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Elf Jahre und ein Tag

von Ken
Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
01.01.2023
09.04.2023
22
82.334
26
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21.02.2023 4.793
 
Kapitel 8 – Neue Heimat (28.07.2010)


Mit einem tiefen Atemzug sog David die frischer werdende Abendluft auf dem Balkon der elterlichen Wohnung ein. Mit dem Abi in der Hand lag die Schule längst hinter und der Rest der Ferien vor ihnen. Der letzte ‚freie‘ Sommer, wie Tristan es vor ein paar Wochen noch genannt hatte, als sie nach den mündlichen Prüfungen zusammengesessen und ein Bier getrunken hatten. Man hätte meinen können, dass sie die Zeit nutzten, um ihre letzten gemeinsamen Ferien auch zusammen zu verbringen. Aber natürlich war das offenbar zu viel verlangt. Zumindest von einigen.

„Nur wegen der blöden Kuh“, murmelte David und drehte sich herum, um zurück in die Wohnung zu gehen.

Seine Eltern hatten sich schon wieder in einen Kurzurlaub verabschiedet. Manchmal schienen die nichts anderes mehr zu machen. ‚Zeit zu zweit‘ hatten sie es genannt. Als ob man in dem Alter noch so etwas brauchen würde. Die Tatsache, dass sie sich für das lange Wochenende nach Bad Griesbach verzogen hatten, sprach für sich. Seit sein Vater vor zwei Jahren mit dem Golfspielen angefangen hatte, waren die elterlichen Urlaube immer häufiger geworden.

Da David weder mit dem Sport noch mit seinen Eltern im Moment irgendetwas anfangen konnte, war ihm die ‚Zeit allein zu Hause‘ mehr als recht. Schließlich gab es ihm wieder einmal Gelegenheit, seine beiden besten Freunde auf paar Bier, DVDs und Zocken eingeladen, ohne dass es peinlich werden konnte. Hoffentlich. Jedenfalls, so lange David sich bei den Getränken nicht zu sehr vergriff. Eine ständig währende Gefahr, die er aber gern einging.

Nachdem er Tristan und Brendan die vergangenen Wochen so gut wie nie gesehen hatte, war ein Männerabend trotzdem bitternötig. Denn allmählich ging David auf dem Zahnfleisch – in mehr als einer Hinsicht.

Brendan hatte ja in den letzten Monaten stetig seltener Zeit für ihn gehabt, sich dafür immer öfter mit dieser blöden Dalia getroffen. Der Idiot hatte sie sogar zu dem einen oder anderen Treffen mitgebracht. Was genau war eigentlich an dem Begriff ‚Männerabend‘ so schwer zu verstehen? Ein Abend unter Männern. Ohne Frauen.

Leider musste David nach ein paar gemeinsam verbrachten Stunden zugeben, dass Dalia gar nicht so doof war, wie er sich erhofft hatte. Dass sie dann aber direkt den Highscore in Davids Lieblingsgame hatte brechen müssen, kotzte ihn noch immer mächtig an.

„Wenigstens kommt sie heute nicht“, murmelte David gedankenverloren und stapfte dabei in die Küche.

Das Bier stand kalt, die Pizzaschnecken waren vorbereitet und mussten nur in den Ofen geschoben werden. Alles in allem versprach es ein wunderbarer Abend zu werden. Jedenfalls redete David sich das krampfhaft ein. Auf was sollte er denn bitte sonst hoffen? Darauf, dass Brendan plötzlich schwul wurde und ihm die Zunge in den Hals steckte, vermutlich nicht. Das Frustrierendste an dem Gedanken war, dass er weiterhin aufkam.

In dem Moment klingelte es an der Tür. Hastig drehte David sich herum und stürzte zur Wohnungstür. Als er diese aufriss, setzte sein Herzschlag für einen Sekundenbruchteil aus, nur um danach deutlich schneller seinen Dienst wieder aufzunehmen. Auch wenn David es nur ungern zugab – vor allem sich selbst gegenüber – der Typ, der ihn da so breit angrinste, war noch immer der Grund, warum er diesen Aufriss hier machte. Schon wollte David das Grinsen erwidern, als Brendan die Frechheit besaß, den Arm zu heben und David irgendeine alkoholfreie Plörre vor die Nase zu halten, die sich angeblich ‚Bier‘ schimpfte.

„Was zum ...“, setzte David mit angewidertem Gesichtsausdruck an, nur um prompt unterbrochen zu werden.

