der Rest der Klasse abgesehen von natürlich Hermine – nicht nennen konnte. Dean stand während Kräuterkunde nicht neben Seamus und ließ glitschige Flubberwürmer, die sich in der Erde der Gewächshäuser versteckten, in seinen Nacken fallen, so dass Professor Sprout sie letztendlich schnaufend ermahnen musste und es sie jede Stunde mindestens fünf Punkte Abzug für Gryffindor kostete. Dean lag nicht mehr im Schatten der Weiden, die am Rand des Großen Sees wuchsen, und zeichnete Bilder, in denen Seamus stundenlang nach neuen, unentdeckten Details suchen konnte. Und vor allem lag Dean nicht mehr im Schlafsaal zu seiner Rechten, so dass Seamus nun nachts manchmal schlaftrunken aus einem Instinkt heraus von seinem Bett in Deans ehemaliges Bett wankte und es leer vorfand. Es waren nicht einmal drei Wochen seit Beginn des siebten Schuljahres vergangen, aber in diesen Tagen hatte Neville Seamus morgens wahrscheinlich häufiger zusammengekugelt in Deans Bett aufgefunden und geweckt als in Seamus’ eigenem.

Hogwarts war die Hölle und Deans Abwesenheit verschlimmerte das Ganze nur noch. In Seamus lauerte eine Wut, die ihn jedoch nicht von innen verbrannte, sondern eher einfror. Seit Deans Flucht brannte es nicht mehr in Seamus, selbst wenn er wütend war. Er ließ keine Dinge mehr explodieren, aus seinem Zauberstab flogen keine kleinen Feuerwerke mehr, die die im Gemeinschaftsraum vor allem die jüngeren Schülerinnen und Schüler erfreuten. Ohne Deans Bilder fehlte Seamus die Farbe im Leben und letztendlich der Funke. Seamus fühlte sich leer, ausgebrannt. Er bestand nur noch aus Asche und aus den letzten Resten verpufften Schwarzpulvers. Seamus war wütend auf sich selbst, wütend über seine eigene Naivität, in der er angenommen hatte, dass Hogwarts sich wahrscheinlich nach der stillen und heimlichen, aber doch merklichen Übernahme der magischen Welt durch Du-weißt-schon-wen und die Todesser zwar verändern würde, aber nicht so drastisch. Seamus hasste die Carrows, die wie Geier am Tisch der Lehrerschaft zu Snapes rechten und linken Seite saßen, bereit zum Sturzflug auf jeden Schüler und jede Schülerin, der oder die auch nur im Geringsten gegen die Vorschriften verstieß. Seamus hasste Snape und allein das Wissen, dass er dort komplett in Schwarz gehüllt und mit vor Fett triefenden Haaren als neuer Schulleiter an Professor Dumbledores Stelle saß, weckte in Seamus Mordgelüste, die manchmal sogar seinen Zauberstab ganz von allein zucken und grüne Funken sprühen ließen. Es waren keine Feuerwerke, nicht mal ansatzweise, aber die Mordgelüste waren das einzige Gefühl, das zumindest irgendetwas in Seamus’ aufflackern ließ, auch wenn nur für einen Bruchteil einer Sekunde. An manchen Tagen hasste er sogar Professor McGonagall, die zwar Snape mit einem Blick taxierte, der auf ähnlichen Mordgedanken schließen ließ, aber nichts unternahm. Niemand aus der Lehrerschaft unternahm irgendetwas und auch wenn Seamus grundsätzlich verstand, dass zu viel auf dem Spiel stand, wünschte er sich manchmal in einem unkontrollierbaren Wutanfall, dass sie den Carrows und Snape zeigen würden, dass Angriff die beste Verteidigung war.

Und letztendlich, ja, letztendlich hasste Seamus ganz, ganz selten, aber doch eben auch manchmal Dean. Er hasste Dean, weil dieser ihn verlassen hatte. Weil er ihn allein gelassen hatte. Weil er ihn zurückgelassen hatte. Seamus hasste Dean, weil er Seamus’ Flehen während Dumbledores Beerdigung missachtet hatte. »Was auch immer du tust – tu es nicht ohne mich, Dean. Versprich mir das.« Deans Antwort waren lediglich das Lösen seiner Hand aus Seamus’ Hand und ein Abschied ohne wirklichen Abschied gewesen. Wochen über Wochen hatte Seamus, magisch von seiner Mutter zu einem Hausarrest verdonnert, in den Sommerferien am Fenster seines Zimmers gesessen und auf die Kenmare Bay gestarrt, in der Hoffnung über das Wasser Scréachóg, die Familienschleiereule, mit Deans Antwort auf Seamus’ unzähligen Briefe am Bein gleiten zu sehen. Es war nie eine Antwort gekommen, nie ein Brief, in dem Dean ihm das Versprechen gegeben hatte, nichts selbstständig überstürzt zu entscheiden und vor allem letztendlich zu tun. Und als Dean eines Nachts im Spätsommer kurz vor dem Schulanfang und der Verabschiedung der neuen Gesetze, die ihn zu einer Registrierung im Ministerium gezwungen hätten, halb ohnmächtig vor Müdigkeit vor Seamus’ Haus appariert war, hatte er zwar den Abschied nachgeholt, aber immer noch kein Versprechen gegeben. Dean hatte es ihm nicht versprochen und er hatte es ohne Seamus getan. Er war auf der Flucht. Allein. Ohne Seamus. Während die Creevey-Brüder hier in Hogwarts sich als Demelza Robins’ Cousins und somit Teil einer magischen Familie ausgaben und damit durchkamen, war Dean auf der Flucht. Seamus hasste Dean für diese Entscheidung, weil sie beide mithilfe von Seamus’ Mutter sicherlich irgendwo in dem Familienbaum der Ó’Dubhghaills eine magische Schwarze Person gefunden hätten und sie Dean als Seamus’ Cousin zwanzigsten Grades mütterlicherseits ausgegeben hätten. Dean jedoch hatte sich zwar heldenhaft, aber – wenn man Seamus fragen würde – unfassbar dumm für die Flucht entschieden und das eben ohne Seamus. Dafür hasste Seamus Dean manchmal, wenn er ehrlich war. Was jedoch nichts daran änderte, dass er ihn gleichzeitig so schrecklich vermisste, dass das Ziehen und unruhige Flattern in stillen, einsamen Momenten zu solch einem Gefühl anwuchsen, dass er den Drang verspürte, sich in Salzwasser ertränken zu wollen. Unabhängig davon, wie oft Seamus es versuchte, unabhängig davon, wie sehr Seamus versuchte, einfach in eine Leere und Stille ohne Deans Gesicht und ohne Erinnerungen an ihn abzutauchen, er schafft es nicht. Seamus trieb orientierungslos auf der Oberfläche des Vermissens, die aus Salzwasser bestand und nicht zuließ, dass er absank.

