Elf Jahre und ein Tag
von Ken
Kurzbeschreibung
Sechs Umzüge in den letzten sieben Jahren. Tristan hat aufgehört, sich an Menschen binden zu wollen, Pläne zu machen - was zählt ist die Gegenwart. Dann lernt er Brendan kennen, der genau weiß, wo seine Zukunft hingehen soll. Und David, Brendans besten Freund, der in einer Vergangenheit festhängt, die er nicht loslassen kann - und dem Glauben an das Unmögliche. Drei Freunde auf der Suche nach dem Glück, der Liebe und dem Platz im Leben, wo sie hingehören.
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
01.01.2023
09.04.2023
22
82.334
26
Alle Kapitel
59 Reviews
59 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
2 Reviews
18.03.2023
3.969
Kapitel 15 – Neue Zweisamkeit (03.04.2016)
Es war ein traumhafter Tag im April. Der Monat der Gegensätze hatte sich dafür entschieden, mit einem geradezu perfekten Wetter aufzuwarten. Noch an Sylvester hatte Tristan gefrotzelt, dass es eine bescheuerte Idee war, ausgerechnet Anfang April heiraten zu wollen. Aber anscheinend wollte Petrus ihn hier eines Besseren belehren. Denn er hatte nicht nur Sonnenschein, sondern ebenso angenehme neunzehn Grad geschickt, um dem Hochzeitspaar ihren Tag zu versüßen.
Und so stand Tristan also vor dem Standesamt – mit David an seiner Seite. Ein kurzes Grinsen huschte über Tristans Lippen, als der Gedanke zu einem ganz anderen Bild führte. Einem reichlich lächerlichen. Denn dass sie beide hier stehen würden, ohne dass es um Brendan ging, war total absurd. Trotzdem war Tristan versucht, David damit aufzuziehen. Nachdem er zu diesem hinüberblickte, hielt Tristan aber doch lieber den Mund.
Sie standen jetzt seit gut zehn Minuten hier. In jeder einzelnen hatte David sich über den Anzug gestrichen, die Krawatte gerade gerückt oder an sonst irgendeinem Teil seines Aufzugs herumgezogen. Er wirkte nicht wirklich unglücklich, wohl fühlte er sich allerdings genauso wenig. Trotzdem stand David hier – wartete zusammen mit Tristan und diversen Onkeln, Tanten oder sonstigen Verwandten darauf, dass das Hochzeitspaar und deren Eltern endlich eintrudelten.
„Beste Voraussetzungen für eine Traumhochzeit“, meinte David schließlich, sah nun seinerseits lächelnd zu Tristan herüber.
Etwas überrascht blinzelte dieser, wusste nicht so recht, was er erwidern sollte. David lächelte noch immer, senkte jedoch kurz darauf den Kopf und ruckelte erneut an seiner Krawatte herum.
„Seh ich ordentlich aus?“, fragte David verhalten, während er gleichzeitig zu den übrigen Gästen linste.
„Du siehst toll“, gab Tristan spielerisch zurück und konnte es sich dabei auch nicht nehmen lassen, herausfordernd mit den Augenbrauen zu wackeln. „So wie immer.“
Von David kam prompt ein geflüstertes „Blödmann“, zurück, welches jedoch von einem kaum hörbaren Lachen begleitet wurde.
„Du wirst den perfekten Trauzeugen abgeben, Davi.“
Das Lächeln hielt, doch Davids Blick wurde für einen Moment glasig, während er flüsterte: „Ja. Natürlich.“
Tristan war sich nicht sicher, was da in der Stimme seines Freundes mitschwang. War das Bedauern? Resignation? Es klang nicht wütend aber irgendetwas schwang dennoch mit. Etwas, was Tristan nicht gefiel.
Leider hatte er in diesem Augenblick keine Zeit mehr, denn zwei Fahrzeuge hielten neben dem Straßenrand. Unter reichlich Getuschel stieg zunächst Brendan mit seinen Eltern aus dem ersten Wagen aus. Durch die Windschutzscheibe konnte Tristan Brendans kleinen Bruder am Steuer erkennen.
