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Elf Jahre und ein Tag

von Ken
Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
01.01.2023
09.04.2023
22
82.334
24
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Dieses Kapitel
3 Reviews
 
13.03.2023 4.804
 
Kapitel 14 – Neue Bitte (29.07.2015)


„Hast du gerade Zeit?“

Unsicher blickte Tristan nach rechts. Der Kollege, der dort saß, hatte die Kopfhörer auf, während er seiner eigenen Arbeit nachging. Die Kollegin am Tisch gegenüber konnte Tristan nicht sehen, da die hinter der Wand aus Monitoren verborgen war. Niemand beachtete ihn. Warum auch? Jeder hatte seine eigene Aufgabe. So lange Tristan keine Hilfe brauchte, würde man ihm diese nicht aufdrängen.

Wenn David aber schon so fragte, dann war irgendetwas im Busch. Leise flüsternd entgegnete er deshalb: „Was ist los?“

Das ehrliche Lachen am anderen Ende war beruhigend. „Nichts. Wann kommst du heute nach Hause?“

Tristan sah auf die Uhr an seinem Rechner und seufzte stumm. Es war gerade einmal fünfzehn Uhr. Eine weitere Stunde würde er mindestens bleiben müssen. Selbst dann wäre er noch in den Minusstunden für heute. Zwar sah sein Teamleiter das nicht so eng, aber in der Probezeit wollte Tristan nun wirklich nicht zu viel riskieren. Andererseits glaube er, in der Frage ebenso eine unterschwellige Bitte zu hören, sich mit dem Feierabend heute eher zu beeilen.

„Ich denke, dass ich bis halb sechs daheim sein kann. Alles okay bei dir? Brauchst du noch was aus dem Supermarkt?“, hakte Tristan erneut nach. Das Gefühl, dass irgendetwas im Busch war, ließ sich einfach nicht abstreifen.

„Nein, schon gut“, meinte David sofort. „Ist alles super!“

Seine Stimme klang hastig und abgehackt. Für einen Moment überlegte Tristan, ob heute irgendeine Prüfung bei David angestanden hatte, aber ihm viel nichts ein. Die Vorlesungen waren jedenfalls in Sommerpause. Bei der ruhigen Kugel, die David noch immer dank der finanziellen Unterstützung seiner Eltern schieben konnte, war es also nichts, was mit der Uni zu tun hatte. Blieb demnach lediglich eine weitere Möglichkeit.

„Brendan hat angerufen.“

Wie eine Speerspitze rammten sich die so hoffnungsvoll klingenden Worte in Tristans Bauch – während sie seine Befürchtung erfüllte. Dabei hatte er erwartet, dass alles anders werden würde, wenn Brendan erst einmal mit dem Studium fertig war und nach München zurückkehrte. Auf was genau er gehofft hatte, wusste Tristan allerdings nicht.

Vielleicht, dass David endlich in die Zukunft blickte, wenn er Brendan öfter mit Dalia zusammen sah und kapierte, dass er da niemals dazwischen passen würde – dass er nun einmal nur der beste Freund war. Oder dass sich jetzt, wo ihr alter Schulfreund Job, Freundin und die neue Wohnung unter einen Hut bringen musste, gar keine Zeit mehr für sie haben würde.

Aber wie so oft, waren Tristans Erwartungen nicht erfüllt worden. Wenn überhaupt, war ihre Freundschaft gestärkt aus dem vergangenen Jahr hervorgegangen. Sie trafen sich häufiger. Brendan wirkte glücklich mit seiner Dalia und selbst David machte den Eindruck, als ob er damit inzwischen einigermaßen klarkam. Auch wenn er sich weiterhin wie ein Schneekönig freute, sobald Brendan mal etwas Zeit für sie erübrigen konnte.

„Er lädt uns heute Abend ein“, fuhr David derweil fort.

Seine Stimme hatte weiterhin diesen Hauch von Aufregung, vielleicht sogar Hoffnung – worauf auch immer. Die Erfüllung dieser unsäglichen Schwärmerei konnte es nach all den Jahren ja wohl nicht mehr sein. Die Art und Weise, wie er weiterhin an Brendan hing, hatte mit dem, was Tristan unter Freundschaft verstand aber auch nichts zu tun.

„Bren lädt uns zum Essen ein.“

Tristan runzelte die Stirn. „Essen?“

Er brauchte das Nicken am anderen Ende nicht zu sehen, um zu wissen, das es da war. Davids Stimme nahm eine noch hellere Farbe an. Der Kerl strahlte vermutlich gerade über beide Wangen.