Seamus hatte es nie zugeben wollen und er hatte es vor allem nie fühlen wollen, aber er brauchte Dean. Er brauchte Dean, wie er Luft zum Atmen brauchte. Er brauchte Dean, wie er seinen Zauberstab zum Zaubern brauchte. Er brauchte Dean, wie er das Blut in seinen Adern zum Überleben brauchte. Dean hatte Seamus mit seinem Hang zu unkontrollierten Feuerwerken und teilweise überdrehten Reaktionen stets einen gewissen Hang zur Dramatik zugeschrieben und Seamus leugnete diese Seite an sich selbst nicht, aber in dieser Hinsicht war es die vollkommene Wahrheit – er brauchte Dean und ohne ihn war er verloren. Die Notwendigkeit von Dean in Seamus’ Leben war mit den Jahren so natürlich geworden, dass es Seamus, wenn er darüber nachdachte, erschreckte. Nicht weil ihm das Gefühl Angst machte – okay, wenn Seamus ehrlich war, dann hatte es eine Zeit gegeben, in der ihm dieses Gefühl Angst eingejagt und ihn verwirrt hatte, aber jetzt hier in Hogwarts machte ihm das Allein-Sein mehr Angst, als die Gefühle für Dean es je hätte tun können. Nein, das ängstigte ihn nicht mehr, es fürchtete ihn, dass er Dean immer irgendwie als selbstverständlich angesehen hatte. Dean war immer da gewesen, egal, wie scheiße Seamus ihn teilweise behandelt hatte. Sei es nach ihrem betrunkenen Kuss während der Quidditch-Weltmeisterschaft gewesen, über den Seamus nie ein Wort verloren und auf den er – naiv und ungestüm, verwirrt über seine eigenen Gefühle – mit Sex mit Lavender reagiert hatte. Sei es nach Seamus’ Misstrauen in Harry während des fünften Schuljahres gewesen, als Seamus Dean einen Verrat angehangen hatte, den Dean nie begangen hatte. Sei es nach Deans Beziehung zu Ginny gewesen, die in Seamus eine unerklärliche Wut und vor allem unfassbar starke Verlustängste ausgelöst hatte, die er durch grimmiges und trotziges Schweigen an Dean ausgelassen hatte. Nach all diesen beschissenen und dummen Aktionen war Dean dennoch immer da gewesen und er hatte Seamus nie allein gelassen. Seamus hatte es in seiner naiven Egozentrik und seinem Hochmut als selbstverständlich gesehen, dass sein bester Freund immer bei ihm war. Und auch wenn es jetzt, da Dean eben nicht mehr da war, Seamus inzwischen klar geworden war, dass Dean nicht selbstverständlich war, war es zu spät. Dean war nicht mehr da und Seamus bekam seinen eigenen Hochmut und seine Egozentrik, die sich als falsch erwies, jederzeit in verschiedensten Ausführungen und Ausprägungen zu spüren.

Genau in diesem Moment zeigten sich sein Hochmut und die Tatsache, dass er nicht der Mittelpunkt der Welt war, beispielsweise darin, dass er vor einer vollen Schüssel Haferbrei mit übermäßig Rosinen saß. Seamus wusste nicht, ob Snape auf Rosinen stand und deshalb den Hauselfen das Übermaß befohlen hatte oder ob die Hauselfen der Schülerschaft mit ein wenig Süßem etwas Gutes tun wollten. Was auch immer es war, Seamus hasste die kleinen, runzeligen Teile und Dean war nicht da, um sie stattdessen zu essen. Und so lagen sie aussortiert auf einem kleinen Untersetzteller neben seiner Schüssel Haferbrei und widerten Seamus durch ihre bloße Existenz an.

»Isst du die Rosinen nicht?« In der geisterhaften Stille der Großen Halle klang das leise, bedachte Flüstern zu seiner Rechten beinah wie ein lauter Schrei. Es beunruhigte Seamus, dass er augenblicklich und zielstrebig nach seinem Zauberstab griff, der neben der Schüssel Haferbrei und dem Teller voller Rosinen lag, obwohl das Zaubern außerhalb des Unterrichts verboten und mit einer Woche Nachsitzen bestraft wurde, um das sich Horrorgeschichten rankten – manche wahrer als andere. Keine drei Wochen Hogwarts hatten Seamus verändert, hatten sie alle verändert und Seamus fürchtete die Person, zu der er in einer weiteren Woche, in einem Monat und in einem Jahr werden würde. Er ließ sich für gewöhnlich nicht allzu schnell erschrecken – bei den plötzlichen Explosionen, die er zuvor immer mal wieder heraufbeschworen hatte, wäre dies auch nicht unbedingt zu seinem Vorteil gewesen –, aber fünf Petrificus Totalus in seinen Nacken und zwei Furunculus mitten in sein Gesicht innerhalb der ersten drei Wochen hatten ihm Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit beigebracht.
»Seamus, ganz ruhig. Ich bin’s.« Unruhig schnellte sein Blick zur Seite und als er rotes Haar bemerkte, atmete er erleichtert auf.
»Bei Merlins Unterhose, Ginny – «
»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.« Unsicher schnaufte Seamus und lockerte seinen Griff. Sein Ebenholz-Zauberstab fiel hohl klappernd auf den Tisch. Auch wenn Ginnys Stimme bemüht beruhigend klang, erkannte Seamus in ihren Augen eine versteckte Panik, die wie ein Insekt in Bernstein konserviert worden war. Sie alle – wahrscheinlich abgesehen von einigen Slytherins mit Todesser-Eltern – trugen diese Panik seit dem ersten Tag dieses Schuljahres mit sich. Manche mehr, manche weniger.

Es hatte Seamus ehrlicherweise überrascht, als Ginny mit Lovegood im Schlepptau sich im Zug zu Neville und ihm ins Abteil gesetzt hatte. Nicht weil sie sich zu ihm gesellt hatte trotz dessen, dass er und sie – abgesehen davon, dass sie mal die Freundin seines besten Freundes gewesen war und Ron als Bruder hatte – nie wirklich etwas miteinander zu tun gehabt hatten, sondern weil er vermutet hatte, dass die Weasleys wegen ihrer Verbindung zu Harry abtauchen würden. Ohne Ron und vor allem ohne Harry hatte Ginny zwischen Neville und Lovegood auf der Bank im Zugabteil verloren gewirkt und Seamus hatte erschreckenderweise ein Stück weit sich selbst in ihr gesehen. Vielleicht war dies einer der Gründe, weswegen Seamus seitdem abgesehen von einem flüchtigen »Hi« und »Hast du Neville gesehen?« kein Wort mit ihr gewechselt hatte, weil es ihm Angst machte, sich selbst in ihr zu erkennen – verlassen von der wichtigsten Person, die einem mehr bedeutete als alles andere. Zumindest nahm er an, dass Ginny so fühlte. Vielleicht war es aber auch einfach die Tatsache, dass sie – egal wer auch immer fehlte und welche Räume für neue Menschen im Leben sich auftaten – keine Freunde waren. Und so überraschte es Seamus auch umso mehr, dass sie nun neben ihm saß und nach seinen Rosinen fragte.