‚Der hat inzwischen auch schon den Führerschein.‘
Nur mit Mühe gelang es Tristan, das Bild des erwachsenen Mannes mit seinen Erinnerungen an einen reichlich frechen und nervigen Rotzbengel, den er vor so langer Zeit ein einziges Mal getroffen hatte, in Einklang zu bringen.
Brendan kam breit grinsend auf sie zu, zog sich dabei die Weste unter dem Trachtensakko zurecht und baute sich schließlich vor ihnen auf. „Na, wie sehe ich aus?“
„Perfekt“, gab David mit glänzenden Augen zurück.
Dass sein Blick dabei ein paar Sekunden zu lange auf dem Bräutigam lag, fiel hoffentlich niemandem außer Tristan auf. Es schien aber keiner der Umstehenden wirklich auf sie zu achten. Was garantiert an den Insassen des zweiten Wagens lag.
„Dann hoffe ich mal, dass Dalia das genauso sieht“, meinte Brendan mit einem beschämten Lächeln. Er deutete in Richtung des Eingangs. „Gehen wir rein. Ich musste ihr versprechen, dass ich nicht hinschaue, damit ich das Brautkleid nicht vor der Hochzeit sehe.“
David zog die Stirn kraus. „Warum das denn?“
„Bringt angeblich Unglück“, warf Tristan ein, bevor Brendan dazu kam zu antworten.
Sie schüttelten alle drei lachend die Köpfe, liefen dennoch in Richtung des Gebäudes. Keiner von ihnen war je sonderlich abergläubisch gewesen. Aber offenbar war es Dalia wichtig. Was es bedeutsam für Brendan machte.
‚Und damit auch für David.‘
Mit starrem Blick sah Tristan zu ebendiesem hinüber. Der sagte nichts, während er an Brendans Seite das Standesamt betrat. Mindestens acht Jahre lang hatte David einer Liebe nachgehangen, die niemals Realität werden konnte. Hatte sich an eine Freundschaft geklammert, die sich seit ihrem Abi zwar nicht verloren hatte, aber dennoch blasser geworden war. Manchmal war Tristan sich nicht sicher, ob er David für diese Beharrlichkeit bedauern oder bewundern sollte.
Andererseits war er selbst ja ebenfalls dumm genug, um sich das Schauspiel weiterhin anzusehen.
-`ღ´-
Sechs Stunden später war Tristan sich ziemlich sicher, dass David in jedem Fall seine höchste Anerkennung verdiente. Allein dafür, dass er sich diesen Mist als Trauzeuge antat, gehörte dem Mann ein Orden verliehen. Dass er das auch noch freudig lächelnd an Brendans Seite tat, kam für Tristan einem Heiligen gleich.
Grinsend sank er auf seinem Stuhl in sich zusammen, während er gleichzeitig das Bierglas an die Lippen hob. Er versuchte, das Lachen zu unterdrücken, das in ihm aufsteigen wollte. David als ‚Heiligen‘ zu bezeichnen war nun wirklich ziemlich daneben. Der Mann war vieles, aber wenn es nicht gerade um Brendan ging, saß der Heiligenschein reichlich schief. Weit genug verschoben, um die Teufelshörner durchblitzen zu lassen. Gleichwohl David die heute wohlweislich zu Hause gelassen hatte. Dabei standen ihm die Hörnchen deutlich besser als der Leuchtkringel.
„Alles klar bei dir?“, fragte eine verhaltene Stimme von links.
Tristan nickte hastig, ohne zu antworten. Mit einem Lächeln hielt er dem Bräutigam sein Glas entgegen, sodass der anstoßen konnte. Das Aufstehen sparte er sich dabei aber lieber. Dafür zog sich Brendan einen Stuhl heran, damit er neben Tristan sitzen konnte.
