Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Elf Jahre und ein Tag

von Ken
Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
01.01.2023
18.03.2023
16
60.415
15
Alle Kapitel
44 Reviews
Dieses Kapitel
3 Reviews
 
 
18.03.2023 4.804
 
Kapitel 16 – Neue Vereinbarung (04.04.2016)


Hatte der gestrige Tag mit Traumwetter aufwarten können, war es an diesem Aprilmorgen der prasselnde Regen, der David weckte. Es dauerte einige Sekunden, bis er kapierte, was ihn daran störte. Das Geräusch kam von der falschen Seite. Blinzend öffnete er die Augen und blickte sich um. Was David sah, war nicht wirklich erstaunlich und dennoch musste er darum kämpfen, kein Stöhnen herauszulassen.

Du verfickter Oberdepp‘, schalt David sich selbst und schloss die Augen erneut.

Er hatte es schon wieder getan. Hatte der beschissenen Versuchung nachgegeben. Weil es so einfach war und Tristan sich nie dagegen wehrte. Wobei es zugegeben letzte Nacht eine der seltenen Gelegenheiten gewesen war, in denen die Initiative nicht von David ausgegangen war. Um zu vergessen, dass es Tristan war, der ihn in sein Bett eingeladen hatte, war David definitiv nicht besoffen genug gewesen.

Langsam öffnete er die Augen und starrte an die Decke. Wahrscheinlich hatte Tristan in seiner ganzen so verdammt gutmütigen Art schlichtweg gewusst, dass David diese Nacht brauchen – und dennoch nicht danach fragen würde.

Die Hochzeit war nach Meinung der anderen Gäste garantiert wunderschön gewesen. Ehrlicherweise konnte David dem objektiv nicht einmal widersprechen. Nicht wirklich – merkwürdigerweise tat ihm der Gedanke ebenfalls nicht leid. Herrliches Wetter, ein glückliches Brautpaar. Es war keine einzige Kleinigkeit schiefgegangen. Alles nach Plan, alles super.

So verdammt perfekt.

Wäre da nicht die Tatsache, dass der Bräutigam genau der Mann war, in den David seit inzwischen acht, neun Jahren verliebt war. Vielleicht auch länger. Er hätte kein Datum benennen können – abgesehen von dem Tag, an dem David Tristans Angebot angenommen und festgestellt hatte, dass er wirklich auf Männer stand. Einhergehend mit der beschissenen Erkenntnis, dass er für Brendan nicht einfach nur Freundschaft empfand.

Was dessen Hochzeit für David zu seiner ganz persönlichen Form eines reichlich abgefuckten Höllentrips gemacht hatte. Erzwungenes Lächeln, Stechen in der Brust und ständig die Angst, dass irgendjemand sehen würde, dass er so lange auf der anderen Seite des Bräutigams hatte stehen wollen – um ebenso ‚ja‘ zu sagen, wie dessen Braut. Hoffentlich war Tristan der Einzige gewesen, der diesen Kampf in David bemerkt hatte. Bestand ja kein Zweifel, dass er es gesehen hatte. Schließlich tat Tristan sich dieses Drama selbst schon viel zu lange an.

Trotzdem liegt er hier.

Unwirsch, weil David diesen Gedanken doch seit einer gefühlten Ewigkeit loswerden wollte, drehte er den Kopf zur Seite. So schaffte er es, die Anzeige des Digitalweckers neben dem Bett zu erkennen.

Neun Uhr. Eigentlich zu früh für einen Sonntag, um aufzustehen. Jedenfalls wenn man David Asch hieß und ein chronisch beschissenes Verhältnis zum Aufstehen hatte. Ganz im Gegensatz zu dem ach so strebsamen und braven Tristan.

Nerd!

Zwei zu heftige Herzschläge, dann hatte ein Teil von David akzeptiert, dass er sich zumindest erneut umdrehen und nach Tristan sehen sollte. Kaum war das geschehen, stellte er jedoch fest, dass sein Mitbewohner, Schrägstrich Sexfreund, Schrägstrich überhaupt irgendwie und inzwischen vielleicht eher bester Freund, weiterhin schlief. Vermutlich sogar den Schlaf der Gerechten. Zumindest der Netten. Und Freundlichen. Und verdammt noch einmal viel zu viele Dinge, über die David nicht nachdenken wollte.

Eine unerfüllte Liebe war genug. Bei einem weiteren Mann würde er sich das nicht antun. Egal, wer das war.