„Der Italiener in der Rothmundstraße.“

Allmählich ernsthaft verwundert, lehnte Tristan sich in seinem Bürostuhl zurück und fuhr die Maus hin und her, damit der Bildschirm nicht in den Standby ging.

Dass Brendan überhaupt ausgehen wollte, war schon selten – jedenfalls wenn man die vergangenen Jahre in Betracht zog. Allerdings war der Kerl während dieser Zeit ja nicht sonderlich oft in der Stadt gewesen. Und Studierende waren schließlich ohnehin chronisch pleite.

Tristan rieb sich über die Brust. Sechs, bald sieben Jahre und die Freundschaft zwischen ihnen Dreien hatte sich noch immer nicht im Sande verlaufen. Wie oft hatte er sich in dieser Zeit gewünscht, es wäre anders?

Aber er selbst hatte schließlich seine Koffer bisher nicht gepackt. Dabei hatte Tristan inzwischen einen Job, verdiente genug Geld. Er bräuchte bloß gehen und das Drama zwischen David und Brendan hinter sich lassen. Aber was für ein Freund wäre er in diesem Fall? Was würde aus David werden? Würde er irgendwann nicht mehr klarkommen? Sich an einem der schlimmeren Abende den falschen Mann nach Hause holen?

„Tris?“, hakte David nach, nachdem er offenbar zu lange seinen Gedanken nachgehangen hatte. „Hast du ... schon was vor?“

Die Frage stellte David ihm in letzter Zeit häufiger. Tristan kam nicht umhin zu lächeln, obwohl er nicht einmal wusste weshalb. Was sollte er denn auch vorhaben?

„Nein, hab ich nicht“, antwortete er ruhig.

Vor ein paar Wochen hätte die Antwort vielleicht anders ausgesehen. Da wäre er versucht gewesen abzusagen und sich stattdessen mit jemand anderem für ein einige unverfängliche Stunden zu zweit zu treffen. Aber ‚unverfänglich‘ gab es heutzutage ja offenbar nicht mehr.

Warum musste eigentlich immer alles auf Liebe, eine Beziehung und diesen Kram hinauslaufen? Wer hatte denn bitte entschieden, dass man nicht ohne das das Zeug glücklich sein konnte? Aber irgendwie schien das für alle der Heilige Gral zu sein.

Selbst Sam, aus dem Boxklub, von dem Tristan immer geglaubt hatte, er wäre der Playboy schlechthin. Nach nicht einmal fünf Monaten lockerem Geplänkel und regelmäßigem Sex, hatte der angefangen, von Beziehung zu faseln. Von Dates und dass er wissen wollte, mit wem Tristan sonst noch so rummachte.

Der biss sich auf die Unterlippe, um das „brauch ich nicht“, welches ihm entkommen wollte, zurückzuhalten.

„Du kommst doch mit, nicht wahr?“

Da war etwas Drängendes in Davids Stimme. Etwas, dem Tristan schon lange nicht mehr widerstehen konnte. Diese stumme Bitte, ihn nicht mit Brendan alleine zu lassen, weil sonst der ganze Mist, den David endlich einigermaßen unter Kontrolle hatte, womöglich wieder ausbrach.

Aber ein Teil von Tristan war es leid, dass David sich weiter quälte. Deshalb waren die Worte raus, bevor er sich bewusst wurde, dass sie sich überhaupt in seinem Kopf geformt hatten: „Glaub nicht, dass ihr einen Anstandswauwau braucht.“

David lachte allerdings lediglich. Es klang so verdammt ehrlich, dass es sich Tristan erneut in den Bauch rammte. War der Kerl am Ende womöglich doch über Brendan hinweg? Schwer vorzustellen. Nach all den Jahren der unerwiderten Liebe?

Rund einen Monat war Brendan inzwischen zurück. Zwanzig Minuten mit der S-Bahn von ihrem eigenen Zuhause entfernt, hatte er sich eine kleine Wohnung gesucht. Dass Brendan dabei mit Dalia zusammengezogen war, hatte der Freude selbstverständlich einen Dämpfer versetzt. Aber David hatte gelächelt, wie er es immer tat – und war in der gleichen Nacht trotzdem zu Tristan ins Bett gekrochen.

„Die Zeiten, in der man eine Einweihungsfeier in den eigenen vier Wänden gibt, scheinen vorbei zu sein“, meinte Tristan mit einem falschen Lachen.

„Italiener ist eh besser“, gab David ebenso lachend zurück. „Komm mit! Oder bist du etwa doch schon verabredet? Geh weiter! Mit wem?“

Tristan seufzte, rieb sich mit der Hand über die Stirn. Er konnte sich nicht aus dieser Sache raushalten. David war sein Freund. Wie könnte er ihn einfach ins offene Messer laufen lassen?