„Danke, dass ihr da seid, Tris.“
„Hast du ernsthaft geglaubt, David würde sich das entgehen lassen?“
Brendan schwieg, zuckte lediglich mit den Schultern.
„Du bist sein bester Freund“, flüsterte Tristan heiser. Den belegten Tonfall in seiner Stimme konnte er so jedenfalls nicht verbergen. „Er würde es dir nie verzeihen, wenn du Dalia ohne ihn an deiner Seite geheiratet hättest.“
Dass er weiterhin hoffte, dass es David vielleicht endgültig von Brendan befreien würde, behielt Tristan lieber für sich.
Der frisch gebackene Ehemann schwieg derweil. Als Tristan zu ihm sah, wirkte das Lächeln auf den Lippen seines alten Schulfreundes jedoch eher traurig.
„Ich hätte es ihm nicht übel genommen“, brachte Brendan zwischen zwei Räuspern heraus. „Ich weiß, dass ... es selbstsüchtig war, ihn zu fragen.“
Tristan hob das Bierglas erneut an die Lippen, um nichts Falsches zu sagen. Denn dann hätte er womöglich sein Versprechen David gegenüber gebrochen. Das, bei dem er Brendan nie und unter gar keinen Umständen jemals stecken würde, was über all die Jahre in David getobt hatte. Aus dem Augenwinkel schielte Tristan zu Brendan.
Der starrte mit einem traurigen Lächeln zur Tanzfläche, während er fortfuhr: „David ist wie einer meiner Brüder – ein Teil der Familie. Ich hätte niemanden außer ihn an meiner Seite haben wollen. Ohne ihn hätte etwas gefehlt.“
In Tristans Hals formte sich ein Kloß, doch er schluckte den bissigen Kommentar ein weiteres Mal herunter. Momente wie dieser waren der Grund, warum er in er einen oder anderen Nacht überlegt hatte, wie lange er sich das noch antun wollte.
„Es tut mir leid, dass ich nicht immer der Freund sein konnte, den David braucht.“
Achselzuckend sah Tristan in Richtung der Freifläche zwischen den Tischen – fand dort umgehend Davids, der sich ausgelassen im Takt der Musik bewegte.
„Vielleicht solltest du Davi das mal sagen“, gab Tristan brummend zurück.
Das leise Schnauben neben ihm brachte ihn dazu, sich wieder Brendan zuzuwenden. Der saß mit einem versonnen Lächeln da, während er in die gleiche Richtung blickte, in die Tristan eben gesehen hatte. Die ein, zwei Bier zu viel, die er sich genehmigt hatte, machte es jedoch schwer, seine Gedanken in einigermaßen vernünftigen Bahnen zu halten.
Da ihm allmählich wohl doch der Schädel zu brummen begann, drehte er den Kopf langsam zurück, um zur Tanzfläche zu blicken. Wenn Tristan sich an anderen Tagen von David breitschlagen ließ und mit dem um die Häuser zog, verbrachte der ja immer einen Großteil des Abends auf der Tanzfläche. Allerdings mit sehr eindeutigen Absichten. Die hatte der David im Moment garantiert nicht.
Diesmal konnte Tristan das glucksende Lachen nicht unterdrücken. Das kleine Mädchen, mit dem David gerade über das Parkett schwebte, sah geradezu selig aus. Zugegeben machte sein Mitbewohner sogar mit dem Zwerg da drüben eine gute Figur. Zwar war er noch immer ein Durchschnittstyp, wie er im Buche stand, aber die verführerische Aura, die ihn auf der Tanzfläche umgab, war in den letzten Jahren stärker geworden. Manche Dinge reiften wohl tatsächlich eher, als dass sie mit dem Alter verdarben.