»Ich wollte nur – du hast die Rosinen so rausgepickt – « Ginny blickte ihn fragend an und ihre Lippen verwandelten sich zuckend zu einem leichten, beschwichtigenden Lächeln. Seamus schluckte. Er verstand, was Dean in Ginny gesehen hatte. Was viele der Jungs – und wahrscheinlich auch einige der Mädels – in Ginny sahen. Entgegen der logischen Überlegung, dass es das Flammenmeer an Haaren sein musste, waren es ihre Augen, die Seamus zuerst auffielen - sie waren wie Bernstein und umschlossen unweigerlich und ganz natürlich ihre Beute. Was auch immer Seamus war, er war nicht blind. Er war auch nur ein Mensch mit Gefühlen und mit einem gewissen Sinn für Ästhetik, so dass er ahnen und sich vorstellen konnte, dass auch er womöglich sich in diesen Bernsteinen von Augen hätte verlieren können, wenn er nicht bereits in anderen Augen verloren gegangen wäre und in Ginnys Augen nicht unmissverständlich die Erinnerung an und die Sehnsucht nach Harry hätte spiegeln sehen. Ginny hatte ein unkonventionell hübsches Gesicht, die Nase ein wenig zu lang, aber mit dem perfekten geschwungenen Bogen, so wie Seamus’ eigene Nase, die Augen ein wenig zu weit auseinander, aber groß und den Anschein von Jugend erweckend, eingerahmt von unzähligen hellen Wimpern. Seamus sah und verstand ihre Attraktivität, aber es raubte ihm nicht den Atem. Er wollte nicht in Bernstein versinken und für Jahrhunderte und Jahrtausende in ihnen konserviert werden. Seamus betrank sich lieber an Augen, die mit einem schüchternen Lachen zu edelstem Feuerwhiskey wurden und in die er die letzten sechs Jahre geblickt hatte, ohne zu verstehen, dass sie ihn in eine Sucht gestoßen hatten, deren Auswirkungen er jetzt am eigenen Leib erleben musste. Seamus musste über seine absurden Gedankengänge beinah lachen und er hörte ganz fern in seinem Hinterkopf Dean sich über seine Theatralik und Dramatik lustig machen.

Leicht verdattert löste er seinen Blick, entging den Bernsteinen und ihrer Falle und lenkte seinen Blick kurz auf seine Schüssel Haferbrei und den mit Rosinen überfüllten Teller.
»Tu dir keinen Zwang an«, murmelte Seamus und nickte in Richtung des Rosinenberges. Seine Brust zog sich kurz zusammen, als er sah, wie Ginnys Hand nach dem Teller griff und sie sich die Rosinen in ihren Haferbrei kippte, auf dessen Oberfläche Honig schimmerte. Dean hatte seinen Haferbrei zwar mit Seamus’ zusätzlichen Rosinen, aber nie mit Honig gegessen. Absurderweise fühlte es sich wie ein Verrat an, als Ginny den ersten Löffel Haferbrei mit Rosinen in den Mund schob und Deans allgegenwärtige Erinnerung beinah vollkommen bis auf einige hastige Bleistiftstriche verblasste.

Unsicher widmete sich Seamus seinem rosinenfreien Haferbrei zu. Schweigend saßen sie nebeneinander und aßen ihr Frühstück. Bis auf vereinzeltes Flüstern, lauteres Lachen aus der Richtung des Slytherin-Tisches und dem Verschieben von Tellern und Besteck herrschte eine unangenehme, gefährliche Stille. Seamus hatte Hogwarts stets mit einer angenehmen, aber doch manchmal anstrengenden Lautstärke verbunden – wie hätte es auch bei der Vielanzahl von Kindern und Jugendlichen anders sein sollen? Seit diesem Schuljahr war Hogwarts jedoch ein Schatten seines eigenen Selbst. Kaum jemandem war zu Lachen zumute, sie alle starrten auf leere Plätze, auf denen zuvor Freunde, Freundinnen, Mitschüler und Mitschülerinnen gesessen hatten. Viele trugen nach wenigen Woche Narben auf der Haut, die man sich ansonsten nur in Hagrids Unterricht oder bei Quidditch – nun vollständig verboten – zuzog, jetzt jedoch Teil des Nachsitzens waren. Einige wenige von ihnen – wie eben die Creevey-Brüder oder auch Terry Boot – versteckten ihre eigene Muggelstämmigkeit unter falschen Familienzugehörigkeiten und versuchten, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu schinden und vor allem nicht auf Snapes Radar aufzutauchen, der sich – warum auch immer und zumindest bisher – eher weniger um die unrechtmäße Anwesenheit von muggelstämmigen Zauberern und Hexen zu scheren schien.

Seamus senkte seinen Löffel und ließ ihn leise klirrend in die leere Schüssel fallen. Vorsichtig hob er den Blick, darauf bedacht, niemanden Falsches wie Malfoys Affenanhängsel Crabbe und Goyle oder die mopsgesichtige Parkinson anzublicken, die Gefallen daran zu finden schienen, vor allem jüngeren Schülern und Schülerinnen Flüche auf den Hals oder besser gesagt in den Nacken zu jagen. Trotz der Schulpflicht aller magischer Kinder und Jugendlichen und die verpflichtenden gemeinsamen Mahlzeiten zu bestimmten Uhrzeiten waren die Tische ungewohnt rar besetzt. Seamus hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie viele seiner Mitschüler und Mitschülerinnen eigentlich muggelstämmig waren, weil es einfach nie ein Thema für ihn gewesen war. Allein aus seinem Jahrgang fehlten Justin Finch-Fletchley, der mit seiner Familie laut Hannah Abbotts Aussage gegenüber Neville nach Amerika geflohen war, Lisa Turpin, die nach dem Mord an ihren Eltern, der als tragischer Tod nach eine Explosion durch ein unentdecktes Gasleck zu verkaufen versucht wurde, seit Anfang Juni als vermisst galt, Mandy Brocklehurst und Kevin Entwhistle, von denen niemand etwas gehört hatte, sowie Hermine, Ron, Harry und – Seamus schluckte – Dean. In den anderen Jahrgängen sah es wahrscheinlich nicht anders aus.

Seamus versuchte den Gedanken an Dean zu unterdrücken, vor allem weil es noch nicht einmal acht Uhr morgens war und Seamus den Tag, der mit Muggelkunde beginnen sowie mit Verteidigung gegen die Dunklen Künste enden und somit beide Carrows beinhalten würde, irgendwie konzentriert überstehen musste, ohne einen Fluch aufgehalst zu bekommen oder sich wegen einer – in den Augen der Carrows – falschen Körperbewegung Nachhilfe einzuheimsen. Vielleicht lag es an Ginnys Anwesenheit und ihrer Vorliebe für Rosinen, vielleicht auch der lediglich einen Stunde Schlaf in der heutigen Nacht, aber Seamus konnte den Gedanken an Dean nicht unterdrücken und so fand er sich wieder in seinen Gedanken auf Salzwasser treibend vor, unfähig abzutauchen und dem Vermissen zu umgehen. Hier auf seinem persönlichen Gedankenmeer ließ er hilflos seinem Schicksal ausgeliefert wohl oder übel die Gedanken an Seamus zu, denen er ansonsten wie einem Klatscher aus dem Weg ging. Seamus wusste, dass Dean auf der Flucht war. Er wusste, dass Deans Familie abgetaucht war, mit irgendjemandes Hilfe, der oder die auf ihrer Seite stand, so hatte es Dean zumindest ominös beschrieben. Seamus wusste jedoch nicht, wo Dean war, er wusste nicht, wie es Dean ging, er wusste nicht, wie die Flucht war, ob es gefährlich war, ob er sich in der Muggelwelt aufhielt oder sich zwischen magischen Menschen versteckte. Dean hatte Seamus weismachen wollen bei seinem Abschied ohne Versprechen, dass er irgendwo nach Afrika hatte fliehen wollen, aber Seamus erkannte aus Hunderten von Metern, wenn Dean ihn anlog, und so war sich Seamus sicher, dass Dean sich noch irgendwo in Großbritannien aufhielt. Seamus wusste jedoch nicht, ob Dean hungerte oder fror, ob seine Alpträume von einer abgetrennten, blutigen Hand und dem grünen Licht des Todesfluches, unter denen Dean besonders während des dritten Schuljahres gelitten hatte, zurückgekehrt waren. Seamus wusste praktisch nichts und das ließ ihn gereizt und unsicher zurück.