Diesmal half kein Augenschließen mehr, um den Gedanken zu vertreiben. Also drehte David sich vorsichtig zurück auf die andere Seite und schob die Beine über die Bettkante. Ein kurzer Schulterblick zu Tristan bestätigte ihm, dass der – entgegen aller Gewohnheit – weiterhin selig schlummerte. Einen Moment lang zögerte David. Wie beschissen würde es rüberkommen, wenn er sich jetzt einfach in sein Zimmer verzog und für den Rest des Sonntags da nicht mehr rauskam?

Normalerweise blieb er schließlich nicht über Nacht bei Tristan. Das war bisher erst ein Mal vorkommen. Oder zwei. David runzelte die Stirn. Drei Mal? Verdammt, warum war er sich da eigentlich nicht sicher? War ja nicht so, als ob er andauernd mit Tristan ins Bett stieg. Sie waren zwar Freunde mit gewissen Vorzügen, wie man so schön sagte. In erster Linie aber primär Freunde. Vor allem waren sie beide damit zufrieden.

Zumindest bisher. Wobei David sich gerade an diesem Morgen nicht sicher war, ob das wirklich zutraf. Er selbst wäre sogar unter anderen Umständen augenscheinlich für niemanden einigermaßen vernünftiges Beziehungsmaterial. Jedenfalls nicht, insofern man seinen Verschleiß an Bettgenossen betrachtete.

Tristan war da allerdings eine ganz andere Hausnummer. Die Tage, an denen ebendieser jemanden hier angeschleppt hatte in den vergangenen Jahren, konnte man an einer Hand abzählen. Über Nacht weg, war er auch nicht sonderlich oft. Garantiert müsste Tristan sich nur ein klitzekleines bisschen anstrengen und schon würden ihm die hirnverbrannten Romantikdeppen reihenweise vor die Füße fallen.

Schlimmer noch – Tristan würde sie aufsammeln, aufpäppeln und überglücklich machen. Der Gedanke war scheiße. Aber auch irgendwie gut. Jedenfalls wäre es gut für Tristan. Besser als das hier. Besser als ein depperter Mitbewohner, der nichts auf die Reihe bekam. Nicht einmal seine eigenen Gefühle.

Dämlicher Trottel!‘, schimpfte David mit sich selbst.

Missmutig sprang er auf und stapfte aus dem Zimmer ins Bad und unter die Dusche. Das waren keine Gedanken, denen er weiter nachhängen sollte. Tristans Sexleben ging ihn nichts an – jedenfalls so lange es David nicht mit einschloss. Und für diesen Fall hatten sie schließlich eine klare Vereinbarung.

Tristan war sein Freund. Dass sie ab und an Sex hatten, hieß gar nichts. Hieß es bei den Anden Typen, die David in diversen Klubs und Apps jede Woche aufriss, ja auch nicht. Als er den Kopf gegen die Wand der Dusche lehnte, ließ er diesmal das Seufzen heraus.

„Du benimmst dich wie ein hirnverbrannter Vollpfosten“, flüsterte er verhalten.

Die Realität war David doch seit Jahren vollkommen klar. Genau genommen seit dem Tag, als ihm das erste Mal bewusst geworden war, dass er mehr von Brendan wollte als eine lächerliche Freundschaft, die irgendwann im Sand verlaufen würde. Aber jedes Mal, wenn er an diesen Mann dachte, der sein bester Freund sein sollte, war da etwas in Davids Brust in Flammen aufgegangen.

Ein Verlangen nach so viel mehr als beschissene DVD-Abende – oder ein dämliches Treffen im Biergarten auf eine Maß. Er wollte Brendan küssen, ihn nackt sehen, spüren. Überall. Immer wieder. Aber vor allem wollte er wissen, dass es okay war, so zu fühlen. Obwohl er es doch selbst nicht einmal Brendan gegenüber aussprechen konnte.

Und dann?

So mancher würde denken, dass es leichter wäre, wenn er endlich die Wahrheit sagte – wenigstens einen Teil davon. Er musste Brendan schließlich nicht gleich auf die Nase binden, dass er schon während der Schulzeit in ihn verknallt gewesen war. Etwas, das sich auch durch die Entfernung im Studium nicht geändert hatte. Womöglich würde es reichen, wenn David endlich damit rausrückte, dass er auf Männer stand.

Wenigstens dafür würde Brendan ihn sicherlich nicht verurteilen. So engstirnig und verbohrt war der schließlich nicht. Garantiert. Oder? Trotzdem schlug David, bei dem Gedanken daran, dass Brendan nach diesem Geständnis endgültig auf Abstand gehen würde, das Herz schneller in der Brust.