„Ich habe doch gesagt, ich will nicht mehr so viel trinken. Und du hast garantiert nur normales Bier da.“

„So etwas wie ‚normales‘ Bier existiert nicht“, maulte David genervt. Den Unsinn hatte doch diese Dalia Brendan eingeredet. „Es gibt Bier und Sachen, die so tun, als wären sie welches. Es aber nie sein werden. Weil sie es nun mal nicht sind. So wie das hier.“ Dabei deutete er auf den Sixpack und verzog den Mund. „Das ist für Mädchen ...“

Brendan lachte, während er David die Plörre jetzt doch noch gegen die Brust drückte und sich an ihm vorbei in die Wohnung schob. Jeden anderen hätte David für diese Frechheit vor die Tür gesetzt. Wozu wohlgemerkt nicht zählte, dass Brendan sich einfach an ihm vorbeigedrängelt hatte. Damit hatte er freilich kein Problem. Wäre ja auch ausgesprochen widersinnig. Schließlich lud David zu diesen Männerabenden nur ein, um eine Ausrede dafür zu haben, dass Brendan wenigstens ein paar Stunden mit ihm verbrachte.

Aber dieses Dreckszeug hier als Bier zu bezeichnen war beinahe unverzeihlich. Nur nahm der Blödmann David mal wieder nicht ernst. War ja im letzten Jahr ständig so gelaufen. Eigentlich sollte er also dran gewöhnt sein. Irgendwie. Zumal David genau wusste, dass das einfach Brendan war. Diese unbeschwerte, leichte und lockere Art, die diesen Kerl zu dem Menschen machte, der er nun einmal war. Dummerweise war das vermutlich ebenso der Grund, warum David diesen Blödmann so sehr mochte.

„Ist Tris schon da?“

„Nein.“

Glücklicherweise ließ Brendan das Thema damit fallen, fragte nicht weiter nach. Auch hier: Alles wie immer. Blieb die Hoffnung gegen jede Chance, dass ein Wunder passierte, Dalia sich verkrümelte und Brendan plötzlich seine schwule Ader entdeckte. Das wäre zur Abwechslung mal nicht ‚wie immer‘ und David würde womöglich sogar das bekommen, von dem er erst vor einem Jahr kapiert hatte, dass er es überhaupt wollte.

Als ob.

David schloss für eine Sekunde die Augen und drängte den absurden Gedanken zurück. Einmal mehr sagte er sich, dass er schließlich genau wusste, dass das, was er für Brendan empfand, nie real werden konnte. Trotzdem ließ es sich nicht abschütteln.

„Willst du dieses Zeug wirklich trinken oder soll ich dir ein echtes Bier aus dem Kühlschrank holen?“

Wieder lachte Brendan und entfachte damit ein weiteres Kribbeln in Davids Bauch. Eines, das so angenehm war, dass er sich lieber abwandte und das Sixpack in die Küche schaffte. Das dümmliche Lächeln, dass sich garantiert auf seinen Lippen gezeigt hatte, brauchte Brendan nicht zu sehen.

Hör auf‘, ermahnte David sich erneut. Wenn er es oft genug dachte oder sagte, würde es womöglich auch die letzte Faser seines Körpers kapieren.

Ein tiefes Seufzen war aus Richtung des Wohnzimmers zu hören, als David das Pseudobier in den Kühlschrank verfrachtete. Wenn Brendan etwas davon wollte, sollte er sich die Plörre selbst holen. Trotzdem stellte David es kalt, denn immerhin war der Vollpfosten ein Gast – und würde das hoffentlich auch in Zukunft weiterhin sein.

„Was für ein Tag“, seufzte Brendan, als David schließlich mit zwei Hellen in der Hand zurück ins Wohnzimmer kam und seinem Freund eines reichte.

„Was ist los? Ärger im Paradies?“, fragte David zurück – einmal mehr darum bemüht, nicht so scheinheilig zu klingen, wie er sich fühlte.

„Was?“ Irritiert blickte Brendan ihn an, bevor er sich mit einem beschämten Lächeln wieder abwandte. „Ah, wegen Dalia? Ja ... irgendwie ... vielleicht.“

Prompt hämmerte es wie wild gegen Davids Rippen. Das sah man ihm hoffentlich nicht an. Um kein heiseres Gekrächze von sich zu geben, wartete er einen Moment, damit sein Herzschlag sich einigermaßen normalisierte.