»Seamus?« Ginnys Stimme kroch leise in seine Gedanken und prallte wie ein hüpfender Stein an dem Salzwasser ab. Es reichte, um die Oberfläche zu stören und Seamus zurück in die Realität zu holen.
»Mhm?« Seamus versuchte Ginny zu fokussieren und ihren Anblick scharf zu stellen, was ihm nach den kurzen dissoziativen Ausflügen in sein Inneres jedoch häufiger eher schwer fiel. Das beschwichtigende Lächeln auf ihren Lippen hatte sich in ein unsicheres Mundwinkelzucken verwandelt, an dessen Ende ein klein wenig Haferbrei klebte, und zwischen ihren Augenbrauen zeichneten sich feine, nachdenkliche Falten ab. Ihr Blick musterte sein Gesicht und suchte offensichtlich nach irgendetwas, das sie nicht finden konnte oder Seamus ihr womöglich nicht bieten konnte.
»Ich – « Unruhig leckte sie mit ihrer Zunge über den Mundwinkel und den dort klebenden Haferbrei. »Darf ich dich was fragen? Was Persönliches?«
Verwirrt legte Seamus den Kopf schief. Er kannte Ginny zwar nicht gut, aber zumindest ausreichend, um von dieser Zögerlichkeit verwirrt zu sein. Harry hatte ihre Art als Naturgewalt beschrieben, Ron ihre Sturheit verflucht und Dean war positiv erschlagen gewesen von ihre Selbstständigkeit und ihrem nicht brechbaren Willen. Zögern, Vorsicht, Auskundschaften – das war nicht die Ginny, die vielen reihenweise den Kopf verdreht hatte, eingeschlossen einem Blaise Zabini, der nach einer von Slughorns Privatpartys Ginny nach einem Date gefragt hatte und daraufhin in den Genuss ihres gefürchteten Flederwicht-Fluches gekommen war. Die Geschichte war ein Klassiker im Gemeinschaftsraum der Gryffindors und entlockte selbst in den jetzigen dunklen Zeiten den stillsten Leuten ein Lachen.

»Kommt drauf an, wie persönlich? Wenn du wissen willst, welche Unterhosenfarbe ich bevorzuge – «, antwortete Seamus trocken.
»Godric, nein!« Ginnys raues Lachen klang ein wenig wie Hundebellen, war aber unfassbar ansteckend und ließ viele Köpfe in ihre Richtung schnellen. Den Blicken ausweichend duckte sie sich schnell, so dass eine Strähne in ihren Haferbrei fiel. Eilig fischte Seamus die Strähne aus dem Brei, selbst unverständlicherweise und ganz natürlich ein Grinsen auf seinen Lippen tragend.
»Hätte ja sein können.«
»Sorry, Seamus, aber ich stehe nicht so darauf, wenn der Typ das Gen für rote Haare gepachtet hat, und das hast du leider. Reicht, dass meine ganze Familie rothaarig ist, wenn ich bedenke, dass ich meinen zukünftigen Kindern mit dir und unseren gemeinsamen Genen wahrscheinlich den Todesstoß diesbezüglich geben würde – «
Irgendetwas in Seamus’ Magen brodelte und ein eigenartiger Schleim kroch seine Kehle empor. Angewidert schluckte er hustend und das Grinsen auf seinem Gesicht verschwand so schnell, wie es gekommen war. Er bemerkte, wie Ginny unangenehm berührt die Augen aufriss und mit dem Kopf schüttelte.
»Falls das falsch rüberkam – «
Das war es nicht. Seamus’ Kopf schwirrte, als eine – ihm uralt, aus einem anderen Leben stammend vorkommende – Erinnerung in seinem Gedächtnis hochkam.
»Ist schon – das ist es nicht. Keine Sorge. Genau das habe ich nur mal Dean geantwortet, als er mir vorgeworfen hat, auf dich zu stehen«, antwortete er und seine Worte kamen viel zu stockend aus seinem Mund.

Irgendwann im sechsten Schuljahr hatte Dean am See gezeichnet und Seamus neben ihm gelegen. Seamus erinnerte sich an die Unsicherheit in Deans Gesicht und an die Vorsicht in seiner Stimme, als er ihn gefragt hatte, ob er auf Ginny stehen würde, und Seamus hatte ihm mit beinah den gleichen Worten wie Ginny geantwortet. Auf die Frage, warum er dann Ginny so kalt und desinteressiert gegenüber trat, hatte er nur ein »Ich will dich nicht verlieren.« und ein »Vergiss nicht, wie sich das zwischen uns anfühlt. Also die Freundschaft. Weil das ist auch wichtig. Du bist mir wichtig.« herausbekommen. Seamus erinnerte sich an das Gefühl, das diese Frage in ihm ausgelöst hatte. Es war Unsicherheit gewesen und eine gewisse Überforderung, weil Seamus nicht genau gewusst hatte, wie er die Gefühle hätte erklären sollen, die seit ihrem betrunkenen, nach jugendlichem Leichtsinn schmeckenden Kuss nach dem irischen Sieg der Quidditch-Weltmeisterschaft über die Jahre verteilt hochgekommen waren und die Dean als Kälte und Desinteresse gegenüber Ginny wahrgenommen hatte, während Seamus selbst nicht einmal eine Erklärung dafür gehabt hatte. Womöglich hatte er an diesem lauwarmen, herrlichen Tag eine Antwort auf seine ganz persönliche Frage erhalten, indem er diese Worte ausgesprochen hatte. Vielleicht erhielt er die endgültige Antwort jedoch auch erst jetzt in diesem Moment durch dieses Gespräch mit Ginny.

»Und? Standest du auch auf mich?«
Eine Antwort einfordernd reckte Ginny das Kinn ein wenig nach vorne und schob sich in einer damenhaften Bewegung, die jedoch bei ihr jedoch eher lächerlich und überspitzt wirkte, die Haare über die Schulter. Es war eine Spielerei, ein Necken, ein nett gemeintes Aufheitern in einer eher freudlosen Zeit, aber sie beide wussten, dass es keine Frage war, auf die Ginny eine ehrliche Antwort erwartete oder deren ehrliche Antwort irgendeinen Einfluss auf sie hätte. Und dennoch beantwortete Seamus sie, zumindest für sich persönlich. Nein, er stand nicht auf Ginny. Er hatte nie auf Ginny gestanden. Er verlor sich nicht in ihren Augen. Das war die ehrliche Antwort. Er hatte sich damals auch nicht in Lavenders Augen verloren. Bernsteinfarbene Augen waren eine Falle, in die Seamus hätte gelockt werden können, aber es war nie auf die Verlockung reingefallen. Auch Lavenders Augen waren hübsch und Seamus verstand, dass blaue Augen Menschen zu Wasser- oder Himmelvergleichen hinreißen ließen, aber Seamus war nie in Lavenders blauen Augen versunken oder hatte sich gefühlt, als würde er fliegen. Einzig Deans Augen machten Seamus betrunken und entfachten ein Feuer in ihm, das er so nur von Feuerwhiskey kannte. Es waren Deans Augen. Nur Deans Augen. Und so hatte es nie den Moment gegeben, in dem er auf Ginny hätte stehen können, weil Ginny nie eine Option gewesen war. Weil niemand jemals eine Option gewesen war. Nur Dean.