So oder so würde es etwas zwischen ihnen verändern. Mehr noch als es die vergangenen Jahre vermocht hatten. Dabei hatte David alles nur Erdenkliche getan, um diese Freundschaft nicht aufgeben zu müssen. Er hatte sich an jeden Strohhalm geklammert, den Brendan ihm hingehalten hatte. Und was war am Ende bei rausgekommen?

„Nichts.“

Womöglich wäre es einfacher gewesen, wenn von ihrer Freundschaft ebenfalls nichts mehr übrig geblieben wäre. Doch das wäre gelogen. Da existierte jede Menge. Der Ton zwischen ihnen war lediglich anders geworden. Ruhiger. Stiller. Zurückgezogener. Vielleicht sogar ‚erwachsener‘.

Brendan rief David weiterhin an, wenn er jemanden zum Reden brauchte. Er selbst hörte zu. Versuchte das zu tun, was ein guter Freund machte. Eine Stütze sein. Helfen – und sei es nur dadurch, dass Brendan einen vertrauten Menschen hatte, um das alles loszuwerden. Wenigstens in der Hinsicht war David weiterhin an erster Stelle.

„Mehr bleibt mir nicht.“

Sein Murmeln war über das Rauschen der Dusche kaum zu hören. Selbst wenn Tristan es mitbekommen hätte, würde das keinen Unterschied machen. Der kannte Davids Dilemma nur zu gut. Egal wie sehr es über die Jahre geschmerzt hatte, er hätte diese Freundschaft nicht aufgeben können. Ein Leben ohne sie war unvorstellbar geworden. Die Freundschaft zu Brendan war ein Teil von Davids Existenz. Genauso wie die zu Tristan. Die beiden waren David näher als die eigene Familie. Aber auch für Familie sollte man anders empfinden.

Er hob die Hand und fuhr sich damit über die Lippen. Ein Kuss. Nur ein einziger. Er war inzwischen fast sechsundzwanzig und hatte bisher jedem diesen ‚ersten‘ Kuss verweigert. Weil der für Brendan reserviert gewesen war. Für den Mann, der Davids große Liebe hätte werden sollen. Dass er ihn nie bekommen würde, wusste er. Dennoch konnte er nicht aufhören, dem bescheuerten Gefühlsschmarrn nachzuhängen.

„Der Mann ist verheiratet“, sagte David sich selbst und drehte dabei das Wasser auf Anschlag nach rechts.

Keuchend und schwer atmend ertrug er die Kälte, bis sich sein Körper einigermaßen daran gewöhnt hatte. Der Moment reichte, um ihn von den Gedanken an Brendan abzulenken. Damit das auch so blieb, versuchte David, nachdem er aus der Dusche gestiegen war, sich darauf zu konzentrieren, was er für nächste Woche vorzubereiten hatte.

Bisher hatte er die Uni nur mäßig ernst genommen. Seinen Eltern waren in der Hinsicht reichlich geduldig mit David gewesen. Aber allmählich musste er mit dem Studium fertig werden, wenn er nicht doch noch ohne Master rausfliegen wollte. Genau wie Brendan stand Tristan ebenfalls bereits im Berufsleben. Wie lange, bis sein Mitbewohner das WG-Leben leid wäre und sich eine eigene Wohnung suchen würde?

„Dann bräuchte er zumindest nicht mehr ständig deine Scherben aufsammeln“, flüsterte David, während er sich selbst im Spiegel betrachtete.

Er sah müde aus und abgekämpft. Irgendwie war der gestrige Tag ja auch ein Kampf gewesen. Einer gegen falsche Gefühle und darum, sich ehrlich für Brendan freuen zu können. Immerhin war Dalia gar nicht so übel. Sie sah gut aus, war nett, freundlich und hatte sich nie bewusst in ihre Freundschaft gedrängt – jedenfalls nicht, dass David es gemerkt hätte. Leider. Denn es wäre so viel einfacher, wenn er die Frau hassen könnte. Dummerweise war sie dafür zu nett.

Und das war am Ende schlichtweg scheiße.

David stöhnte und beeilte sich mit dem Zähneputzen. Er brauchte einen Kaffee, sonst würde er diese dämlichen Gedanken heute nicht mehr loswerden. Brendan war verheiratet. Da spielte es auch keine Rolle, wie oft David sich in den vergangenen Jahren hatte einreden können, dass er Dalia eines Tages womöglich verlassen würde. Schließlich war sie seine erste feste Freundin. Die erste, mit der Brendan es ernst gemeint und die er nicht nur aus Neugier abgeschleppt hatte. Was für ein bescheuertes Klischee!