„Natürlich nicht“, gab Tristan lächelnd zurück.

„Jedenfalls hat Brendan gesagt, dass wir uns dort um sieben treffen. Wäre also gut, wenn du pünktlich daheim bist, falls du dich noch einmal umziehen willst.“

Das klang nicht danach, als ob Tristan da tatsächlich eine Wahl hätte. Bevor er antworten konnte, hatte David bereits aufgelegt. Seufzend legte Tristan ebenfalls den Hörer zurück.

„Essen beim Italiener“, murmelte er, während er gedankenverloren auf den Bildschirm starrte.

Allmählich schienen sie wirklich alt zu werden, wenn sie sich jetzt schon in irgendwelchen Restaurants trafen. Früher hatte es der Döner an der Ecke getan – oder Pizza vom Lieferservice. Zusammen mit einer DVD in der eigenen Bude.

Aus dem Augenwinkel sah Tristan zu seinem Kollegen. Der arbeitete noch immer konzentriert. Etwas, das er auch tun sollte. Der Job war wichtig, würde ihnen die Miete finanzieren, selbst wenn Davids Eltern sich irgendwann entschieden, den Geldhahn zuzudrehen. Ihre kleine Zweizimmerwohnung konnte Tristan von seinem Gehalt notfalls alleine bezahlen. Er würde klarkommen – mit oder ohne David.

Dass Tristan Letzteres eigentlich nicht wollte, war eine andere Sache. Eine, die allmählich ein Problem darstellte. Schließlich hatte er schon vor Jahren beschlossen, dass er den Beziehungsmist nicht wollte. Genau genommen führten sie ja auch keine. Selbst wenn Tristan daran Interesse gehabt hätte, David schwebte doch ohnehin nur dann auf Wolke Sieben, sobald Brendan anrief.

Dass er von der ein ums andere Mal ziemlich unsanft herunterflog, wussten sie beide. Die Vorstellung, dass David dabei irgendwann alleine und folglich ungebremst auf dem harten Boden der Realität aufschlagen würde, drehte Tristan den Magen um.

„Blöder Depp“, wisperte er – sich selbst nicht sicher, ob er sich oder David damit meinte.

„Ärger im Paradies?“, fragte die Kollegin, die ihm gegenübersaß mit einem verhaltenen Lachen. „Oder Probleme mit deiner Userstory?“

Hastig verneinte Tristan beides und versuchte, sich erneut auf die Arbeit zu konzentrieren. Wie er eben so treffend festgestellt hatte, wollte er den Job nicht verlieren. Zumal der bisher tatsächlich Spaß machte und folglich nicht nur eine reine Einnahmequelle war.

Tristan atmete tief durch und las sich noch einmal durch, was er bisher geschrieben hatte, um wieder an die Arbeit gehen zu können. Die Gedanken rund um David wollten jedoch nicht verschwinden. Vielleicht waren sie beiden sich in der Hinsicht ähnlicher, als er sich selbst eingestehen konnte.

Blödsinn‘, ermahnte Tristan sich – noch immer darum bemüht, endlich seine Konzentration wiederzufinden.

Er war nicht in David verliebt, hing nicht irgendwelchen Illusionen nach, die unmöglich wahr werden würden. Leben war ‚jetzt‘ und nicht das Festhängen in einer Vergangenheit, die niemals die Zukunft bieten konnte, welche David sich wünschte. Tristan schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch.

Irgendwann würde David kapieren, dass das, was er sich von Brendan all die Jahre so sehr erhofft hatte, andere Männer ausgesprochen bereitwillig anbieten würden. Einige der Typen, die David abgeschleppt hatte, wären mehr als interessiert gewesen – vermutlich auch keine schlechte Wahl, wenn es um diese eine Sache ging.

Eine Beziehung. Ein Leben zu zweit – was ja nicht zwingend hieß, dass der Sex stets nur im gleichen Bett stattfand. Gab genug, bei denen Monogamie nicht Bestandteil einer Partnerschaft war. Was auch immer David brauchte, wenn er sich bemühen würde, könnte er problemlos jemanden finden, der ihm genau das bieten wollte.

Und dann?

Sobald David diesen Menschen fand, wäre er weg. Aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und langfristig damit ebenso aus Tristans Leben verschwunden. Genau wie Brendan. Denn alles, was die Freundschaft zwischen ihnen drei über die letzten sieben Jahre geformt und zusammengehalten hatte, war David. Ohne hin hätte Tristan vermutlich zu keinem der beiden Männer noch Kontakt. Zu Brendan definitiv nicht.