Schließlich fragte David nach: „Probleme?“

Brendan schien zu überlegen, wiegte den Kopf hin und her, bevor er irgendwann antwortete: „Na ja, bisher noch nicht so richtig.“

„Hä?“

Ein weiteres Mal seufzte Brendan, drehte die Bierflasche jedoch weiterhin unangetastet zwischen seinen Fingern. „Meine Eltern haben zugestimmt.“

Es dauerte einen Moment, bis die Erkenntnis durchgesickert war und David verstand, worauf Brendan hinaus wollte. „Dass du nach Mannheim gehst?“

Ein knappes Nicken brachte Davids Herzschlag erneut zum Rasen. Im vergangenen Jahr war das Thema ihrer beruflichen Zukunft öfter aufgekommen. Und dabei hatte Brendan irgendwann damit rausgerückt, dass der Idiot überlegte, sich an der Uni Mannheim einzuschreiben. Zumindest falls er dort ohne Probleme einen Platz bekommen könnte – was bei Brendans Noten aber nie zur Debatte gestanden hatte.

Bisher hatte David das dennoch nie für wahre Münze genommen. Er hatte angenommen, dass Dalia Brendan diesen Mist ausreden würde. Dann wäre die Frau wenigstens einmal zu etwas nützlich. Wirtschaft konnte Brendan schließlich auch hier in München studieren. Wozu musste er da extra ewig weit wegziehen?

„Bist ... du sicher, dass du das willst, Bren?“

Achselzuckend sank dieser in sich zusammen und gab der Versuchung, am Bier zu nippen, endlich nach. „Ich denke schon.“

„Du ... kannst doch genauso gut hier studieren“, flüsterte David heiser.

Sie sahen sich sowieso viel zu selten. Weil Brendan ja ständig Zeit mit dieser Frau verbringen musste. Und deshalb offenbar keine mehr für alte Freunde hatte. Dabei kannte David ihn viel länger. Länger als Tristan, länger als diese Dalia oder irgendjemand sonst. Sah man von Brendans eigener Familie ab.

Wenn der Blödmann wegzog, was blieb dann noch von ihrer Freundschaft?

Für einen Moment kam David die Idee, dass das die perfekte Gelegenheit wäre, um Brendan die Wahrheit zu sagen. Zumindest hätte David es dann hinter sich. Und sollte Brendan nicht damit umgehen können, wäre es auch nicht anderes, als wenn er morgen umziehen würde. Aber so sehr David versuchte, sich das einzureden, es gelang nicht. Brendan durfte ihn nicht verachten – oder gar hassen. Falls ihre Freundschaft an etwas scheitern sollte, dann nicht daran, dass David diese dämlichen Gefühle hatte.

Brendan merkte von diesen Überlegungen natürlich gar nichts. Stattdessen seufzte er und fuhr fort: „Das ist eine einmalige Chance, Dave. In Mannheim kann ich viel besser spezialisieren. Und so weit weg ist es jetzt auch wieder nicht.“

David hasste sich selbst dafür, dass er die Worte aussprach, aber es schien wie ein letzter Strohhalm um dieses Fiasko womöglich doch noch zu verhindern: „Und Dalia findet das okay?“

Erneut zuckte Brendan mit den Schultern. „Weiß ich halt nicht, hab es ihr bisher nicht gesagt.“

Schon wieder hämmerte es in Davids Brust. Prompt war er sich nicht sicher, was er sich wünschen sollte. Ein Umzug könnte zu einem Bruch zwischen Brendan und Dalia führen. Was würde das für David heißen? Ein winzig kleiner Teil war da noch immer, der zu hoffen wagte, wo Hoffnung längst verloren sein sollte. Bei einer Trennung würde Brendan jemanden brauchen, der ihn von dem Verlust ablenkte. Einen Freund, der ihn liebte und auffangen konnte. Aber falls Brendan nach Mannheim ging, wäre David nicht dort, um genau das zu übernehmen.

„Warum hast du es noch nicht gesagt, Bren?“

„Sie ... war nicht gerade begeistert davon, eine Fernbeziehung führen zu müssen“, gab Brendan seufzend zu. „Ich hab Angst, dass sie Schluss macht.“

Das stechende Gefühl in Davids Bauch hielt an, wurde jedoch allmählich eher zu einem Brennen. Vom Magen aus breitete es sich immer weiter aus, bis er kaum noch richtig atmen konnte. Es wäre ein Leichtes gewesen, etwas zu sagen. Irgendein blöder Kommentar, dass keine Frau es wert war, dass Brendan ihr hinterher heulte. Erst recht nicht, wenn sie sich wegen des Wegzugs so anstellte. Aber im Grunde war David ja nicht anders. Und diese Erkenntnis schmerzte fast noch mehr, als das sichere Wissen, dass es so oder so nichts an Davids eigener Beziehung zu Brendan verändern würde.