„Danke, dass du dich um ihn kümmerst.“
Überrascht drehte Tristan den Kopf erneut nach links. Den prompt einsetzenden Schwindel ignorierte er. „Wie meinst du das?“
Brendan zuckte mit den Schultern, während er Tristan nun ebenfalls direkt ansah. „Ach komm schon. Wir wissen beide, dass David nicht für das Alleinsein gemacht ist. Er braucht jemanden, der ihn ...“ Brendan brach ab und senkte für einen Moment den Kopf, bevor er ihn wieder hob und Tristan diesmal reichlich schief angrinste. „David braucht ein zu Hause. Ein Ort, wo er ... einfach er selbst sein kann. Ohne sich verstecken zu müssen.“
Tristan blinzelte. Das Denken fiel ihm zunehmend schwerer. Entsprechend schaffte er es nicht, eine Antwort zusammenzubekommen.
„Ohne jemanden an seiner Seite könnte er niemals glücklich sein.“
Nur zu gern hätte Tristan widersprochen. Aber selbst in seinem benebelten Zustand, wusste er nur zu gut, dass Brendan recht hatte. David war nicht dafür gemacht, allein zu versauern. Da konnte der dumme Kerl noch so oft behaupten, dass er genau das Leben führte, das er führen wollte. Tristan wusste – offenbar ebenso wie Brendan – dass David der Typ Mann war, der jemanden in seinem Leben brauchte. Freunde, Menschen, die auf ihn aufpassten, denen er wichtig war. Obwohl David selbst das augenscheinlich nicht verstehen wollte. Für ihn hatte diese Form von Bedeutung immer nur Brendan gehabt.
Das Schweigen drückte schwer auf Tristans Seele. Die fünf bis acht Bier, die er an diesem Abend bereits getrunken hatte, halfen ganz sicher ebenfalls nicht. Brendan war ein netter Kerl, aber manchmal wollte Tristan ihn einfach nur eine reinhauen und ihn anschreien, dass er sich endlich von David fernhalten sollte. Nur würde der ihm das nie verzeihen.
Etwas zu ruckartig drehte Tristan sich wieder der Tanzfläche zu. Er musste für einen Augenblick die Augen schließen, um dem Schwindel entgegenzuwirken. Als er sie erneut öffnete, stellte er irritiert fest, dass das Mädchen inzwischen ein anderes Opfer gefunden hatte und David dafür fehlte. Instinktiv richtete Tristan sich weiter auf und suchte die tanzende Menschenschar ab. Aber weder am Rand der Tanzfläche noch an einem der umliegenden Tische konnte er David entdecken. Warum zum Geier hatten Brendan und Dalia eigentlich so viele Freunde und Verwandte?
„Wo ist er hin?“, murmelte Tristan, bevor ihm klar wurde, dass die Worte ihm tatsächlich über die Lippen gekommen waren.
„Keine Ahnung“, meinte Brendan mit einem verhaltenen Lächeln. „Aber ich bin sicher, er wird von überall zu dir zurück nach Hause finden.“
Brendan klopfte Tristan auf die Schulter und verabschiedete sich anschließend für den Abend. Einen Moment lang beobachtete Tristan, wie der Bräutigam zurück zu seiner frischgebackenen Ehefrau ging. Irgendwie ergaben die Worte nicht wirklich einen Sinn und trotzdem stießen sie ein sanftes Flattern in seinem Inneren an. Eines, das entgegen aller Vorsätze und Entscheidungen hoffte, dass Brendan damit nicht ganz unrecht hatte.
Mit einer Mischung aus Wut, Trotz und Neid beobachtet er, wie Brendan seine Braut auf die Tanzfläche entführte. Die beiden sahen so verdammt glücklich aus. Da war ein stetig heftiger werdender Schmerz in Tristans Hals. Der drohte ihm immer deutlicher die Luft abzuschnüren. Er mochte Brendan wirklich und wünschte ihm alles Gute. Trotzdem fiel es Tristan schwer, sich vorzustellen, wie viel man für jemanden empfinden musste, um den Rest des Lebens mit ihm – oder ihr – verbringen zu wollen.