„Hast du den Service fertig?“

Überrascht sah Tristan auf und nach rechts. Der Kollege dort drüben hatte den Kopfhörer heruntergezogen und sah ihn erwartungsvoll an. „Ich ... ah ... gleich. Die Tests fehlen noch.“

„Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid“, meinte der Mann lächelnd. „Dafür sind wir ja da. Wenn’s heute nicht fertig wird, ist morgen auch noch ein Tag.“

Tristan nickte und bedankte sich. Danach machte er sich dennoch wieder an die Arbeit.  Zeit hier endlich fertig zu werden und herauszufinden, was zu der ungewohnten Einladung von Brendan geführt hatte.

-`ღ´-


Es war bereits nach sechs, als Tristan schließlich die Stufen zu seiner Wohnung hinauf hastete. Würde es nur um ihn selbst gehen, wäre er entspannter gewesen. Brendan hatte ganz sicher kein Problem damit, wenn Tristan ein paar Minuten zu spät kam. Zumal ebendieser sich nicht einmal bei ihm persönlich gemeldet hatte.

War das eigentlich schon immer so?

Tristan stockte. Mit dem Schlüssel in der Hand stand er vor der Wohnungstür, ohne diese tatsächlich zu öffnen. Stirnrunzelnd versuchte er, sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal am Telefon direkt mit Brendan gesprochen hatte.

Dieser war im Frühling aus Mannheim nach München gefahren, um ihm zu erzählen, dass er eine Wohnung gefunden und Dalia zugestimmt hatte, mit ihm zusammenzuziehen. Das letzte Mal hatten sie sich vor vier Wochen gesehen, als David und Tristan geholfen hatten, die neu angelieferten Möbel aufzubauen. Aber bei beiden Gelegenheiten hatte Brendan sich eigentlich nur bei David gemeldet und der hatte Tristan lediglich mitgeschleift. War er überhaupt jemals mit eingeladen worden?

„Was stehst du hier draußen rum?!“

Überrascht zuckte Tristan zusammen. Blinzelnd sah er sich plötzlich David gegenüber, der ihn wütendem Blick anfunkelte – die eine Hand am Türrahmen, die anderen hielt die Wohnungstür offen. Mit Verwunderung wurde Tristan klar, dass er weder mitbekommen hatte, wie die Tür geöffnet wurde, noch dass David sich vor ihm aufgebaut hatte.

„Erde an Tristan!“

„Ja?“

„Was stehst du da blöd rum? Komm rein, zieh dich um und lass uns endlich gehen.“

Noch immer etwas neben der Spur runzelte Tristan die Stirn und fragte irritiert zurück: „Umziehen?“

David verdrehte die Augen. „Jetzt komm schon. Willst du in dem abgewrackten T-Shirt etwa ausgehen?“

Die Verwunderung nahm nicht ab, genauso wenig wie die Irritation. Vielmehr kam inzwischen so etwas wie Trotz und Wut dazu. „Das ist nicht abgewrackt“, gab Tristan beleidigt zurück. „Used Look. Das soll so aussehen.“

„Dann verkauf ich dir gern ein paar meiner alten Shirts, die sehen genauso aus“, meinte David seinerseits grinsend.

Prompt musste Tristan lachen: „Als ob die mir passen würden.“

Bevor die Diskussion weitergehen konnte, zog David ihn in die Wohnung und schubste Tristan kurz darauf in Richtung Bad. „Vergiss die Dusche nicht.“

„Erst ist mein Shirt nicht gut genug und jetzt stinke ich auch noch?“

Davids Lachen wurde lauter. Ein schönes Geräusch. Selbst wenn die gute Laune garantiert nur daran lag, dass sie sich mit Brendan treffen würden. Solche Tatsachen konnte Tristan inzwischen allerdings ausgesprochen gut ignorieren.

„Ja, schon gut, jetzt mach dir nicht ins Hemd, Davi.“

Der zog einen geradezu unwiderstehlichen Schmollmund. Einen, bei dem Tristan nicht zum ersten Mal versucht war, ihn zu küssen. Einfach nur, um zu sehen, was passieren würde. Dennoch schob er den Gedanken hastig beiseite. Küssen war off Limits. Verboten, unerwünscht, was auch immer. Den unsicheren Seitenblick zu David konnte Tristan allerdings nicht unterdrücken. Manchmal fragte er sich, ob diese Regel nur für ihn galt und David bei anderen Männern nicht dermaßen streng auf diesen Punkt bestehen würde. Gab schließlich schon lange keinen Grund mehr, sich für irgendjemanden aufzusparen.