„Ich will unbedingt nach Mannheim, aber irgendwie macht es mir auch Angst. Kenne da ja niemanden. So ganz ohne Familie oder Freunde? Und das mit Dalia ist mir wirklich ernst. Will ich das riskieren?“ Brendans Stimme war leise. Sie klang gequält, leidend, und schürte damit das Brennen in Davids Brust weiter an.

„Ich könnte mitkommen“, hörte er sich selbst sagen – ohne dass er überhaupt darüber nachgedacht hatte.

Ein leises Lachen, als Brendan David kurz darauf durch die Haare wuschelte. „Du Quatschkopf“, fügte er mit einem sanften Lächeln hinzu. „Das ist lieb von dir, aber was willst du denn in Mannheim?“

David schluckte, sagte jedoch zunächst nichts. Wieder einmal hatte er keine Ahnung, was er erwidern könnte. Natürlich nahm Brendan es als Scherz. David hatte nicht vor, irgendetwas in Richtung BWL oder Sozialwissenschaften zu studieren. Was zum Geier sollte er ausgerechnet in Mannheim? Zumal er sich schon vor Monaten für die TU in München entschieden hatte. Da hatte David aber auch noch geglaubt, dass Brendan ebenfalls hierbleiben würde.

„Du gehörst doch hierher“, schlug jener prompt flüsternd in genau die gleiche Kerbe.

Davids Stimme klang vermutlich reichlich trotzig, das war ihm im Augenblick jedoch vollkommen egal: „Aber so wärst du zumindest nicht allein. Informatik kann man heutzutage doch fast überall studieren.“

„Das ist eine Wirtschaftsuni. Da gibt es keine reine Informatik.“

Lediglich die Bierflasche in seiner Hand verhinderte, dass David die Arme vor der Brust verschränkte und erst recht zum Trotzkopf mutierte. „Dann wird es halt Wirtschaftsinformatik. Ist doch eh egal. Gibt ja bestimmt noch andere Hochschulen da. Irgendeine wird mich schon nehmen.“

Lächelnd schüttelte Brendan den Kopf. „Jetzt sei nicht albern. Du hasst das Wirtschaftszeug, Dave. Und du willst doch gar nicht wirklich aus München weg. Für dich käme ein Umzug ins Umland schon einem Kulturschock gleich.“

„Gar nicht!“

Brendans Lachen wurde lauter. „Gar wohl!“, meinte er und schlug David gegen das Bein. „Das ist totaler Quark und das weißt du. Außerdem können wir doch nicht beide den armen Tristan hier einfach alleine zurücklassen.“

Ein Teil von David wollte weiterhin trotzig sein und ein „Ist egal“, zurückwerfen. Aber er brachte es nicht über die Lippen.

Tristan war ebenfalls sein Freund. Manche hätten das in Anbetracht der Tatsache, was sie an diversen Abenden getrieben hatten, auch mehrdeutig ausgelegt. Aber es war nicht das Gleiche, wie das, was David für Brendan empfand. Dieses Ziehen und Reißen in der Brust, sobald er nur daran dachte, dass er aufgrund der drohenden Entfernung nicht nur jede Chance bei Brendan verlor, sondern am Ende womöglich den Mann in Gänze. Was würde dessen Entscheidung mit ihrer Freundschaft anstellen?

„Wir sind schon so lange Freunde“, flüsterte David. Doch seine Stimme war nicht fest und entschlossen, wie er geplant hatte. Stattdessen glich sie eher einem jämmerlichen Krächzen. „Ich will nicht, dass wir das verlieren.“

Brendan lächelte, während er ihm erneut durch die Haare wuschelte. „Wir werden immer Freunde sein. Egal, was ist. Mannheim ist nicht am anderen Ende der Welt. Wir können uns auch weiterhin noch sehen. Ich werde garantiert sowieso versuchen, dass ich so oft wie möglich nach Hause komme.“

Leider machte diese Versicherung es nicht wirklich besser. Denn Brendan würde ganz sicher nicht wegen David die weite Strecke auf sich nehmen. Selbst wenn die Entfernung überbrückbar sein mochte, erschien sie im Moment eher wie das kleinste Problem an der Sache.

Es fühlte sich vielmehr so an, als wäre Brendans Entscheidung das Todesurteil für alles, was jemals zwischen David und ihm existiert hatte. Für das, was sie in den letzten Jahren gemeinsam durchgemacht hatten. Und letztendlich eben auch für das, was in Davids Brust brannte und danach schrie, es Brendan wenigstens zu sagen.