Wie fühlte es sich an, wenn man ernsthaft verliebt war? Es musste ein so unglaublich tolles Gefühl sein, dass er es sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte. Warum sonst sollte man sich diese permanente Sorge antun? Diese Angst davor, am Ende doch allein dazustehen?
„Hey, Tris! Was sitzt du hier rum?“
Überrascht sah Tristan über die Schulter und sich mit einem Mal einem grinsenden David gegenüber, der anscheinend doch nicht mit irgendeinem Loser verschwunden war.
„Jetzt komm schon, mein Großer“, fuhr der unbeeindruckt fort. „Lass uns tanzen.“
„Ich tanze nicht, das weißt du ganz genau“, gab Tristan trocken zurück. „Und du willst vor all den Leuten hier ja wohl kaum ausgerechnet mit einem anderen Mann tanzen.“
Die Bewegung an Davids Adamsapfel ließ Tristan seine Worte prompt bereuen. Schon setzte er zu einer Entschuldigung an, da zuckte David mit den Achseln. Er nahm Tristan das Bierglas aus der Hand, stellte es kurz darauf auf dem Tisch ab.
„Da drüben tanzen Brendans Schwester und seine Cousine“, gab er heiser zurück. „Was kann schon dabei sein?“
Dem flehenden Blick konnte Tristan nicht widerstehen. Während er sich jedoch erhob, hatte er das Gefühl, als würde ihm alles Blut aus dem Hirn sacken. Schwankend schaffte er es, sich nicht direkt zu Boden zu gehen. Das waren eindeutig ein, zwei Bier zu viel gewesen.
„Wie es aussieht, brauchst du eh jemanden, der dich aufrecht hält“, wisperte David, während er sich zu Tristan vorbeugte.
Bevor dieser eine ausreichende Anzahl an Hirnzellen freigeschaufelt hatte, um über eine Antwort nachzudenken, hatte David ihn bereits mit sich gezogen. Nicht auf die Tanzfläche – nicht dorthin, wo Brendan und der Rest der Gäste sie sofort sehen würden. Stattdessen war es der Rand des Saales, dort wo das Licht nur mehr schummrig die Umgebung beleuchtete, weil hier ohnehin niemand saß.
Unsicher sah Tristan dennoch nach rechts und links. Er hatte nicht übertrieben, als er meinte, dass er Tanzen nicht leiden konnte. Es gab wenige Dinge, die er noch mehr vermeiden würde, als eine Runde aufs Parkett zu legen. Aber mit David, vor sich, der ihn immer wieder feixend im Rhythmus hin und her schob, sah er hoffentlich nicht ganz so dämlich aus, wie er sich fühlte.
Mit einem Mal lag Davids rechte Hand auf Tristans Brust. Blinzelnd sah er zu dieser hinunter, konnte sich aber nicht wirklich einen Reim darauf machen.
„Dein Training scheint sich auszuzahlen. Wann lässt du mich endlich mal einen Kampf ansehen?“
Die Frage kam unerwartet. Zunächst runzelte Tristan die Stirn, doch dann schüttelte er lächelnd den Kopf, während er meinte: „Du weißt genau, dass ich mich aus dem Ring heraushalte.“
Eigentlich hätte Tristan mit einer saloppen Antwort gerechnet. Stattdessen entfloh David ein leises Stöhnen, während er den Kopf gegen Tristans Schulter fallen ließ. Just in dem Moment änderte sich die bisher der schnelle Rhythmus, auf ein deutlich getrageneres Tempo.
‚Was ein beschissenes Timing‘, dachte Tristan, während gleichzeitig David gegen seinen Halsansatz murmelte: „Wie passend.“
Anstatt sich von Tristan zu entfernen, wie es womöglich angemessen gewesen wäre, klammerte David sich immer fester an ihn. Angesichts seines eigenen angeheiterten Zustandes, garantiert keine sonderlich gute Idee.