Egal‘, ermahnte Tristan sich erneut.

Da die Diskussion ohnehin zu nichts führen würde – außer zu schlechter Laune – sparte er sie sich und folgte Davids Anweisung. Im Bad warf Tristan die getragenen Klamotten wie immer eher achtlos in den Wäschekorb. Wenigstens um die musste er sich nicht kümmern.

Sah man von Häppchen für die Abende mit Brendan ab, bekam David zwar kochtechnisch kaum etwas auf die Reihe. Er hatte einen furchtbaren Schlafrhythmus – einen noch viel schlechteren Rhythmus, wenn es um den Besuch von Vorlesungen ging. Und wie seine Zukunft aussehen sollte, wusste der Kerl auch nicht. Aber der Putzfimmel und die Tatsache, dass David es nach eigener Aussage sogar ‚entspannend‘ fand, das Bad sauber zu machen und Wäsche zu waschen, gehörte zweifellos zu seinen Vorzügen.

Um die Putzfee nicht in einen wütenden Putzteufel zu verwandeln, beeilte Tristan sich beim Duschen. Mit dem Handtuch um die Hüften trat er fünf Minuten später schon wieder aus dem Bad und lief in Richtung seines Zimmers. Das anzügliche Pfeifen aus der Küche ignorierte er. Genauso wie die wackelnden Augenbrauen, als Tristan rechts vor ebendieser abbog.

„Alberner Gockel“, murmelte er, konnte sich aber ein eigenes Lächeln in Davids Richtung nicht verhindern. Der kam aus der Küche und stellte sich stattdessen an die Tür zu Tristans Zimmer. Herein kam er nicht.

„Es ist eine echte Verschwendung, dass du dich und diesen Körper der Männerwelt so restriktiv vorenthältst“, fuhr David davon unbeeindruckt fort. „Du solltest öfter mal mit mir in die Klubs kommen. Ich garantiere, du findest innerhalb von fünfzehn Minuten jemanden, der sich unsterblich in dich verliebt hat.“

Tristan schnaubte und schüttelte den Kopf. „Danke, kein Interesse.“

Die Zeiten, in denen er mit David hatte um die Häuser ziehen wollen, waren vorbei. Das Klubleben war nie Tristans gewesen und inzwischen war er mit seinen vierundzwanzig zwar nicht steinalt, fühlte sich manchmal aber so. Vielleicht war er auch einfach nur spießig. Oder verklemmt. Beides war Tristan jedenfalls in diversen Klubs, die er an Davids Seite über die Jahre besucht hatte, schon um die Ohren gehauen worden. Meisten dann, wenn er keine Lust gehabt hatte, auf die reichlich plumpen Versuche ihn anzumachen einzugehen. Die Sorte, die eh nur zu einem Blowjob oder einen schnellen Fick irgendwo abzielte.

Auf genau das hatte Tristan aber in der Regel an solchen Abenden keinen Bock. Wenn er Sex wollte, suchte er ihn sich dank diverser für eben diesen Zweck vorgesehener Apps selbst. Alternativ gab es im Boxklub schließlich genug Interessenten. Da wusste man spätestens nach einem unverhohlenen Blick in der Umkleide wenigstens meistens vorher bereits, worauf man sich einlassen würde.

Ansonsten war ohnehin darauf Verlass, dass David irgendwann auf seiner Türschwelle auftauchen würde. Solange sich daran nichts änderte, war das alles vollkommen ausreichend. Keine Rechtfertigungen, falls man mal keine Lust hatte auszugehen, keine Sorge, wann es Enden würde, kein Schmerz, wenn es schlussendlich so weit war. Vor allem war es so kein Problem, es selbst zu beenden, wie bei Sam – nachdem der angefangen hatte, einen auf Beziehung machen zu wollen.

„Ach komm schon, Tris. Wir wissen beide, dass du kein Mönch bist.“

Schweigend wandte Tristan sich seinem Kleiderschrank zu, um frische Klamotten für den Abend herauszusuchen. Wie er David kannte, würde der ihn nach dem Spruch vorhin nicht ohne ein Hemd davonkommen lassen. Also zog Tristan das erstbeste, das er nicht abgrundtief hasste, aus dem Schrank und zog es über. Dazu eine schwarze Jeans. Das dürfte gut genug in Davids Augen sein.

Leider verstand der Tristans Schweigen nicht als das, was es sein sollte – das Ende dieser Diskussion: „Im Gegensatz zu mir bist du doch voll der häusliche Typ, Tris.“

Ebenjener schnaubte. Na klar. Als ob.