»Ich glaube, wir müssen uns beide nichts vormachen«, erwiderte Seamus vage und blinzelte.
Irgendetwas blitzte in Ginnys Blick auf. Es war kein Gekränkt-Sein, es war keine Verstimmung. Eher eine Art Verständnis, eine Art der Erkenntnis. Doch eine Antwort womöglich auf ihre Frage. Nachdenklich presste sie die Lippen aufeinander und nickte langsam.
»Hast du Dean noch einmal gesehen? Ich hatte dich das schon auf der Fahrt hierhin fragen wollen, wusste aber nicht, ob du vor Neville und Luna darüber hättest sprechen wollen. Und mit den ganzen Todessern im Zug – « Der letzte Ton eines Lachens war aus ihrer Stimme gewichen, sie klang tief und rau, beinah traurig, mehr ein Flüstern als wirklich ausgesprochene Wörter. Da war sie auf einmal wieder, diese Stille in der Großen Halle nur mit dem Flüstern und dem gelegentlichen Kratzen und Klirren von Besteck gefüllt. Und sie erinnerte Seamus zurück an die Stille der Sommernacht vor mehr als drei Monaten, als ein Knall, der nur von einer apparierenden Person stammen konnte, diese Stille in seiner Heimatstadt Kenmare wie eine Bombe zerschlagen und Seamus’ Mutter Dean im Garten vorgefunden hatte.

»Er war – er hat sich bei mir verabschiedet«, murmelte Seamus langsam und er wusste, dass er die Worte wieder viel zu lang zog, als würde Druhbels Bester Blaskaugummi an seinen Zähnen hängen, etwas, was Dean immer wieder genervt hatte, »bevor er auf die Flucht gegangen ist.«
»Oh, Godric sei Dank!«, amtete Ginny hohl aus. Seamus bemerkte, dass sie unruhig an der Nagelhaut ihrer Finger knibbelte. »Ich wusste nicht, dass er geflohen ist. Ich meine, ich habe es gehofft und er wird gesucht, aber Turpin gilt auch als vermisst und jeder weiß, dass sie mit ihren Eltern zusammen ermordet wurde – « Überfordert presste sie die Lippen aufeinander und unterbrach sich selbst. Tief amtete sie durch die Nase ein und geräuschvoll wieder aus. Erleichterung huschte über ihr Gesicht.
»Er ist nicht tot.« Seamus wusste nicht viel. Eigentlich gar nichts. Aber das war das Einzige, was er wusste. Das Einzige, das er fühlte. Dean lebte. Seamus wusste nicht, woher er diese Gewissheit nahm, aber er wusste einfach, dass er Deans Tod fühlen würde. Ein Teil seiner eigenen Seele war mit Dean auf der Flucht und solange dieser Teil nicht zu ihm zurückkam – in welcher Form und auf welche Weise auch immer –, lebte Dean. So lange musste Dean leben.

»Stehst du mit ihm in Kontakt?«
Seamus schüttelte mit dem Kopf und verneinte die Frage: »Ich wüsste aber, wenn er – wenn er tot wäre.«
Da war es wieder, dieses Aufblitzen in Ginnys Augen. Zu der Erleichterung auf ihrem Gesicht gesellte sich ein vorsichtiges, beinah amüsiertes und eigentlich vollkommen unpassendes Lächeln, das ihre harten Gesichtszüge und vor allem voran ihre hohen Wangenknochen erstaunlicherweise unfassbar weich und sehr jung wirken ließ.
»Ich verstehe.«
»Tust du?« Es klang erstaunter, als Seamus es eigentlich beabsichtigt hatte. Er verstand es selbst einmal nicht wirklich. Die Erkenntnis schwirrte wie ein Schnatz vor ihm, dessen einer Flügel leicht lädiert war, aber noch konnte Seamus ihn nicht ergreifen. Er ahnte, warum er sich so sicher war, er ahnte es seit dem Kuss, er ahnte es seit seinem ersten Mal mit Lavender, das sich zwar gut angefühlt hatte, aber nicht einmal annähernd so gut, wie wenn er in der Nacht in Deans Bett kroch und einfach nur neben ihm lag. Er ahnte es seit dem einen Tag am See, er ahnte es seit unzähligen Tagen und Wochen und Monaten und wahrscheinlich auch Jahren, aber er hatte es nie ausgesprochen. In der Sommernacht, als Dean sich von ihm verabschiedet hatte, war er kurz davor gewesen, nach dem Schnatz zu fassen und damit endlich nach der Erkenntnis und der Antwort zu greifen und es auszusprechen, nur um den Schnatz letztendlich doch wieder wegfliegen – eher weg apparieren – zu sehen und zu verstummen.

»Ja«, antwortete Ginny und legte den Kopf ein wenig schief. In diesem Moment erinnerte sie Seamus an Ron, der hochkonzentriert vor dem Schachbrett saß und wahrscheinlich zehn Züge voraus dachte. »Du etwa nicht?«
»Ich weiß es nicht. Also – ich verstehe es nicht.«
»Ich denke schon, dass du es verstehst«, erwiderte Ginny und provozierte damit ein leichtes Grummeln von Wut in Seamus’ Magen.
»Ginny, wenn ich dir sage – «
Sie unterbrach ihn sofort und hätte Seamus es normalerweise als unsensibel beschrieben, wusste er, dass es einfach Ginnys forscher Charakter war: »Na ja, ich wüsste es auch, wenn irgendetwas mit Harry wäre.«
Seamus öffnete den Mund und wollte schon erwidern, dass Dean nicht Harry war, aber die Antwort blieb ihm in der Kehle stecken. Dean war nicht Harry, nein, aber er war wie Harry. Zumindest wenn man betrachtete, wer Harry für Ginny war. Seamus fühlte sein Herz kalt das Blut durch seinen Körper pumpen und er hört es in seinen Ohren rauschen, beinah so wie die Wellen, die sich Zuhause an der Kenmare Bay brachen.
»Weißt du«, führte Ginny fort, als fühle sie Seamus’ Überforderung, »es war immer Harry. Auch mit Michael oder Dean. Versteh’ mich nicht falsch, Dean ist ein toller Kerl und ich mag ihn wirklich sehr, sehr gerne, aber – «
»Ich verstehe«, reproduzierte Seamus Ginnys vorherige Antwort und das verstand er wirklich. Er verstand, warum Ginny mit Michael Corner und Dean zusammen gewesen war, obwohl ihr Herz offensichtlich immer für Harry geschlagen hatte. Er verstand, dass sie Harry Raum und Zeit gegeben hatte, bis er bereit gewesen war. Er verstand, dass sie sich auch mit der Möglichkeit auseinandergesetzt hatte, dass es zwar immer Harry für sie, aber womöglich sie niemals das Gleiche für Harry sein würde. Seamus verstand sie und seine Hand verkrampfte sich schmerzhaft zu einer Faust, als er den trägen, von jahrelangem Herumfliegen müden Schnatz endlich fing. Für Seamus war es Dean gewesen. Immer nur Dean. Nicht auf eine freundschaftliche Art und Weise, zumindest spätestens seit ihrem dritten Schuljahr nicht mehr, wenn Seamus ehrlich mit sich war. Irgendwann dort, in einer der Nächte, in denen Seamus in Deans Bett geschlichen war, um Dean nach einem seiner damals häufigen Alptraum zu beruhigen, war Dean zu mehr geworden. War Dean zu allem geworden. Seamus war sich eine sehr lange Zeit nicht im Klaren darüber gewesen, aber er hatte es viel zu lange geahnt. Vielleicht hatte ein Teil in ihm dagegen angekämpft, aus Angst davor, Dean als besten Freund zu verlieren. Vielleicht hatte ein Teil in ihm dagegen angekämpft, aus Angst davor, komplett die Kontrolle zu verlieren, unwissend, dass er sie über die Jahre immer und immer verloren hatte. Ohne Dean fühlte sich Seamus rastlos, ohne Dean konnte Seamus kaum atmen, ohne Dean – ohne Dean – Seamus atmete scharf ein. Da war keine Luft zum Atmen, wenn Dean nicht da war. Er brauchte Dean und das nicht, weil er sein bester Freund war. Er brauchte Dean, weil dieser einen Teil seiner Seele in sich trug. Ohne Dean war Seamus unvollständig. Ohne Dean war Seamus nicht er selbst. Dean war alles und ohne Dean war Seamus nichts.