Aber er tat es nicht. Weil er ein verdammter Feigling war. Heute mehr denn je. Weil er Angst davor hatte, dass es Brendan erst recht von ihm entfremden würde. Wie ging man damit um, wenn einem der beste Freund sagte, dass er auf einen stand und man das nicht mal ansatzweise erwidern konnte? Auf die eine oder andere Weise würde es nie wieder so zwischen ihnen sein, wie es gewesen war. Diesmal ging es nur um ein Studium. Und das nächste Mal?

Würde Dalia Brendan nach Mannheim folgen? Sie zusammenziehen? Familiengründung, Haus, langweiliger Job, das volle Programm, so wie Tristan es vor einem halben Jahr bereits prophezeit hatte? Und irgendwann in zwanzig Jahren würden sie sich auf einem Klassentreffen wiedersehen. Gealtert, vielleicht sogar gereift. Nur keine Freunde – und schon gar nicht dieses ‚mehr‘, was David nicht loslassen konnte.

„Ich ...“, setzte er an. Aber in genau dem Moment klingelte es an der Tür.

„Das muss Tristan sein“, meinte Brendan und sprang sofort auf.

Mit vor Schmerz verzogenem Gesicht, blickte David ihm nach. Aber das sah Brendan natürlich nicht. Weil er es nie sah, der dämliche Vollpfosten. Wahrscheinlich war das besser so, denn im Grunde war es weiterhin David, der sich hier zum Affen machte – und das auch noch wissentlich. Wie bescheuert konnte man eigentlich sein? Also war Brendans verhasste Uniwahl am Ende ja womöglich genau das, was David brauchte. Eine Möglichkeit, diese beschissenen und vollkommen unangebrachten Gefühle endlich abzustellen.

Aus dem Flur waren Stimmen zu hören. Brendan und Tristan lachten. Kurz darauf trat Letzterer ins Wohnzimmer und kam gut gelaunt zur Couch hinüber. Das Lächeln verschwand aber mit jedem weiteren Schritt. Zögerlich drehte Tristan sich zur Tür, die in den Flur führte.

Brendan war nicht da. David konnte ihn in der Küche hören. Wahrscheinlich holte er gerade eines der Mädchenbiere. Für Tristan brachte er hoffentlich ein anständiges. David selbst hätte gern zu etwas Hochprozentigem gegriffen. Aber das traute er sich im Moment eher nicht zu. Wäre dämlich, ausgerechnet im Suff doch noch das zu sagen, was er all die Monate, wenn nicht Jahre, geheim gehalten hatte.

„Was ist passiert?“, fragte Tristan flüsternd, während er sich auf den frei gewordenen Platz setzte, den Brendan eben noch angewärmt hatte.

David zog sich der Magen zusammen bei dem Gedanken, dass Tristan nicht nur auf diesem beschissenen Platz zu einem Ersatz für den Mädchenbier saufenden Dummkopf geworden war. Sondern in gewisser Weise auch in einem Teil von Davids Leben. Jemand, der einsprang, wenn alles, was mit Brendan zu tun hatte, zu viel wurde. Zu viele Gefühle, mit denen David nicht klar kam und zu viele Hoffnungen, die sich nicht vertreiben ließen. Gepaart mit der ständigen Erinnerung daran, dass es sowieso nie Realität werden würde.

„Hast du es ihm gesagt?“

Stirnrunzelnd sah David zu Tristan. „Was meinst du.“

„Dass du ... Du weißt schon ... auf Brendan ...“

„Nein!“, zischte David sofort. Sein Blick zuckte zur Wohnzimmertür, aber es war zum Glück niemand zu sehen.

„Was dann?“

David hatte schon den Mund geöffnet, um zu antworten, als Brendan zurückkam. In der einen Hand tatsächlich eines dieser alkoholfreien Verbrechen, in der anderen ein anständiges Bier.

„Jetzt weiß ich, warum du den Mist angeschleppt hast“, brachte David mit einem erzwungenen Grinsen heraus. Ob Tristan ihm das abkaufte, hätte er nicht sagen können, aber Brendan schien es zu schlucken.

„Was meinst du?“, fragte jener und sah verwirrt auf die Flaschen in seinen Händen.

„Du stimmst dich schon einmal ein. Auf die Zeit, in der du kein anständiges Helles mehr bekommst.“

Diesmal war es Tristan, der verwundert die Augenbrauen zusammenzog, während er das Bier nahm, das Brendan ihm reichte, bevor dieser sich selbst vorerst auf den Sessel verzog.