Blinzelnd kämpfte Tristan darum, aus dem alkoholisierten Schwanken einigermaßen glaubhafte Tanzbewegungen zu machen. Vermutlich gelang ihm das nicht einmal ansatzweise. Aber die paar Gläser Bier, die er tatsächlich zu viel getrunken hatte, verhinderten, dass er darüber genauer nachdachte.
„War ich ein guter Trauzeuge?“, fragte David plötzlich kaum hörbar.
Instinktiv zog Tristan die Arme fester. „Könnte mir keinen Besseren für meine Hochzeit vorstellen.“
David lachte und vergrub sein Gesicht noch tiefer an Tristans Schulter. An seinem Hals konnte heißen Atem spüren – zittrig, feucht. Genau wie die Lippen, die sich wenige Sekunden später auf die Haut über Tristans Halsschlagader legten. Davids Hände zogen gleichzeitig ihre Hüften näher zusammen.
„Ich werde niemals dein Trauzeuge sein, Tris“, bekam er eine kaum hörbar gemurmelte Antwort. „Du heiratest garantiert nicht.“
Ein weiteres leises Lachen entkam Tristan, während er David noch einmal fest an sich presste, bevor er sich von diesem löste. „Sicher?“
Der Schlag gegen Tristans Brust war halbherzig und garantiert nicht böse gemeint. „Du bist es doch, der immer sagt, er will keine Beziehung. Ohne die wirst du auch nie heiraten.“
Grinsend zuckte Tristan mit den Schultern. „Wer weiß. Vielleicht treffe ich ja morgen den Mann meiner Träume.“
Er hatte erwartet, dass David ihn auslachte und einen weiteren spitzen Kommentar loslassen würde. Dieses Geplänkel betrieben sie schließlich seit Jahren. Aber anstatt genau das zu tun, ließ David erneut den Kopf hängen, ohne zu antworten.
„Hey“, meinte Tristan vorsichtig. Er schob einen Finger unter Davids Kinn und hob es damit an, bis der nicht anders konnte, als ihm endlich wieder ins Gesicht zu sehen. „Vielleicht triffst du ja morgen deinen Traumpartner und dann bin ich in ein paar Jahren der Trauzeuge. Insofern das zwei Männer in diesem Land irgendwann mal richtig dürfen.“
Die Tatsache, dass Davids Blick von ihm weg und irgendwo hinter Tristans linken Schulter landete, schmerzte nicht wirklich. Trotzdem erinnerte es ihn erneut daran, weshalb sie hier waren. Weil David seinen Traummann bereits gefunden hatte. Nur wollte der sein Leben nicht mit David, sondern mit Dalia verbringen.
Nachdem er mit einem Mal eine einzelne Träne in Davids Augenwinkel zu sehen glaubte, war der schmerzhafte Druck in Tristans Hals wieder zurück. Sie hatten vielleicht keine Beziehung, aber dieser Mann war trotzdem sein Freund – eine der wenigen Konstanten in Tristans Leben.
‚Die einzige.‘
„Wir verschwinden“, flüsterte er heiser und schob David in Richtung Saalausgang.
Beim Blick über die Schulter wäre Tristan beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. Aber David hielt ihn aufrecht. Als Tristan dann auch noch genau das Bild vor Augen hatte, das David kurz zuvor gesehen haben musste, zog sich sein Innerstes krampfhaft zusammen. Brendan und Dalia, eng umschlungen. Ein glücklich verliebtes – und nun auch verheiratetes Paar. Wie lange würde es dauern, bis der erste Nachwuchs kam?
Die beiden waren noch jung aber inzwischen mit Uni und Ausbildung fertig. Sie standen mitten im Leben – dort, wo Tristan nicht sein wollte und David offensichtlich nicht hingelangen konnte.