Er zuckte ein wenig zusammen, als sich Ginnys warme Hand flüchtig auf seine Faust legte, kurz mit ihrem Daumen über seinen krampfenden Handrücken strich, nur um peinlich berührt sie augenblicklich wieder zurückzunehmen. Und doch entspannten sich die Muskeln seiner Hand unweigerlich, als hätten sie sich nach bloßer Körperwärme verzehrt.
»Natürlich tust du’s«, flüsterte Ginny heiser, beinah mehr zu sich selbst als an Seamus gerichtet, als verstünde sie in diesem Moment ebenfalls etwas, »du liebst ihn halt.«

Und letztendlich brauchte Seamus diese Worte auch nicht selbst aussprechen. Es genügte, dass Ginny diese Worte flüsterte und den reparierten, heilen Schnatz wieder in die Luft und Freiheit steigen ließ. Es war ganz einfach. Es war nicht katastrophal, es war nicht beängstigend. Natürlich tust du’s. Es tat nicht weh. Du liebst ihn halt. Es war kein Kontrollverlust. Ich liebe Dean. Es war Freiheit. Die Erkenntnis, die Wahrheit, das Eingestehen seiner Gefühle für Dean – all das war Seamus leichter gefallen, als er es befürchtet hatte. Schmerzlos. Ohne große Dramatik von außen. Und letztendlich ohne großes Drama in Seamus selbst. Es war immer Dean gewesen unabhängig davon, ob sich Seamus dessen bewusst war oder nicht. Seamus hatte nie absichtlich einen Teil seiner eigenen Seele mit Dean auf die Flucht geschickt. Seamus hatte Dean irgendwann unbemerkt diesen Teil seiner eigenen Seele geschenkt, unwissend wissend, dass sie bei Dean sicher war. Seamus wusste nur nicht, ob Dean genauso einen Teil seiner eigenen Seele in Seamus versteckt hatte und der bloße Gedanke daran, dass es so sein könnte, war mehr, als er zu hoffen wagte.

»Was ist, wenn es für ihn anders ist? Wenn er – wenn er nicht – «
»Oh, Seamus«, lachte Ginny traurig auf und dieses Mal waren es ein tiefer Schmerz, der in ihren Augen glitzerten, »weißt du denn nicht, dass er in mir ständig nach dir gesucht hat?«
»Was?« Seamus’ Brust brannte, als wäre sie schockgefrostet worden, und er hatte das Gefühl, ein unsichtbarer Erumpent säße auf seiner Brust.
»Ich habe mit Dean nicht Schluss gemacht, weil mich seine Art genervt hat. Es war einfach nicht richtig. Meine Gefühle für Harry waren zu stark«, entgegnete Ginny vorsichtig, »und Dean hatte Gefühle für dich. Hast du das wirklich nie gemerkt?«

Es war, als würde eine Lawine durch seinen Körper rasen. Ungehindert endete sie mit einer Wucht in seinen Gliedmaßen. Unkontrolliert begann seine Hand zu zittern und traf dabei die Kaffeetasse, die umfiel. Eilig warf Ginny Servietten über die braune Flüssigkeit, die über den Holztisch kroch.
»Merlin, nein, ich – er war doch mit dir zusammen und – «
»Du warst auch mit Lavender zusammen, oder nicht?«, half Ginny ihm nachsichtig und beruhigend, die Logik – oder vielmehr die Unlogik – hinter der ganzen Sache zu erkennen.
»Das war doch aber was ganz anderes, ich habe sie nicht – ich habe Lavender nie geliebt, ich – «
Ginny kicherte leise und schnalzte tadelnd mit der Zunge. Wieder lag ihr Kopf schief, dieses Mal jedoch eher vorwurfsvoll wie Hermine, wenn Harry und Ron ihre Hausaufgaben auf den letzten Drücker zu erledigen versucht und letztendlich doch sie um Hilfe angefleht hatten. »Und du denkst, Dean hat mich geliebt?«
»Ja, ehrlich gesagt schon«, murmelte Seamus leise, komplett weggetreten.
»Nettes Kompliment, aber nein. Sex und eine gute Zeit funktionieren auch ohne Liebe. Was auch immer Dean für mich empfunden hat, war nicht annähernd das, was er für dich empfindet.«
»Hat er dir das gesagt?« Nur ein beinah lautloser Hauch, zu mehr war Seamus’ Stimme nicht im Stande. In ihm herrschten eine trügerische Ruhe und Stille, wie nach dem Niedergang einer Lawine, die häufig noch eine oder mehrere Weitere nach sich zog. Das Rauschen des Blutes in seinen Ohren war abrupt wie die Ebbe nach der Flut verschwunden. Schlug sein Herz überhaupt noch? Es fühlte sich nicht danach an.
»Er brauchte mir nichts sagen. Ich verfüge über ein gesundes Paar Augen und paar Gehirnzellen, Seamus.«
Seamus schluckte. Da war es wieder, sein Herz. Sein Herz begann wieder zu schlagen und stolperte dabei ein, zwei, drei Male. Diese Wahrheit traf Seamus hart, weil er nie angenommen hatte, dass sich dieses unterhalb der Salzwasseroberfläche tief versteckte Wunschdenken als Wahrheit entpuppen würde.
»Es macht mir ehrlich gesagt Sorgen, dass du das nicht mitbekommen hast«, witzelte Ginny und griff nach den Servietten, die inzwischen den gesamten Kaffee aufgesogen hatten. Unwirsch warf sie den nassen Haufen in ihren Haferbrei und begrub unter ihm den Berg an Rosinen. Seamus war zu verwirrt, um ihren – spaßig gemeinten – Seitenhieb zu kontern.
»Ich – fuck«, raunte Seamus heiser und seine Kehle brannte, als sein Haferbrei ihm samt Magensäure hochkam. Er fühlte, wie sich eine weitere, mitleidslose Lawine von Gefühlen ankündigte. War er wirklich so blind gewesen? Seamus verfluchte innerlich sich und all seine Vorfahren bis ins achtzehnte Jahrhundert. Er war so blind gewesen. Wie hatte er so blind sein können? Sie hätten zusammen sein können. Sie hätten Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre miteinander haben können. Er wünschte sich gerade nichts sehnlicher, als Jahre in der Zeit zurückreisen zu können und alles anders zu machen, von Anfang an. Er wünschte sich, nach dem Kuss nicht mit Flucht und Schweigen und Leugnen reagiert zu haben, er wünschte sich, nie mit Lavender geschlafen zu haben, er wünschte sich, Dean gesagt zu haben, dass es immer nur er gewesen war. Seit sie zusammen in das Boot gestiegen und über den Großen See in Richtung Hogwarts und somit in das Abenteuer aufgebrochen waren, war es immer nur Dean gewesen. Erst als Freund. Dann als ein Ort, an dem seine Seele sicher war. Und letztendlich als jemand, den er liebte.