„Der Traummann schlechthin für diese ganzen Romantikfreaks da draußen.“

Schweigend schüttelte Tristan den Kopf. Auf den Quatsch wollte er nicht einmal antworten. Eigentlich sollte David ihn doch inzwischen nun wirklich gut genug kennen, um zu wissen, dass Tristan nicht auf diese Weise funktionierte.

„Jemanden, der das bis zur Rente mit dir durchziehst, findest du sicherlich nicht, wenn du hier daheim hockst. Dafür musst du raus aus dieser Bude, mein Freund.“

„Du beweist recht eindrucksvoll, dass man mit permanentem Ausgehen auch nicht in Beziehung endet.“ Tristan stockte und verzog das Gesicht. So hatten die Worte nicht Herauskommen sollen. „Tut mir leid“, fügte er hastig hinzu und sah zu David.

Dem war allerdings nicht anzusehen, ob ihn die Bemerkung getroffen hatten oder nicht. Da war das gleiche Lächeln, das der Kerl immer trug, diese vorgeschobene Fröhlichkeit, der Tristan schon seit Ewigkeiten, nicht mehr glauben konnte. Wenn einer von ihnen beiden diesen ganzen Beziehungskram jemals gebraucht hatte, dann war es ja wohl David.

„Nein, du hast recht. Aber ich ...“, fuhr dieser fort, wackelte dabei anzüglich mit den Augenbrauen, während er zu Tristan herüberkam. „Habe eine Beziehung auch nicht nötig. Du hingegen ...“ David fuhr mit dem Zeigefinger von Tristans Halsansatz über die dank des offenen Hemdes noch gut sichtbare Brust hinweg bis zum Bauchnabel nach unten. „Du, mein Freund bist ein Familienmensch durch und durch.“

Tristan schnaubte und schüttelte den Kopf. Um dem Kribbeln zu entgehen, das sich auf seiner Brust immer weiter ausbreitete, trat er zunächst einen Schritt zurück und knöpfte das Hemd zu.

„Das ist lächerlich.“

Wo der Kerl in Tristan einen ‚Familienmenschen‘ sehen wollte, war ihm ein Rätsel. An seine Mutter konnte er sich kaum erinnern und seinen Vater hatte Tristan in den letzten Jahren lediglich an Weihnachten gesehen. Und das auch nur, weil er eine Ausrede gebraucht hatte, um Davids Einladung, die Feiertage bei dessen Familie zu verbringen, ausschlagen zu können. Zwar hätte Tristan diese Zeit durchaus gern mit David verbracht. Auf elitäres Elterngequatsche und die inzwischen verheiratete große Schwester samt Anhang konnte er allerdings getrost verzichten.

„Wir sollten los“, meinte David lediglich, während er sich abwandte. Damit war ihr Gespräch endlich beendet.

Ein paar Minuten später liefen sie gemeinsam die Treppe hinunter. Sie hatten noch mehr als eine halbe Stunde Zeit. Aber David würde garantiert nie unpünktlich zu einem Treffen mit Brendan kommen.

-`ღ´-


Tristan schloss die Augen und holte tief Luft. Es war inzwischen Ende Juli. Die Temperaturen fielen in der Nacht zwar nicht mehr so stark wie vor ein paar Monaten, aber dennoch auf ein angenehmes Maß herab. Entsprechend wohltuend war die Kühle, die sich in ihm und seinen Lungen mit dem Atemzug ausbreitete. Langsam ließ Tristan seine Finger über die eigene nackte Brust wandern. Haut auf Haut und dennoch nicht das gleiche Gefühl wie noch vor einer halben Stunde.

Er öffnete die Augen und sah zu dem Mann links neben ihm. Normalerweise verschwand David nach dieser Art von Besuchen sofort in sein eigenes Zimmer, um dort zu schlafen. Aber der heutige Abend war offenbar scheiße genug gewesen um nicht nur Sex, sondern ebenso einen warmen Körper für die Nacht neben sich zu brauchen. Beides hätte David woanders finden könnten.

Wollte er auch‘, korrigierte Tristan sich mental selbst.

Schließlich war David nach diesem desaströsen Dinner bereits auf dem Weg zur S-Bahn in Richtung ‚Regent‘ gewesen. Einer von Davids Lieblingsklubs, wenn es darum ging die Nacht nicht allein zu verbringen. Dort hätte er sich zunächst ein paar Bier bestellt. Sich besoffen, jemanden abgeschleppt – oder sich abschleppen lassen.