„Wir können nicht einfach gehen“, brachte Letzterer mehr krächzend als flüsternd heraus. „Ich bin der Trauzeuge. Ich sollte ...“
Tristan biss sich auf die Lippe. Kämpfte förmlich darum, um nichts Falsches zu sagen, während er herauspresste: „Es reicht! Du hast deinen Dienst getan.“
In seinem Inneren brannte etwas – stetig angefeuert vom Alkohol. Dabei hätte er nicht einmal erklären können, auf wen er wirklich wütend war. Auf David, weil der nicht endlich sein eigenes Leben ins Auge fasste, anstatt an einer unmöglichen Liebe festzuhalten? Auf Brendan, weil der zwar offenbar sah, was es David kostete, mit ihm befreundet zu sein, und sich dennoch weiterhin meldete? Oder am Ende nicht vielleicht doch auf sich selbst? Weil Tristan es schlichtweg nicht schaffte, endlich einen Schlussstrich zu ziehen und David dessen verkorkstem Schicksal zu überlassen.
Genau das war wohl auch der Grund, weshalb Tristan David zwischen Schwanken und stolpernd aus dem Saal schob. Nach einem kurzen Abstecher zur Garderobe, um ihre Sachen zu holen, zog er David aus dem schicken Hotel, das Dalias Vater bezahlen würde. Schweigend lief Tristan zum nächsten Taxistand. Er verdiente genug, um sich das leisten zu können, und ganz sicher würde er David jetzt nicht die Chance geben, ihm auf dem Weg zur S-Bahn doch noch davonzulaufen.
Zwanzig Minuten später hatte die frische Nachtluft zumindest so viel Klarheit in Tristans Kopf gebracht, dass er nicht mehr schwankte, sondern wieder sicheren Schrittes unterwegs war. In diesem Fall die Treppen hinauf zu ihrer Wohnung. David lief vor ihm, wehrte sich nicht dagegen, dass Tristans Hand an seinen Lendenwirbeln lag und ihn sanft aber beharrlich vorwärtsdrängte.
David ließ das alles wortlos geschehen. Als hätte er keinen eigenen Willen mehr. Vielleicht wollte er den heute auch schlicht nicht haben. Immerhin hatte der Kerl freiwillig diesem Trauzeugenmist zugestimmt. Er hatte gelächelt, hatte gratuliert, hatte Brendan nach der Zeremonie umarmt und dabei peinlich genau darauf geachtet, dass es ja keine Sekunde zu lange war.
David war der perfekte Trauzeuge gewesen. Einer, dem selbst Brendans Vater und Mutter ihre Dankbarkeit für so viele Jahre Freundschaft erklärt hatten. Und während all dem war Tristan regelmäßig fast die Galle hochgekommen. Weil David weiterhin stoisch lächelte. Dabei konnte er doch an diesem Tag einfach nicht glücklich gewesen sein.
Kaum waren sie in ihrer Wohnung, ließ Tristan von David ab. Der kickte lediglich die Schuhe in die Ecke im Flur und lief anschließend zielstrebig in die Küche. War der Weg bis hierher simpel und eindeutig erschienen, zögerte Tristan diesmal, bevor er schließlich folgte.
Als er ebenfalls in die Küche trat, hatte David sich bereits eine Flasche aus dem Kühlschrank geholt. Mit einer gewissen Zufriedenheit registrierte Tristan, dass es lediglich ein Bier war. Er selbst hatte für heute Abend genug getrunken – auch wenn er sicherlich weit davon entfernt war stockbesoffen zu sein.
„Warum tust du dir das immer wieder an?“, fragte Tristan irgendwann verhalten.
Achselzuckend hob David die Flasche an die Lippen und trank. „Wir haben nur Bier oder Wodka im Haus.“
Wäre es nicht lediglich eine weitere Ausrede gewesen, hätte Tristan womöglich darüber lachen können. So stand er stirnrunzelnd in der Küche und versuchte, mit dem Brennen in seinem Inneren klarzukommen. Etwas in Tristan war kurz davor auszuticken, dabei war er weiterhin nicht sicher, ob er auf seinen Mitbewohner oder nicht doch auf sich selbst sauer war.