»Was soll ich – wie soll ich – «, Seamus’ Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen und fahrig drehte er den mit dem Familienwappen seines Vaters verzierten Ring an seiner rechten Hand, als könne er damit das Drehen eines Zeitumkehrers imitieren, »könnte ich bloß die Zeit zurückdrehen. Ich würd’s anders machen. Besser.«
Ginny rümpfte kurz die Nase und schüttelte leicht mit dem Kopf, so dass ihr die Haare wieder über die Schulter nach vorne rutschten.
»Mach’s doch einfach beim nächsten Mal besser?«, schlug sie vor und ihre Stimme klang unfassbar sanft.
»Und was, wenn es kein nächstes Mal gibt?«
Die Sommernacht und Deans Abschied hatten sich wie das nächste Mal angefühlt. Dieser Moment hatte sich wie der Moment angefühlt. Er hatte zwar auf Deans »Wir sehen uns.« mit »Wir werden uns wiedersehen.« geantwortet, aber schon damals hatte es sich wie eine Lüge angefühlt. Seamus war sich sicher, dass er fühlen würde, wenn Dean etwas zugestoßen wäre, aber wie bei Godrics Schwert konnten sie wissen, dass sie sich wiedersehen würden? Seamus wusste nicht, was es bedeutete, auf der Flucht zu sein, und genauso hatte wahrscheinlich auch Dean keine genaue Vorstellung davon gehabt. Wie hatten sie so naiv sein und annehmen können, dass dies kein Abschied für immer gewesen war? Wie hatte zumindest Seamus dies annehmen können?

»Es gibt immer ein nächstes Mal, Seamus. Wo auch immer das ist. Das rede ich mir zumindest mit Harry ein. Und mit Ron und Hermine.«
Nachdenklich betrachtete Seamus Ginny, als sie ihre Hand erneut auf seine Faust legte und diesmal nicht peinlich berührt, sondern bestimmt beruhigend mit dem Daumen über seinen Handrücken strich. Sie waren gleich, Ginny und er. Es war unerwartet, aber es beruhigte Seamus auf eine merkwürdige Art und Weise, womöglich doch nicht ganz so allein zu sein. Und es milderte den Schmerz, auch wenn dieser Gedanken den Schmerz nicht vollkommen nehmen konnte.

»Morgen wäre Hermines Geburtstag«, murmelte Ginny und ihre Augen schienen stumpf, wie ungeschliffener Bernstein ohne Sonne. Seamus atmete scharf ein. In all den Unruhen und in all dem Horror, den sie hier in Hogwarts erlebten, hatte Seamus Hermines Geburtstag vergessen und zu all den Gefühlen, die in ihm momentan umherschwirrten, gesellte sich Schuld dazu.
»Ich bin mir sicher, dass sie ihn feiern. Irgendwie«, versuchte Seamus Ginny, aber auch sich selbst zu beruhigen.
»Eine schöne Vorstellung, aber wahrscheinlich absurd, wenn wir ehrlich sind, Seamus. Ich weiß nicht mal, ob sie wissen, dass morgen der Neunzehnte ist. Haben sie einen Kalender dabei? Haben sie Zugang zu einer Zeitung? Haben sie – ich weiß nicht mal, was sie überhaupt mit sich haben.«
»Hermine hat sicherlich das Nötigste bei sich. Du kennst sie. Diese verdammte Hexe war uns allen immer zwei Jahre voraus.«

Seamus’ Mutter hatte Dean bei seinem Abschied einen Rucksack voller wichtiger Dinger mitgegeben. Dean war vorbereitet und ausgestattet gewesen. Und genau so war Hermine es sicherlich auch gewesen, etwas anderes konnte Seamus sich einfach nicht vorstellen. Harry und Ron waren vorbereitet gewesen, weil Hermine es gewesen war. Sie waren nicht schutzlos und der Welt ausgeliefert, redete Seamus sich ein. Sie waren zusammen. Sie waren nicht allein. Sie hatten einander. Und das machte einen womöglich nicht vorhandenen Kalender oder Zugang zu einer Zeitung mehr als wett.

»Wahrscheinlich hast du Recht«, nickte Ginny langsam und ihre Hand, die noch immer auf seiner Lag, zitterte leicht, »es ist nur – in einem Moment waren sie noch da und im anderen waren sie weg und – ich vermisse sie. Nicht nur Harry, auch Hermine. Sogar Ron. Erzähl ihm das bitte nur bloß nicht.« Leise gluckste sie traurig und lächelte unsicher. »Ich vermisse sie so sehr, dass es wehtut. Dass es einfach nur wehtut und nicht aufhört.«

Seamus kannte das Gefühl. Er kannte dieses rohe, gewaltsame Vermissen, dieses schmerzhafte Ziehen und unruhige Flattern in seiner Brust, das auf seinen Magen schlug und eine Art Vakuum hinterließ und mehr schmerzte als ein kochend heißer, explodierter Zaubertrank in seinem Gesicht.

»Ich könnte dir jetzt irgendwas davon erzählen, dass es besser wird, aber das wird es nicht. Ich meine, ich habe mich von Dean verabschieden können, irgendwie, das hilft ein wenig, aber ich vermisse ihn jeden Tag und – «, Seamus schluckte und er atmete tief ein und aus, um den gegen den Schmerz und gegen das Vermissen anzuatmen, die wieder in seiner Brust- und Magengegend in Erscheinung traten, »es tut weh. Es tut immer weh und es wird nicht besser. Vor allem jetzt, da ich weiß, dass dieser Abschied andere Worte verdient hätte.« Seamus wusste nicht, ob ein Ich liebe dich, Dean etwas geändert hätte. Ob es Dean die Flucht erschwert hätte oder ob Seamus ihn sogar damit zum Verstecken überzeugen hätte können. Und wenn Seamus ehrlich war, wollte er nicht darüber nachdenken, weil er keine Antwort auf diese Frage erhalten konnte, zumindest nicht jetzt. Er hatte einen Abschied gehabt, irgendwie, so unwürdig und unvollständig er gewesen sein mochte. Sie hatten sich voneinander verabschieden können. Seamus wollte sich nicht vorstellen, wie es für Ginny sein musste, wenn sie sagte, dass Hermine, Ron und Harry von einem Moment auf den anderen weg gewesen waren und sie diesen Abschied womöglich nicht gehabt hatte.