„Auch wenn meine Eltern zugestimmt haben. Ich habe mich bisher nicht endgültig entschieden“, murrte Brendan derweil.

Aber da lag etwas Trauriges in seiner Stimme. Egal, was der Kerl sagte, um von der Sache abzulenken. Für David war klar, dass die Entscheidung längst getroffen war. Brendan würde gehen – komme, was wolle. Weil es der Weg war, in dem Brendan seine Zukunft sah.

Als gleichzeitig wieder der Gedanke in David hochkam, dass die Entfernung womöglich auch die Beziehung zu Dalia beenden konnte, hob dieser hastig die eigene Bierflasche zum Mund und leerte sie in einem Zug. Das Bier lag David jedoch schwer im Magen, kaum dass es dort angekommen war.

Machte dieser Gefühlsmist eigentlich jeden zum Arschloch oder nur ihn?

-`ღ´-


„Kommst du klar?“

Die Frage war überflüssig – und David sich nicht sicher, ob er sie hören oder gar beantworten wollte. Also zischte er ein ungehaltenes: „Warum denn nicht?“, zurück.

„Weil du aussiehst, als ob du lieber im Bad kotzen willst, als mit uns den Film anzuschauen.“

Genervt verdrehte David die Augen. Weshalb musste Tristan eigentlich immer genau ins Schwarze treffen? Das war nervig – und geradezu unheimlich. Aber mit ziemlicher Sicherheit war es ebenso der Grund, warum David sich in den letzten Monaten so oft vor Tristans Wohnungstür vorgefunden hatte. Weil es gerade diese sanfte und ruhige Art war, die Davids Emotionen besänftigte – und ihn damit gleichzeitig in den Wahnsinn trieb.

„Mir geht es gut“, murmelte er verhalten.

„Sicher?“

Diesmal sah David auf, wollte Tristan wütend anfunkeln. Als dessen besorgtes Gesicht direkt neben ihm auftauchte, brachte er aber kein Wort heraus. Stattdessen zog sich sein Magen zusammen, als hätte Tristan ihm eine reingehauen. Bei der Muskelmasse, die der Kerl aufzubieten hatte, würde das garantiert schmerzhaft werden. Also war der Vergleich nur fair.

„Du hast es doch gehört. Brendan wird wegziehen“, flüsterte David schließlich heiser.

Die Tatsache, dass er dabei sogar für sich selbst so klang, als ob er gleich anfangen würde zu heulen, machte alles nur noch schlimmer. Er war kein verfluchtes Weichei oder gar ein verdammtes Mädchen, das ihrem Schwarm hinterher heulte.

„Ich habe nur gehört, dass er inzwischen ernsthaft darüber nachdenkt. Und selbst wenn ... Was heißt das schon?“

David schnaubte und schüttelte den Kopf. Tristan und sein dämlicher Optimismus. Was wusste der denn bitte über Brendan? Garantiert nicht so viel wie David. Was waren schon zwei beschissene Jahre gegen die inzwischen neun, die er selbst vorzuweisen hatte? Wenn David eines wusste, dann war es, dass Dickkopf Brendan nichts aufhalten würde, sobald er erst einmal von einer Idee überzeugt war. Diese blöde Wirtschaftsuni war definitiv etwas, von dem Brendan sich garantiert nicht einfach so abbringen lassen würde.

„Er wird gehen“, sagte David deshalb tonlos. „Ohne mich. Dabei habe ich ihm sogar angeboten, mitzukommen. WG oder irgendwas.“

David stockte, wischte sich mit der Hand über den Mund. Es fühlte sich alles so falsch an, so verlogen. Fehlte nur noch, dass Tristan ebenfalls diesen beschissenen Spruch brachte, von wegen ‚ihr werdet immer Freunde bleiben‘. Als ob es das besser machen würde.

„Wenn er nach Hause kommt, wird er mit Dalia rumhängen. Und ein paar Monate später wird er sich irgendwann nicht mehr melden“, murmelte David leise.

Tristan schwieg. Als David wieder zu ihm blickte, war da kein Vorwurf, keines dieser spitzbübisches Lächeln, die den Mann zugegeben noch attraktiver wirken ließen, als er es eh schon war. Alles, was David sah, war Traurigkeit, vielleicht auch Mitleid. Und das schmerzte sogar mehr.

„Möglich. Muss aber nicht sein“, meinte Tristan schließlich, klang dabei trotzdem nicht sonderlich überzeugend.