Wählerisch wäre David heute garantiert nicht gewesen. Entsprechend unvorsichtig vermutlich auch – zumindest hatte Tristan das befürchtet und den Klubbesuch deshalb verhindert. Dem Essen mit Brendan hatten sie schließlich nicht ausweichen können. Wobei Tristan ehrlicherweise damit gerechnet hatte, dass es diesmal besser verlaufen würde. Dass David tatsächlich endlich über diese dumme Schwärmerei und alles, was daran hing, hinweg war.

Tristan biss sich auf die Lippe, zwang sich anschließend dazu, den Blick abzuwenden. Er durfte sich da nicht noch weiter reinsteigern. Es war nicht sein Leben. Er hatte sich für seinen eigenen Weg entschieden. Einen, der aus gutem Grund diesen ganzen Mist, der David ständig Probleme machte, aus dem Weg ging.

„Nur Sex“, flüsterte er leise, um seinen Mitbewohner nicht aufzuwecken.

Wobei das eher unwahrscheinlich war. Nachdem Tristan ihn überredet hatte, nicht in den Untiefen der Klubszene zu verschwinden, hatte David darauf bestanden, dass er sich in dem Fall daheim betrinken und besinnungslos gevögelt werden wollte.

Genervt von der eigenen mentalen Wortwahl verzog Tristan das Gesicht. Realistisch betrachtet waren die Worte durchaus gerechtfertigt – zumindest von David vergangene Nacht selbst so gewählt gewesen. Trotzdem war es nicht das, was Tristan darüber denken wollte.

Egal, wie oft er sich sagte, dass es ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat, wenn sie ab und zu ins Bett stiegen, etwas hatte sich verändert in den letzten fünf Jahren. Es fühlte sich nicht mehr richtig an. Nicht, weil Tristan lieber eine Beziehung zu irgendjemandem hätte haben wollen. Das hätte er schließlich bei Sam durchaus finden können. Nein, seine Einstellung zu diesem Thema hatte sich in all den Jahren nicht geändert.

Weshalb dann?

Erneut sah Tristan auf das entspannte Gesicht neben ihm. Es war an der Zeit, dass David endlich den letzten Rest dieser Illusion über Brendan aufgab. Dafür, dass er das bisher nicht getan hatte, sprach der Verlauf des vergangenen Abends.

Ein Ziehen breitete sich in Tristans Bauch aus, während er an das Essen mit ihrem alten Freund dachte.

Brendan war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen. Aber so ausgelassen wie an diesem Abend, hatte Tristan ihn selten erlebt. Geradezu befreit, weil es nach den offenbar beziehungstechnisch sehr belasteten Studienjahren wieder Friede-Freude-Eierkuchen zwischen Brendan und Dalia war. Es hatte trotzdem fast eine halbe Stunde gedauert, bis der blöde Kerl endlich damit rausgerückt hatte, welchem Umstand sie dieses unerwartete Hoch samt Einladung zum Essen tatsächlich zu verdanken hatten.

Tristan schluckte und wandte sich von David ab. Er konnte es noch immer vor sich sehen. Dieser glückliche und zufriedene Ausdruck auf Davids Gesicht, während sie das Restaurant betreten hatten. Einfach nur weil Brendan da war, Zeit mit ihnen verbrachte. Für eine verfluchte halbe Stunde war es gewesen wie früher. Sie hatten gescherzt, gelacht und sich darüber gefreut, zusammen zu sein.

Und dann war alles zerbrochen.

Es war unübersehbar gewesen – diese Sekunde, in der sich die Situation endgültig verändert hatte. In der dieser Funke Hoffnung, den David diese verfluchten sieben Jahre nicht hatte aufgeben können – obwohl Brendan ihm doch nie wirklich Hoffnungen gemacht hatte. Aber der Moment, in dem der Blödmann damit herausrückte, dass er Dalia heiraten wollte, musste sich wie ein heißes Brenneisen in David gebrannt haben.

Es war merkwürdig gewesen. Denn irgendwie stellte man von einem emotionalen Weltuntergang wohl etwas anderes vor. Jedenfalls ging es Tristan so.

Seit sechs Jahren wartete er darauf, dass David Brendan sagte, was Sache war. Dass er den Mund aufbekam und diese eine Wahrheit aussprach. Wie oft war Tristan versucht gewesen, es einfach zu sagen? Sich hinzustellen und die Worte auszusprechen, die David nicht über die Lippen brachte. Dieses ‚Ach übrigens, ich bin schwul und dein bester Freund ist es auch‘.

Aber Tristan hatte wie immer die Klappe gehalten. Weil er es David einst versprochen hatte. Eine Zusicherung, die er damals womöglich zu leichtfertig ausgesprochen hatte. Denn vielleicht hätte es dem Dummkopf den Schmerz erspart, den er an diesem Abend verspürt haben musste.