»Hast du dich von ihnen verabschieden können?«, fragte Seamus vorsichtig nach, unsicher ob diese Frage eine Wunde aufreißen würde, die zu groß zum Flicken waren. Er konnte Ginnys Schmerz bis zu einem gewissen Punkt teilen. Er konnte ihr Kraft spenden, zumindest hoffte Seamus es. Aber er konnte keine große, tiefe Wunde heilen. Dazu war er nicht in der Lage.

Ginny lächelte matt und ihre Augen verdunkelten sich noch mehr, als sie mit den Schultern zuckte. Die Frage hinterließ keine klaffende Wunde, registrierte Seamus erleichtert. »So halb. Ich habe mich zumindest von Harry verabschiedet. Ich dachte, wir hätten mehr Zeit, bis sie – ja, keine Ahnung, was sie eigentlich tun. Aber auf der Hochzeit meines Bruders wurden wir von Todessern angegriffen und sie mussten fliehen, also war es irgendwie ein – « Ihre Stimme stockte und Seamus entdeckte das alles sagende Krächzen in ihr.
» – Abschied ohne wirklichen Abschied«, beendete Seamus ihren Satz.
Ginny schwieg einen Moment, als würde sie über die Worte nachdenken, und nickte dann.
»Wir werden sie wiedersehen, Seamus. Sie alle. Wo auch immer. Wann auch immer«, wiederholte Ginny ihre Annahme, die Seamus schon beinah wieder vergessen hatte. Ihre Hand zuckte leicht auf seiner Faust.

Nervös löste Seamus seinen Blick von Ginny und ließ ihn durch die Große Halle schweifen. Er wusste nicht, ob Ginnys Vorstellung naiv oder hoffnungsvoll war. Wie konnte sie annehmen, dass es ein Wiedersehen gab, wenn sie nicht einmal wusste, dass es eine Zukunft gab, in der dieses Wiedersehen möglich war? Sein Blick blieb an Neville hängen, der zwei, drei Meter weiter mit den Gurkenscheiben auf seinem Sandwich kämpfte. Niemand hier schien für eine Zukunft zu kämpfen. Niemand hier schien bereit zu sein, das eigene Leben zu opfern. Sie alle vermissten jemanden, machten sich Sorgen um jemanden, aber sie alle nahmen die Lücken an den Esstischen, an den Klassenzimmerpulten und in den Schlafsälen wortlos zur Kenntnis. Wie sollte es so eine Zukunft geben? Wie sollten Harry und Ron und Hermine so für eine Zukunft kämpfen, wenn es keine Zukunft gab, in die sie zurückkehren konnten? Wofür und vor allem wohin floh Dean?

Harry. Ron. Hermine. Dean. In Seamus’ Kopf ratterte es. Harry. Ron. Hermine. Dean. Wie ein Zahnrad. Harry. Ron. Hermine. Dean. Seamus stockte der Atem. Dean. Dean hatte ihm, bevor er geflohen war, die Lösung auf dieses Problem präsentiert, ohne wahrscheinlich wirklich darüber nachgedacht oder es beabsichtigt zu haben. Es war lediglich die bittere Antwort auf Seamus’ Vorhaben gewesen, mit auf die Flucht zu gehen. »Du weißt, dass du das nicht kannst, Seamus. Deine Má ist eine Hexe und du musst nach Hogwarts. Dort werden Ginny und Neville und Luna und viele andere von der DA sein – bringt euch dabei nicht um, aber schaut, was ihr von Hogwarts aus machen könnt. Wir brauchen Leute in Hogwarts.« Seamus blinzelte. Einige Meter Richtung Tür saßen die Creevey-Brüder mit gesenkten Köpfen und stocherten lustlos in ihrem Frühstück herum. Hinter Neville am Tisch der Ravenclaws war Lovegood in den Klitterer vertieft. Schräg dahinter erkannte Seamus Ernie Macmillans Hinterkopf und daneben Susan Bones’ langen Zopf am Tisch der Hufflepuffs. Und letztendlich landete sein Blick wieder bei Ginny, die ihn fragend anblickte. Niemand unternahm etwas, aber sie waren alle da. Sie alle waren da und warteten auf den ersten Funken Hoffnung. Sie waren da.

Seamus straffte die Schulter. Irgendetwas in ihm glomm auf. Es war nur ein kleines, schwaches Flämmchen, irgendwo in seiner Brust, aber es war da. Es war Hoffnung. Hoffnung auf ein Wiedersehen, Hoffnung auf eine Zukunft, Hoffnung, dass irgendetwas in ihren eigenen Händen lag.

»Sorgen wir dafür, dass es ein nächstes Mal gibt.« Seamus drehte seine Hand und Ginnys Finger kamen beinah natürlich zwischen seien zum Liegen.
»Was?«
»Sorgen wir dafür, dass es ein nächstes Mal gibt«, wiederholte Seamus mit Nachdruck und Ginny verstand. Ihr Blick hellte unmissverständlich auf, als sie nickte. Die Bernsteine leuchteten wie in Sonnenlicht oder Feuer getaucht, als sie bestimmt sagte: »Für Dean.«
»Für Harry«, entgegnete Seamus und drückte ihre Hand. Das Mitgefühl, die Traurigkeit und das Weiche in ihrem Gesicht bröckelten und brachten harte Zuversicht und Überzeugung zutage.
»Für Hermine und Ron«, erwiderten sie beide gemeinsam im Einklang. Seamus löste seine Hand aus Ginnys und seinen Blick von ihrem Gesicht. Seine Finger zitterten kaum, als er nach seinem Zauberstab fasste. Neville hatte den Kampf mit den Gurkenscheiben und seinem Sandwich inzwischen offensichtlich gewonnen und, als habe er Seamus’ Blick gespürt, seine Aufmerksamkeit in Seamus’ und Ginnys Richtung gelenkt. In seiner Miene spiegelte sich sowohl Verwunderung als auch Verständnis wider und als er Seamus’ Blick erwiderte, beantwortete er die ungestellte Frage mit einem bestimmten, kurzen Kopfnicken. Seamus schloss die Augen und atmete tief ein und aus.

Für Dean. Für Harry. Für Hermine. Für Ron.

Das schwarze Ebenholz in seiner Hand vibrierte, als er ihn in die Höhe hob und beinah lautlos In Coloribus Renidentibus flüsterte. Ganz leise und ganz fern hörte er es Hermines Stimme in ihrem ersten Schuljahr den Zauberspruch flüstern. Die Kälte in Seamus’ Arm wich einem Gefühl, das Seamus mit dem Anblick von Deans farbenfrohen Bildern assoziierte. Die Reaktion der Großen Halle verriet ihm, dass es funktioniert haben musste, seine Ohren füllten sich mit einem undurchdringbaren Summen, ähnlich einem Bienenschwarm, und dem hohen Kreischen der Carrow-Geschwister.

Als Seamus die Augen öffnete, grinste er. Wie ein Neonschild blinkten die Worte Die DA ist zurück! in der Mitte der Großen Halle. Und Seamus gegenüber saß Dean, die Erinnerung so kräftig, so real, so lebendig, dass bei seinem Anblick die kleine Flamme in Seamus’ Brust explodierte und sich sein Inneres in ein Flammenmeer verwandelte. Deans Erinnerung grinste zurück und Seamus’ Blick blieb unweigerlich an seinen Augen hängen. Sie hatten die Farbe von Feuerwhiskey und Seamus brannte endlich wieder.
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