„Du weißt, was ich meine, Davi.“
Diesmal antwortete David nicht sofort, drehte sich allerdings um. Tristan hätte erwartet, dass sein Blick kühl und berechnend wäre. Stattdessen war da ein geradezu verzweifelt wirkendes Lächeln und verräterische Tropfen, die bereits in Davids Augenwinkeln glänzten.
„Was erwartest du von mir, Tris? Soll ich Brendan hängen lassen? Wir sind seit über zehn Jahren befreundet. Er ist mein ... bester Freund. Oder nicht?“
Tristan verzog das Gesicht. Er hatte nicht erwartet, dass diese Aussage ihn tatsächlich verletzten würde. Schließlich hatte er nie angenommen, dass er Brendan in dieser Position jemals würde ablösen können. Trotzdem versetzten die Worte ihm einen unangenehmen Schlag in den Magen.
Immerhin hatte Tristan die letzten fünf Jahre an Davids Seite verbracht, nicht Brendan. Und er war es gewesen, der nach jedem verfluchten Treffen der beiden, die Bruchstücke zusammengesammelt hatte. Wenn ihm mal wieder alles zu viel wurde, rief David nicht diesen verdammten Egoisten Brendan an, sondern Tristan. Es war sein Bett, in das David kroch, um Trost zu finden.
Aber das alles sollte Tristan vollkommen egal sein. Weil er doch am Ende sowieso nur darauf wartete, dass David ging – genau wie Brendan, wie sein Vater, seine Mutter und jeder verdammte andere Mensch, der in Tristans Leben jemals einen Platz gehabt hatte.
„Richtig“, sagte er, darum bemüht, das Zittern, das er spürte, nicht in seiner Stimme heraushören zu lassen. „Und jetzt ist Brendan verheiratet. Du hast genug getan.“
Schweigend nahm David einen weiteren Schluck aus der Bierflasche. Er wirkte nicht betrunken. Jedenfalls nicht im gleichen Maße, wie das angesichts des Verlaufs dieses Abends, auf Tristan zutreffen dürfte. Dabei hätte David alles Recht der Welt gehabt, sich ausgerechnet heute die Kante zu geben.
Tristans Blick glitt zu der inzwischen halb geleerten Bierflasche. „Was nicht ist, kann ja noch werden“, murmelte er leise, bevor ihm klar werden konnte, dass die Worte tatsächlich seinen Mund verließen.
„Was genau?“, fragte David mit einem Mal und sah ihn nun doch wieder an.
„Hm?“
„Was kann noch werden?“
Unsicher, ob er die Wahrheit sagen sollte, schwieg Tristan zunächst. Mit jeder verstreichenden Sekunde war er sich allerdings selbst nicht mehr sicher, ob sich seine Aussage nur auf Davids Blutalkoholmenge bezog. Denn im Grunde hoffte Tristan vor allem, dass sich David endlich eingestand, dass er Brendan nicht brauchte, um glücklich zu sein.
Das konnte Tristan aber nicht sagen. Dummerweise wartete David weiterhin auf eine Antwort. Vielleicht auch auf etwas anderes. Letztendlich konnte dieser Abend allerdings nur auf eine Sache hinauslaufen. Weil das heute nicht nur David brauchen würde, sondern ebenso Tristan selbst.
Mit zunehmend verschwommenem Blick sah er zu seinem Mitbewohner. Es war ein Fehler, die Worte auch nur zu denken. Davon, dass er sie nicht hätte aussprechen sollen, ganz abgesehen. Da war allerdings die inzwischen eher undefinierbare Menge an Bier in seinem System keine glaubhafte Ausrede. Trotzdem kamen die Worte aus Tristan heraus, ohne dass er sich ernsthaft dagegen wehrte.
„Willst du heute bei mir schlafen?“
Für eine gefühlte Ewigkeit sah David ihn einfach nur an. Dann kam die erwartete Antwort: „Ja.“