Man verliebte sich doch nicht einfach mit achtzehn in jemanden und blieb mit dem danach das ganze Leben zusammen. Richtig? Das war lächerlich! Die erste Liebe hielt schließlich angeblich nie. Zumindest selten. Jedenfalls nicht außerhalb von Schnulzenromanen und Liebesfilmen.

Genau das, was du von ihm wolltest.

David schluckte und schüttelte den Kopf. Er hatte sich doch ablenken wollen. An anderen Tagen war das schließlich auch nicht so schwer. War ja nicht so, als ob sich sein Alltag permanent um Brendan drehen würde.

Also stapfte David endlich in sein Zimmer und holte sich frische Sachen. In Unterhose und T-Shirt stand er wenige Minuten später in der Küche und füllte die Kaffeemaschine mit Wasser. Er suchte nach etwas Essbarem, fand allerdings so gut wie nichts. Die Cornflakes waren alle, Müsliflocken konnte David nicht leiden und brottechnisch saßen sie auf dem Trockenen.

„Scheiß morgen“, murmelte er und sah zur Kaffeemaschine.

Die gluckerte leise vor sich hin. Da das Ding mit einer Thermoskanne ausgestattet war, würde sie den Kaffee lange genug warm halten, damit David zum Bäcker laufen und Frühstück holen konnte. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte, dass der Regen inzwischen aufgehört hatte. Immerhin etwas.

Kurzentschlossen stürmte David ein weiteres Mal in sein Zimmer, um sich eine Hose anzuziehen. Nachdem das erledigt war, warf er erneut einen Blick in die Küche, wo der Kaffee bisher noch nicht fertig durchgelaufen war. Hastig lief er in die Diele, streifte sich ein Paar Turnschuhe über, schnappte sich seine Jacke und war kurz darauf unterwegs zum Bäcker. David wusste zwar nicht genau, ob der um die Ecke tatsächlich am Sonntag offen hatte, aber einen Versuch war es allemal wert.

Um kurz vor neun Uhr morgens war er allerdings nicht der Einzige, der so dachte. Entsprechend musste David einige Zeit warten, bis er in der Schlange weit genug vorgerückt war, um endlich etwas kaufen zu können. Er zückte eben den Geldbeutel, als ihm klar wurde, dass er automatisch nur Dinge ausgesucht hatte, die er selbst mochte.

Prompt war die eben noch gebesserte Laune wieder im Keller. War er schon immer so ein Egoist gewesen? Jemand, der nur nahm, was er selbst brauchte, ungeachtet der Menschen um ihn herum? Galt das für die Vereinbarung mit Tristan genauso? Was für ein Arschloch war er geworden, dass er den einen Freund ausnutzte, um damit den anderen wenigstens für eine Weile zu vergessen?

David biss sich auf die Lippe und sah auf die Auslagen. Tristan mochte keinen Süßkram und da er viel Sport machte, waren Kalorienbomben wie Croissants bei ihm garantiert ebenso verschmäht. Davids Magen krampfte sich zusammen. War er tatsächlich so verpeilt, dass er nicht einmal sagen konnte, was er seinem Mitbewohner und Freund zum Frühstück mitbringen konnte? Nach sieben beschissenen Jahren, in denen sie quasi regelmäßig im Bett landeten?

Gemeinsames Frühstück gehörte da nie dazu‘, versuchte David sich vor sich selbst zu rechtfertigen.

Sein Kiefer verspannte sich, während er darum kämpfte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was Tristan normalerweise so aß, wenn der nicht gerade gekocht hatte. Außer ‚Müsli‘ kam David da aber nicht viel in den Sinn.

Über seine Mitbewohner kann man nicht alles wissen‘, kam prompt die nächste Ausrede in David hoch. ‚Über Freunde auch nicht.

Das krampfende Gefühl in seinem Magen wurde dadurch jedoch nicht besser, eher schlimmer. Um nicht zusätzlichen Ärger bei den Wartenden zu verursachen, kaufte David schließlich mehrere verschiedene Semmeln. Irgendetwas würde hoffentlich dabei sein, mit dem er sich vor Tristan nicht vollkommen lächerlich machte.

Erst als er wieder zu Hause war und in die leere Küche kam, wurde David klar, dass Tristan ja noch immer schlief. Wie bescheuert würde es rüberkommen, wenn er ihn jetzt für ein gemeinsames Frühstück wecken würde?

„Versteht er garantiert nicht falsch“, zischte David sich selbst an und warf die Papiertüten vom Bäcker auf den Küchentisch.