Deshalb schüttelte David lediglich erneut den Kopf, bevor er ihn hängen ließ. „Mit wie vielen von deinen Freunden aus Berlin hast du noch Kontakt?“

Mit einem Mal fand sich David gegen Tristans Brust gepresst. Der vertraute Geruch eines fremden Aftershaves, ein leichtes Kratzen an seiner Wange. Dazu zwei kräftige und warme Arme, die im Augenblick leider durch mindestens eine Stoffschicht zu viel von Davids Haut getrennt waren. Zumindest könnten sie ihn andernfalls vergessen lassen. Mit Tristan hatte er das immer gekonnt. Dieses ‚Vergessen‘, das einem ‚Ignorieren‘ näher kam als allem anderen. Aber das machte keinen wirklichen Unterschied. Hauptsache es half.

„Brendan ist nicht so eine treulose Tomate“, flüsterte Tristan neben Davids Ohr und brachte ihn auf diese Weise zu einem leisen Lachen. „Er wird sich bei dir melden. Bei jedem anderen hätte ich Zweifel, aber nicht wenn es um euch beide geht.“

David biss sich auf die Unterlippe, antwortete jedoch nicht.

„Na komm. Wenn du sicher bist, dass er früher oder später weg ist, genieß die Zeit mit ihm, solange du noch kannst.“

Das brachte jetzt doch wieder ein Lächeln auf Davids Lippen und er nickte, löste sich aber weiterhin nicht aus der Umarmung. Auch wenn er es ungern zugab, Tristans Nähe war vertraut geworden. Ein Stück Normalität in einer manchmal etwas zu schnell voranschreitenden Welt, in der David immer weniger zurechtkam. Zumindest fühlte es sich ständig so an.

Schule, Abschluss, angehendes Studium und zwischendrin dieses Chaos im Kopf, der Brust, dem Bauch. Er war kein Kind mehr, nicht einmal ein Teenager. Sollte das nicht längst vorbei sein? Hätte David diese wirre Achterbahnfahrt nicht bereits vor Jahren hinter sich bringen müssen? Vielleicht wäre ihm so dieser verdammte Schmerz in der Brust erspart geblieben, der ihn inzwischen wie ein konstantes Brennen malträtierte.

„Wo bleibt ihr denn?“, rief Brendan irgendwann aus dem Wohnzimmer.

Hastig trat David einen Schritt zurück und strich sein T-Shirt glatt. Tatsächlich kam Brendan kurz darauf breit grinsend in die Küche und stellte seine leere Pseudobierflasche auf dem Küchentisch ab.

„Sehen wir uns jetzt endlich den Film fertig an oder was geht?“

„Klar!“, beeilte David sich zu versichern. Um von seinem heftig pochenden Herzen abzulenken, zerrte er den Kühlschrank auf und holte drei weitere Flaschen heraus. Die letzte von Brendans alkoholfreien und zwei Helle für Tristan und ihn selbst. „Du nimmst doch noch eins, oder?“

„Planst du, mich besoffen zu machen?“

Auf andere mochte das leichte Grinsen auf Tristans Lippen harmlos wirken. Bei David verfehlte es jedoch nicht die vermutlich beabsichtigte Wirkung. Ein sanftes Kribbeln wanderte Davids Wirbelsäule entlang. Vor Brendan wollte er sich aber ganz sicher nicht bloßstellen lassen.

Also räusperte er sich und meinte lediglich: „Als ob man das planen müsste. Du pennst recht zuverlässig nach fünf Bier ein.“

Lachend zuckte Tristan mit den Schultern. „Das sagt der Richtige. So oft, wie ich dich nach einem Klubabend heim geschleppt habe, könntest du glatt bei mir einziehen.“

Sofort spürte David, wie seine Ohren anfingen zu kribbeln. Dieser unschöne Druck, der sich bis zu den Schläfen ausbreitete und sich anfühlte, als würde sein Kopf in Flammen aufgehen.

„So weit muss man ja nicht gleich gehen“, murmelte David zurückhaltend, schaffte es aber nicht, Brendan oder Tristan in die Augen zu sehen. Stattdessen drehte er sich herum und kramte den Flaschenöffner aus dem Küchenschrank.

Feixend schlug Brendan daraufhin Tristan auf den Rücken. „Tja, mein Freund. Wenn du eine Frau wärst, würde ich sagen, du bist gerade abgeblitzt.“

Hastig hob David die Hand und konnte damit hoffentlich verhindern, dass sein Keuchen hörbar wurde. Brendan bemerkte es glücklicherweise augenscheinlich nicht. Stattdessen war dieser schon wieder auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. Hastig nahm David einen Schluck aus seiner Bierflasche und setzte an, Brendan zu folgen. Tristan griff jedoch hastig nach seinem Arm und hielt ihn daran fest.