David hatte allerdings nicht einmal das Gesicht verzogen. Kein sarkastischer Kommentar, kein Rumgezicke. Dabei hatte er Dalia doch immer als Fremdkörper zwischen ihnen Dreien empfunden. Nein, David hatte gelächelt und Brendan zu dieser ‚großartigen Nachricht‘ gratuliert. Schlimmer noch – er hatte sogar Brendans beinahe beschämt anmutender Bitte nachgegeben und würde den Trauzeugen spielen bei der Hochzeit. Der perfekte beste Freund – so wie David es stets hatte sein wollen und hoffentlich immer gewesen war. Egal, was das mit ihm selbst anstellen würde.

Erneut musste Tristan schlucken. Er fuhr sich mit der Hand über die schmerzende Stelle in seiner Brust. Es mutete unfair an. David war kein Heiliger, aber auch kein schlechter Kerl. Ein bisschen Glück hatte er allemal verdient.

Im Gegensatz zu Tristan, der sich dafür entschieden hatte, jede Form von Beziehung abzulehnen, war David doch nie wirklich zufrieden mit seinem Singleleben gewesen. Womöglich nicht einmal glücklich. Jedenfalls nicht immer. Konnte er nicht sein, oder?

Schließlich hätte David zu Brendan jederzeit ‚ja‘ gesagt. Dauerhaft. Insofern der Sex nicht total beschissen war vermutlich bis ans Lebensende. Dieser ganze lächerlich kitschige Mist, den sie in den Filmen zeigten, die David nur dann ansah, wenn Brendan ihm mal wieder unbewusst das Herz gebrochen hatte. Aber offenbar hatte David sich nie von dieser total hirnrissigen Hoffnung lösen können, dass auch sein Leben eines Tages eine Wendung in die ‚richtige‘ Richtung nehmen würde. So wie es in ebendiesen Filmen immer war.

Weil die Liebe doch nur groß genug sein muss, damit sie alle Hindernisse überwindet – inklusive der Tatsache, dass Brendan hetero, vergeben und dabei auch noch glücklich war.

„Vielleicht wird es jetzt besser“, murmelte Tristan flüsternd.

Womöglich war Brendans Hochzeit am Ende ja der letzte Tropfen, durch den David diese alberne und sinnlose Jugendschwärmerei loslassen konnte. Der Wendepunkt in seinem Leben, an dem David aufhörte, jeden Vollidioten in sein Bett zu lassen, um sich von der fixen Idee ‚Brendan‘ abzulenken. Womöglich würde er sich stattdessen ebenfalls auf die Suche nach einem Mann machen, mit dem er tatsächlich glücklich werden konnte. Der das, was David geben konnte und wollte auch zu schätzen wissen würde. Denn dass es genau das war, was dieser wirklich bräuchte, darin bestand für Tristan kein Zweifel.

„Ich hoffe, du wirst irgendwann finden, was du suchst“, flüsterte ebendieser kaum hörbar, während er noch einmal zu dem Mann neben ihm sah.

Ein Funken Wehmut schwang dennoch mit. Wenn David jemanden fand, mit dem er in Zukunft zusammen sein wollte und konnte, würde er zwangsläufig früher oder später aus Tristans Leben verschwinden – so wie alle anderen vor ihm. Freunde, Familie. Wenn sie sich nicht mehr meldeten, hatte Tristan es ebenfalls nicht getan. Was hätte er sagen sollen? Fade Floskeln, vorgeschobene Gründe, bei denen schnell klar werden würde, dass er ihnen lediglich Zeit raubte, die sie mit anderen verbringen wollten.

Seit fünf Jahren wartete Tristan auf den Tag, an dem David und Brendan sich diesen Menschen  anschließen würden. Wobei bei Letzterem das wohl längst passiert wäre, wenn die Freundschaft zwischen ihnen dreien nicht so vehement von David verteidigt worden wäre. Es hing alles an ihm – und Tristan war garantiert nur Teil dieses Trios, weil er mit David unter einem Dach wohnte.

Gewohnheit.

Eine liebgewonnene – zumindest auf seiner Seite, wie Tristan ungern zugab. Dennoch war es eine Gewohnheit, die früher oder später enden würde. Es fühlte sich trotzdem unschön an, sich vorzustellen, dass David irgendwann nicht mehr hier wohnen würde. Aber hier war er nicht glücklich, weil Brendan fehlte und Tristan offensichtlich weder bieten konnte, noch wollte, was sein Freund tatsächlich bräuchte.

Es war wohl am Ende nicht nur David, der lernen musste, jemanden loszulassen.
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