Allmählich fing dieser Morgen und seine übermäßige Grübelei richtig an zu nerven. Als ob er sonst ständig darüber nachdenken würde, was die Typen, mit denen er ins Bett stieg, von ihm hielten. Gut, Tristan war da eine bekannte Ausnahme, aber das war trotzdem kein Grund jetzt auf einmal so verdammt gefühlsduselig zu werden.

Freundschaft und Sex. Nicht mehr und nicht weniger.

David biss sich erneut auf die Lippe, während er langsam zur Kaffeemaschine schlurfte, um sich aus der Thermoskanne den ersten Kaffee des Tages zu holen. Vielleicht würden diese beschissenen Gedanken so endlich verschwinden.

„Servus“, grummelte in diesem Moment eine verschlafene Stimme aus Richtung Tür.

Erschrocken fuhr David herum und erntete dafür ein leises Lachen.

„Schreckhaft heute. Und früh auf für einen Sonntag.“

Da David nicht wusste, was er darauf antworten sollte, zuckte er einfach nur mit den Schultern und deutete auf die Tüten vom Bäcker. „Hunger?“, fragte er vorsichtig.

Kurzes Zögern, das etwas unschön in Davids Bauch zusammenzog, bevor die Antwort kam: „Immer.“

Erst als Tristan in Richtung Bad verschwunden war, wurde David klar, dass dieser nicht einmal gefragt hatte, was im Angebot war. Er hatte wie sonst auch einfach zugestimmt. War das normal für eine Freundschaft? Oder nur für ihre?

„Egal“, murmelte David und lief zum Schrank hinüber, um das Geschirr fürs Frühstück herauszuholen.

Zwei Minuten später hörte er die Dusche im Bad. David setzte sich an den Tisch und holte das Handy heraus. Überrascht stellte er fest, dass Brendan ihm gestern im Verlauf des letzten Abends mehrere Fotos geschickt hatte. Dass der Mann dafür überhaupt Zeit, geschweige denn einen freien Gedanken gefunden hatte, war wirklich erstaunlich. Gedankenverloren blätterte David durch die Fotos.

Die meisten davon zeigten das Brautpaar – also hatte sie schon einmal nicht Brendan selbst aufgenommen. Mit jedem weiteren Bild wurde die Bewegung von Davids Daumen schneller und der Stein in seinem Magen schwerer. Er hatte erwartet, dass es ihn verletzten würde, das glückliche Paar zu sehen – genauso wie gestern Abend. Aber der Schmerz kam nicht. Da war kein Ziehen im Bauch, keine aufsteigende Übelkeit bei dem Gedanken, dass Brendan sich letzte Nacht zu Dalia ins Bett gelegt hatte.

Dabei müsste das doch da sein, oder? Es sollte wehtun, die beiden zu sehen. Immerhin war Brendan der Mann, in den David sich verliebt hatte. Der Kerl, wegen dem er sich auf Tristans Angebot eingelassen hatte und irgendwann akzeptieren musste, dass er nicht einfach nur neugierig, unentschlossen oder bi war, sondern definitiv schwul.

„Sie sehen glücklich aus.“

Erschrocken zuckte David zusammen und blickte über die Schulter nach oben. Er hatte gar nicht gemerkt, dass die Dusche nicht mehr lief. Und schon gleich gar nicht, dass Tristan hinter ihm aufgetaucht war. Hastig setzte David ein Lächeln auf und nickte schweigend. Seiner Stimme traute er noch nicht so recht.

„War eine schöne Hochzeit“, meinte Tristan emotionslos.

Zumindest hätte David nicht sagen können, was Tristan beim Anblick der Bilder empfand. Immerhin war Brendan auch sein Freund.

„Ja“, antwortete er irgendwann, während Tristan sich ihm gegenüber an den Küchentisch setzte und nach der Kaffeekanne griff. „War eine schöne Feier.“

Schweigen trat ein. Um der zunehmend peinlicher werdenden Situation zu entgehen, legte David das Handy beiseite und griff nach dem Croissant, das er sich selbst mitgebracht hatte. Beim Anblick des reich gefüllten Brotkorbes wurde ihm wieder bewusst, dass er nicht wirklich gewusst hatte, was er Tristan mitbringen konnte.

Nach so vielen Jahren ...

„Du scheinst ziemlichen Hunger zu haben, Davi“, bemerkte Tristan hingegen mit einem verschmitzten Grinsen.

„Ich ...“, setzte David verhalten an. „Ich wusste nicht, worauf du heute Lust hast.“ Klang das unverfänglich genug? Unsicher schielte er zu Tristan.

Der zuckte jedoch nur mit den Achseln und griff sich einer der Vollkornsemmeln. „So anspruchsvoll bin ich nun auch wieder nicht.“

Es lag kein wirklicher Vorwurf in Tristans Stimme. Trotzdem fuhr sie David mitten in die Brust. Automatisch hob er die Hand und rieb mit dem Handballen über die schmerzende Stelle.