„Bin ich das?“, fragte Tristan – leise genug, dass der Blödmann im Wohnzimmer sie hoffentlich auch weiterhin nicht hörte.

„Wir haben keine Beziehung, Tris, schon vergessen?“, gab David nach kurzem Zögern zurück. „Zusammenziehen? Was soll das aus uns machen?“

Tristan zögerte mit seiner Antwort nicht: „Nichts, was wir nicht ohnehin schon sind.“

„Und was ist das?“

„Zwei Freunde, die ab und zu Sex miteinander haben, wenn ihnen danach ist. Was in einer gemeinsamen Wohnung übrigens deutlich unkomplizierter zu handhaben wäre.“

David schwieg, wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Bei Tristan klang es einfach und im Grunde genommen war es das auch. Aber je länger diese Sache zwischen ihnen anhielt, desto weniger wusst David, wieso Tristan sich einen Idioten wie ihn als Freund überhaupt antat. Von allem anderen ganz abgesehen.

„Also?“, hakte Tristan nach, als weiterhin keine Antwort kam. „Sind wir noch Freunde, Davi? Auch mit unserer Vereinbarung?“

Das Lächeln kam von allein, obwohl David sich nicht sicher war, wieso. Das Wissen, dass die gemeinsam im Bett verbrachte Zeit, ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan hatte, war beruhigend. Vor allem aber schürte es weiterhin diesen Funken an Hoffnung, dass es bei Brendan womöglich irgendwann genauso sein könnte.

Er nickte, versuchte die Schuldgefühle, die mit dem gleichen Gedanken kamen, zurückzudrängen. Diese Leichtigkeit im Umgang zwischen ihnen war einfach typisch Tristan. Ganz sicher war es einer der Gründe, warum es für David inzwischen so selbstverständlich war, Tristan nachzugeben.

„Natürlich“, antwortete er verspätet.

Da war es mit einem Mal doch da, dieses spitzbübische Lächeln, auf das David schon während des ganzen Gesprächs gewartet hatte. Nach einem kurzen Seitenblick zur Tür umfasste Tristan mit einem Mal Davids Kopf und zog ihn zu sich heran. Für einen Sekundenbruchteil war da der Gedanke, dass sie sich doch küssen würden – zum ersten Mal. Denn das war ja die eine Sache, die sie nie taten.

Natürlich passierte es auch diesmal nicht. Sie hatten eine Vereinbarung, wie Tristan eben so schön betont hatte. Und zu der gehörte Küssen nicht dazu. Jedenfalls nicht, wenn es darum ging, dass Lippen auf Lippen trafen. Weil David das nicht gewollt hatte. Sich weiterhin dagegen sträubte. Sowohl bei Tristan als auch bei anderen. Es würde diese ganze Sex-Sache tatsächlich intim machen.

Wahrscheinlich war der Gedanke total albern. Und kindisch. Und kitschig sowieso. Im Grunde hasste David sich selbst und diesen Gefühlsscheiß deshalb nur noch mehr. Aber dieser erste echte, richtige und wahre Kuss sollte von dem Mann kommen, in den er sich verliebt hatte.

„Wir sind Freunde“, sagte David heiser.

Und deshalb waren auch heute Tristans Lippen lediglich eine flüchtige Berührung an Davids Ohr. Ein verführerisches Flüstern: „Vergiss den Sex nicht.“ Lächelnd lehnte Tristan sich ein Stück zurück, sodass sie sich erneut ansahen. „Mein Dad wird übrigens, wie es aussieht, demnächst mal wieder versetzt. Ich muss mir etwas Neues oder einen Mitbewohner suchen. Wohngemeinschaft mit jemanden, den ich kenne, wäre mir lieber als ein Fremder. Also denke darüber nach.“

Ehe David auch nur ansatzweise eine Antwort in seinem Kopf zustande gebracht hatte, war Tristan bereits im Wohnzimmer verschwunden. Kurz darauf konnte David seine beiden besten Freunde lachen hören. Er selbst stand weiterhin wie angewurzelt da. Der halbsteife Beweis dafür, was Tristan mit ihm anstellen konnte, war ebenso wenig hilfreich, wie die Leere in Davids Kopf.

„Kommst du jetzt endlich?!“, rief Brendan lautstark aus dem Wohnzimmer.

„Zum Glück nicht“, murmelte David und musste über seinen eigenen miesen Scherz lachen. „Jetzt hetz nicht so. Ein alter Mann ist kein Schnellzug.“
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