„Sicher, dass du okay bist?“, fragte Tristan prompt.

„Natürlich!“, versicherte David hastig. Er ließ die Hand sinken und schnitt stattdessen sein Croissant auf.

Doch in seinem Inneren rumorte es weiter. Das hier war genau das Leben, das sie gewählt hatten. Alle beide. War ja nicht so, als würde David Tristan von irgendetwas abhalten. Wenn der eine Beziehung wollte, bräuchte er nur dort rausgehen und sich jemanden suchen. David würde ihm nicht im Weg stehen, das wusste Tristan garantiert. Trotzdem tat der das nicht. Ging nicht einmal sonderlich häufig aus. Jedenfalls selten. Oder doch?

„Hast du eigentlich inzwischen einen ... Freund?“, fragte David irgendwann vorsichtig.

Er blickte nicht auf, wagte es nicht, Tristan in die Augen zu sehen. Welche Antwort wäre denn in Anbetracht der letzten Nacht die bessere? Er hatte schon Brendan an Dalia verloren. Was, wenn Tristan ebenfalls jemanden fand? Würde er ausziehen – ihre Freundschaft enden?

„Du bist weiterhin mein Freund, soweit ich weiß.“

David schnaubte und schüttelte den Kopf. „Du weißt, was ich meine, Tris. Nicht irgendeinen Kumpel. Einen ... festen ... Einen Partner.“

Diesmal sah David doch auf und Tristan direkt ins Gesicht. Zusammengezogene Augen, schmale Lippen. Hätte er raten müssen, würde er darauf tippen, dass Tristan kurz davor war sauer zu werden. Etwas, das ausgesprochen selten vorkam – erst recht, wenn David das Ziel dieser Wut sein könnte.

„Meinst du nicht, dass ich dir das spätestens gestern Abend erzählt hätte?“

David wäre beinahe zusammengezuckt, konnte sich allerdings beherrschen. Stattdessen lächelte er und zuckte mit den Schultern, als wäre es völlig unerheblich. Aber auch wenn es keinen Unterschied machen sollte, war der Gedanke, dass er diese unverfängliche Freundschaft mit Tristan irgendwann genauso aufgeben musste, wie die mit Brendan zunehmend unangenehm.

„Nein, hab ich natürlich nicht, Davi. Wozu auch?“

Dieser lächelte, während er sich eine Antwort abrang: „Fragst du den Falschen.“

Auf Tristans Lippen zeichnete sich ebenfalls ein Lächeln ab: „Ist ja nicht so, als ob ich wie Brendan auf Kind und Haus aus bin.“

„Das kann er sich doch in München eh nie leisten“, warf David prompt mit einem breiter werdenden Grinsen ein. „Im Umland vielleicht. Aber stell dir mal vor ... Brendan auf dem Land irgendwo da draußen. Der geht doch ein.“

Eigentlich hätte David ein Lachen auf seinen Kommentar hin erwartet. Aber Tristan lächelte lediglich und senkte achselzuckend den Kopf. „Na ja. Ist zumindest nicht so hektisch wie hier in der Stadt.“

Diesmal runzelte David die Stirn. Das war ja ganz neue Töne. Er hatte nie den Eindruck gehabt, als ob Tristan das Leben in München nicht gefallen würde. Andererseits war der Mann bisher auch nicht gerade als Partyhengst aufgetreten. Bei genauerem Nachdenken wurde David klar, dass es immer seine Initiative gewesen war, wenn sie zusammen in irgendeinen Klub gegangen waren.

Stirnrunzelnd blickte er zu Tristan. Der hatte sich wieder dem Frühstück gewidmet und schenkte ihnen beiden soeben die zweite Tasse Kaffee ein. Er wirkte locker, irgendwie zufrieden. War er das?

Obwohl er auf den ersten Blick einen anderen Eindruck machte, war Tristan nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, das wusste David genau. Wenn er Tristan das Handy klauen würde, wäre da garantiert nicht nur eine Datingapp, darauf zu finden. Hatten sie das nicht alle? Da war der Kerl da drüben sicher keine Ausnahme. Bestimmt nicht. Oder? Stirnrunzelnd wurde David klar, dass er sich nicht daran erinnern, wann Tristan das letzte Mal jemanden mit hierher gebracht hatte.

„Es tut mir leid“, rutschte es David heraus, bevor er sich selbst stoppen konnte.

Tristan sah verwirrt aus, als er aufblickte. „Was tut dir leid?“

„Dass ich dich letzte Nacht schon wieder runtergezogen habe.“

Das schien die Verwirrung nicht wirklich aufzulösen. Tristan sah David weiterhin verwundert an, legte jedoch die halb gegessene Semmel auf den Teller zurück und lehnte sich nach hinten.

„Runtergezogen?“, fragte er mit deutlich kühlerer Stimme weiter. „Ins Bett oder was? War wohl eher ich, der dich ausgezogen hat.“

Mit einem Schnauben schüttelte David den Kopf. „Du weißt, was ich meine.“

„Nein, tue ich nicht!“

Warum konnte der Blödmann nicht einfach mitspielen? Es war doch vollkommen eindeutig, worum es David ging. Musste er das wirklich aussprechen? Offenbar schon, denn Tristan schwieg und funkelte ihn stattdessen nur wütend an.

„Jedes Mal, wenn es mir scheiße geht, komme ich zu dir geschlichen. Und jedes Mal bist du es, der mich auffängt. Und was mache ich?“ David schüttelte den Kopf.

Tristan hob die Hände, als wolle er sagen ‚keine Ahnung, interessiert mich nicht‘. Und womöglich war es tatsächlich genau das, was er auszudrücken versuchte. Aber es durfte einfach nicht mehr egal sein. Es hatte schon nicht viel gefehlt, und er hätte die Freundschaft mit Brendan wegen diesem ganzen Mist verloren.

Tristan war genauso sein Freund. Inzwischen wahrscheinlich sogar mehr. Obwohl David das nicht gern zugeben wollte. Aber seit sie zusammen wohnten, war Tristan zweifellos der Mensch, mit dem David die meiste Zeit verbrachte. Sie teilten nicht nur diese verfluchte Wohnung und das Bett. Aber in Wirklichkeit war es wohl in erster Linie Tristan, der irgendetwas geteilt hatte.

„Du fängst mich immer wieder auf und ich ... bin nur ein Arsch, der dich ausnutzt“, brachte David schließlich um den Kloß in seinem Hals herum heraus.

„Was soll das, Davi?“, fragte Tristan jedoch nur heiser zurück. „Hör auf, dich so schlecht zu machen. Wir waren uns einig, dass es nur Sex ist und wir trotzdem Freunde sein können. Daran hat sich nichts geändert, oder?“

„Ich will dir nicht weiter im Weg stehen, Tris“, flüsterte David verhalten zurück. „Du ... brauchst nicht mehr auf mich aufzupassen. Du hast einen Job, verdienst genug Geld. Du kannst dir eine vernünftige Wohnung leisten und ... dir jemanden suchen, der dauerhaft in dein Leben passt.“

Schweigend starrte Tristan ihn an. Für einen Moment bereute David seine Worte, aber jetzt war es zu spät. Vielleicht war eine Beziehung ja tatsächlich nicht das, was Tristan wollte oder brauchte. Der würde das allerdings ganz sicher nicht herausfinden, so lange er für David weiterhin ständig freiwillig den Fußabtreter spielte.

Also kratzte der das letzte bisschen Mut zusammen, das er aufbringen konnte, und lächelte Tristan an, bevor er meinte: „Komm schon. Woher willst du wissen, ob dieser Beziehungskram wirklich nichts für dich ist, wenn du es nie versuchst? Jemand wie du findet an einem Abend garantiert reichlich Kandidaten.“

Okay, das war nicht der richtige Ansatz, denn anstatt zu lachen, verfinsterte sich Tristans Gesichtsausdruck nur noch mehr. „Du weißt genau, dass ich die Klubszene nicht leiden kann“, antwortete er kühl. „Ich kenn die Einstellung von den Typen, die nur dorthin gehen, um jemanden zum Vögeln zu finden und ihn hinterher wegzuschmeißen.“

Davids Lächeln verschwand. Zu denen zählte er selbst zweifellos genauso. Die Art und Weise, wie Tristan die Worte ausgesprochen hatte, klang nicht gerade danach, als würde er diesen Lebensstil gutheißen. Prompt war der Schmerz in Davids Hals zurück, drückte auf die Kehle, dass es ihm die Luft abschnürte.

„Manche Leute brauchen mehr als einmal im Monat Sex“, murmelte David, um sich wenigstens vor sich selbst zu rechtfertigen.

Dass er nicht gerade ein Vorbild für die Jugend war mit seinem Lebensstil, mochte ja durchaus sein. Aber David tat schließlich nichts, was andere nicht auch tun würden. Mein Gott – war ja nicht so, als ob er irgendjemandem das Blaue vom  Himmel versprechen würde, damit der mit ihm schlief. Er hatte stets Wert darauf gelegt, von vornherein klar zu machen, dass er nur Sex wollte. Keine Beziehung, kein Nummerntausch, kein Rumlabern am nächsten Morgen. Eine heiße Nacht als Ablenkung und Befriedigung.

„Können sie gern haben, spricht ja nichts dagegen.“

Überrascht sah David auf. Das hatte bereits wesentlich deutlich sanfter geklungen. Schon beinahe danach, als würde Tristan hinter den Worten ein Lächeln verstecken.

„Aber?“, fragte David vorsichtig zurück. Denn ein eben solches hatte da garantiert mitgeschwungen.

„Kein Aber“, behauptete Tristan jedoch prompt und griff zu seiner Tasse Kaffee. „Heißt nur nicht, dass ich so leben will.“

David verdrehte die Augen.

Diesmal beugte Tristan sich vor. Sein Blick so durchdringend, dass es David einen Schauer über den Rücken jagte, der ihm prompt in den Schritt fuhr. Charakterlich mochte Tristan wie ein unschuldiges Mauerblümchen rüberkommen. Aber hinter dieser Fassade steckte ein angeketteter Wolf, der nur darauf wartete, dass man ihn endlich herausließ.

Zumindest hatte David sich das immer gern so vorgestellt. Wenn Tristan nur etwas aggressiver, etwas forscher und an menschlichem Kontakt interessiert wäre, würde er jeden verfluchten Kerl in der Stadt abschleppen können. Anstatt ihn weiter zu erregen, versetzte der Gedanke David jedoch einen unschönen Schlag in den Magen.

„Ich ziehe nicht aus“, meinte Tristan in diesem Moment und zog damit Davids Aufmerksamkeit auf sich zurück.

„Wie bitte?“

„Das wolltest du doch sagen, oder? Ich soll mir eine eigene Wohnung und eine Beziehung suchen“, meinte Tristan gelassen, während er sich wieder zurückbeugte. „Mache ich nicht.“

„Aber ...“

„Nein!“, fuhr Tristan schneidend dazwischen. „Wenn du jetzt, da Brendan endgültig von der Kandidatenliste gestrichen ist, dir jemanden für was Festes suchen magst, mach das, um Gottes Willen! Bitte! Ich habe trotzdem kein Interesse an einer Beziehung. Das habe ich dir oft genug gesagt.“

Wo kam das denn jetzt her? Verunsichert stammelte David: „Ich will nicht ...“

Aber er wurde prompt erneut von Tristan unterbrochen: „Was? Keine Beziehung? Was wolltest du denn von Brendan? Hast du ernsthaft jemals geglaubt, ‚Mister Immertreu‘ würde dich einmal durchvögeln und danach geht es zurück zum Status quo? Dass ihr die gleiche Vereinbarung haben könntet, wie wir. Wohl kaum! Also? Was, wenn keine Beziehung, hast du dir vorgestellt, Davi?“

Stirnrunzelnd senkte der den Blick. So genau hatte er da nie drüber nachgedacht. Einen Kuss? Eine Nacht? Vielleicht auch einfach nur die Erkenntnis darüber, was exakt das war, was er für Brendan empfand. War das Liebe? Freundschaft? Irgendetwas dazwischen?

„Ich weiß nicht“, gab David heiser zu.

Einen Moment lang schwieg auch Tristan, rieb sich mit der Hand über die Stirn, während er nachdachte. Schließlich lehnte er sich ein weiteres Mal nach vorn. Mit auf dem Tisch verschränken Armen sah er David eindringlich an, bevor er langsam fragte: „Gilt unsere Abmachung weiterhin?“

Davids Magen krampfte sich zusammen, als die Erinnerung an diese geradezu schicksalhafte Nacht während ihrer letzten Sommerferien hochkam. Ein flüchtiges Angebot, leichtfertig angenommen – und nie widerrufen. Weil es bequem war, einfach. David schielte zu Tristan hinüber.

Und der Sex zu gut.

„David?“

Der hob den Kopf und sah Tristan wieder in die Augen. „Was?“

Ein flüchtiges Lächeln, bevor Tristan seufzte und aufstand. „Wenn Du mich loswerden willst, dann zieh selbst aus. Ich werde dir nicht im Weg stehen, Davi. Im Gegenteil. Solltest du jemanden finden, mit dem du glücklich werden kannst, werde ich meine Sachen packen und den Platz in dieser Wohnung räumen. Aber keinen Tag vorher. Wir sind Freunde. Ich lass dich nicht hier allein zurück.“
Review schreiben
 
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast