Elf Jahre und ein Tag
von Ken
Kurzbeschreibung
Sechs Umzüge in den letzten sieben Jahren. Tristan hat aufgehört, sich an Menschen binden zu wollen, Pläne zu machen - was zählt ist die Gegenwart. Dann lernt er Brendan kennen, der genau weiß, wo seine Zukunft hingehen soll. Und David, Brendans besten Freund, der in einer Vergangenheit festhängt, die er nicht loslassen kann - und dem Glauben an das Unmögliche. Drei Freunde auf der Suche nach dem Glück, der Liebe und dem Platz im Leben, wo sie hingehören.
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
01.01.2023
09.04.2023
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07.03.2023
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Kapitel 12 – Neue Aussichten I (26.09.2014)
Die Leute sagten gern, dass die Zeit mitunter schneller verflog, als man sich ihrer gewahr werden konnte. Allerdings behaupteten die meisten auch, dass es einem vor allem so ging, wenn man sich gut amüsierte.
Ein Lächeln huschte über Tristans Lippen, während er sich fragte, ob das tatsächlich der Fall gewesen war. Vier Jahre in der Uni die Schulbank gedrückt. Das war sicherlich kein Grund, zur Freude und erst recht nicht immer als Spaß zu bezeichnen. Aber er hatte es bisher durchgezogen – und würde das ebenfalls für das letzte Jahr tun.
Und dann? Die Freiheit der eigenen vier Wände? Obwohl Tristan die sich bis heute ja mit einem Mitbewohner teilte. Auch wenn er mit dem im Gegensatz zu seiner Jugend nicht mehr verwandt war. Ja, das fiel schon eher in die Kategorie Spaß. David konnte zwar nicht kochen und war mitunter recht anstrengend, aber da gab es eben doch noch diese andere, kleine Wahrheit.
Der Punkt, an dem Tristan diese vier Jahre nicht mit jemand anderem hätte verbringen wollen. David war zu einem Teil seines Lebens geworden. Auf eine etwas verquere Art und Weise. Immer noch ein Freund, vermutlich der beste, den Tristan je gehabt hatte. Womöglich der Einzige, der die Bezeichnung tatsächlich verdient hatte. Zumindest hielt ihre Freundschaft inzwischen seit sechs Jahren. Das war definitiv ein neuer Rekord. Trotzdem war es – vor allem mit dem Wissen, dass er in absehbarer Zeit die Uni beenden würde – gefühlt immer öfter lediglich eine Frage der Zeit, bis es enden musste.
‚Vorbei ist vorbei‘, dachte Tristan bei sich und ließ die Faust nach vorne schnellen. ‚Nicht in der Vergangenheit festhängen.‘
Noch im Stoß drehte Tristan die Faust und traf den Boxsack gerade so, bevor er die Hand sofort wieder zurückzog. Wie automatisch folgte nach der Rechten auch die Linke. Schlag um Schlag, wie ein Metronom, das den Takt vorgab. Einen gleichmäßigen, langsamen Rhythmus. Quasi ein Spiegelbild von Tristans Leben. Zumindest fühlte es sich mitunter so an. Die Stunden, die er in den letzten Jahren vor dem Sandsack verbracht hatte, waren es allerdings gewesen, die Tristan geholfen hatten, den Kopf freizubekommen. Und auch heute schien es wie so oft zu funktionieren.
Nachdem er einige Minuten auf den Boxsack eingedroschen und dabei sein Tempo kontinuierlich erhöht hatte, trat Tristan keuchend und erschöpft zurück.
„Na?“, fragte eine lachende Stimme hinter ihm. „Heute schlechte Laune?“
Tristan lächelte und schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken. „Nein, aber es tut gut, mal an nichts anderes zu denken.“
„Lust auf eine Sparringsrunde?“, fragte der junge Mann, der auf Tristan zugetreten war. Dass dieser nicht aufgesehen hatte, war offenbar Grund genug, den Boxsack beiseite und sich selbst bewusst ins Bild zu schieben. „Gern auch außerhalb des Rings.“
„Lass gut sein, Sam“, gab Tristan kopfschüttelnd zurück.
„Warum? Du weißt, dass du es nicht bereuen würdest.“
Tristan schnaubte und schüttelte den Kopf. Es gab inzwischen ausreichend Gelegenheiten, an denen er bereute, Sam jemals die Chance gegeben zu haben, diesen dämlichen Spruch unter Beweis zu stellen. Ja, der Sex mit Sam war es durchaus wert gewesen, sich in allzu einsamen Nächten dran erinnern zu wollen. An anderen Tagen hätte Tristan zu der recht eindeutigen Einladung deshalb auch nicht ‚Nein‘ gesagt.
Entsprechend war es nicht die Frage an sich, die Tristan heute nervte, sondern dass Sam sie in letzter Zeit stetig häufiger zu stellen schien. Allmählich könnte man meinen, der Typ hätte ernsthafte Absichten. Was bei einem Playboy wie Sam allerdings totaler Quatsch war. Misstrauisch schielte Tristan dennoch zu dem jungen Mann. Der wirkte entspannt wie immer. Was auch sonst? ‚Coolness‘ stand auf der selbstproklamierten Liste von Sams besten Eigenschaften ganz oben.
„Komm schon“, hakte jener mit den Augen wackelnd noch einmal nach. „Die Duschen sind frei und heute scheint ja keiner außer uns hier zu sein.“
Schnaubend schüttelte Tristan erneut den Kopf und trat beiseite. Natürlich lief es doch wieder nur darauf hinaus. Der Klub war an diesem Nachmittag allerdings tatsächlich ungewohnt leer. Musste daran liegen, dass die meisten der Studenten noch in den Semesterferien waren. Die Frage war also wohl wirklich lediglich dem Umstand geschuldet, dass Sam vögeln wollte und für seine Flirterei gerade kein besseres Ziel gefunden hatte.
„Danke, Sam. Aber ich verzichte trotzdem.“
„Inzwischen fest vergeben?“, bohrte Sam jedoch mit einem Grinsen weiter. „So richtig mit dem ganzen monogamen Blödsinn?“
Achselzuckend wandte Tristan sich ab und fing an, die dünnen Schutzhandschuhe zu öffnen, um sie auszuziehen. Es ging Sam schließlich nichts an, also warum sollte er antworten? Ein ‚Nein‘ musste reichen. Irgendwann würde das sogar der Typ kapieren.
„Ich hab dich letzte Woche im Regent gesehen“, fuhr Sam jedoch unbeeindruckt fort und folgte Tristan dabei auch noch in Richtung Umkleide.
Der schwieg weiter, obwohl er ahnen konnte, worauf Sam hinaus wollte.
„Du warst mit einem Typen da, richtig? Ist der schillernde Vogel dein Freund oder so etwas?“
Die Richtung, in die das Gespräch gerade lief, gefiel Tristan nicht. Entsprechend mürrisch verzog er den Mund und biss sich auf die Innenseite der Wange. Bevor er sich bremsen konnte, rutschte ihm trotzdem eine Antwort heraus: „Ja, er ist ein Freund.“
Um diesem Gespräch hoffentlich endlich entkommen zu können, beschleunigte Tristan seine Schritte. Leider hatte Sam nun ernsthaft Blut geleckt und setzte erneut nach: „Nur ein Freund oder mehr im Sinne von Freund, ohne den ich nicht mit anderen ins Bett steige?“
„Geht dich nichts an“, maulte Tristan, allmählich gereizt, zurück. „Und es ist auch vollkommen egal. Ich will weder im noch außerhalb des Rings mit dir als ‚Sparringspartner‘ heute Zeit verbringen.“
„Warum nicht? Die Art, wie du vorhin auf den Sandsack eingedroschen hast, spricht für Frust. Und im Frustabbau bin ich gut. War doch bisher immer zu unser beider Vergnügen. Also wenn du nicht plötzlich monogam geworden bist, lass uns Spaß haben.“
Tristan seufzte. „Das ist dermaßen aus der Klischeekiste gegriffen, dass es schon wehtut, Kumpel.“
„Was denn?“, fragte Sam jedoch nur grinsend zurück und breitete die Arme aus, als wollte er sich erst recht im richtigen Licht präsentieren. „Hey komm schon, ein Blowjob ist ja wohl immer drinnen.“
Tristan verdrehte die Augen und wandte sich ab. Ja, er hatte nie ein Problem damit gehabt, sich hier im Klub oder sonst irgendwo aufreißen zu lassen, wenn er Druck hatte. Aber heute war das nicht der Fall und das sollte verdammt noch einmal als Begründung ausreichen.
„Nur weil ich sowohl auf Männer als auch auf Sex steh, heißt das nicht, dass ich ständig jeden dahergelaufenen Deppen rammeln muss, der gerade läufig mit seinem Schwanz vor mir herum wedelt. Schleich dich, Sam. Ich hab heute keinen Bock.“
Damit wandte Tristan sich endgültig ab und ignorierte, was auch immer Sam ihm hinterherrief. Das war das Problem daran, wenn man mit irgendwelchen Typen hier aus dem Klub schlief. Nicht alle ließen einen hinterher in Ruhe. Aber die Erfahrung zeigte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Sam ein neues Opfer für sein überzogenes Selbstbewusstsein fand.
Noch immer genervt stapfte Tristan in die Umkleidekabine und zog sich das Shirt über den Kopf hinweg aus. Mit aller Kraft pfefferte er es gegen seinen Spind, der daraufhin lautstark knallend protestierte. Tristan schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Es dauerte jedoch ein paar weitere Sekunden, bevor sein Herzschlag sich beruhigte und die Wut abebbte.
Glücklicherweise hatte Sam den Anstand besessen, ihn wenigstens jetzt in Ruhe zu lassen. Dabei versuchte Tristan weiterhin, auszublenden, warum er überhaupt so sauer geworden war. Das blöde an Sam war, dass er zwar so ziemlich jedes Klischee zu bedienen schien, das Tristan gerade einfiel. Aber in einigen Punkte hatte der Blödmann eben doch recht gehabt. Allen voran der Tatsache, dass Tristan im Augenblick durchaus Frust schob.
Allerdings nicht, weil er mit seinen inzwischen dreiundzwanzig Jahren keinen festen Freund vorzuweisen hatte. Den suchte Tristan schließlich auch weiterhin nicht. Genau genommen konnten ihm Beziehungen getrost gestohlen bleiben.
Er kannte exakt einen Menschen in seinem Alter, bei dem dessen sogenannte Beziehung nicht spätestens nach ein paar Monaten in die Brüche gegangen war. Und das war sein Kumpel Brendan. Der konnte stolze fünf Jahren mit seiner Freundin Dalia vorweisen. Wie die beiden das geschafft hatten, war ihm ein Rätsel. Aber er hatte ehrlicherweise ja auch nie nachgefragt.
‚Wen schert das?‘, versuchte Tristan sich selbst davon zu überzeugen, dass das lediglich gesunde Nichteinmischung wäre und keine Ignoranz einem Mann gegenüber, den er normalerweise ebenfalls einen ‚Freund‘ genannt hätte. Wenn auch nicht im gleichen Maße, wie das auf jemand anderen zutraf.
Mit einem Seufzen schloss Tristan die Augen und ließ den Kopf hängen. Fünf Jahre. Genau so lange, wie die Vereinbarung mit David inzwischen lief. Tristans bester Freund, sein Mitbewohner und der Mann, auf den der Begriff ‚Beziehung‘ wohl in Tristans Leben am ehesten zugetroffen hätte. Wenn sie denn eine führen würden. Was der gelegentliche Sex garantiert nicht war.
„Besser so“, sagte er sich selbst – diesmal laut. Vielleicht halft das, um es auch zu glauben.
Diese Art des Zusammenlebens war schließlich einfacher. Unkompliziert, gemütlich. Angenehm genug, um sich einzureden, dass es doch im Grunde nicht so viel anders war, als es eine Beziehung sein würde. Nur, dass in dem, was Tristan mit David verband, die Verbindlichkeit fehlte. Die Vorwürfe, die Überlegung, ob es okay wäre, wenn Tristan jetzt doch Interesse daran gehabt hätte, mit Sam in der Dusche rumzumachen.
Er musste keiner Angst davor haben, dass sie irgendwann getrennte Wege gehen würden, denn im Grunde war genau das die einzige Sicherheit, die sie einander in dieser Absprache gegebenen hatten. Eines Tages würde es garantiert enden. Und bis dahin? War es nur Sex. Kein Küssen, keine Gefühle. Und außerhalb des Bettes waren sie Freunde. Kumpel. Zwei Typen, die zusammen wohnten und dennoch im Grunde getrennte Leben führten.
Tristan öffnete den Spind und holte ein Handtuch und das Duschgel heraus. Um nicht doch noch eine weitere Begegnung mit Sam zu riskieren, wandte er sich der Dusche zu und wusch sich den Schweiß der vergangenen Stunde herunter. Eigentlich war Tristan hergefahren, um den Kopf vor dem heutigen Abend freizubekommen. Aber das war dank Sam recht glorreich gescheitert. Ehrlicherweise kreisten Tristans Gedanken im Augenblick sogar noch mehr in genau der Gegend, in der sie nichts zu suchen hatten.
„Notgeiler Idiot“, murmelte er.
Nachdem er endlich das Gefühl hatte, nicht mehr total verschwitzt zu sein, trat Tristan aus der Dusche und trocknete sich ab. Mit dem Handtuch um die Hüften lief er zurück zum Spind. Ein anerkennend klingender Pfiff ertönte, kaum dass Tristan die Bank davor erreicht hatte.
„Wie oft muss ich heute noch ‚Nein‘ sagen, Sam?“
„Ich frag doch gar nicht. Aber bei dem Anblick kannst du mir den angehenden Ständer nicht verübeln, Kumpel.“
Seufzend ließ Tristan den Kopf hängen. „Ich bin nicht dein Kumpel“, gab er gelassen zurück. Auf den Rest des Kommentars ging er nicht ein.
Tristan war durchaus bewusst, wie er für manche Männer und nicht wenige Frauen wirkte. Aber das hatte ihn noch nie interessiert. Sex war ein Mittel zum Zweck. Befriedigung, die keiner wirklichen Gefühle bedurfte – und auch keiner Regelmäßigkeit. Wenn Tristan sich abreagieren musste und niemand dafür zur Verfügung stand, konnte er das ebenso gut alleine regeln.
‚Das schließt David mit ein.‘
Der Gedanke, dass eben der damit nur ein frei verfügbares Mittel zum Zweck war, gefiel Tristan zwar nicht, aber wenn man es genau nahm, traf das auf sie beide zu. Das hatten sie von Anfang an gewusst. David hatte jemanden gebraucht, um sicher zu sein, ob er auf Männer stand – und um sich von dem Gefühlschaos rund um Brendan abzulenken. Und Tristan?
„Falls du es dir doch noch anders überlegst ...“, setzte Sam erneut an, ließ es diesmal aber auf sich beruhen und ging zurück in den Trainingsraum.
Für einen Moment sah Tristan ihm nach. Nicht, dass er es sich tatsächlich noch einmal würde überlegen wollen. Sam machte trotz der Beharrlichkeit normalerweise einen anständigen Eindruck. Er war sicherlich kein Arschloch. Aber für mehr als einen Quickie in der Umkleide und zwei Nächte in einer deutlich bequemeren Umgebung war Sam schlicht nicht interessant genug gewesen.
Außerdem hatte Tristan für heute ohnehin andere Pläne. Um genau zu denen zurückzukehren, wandte er sich dem Spind zu und zog sich endlich an. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Für heute hatte sich Brendan angekündigt. Das hieß erfahrungsgemäß, dass noch so einiges vorzubereiten war. Weniger weil Tristan das für notwendig hielt oder Brendan sonderlich hohe Ansprüche hatte. Der Grund war schlicht, dass David auch nach all den Jahren offenbar nicht von seiner Jugendschwärmerei ablassen konnte – und das entsprechende Programm auffuhr. Ein ums andere Mal.
„Als ob Brendan das merken würde ...“
Ein trauriges Lächeln schob sich auf Tristans Lippen. Vor seinem geistigen Auge bildete sich das Bild Davids, wie der bereits in der Küche rotierte, um irgendwelche Snacks vorzubereiten, die am Ende garantiert nur für einige Minuten Beachtung finden würden. Bis sie gegessen und damit auch vergessen waren.
Wenigstens brauchte man in letzter Zeit bei einem Anruf von Brendan nicht mehr ständig mit einer Absage rechnen. Tatsächlich waren die Besuche in den vergangenen paar Monaten kontinuierlich häufiger geworden.
Mitunter fühlte es sich an, wie zu Schulzeiten. Eine kleine Auszeit vom Unialltag – für sie alle drei. Vielleicht war es für David ja endlich die Möglichkeit, zu der Freundschaft zurückzukehren, die er früher mit Brendan geführt hatte.
„Zu wünschen wäre es ihm“, murmelte Tristan, während er seine Sportsachen einpackte und den Boxklub verließ.
Wie oft hatte er sich in den vergangenen Jahren eigentlich gesagt, dass es ihm egal sein sollte? Tristan fuhr sich mit der Hand durch die noch feuchten Haare. Was für ein lächerlicher Gedanke. Ja, vielleicht dürfte es ihn tatsächlich nicht interessieren, mit wem David ging – oder eben nicht. Aber sie waren Freunde. Nach inzwischen vier Jahren, die sie gemeinsam unter einem Dach wohnten, würde Tristan sogar behaupten, dass sie beste Freunde waren. Also war es doch nur normal, wenn er sich auf dem Heimweg etwas mehr beeilte, um David bei den Vorbereitungen für den heutigen Abend helfen zu können.
Noch während Tristan den Klub verließ, tippte er auf dem Handy eine Nachricht und fragte, ob er irgendetwas mitbringen sollte für ihren Männerabend. Davids Antwort kam innerhalb weniger Sekunden. Offenbar brauchten sie nichts. Dennoch beschleunigte Tristan seine Schritte. Hilfe in der Küche war bei seinem Mitbewohner schließlich immer notwendig.
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„Glaubst du nicht, dass das etwas übertrieben ist?“, meinte Tristan grinsend, als David die vierte Schüssel mit Dips aus dem Kühlschrank holte und die Frischhaltefolie darauf abzog.
„Was? Wieso?“, fragte der irritiert zurück. „Es sind doch nur ein paar Kleinigkeiten.“
Schmunzelnd drehte Tristan den Kopf zur Seite und schielte in Richtung Herd. „Taccos, Dips. Ist das da im Ofen das, wonach es riecht?“
David lachte und schlug Tristan gespielt gegen die Brust. „Ach komm schon, ich weiß genau, wie sehr du meine Pizzaschnecken liebst.“
Da konnte Tristan nicht widersprechen – im Gegenteil. David war nun wirklich kein sonderlich guter Koch, aber wenn es um Snacks für eine Party ging, war das offenbar etwas anderes. Leider fuhr der Mann den Aufwand meistens nur für Brendan auf.
Sofort wandte Tristan sich ab und holte sich zur Ablenkung ein Bier aus dem Kühlschrank. Schließlich wurden die Pizzaschnecken, die er tatsächlich ausgesprochen gern mochte, ebenso nur zu Gelegenheiten wie heute gemacht. Wenn Brendan kam.
Tristan öffnete die Bierflasche und nahm einen Schluck, während er seinem Mitbewohner dabei zusah, wie der schon wieder hektisch durch die Küche wuselte. Das Angebot, ihm zu helfen, hatte David direkt abgelehnt. Warum Tristan überhaupt gedacht hatte, es würde heute anders sein, wusste er selbst nicht.
Sobald es um Brendan ging, war David ein hoffnungsloser Fall. Was an dem Kerl so toll sein sollte, dass David diese dumme Schwärmerei einfach nicht aufgeben konnte, begriff Tristan bis heute nicht. War ja nicht so, dass der Mann sich für Brendan aufgespart hätte. Was sein Sexleben betraf, war David nicht gerade zurückhalten. Und er hatte auch nicht den Eindruck erweckt, als wäre er sonderlich erpicht darauf überhaupt mit irgendjemandem eine Beziehung zu führen.
Nachdenklich beobachtete Tristan seinen Mitbewohner weiter dabei, wie er alles für den Abend vorbereitete. Vielleicht würde es ja helfen, wenn David sich endlich jemanden suchte, mit dem er nicht nur diese eine Nacht ins Bett stieg und ihn danach nie wieder sah. Der eine oder andere Typ, dem Tristan am nächsten Morgen auf dem Flur begegnet war, hätte da garantiert Interesse dran gehabt.
Aber David schien entschlossen zu sein, keinem von denen auch nur die geringste Chance zu geben. Und wenn er es getan hätte? Würde David ausziehen? Weggehen? Tristan senkte den Blick und sah zu Boden. Irgendwann würde der Tag kommen. Sollte das damit einhergehen, dass David glücklich werden konnte, müsste dies doch Grund genug dafür sein, um sich darüber zu freuen.
„Hast du dich eigentlich endlich für deine Kurse nächstes Semester entschieden?“, fragte Tristan, um sich von dem Gedanken abzulenken.
David sah einen Moment auf, zuckte allerdings nur grinsend mit den Schultern. „Nicht so richtig. Ich hab mal geschaut, aber ‚Künstliche Intelligenz‘ ist parallel zu ‚Stochastik‘ und da muss ich langsam meinen zweiten Schein machen, um nicht rauszufliegen.“
Das eigene Lächeln konnte Tristan nur schwer unterdrücken. Sie hatten jetzt beide seit vier Jahren studiert. Während Tristan im nächsten Jahr mit ziemlicher Sicherheit seinen Abschluss machen würde, dümpelte David genauso von einem Semester zum folgenden, wie er das mit seinen Bettbekanntschaften machte. So lange er nicht Gefahr lief, die Höchststudiendauer zu überziehen, tat David er nur das Nötigste.
„Hast du vor, in KI jetzt doch deine Masterarbeit zu schreiben?“, forschte Tristan weiter nach, da seine Gedanken schon wieder in eine Richtung abglitten, wo sie nichts zu suchen hatten. Gleichzeitig ermahnte er sich innerlich, dass er aufhören musste, ständig über Davids Liebesleben nachzudenken.
Ein erneutes Schulterzucken. Wirklich gewillt, auf die Frage einzugehen, war David augenscheinlich nicht, wuselte stattdessen weiter durch die Küche, um die letzten Vorbereitungen abzuschließen. Entsprechend war es auch nicht überraschend, als David irgendwann anfing, die einsetzende Stille mit einer eigenen Frage zu unterbrechen.
„Hat der alte Bleziak zugestimmt, die Betreuung bei dir zu übernehmen?“
„Ja“, antwortete Tristan hastig – froh, dass das Schweigen damit erneut unterbrochen wurde. „Er sagt zwar immer, dass er keine Masterarbeit mehr haben will. Als ich mit ihm mein Thema besprochen habe, wollte er es aber doch lesen.“
Davids Lächeln ließ es in Tristans Bauch unschön flattern. „Bist halt ein Nerd, dem keiner widerstehen kann.“
Das Flattern wurde stärker, schmerzhafter, wanderte in eine Richtung, in die es nicht gehen durfte. Für einen Moment konnte Tristan seinen besten Freund lediglich anstarren und wie eingefroren weiterlächeln. Glücklicherweise verflog das Gefühl recht schnell, verkroch sich zurück in die finstere Ecke, aus der es gekommen war. Dieser schwarze Ball in Tristans Innerem, in dem Dinge hausten, die sein Verstand zu verbannen suchte.
Tristan nahm einen weiteren Schluck aus der Bierflasche und stieß sich vom Tisch ab, um die Küche zu verlassen. „Ich such schon einmal ein paar Filme als Auswahl raus“, murmelte er dabei.
„Aber nicht wieder Star Wars, Tris! Ich kann das langsam echt nicht mehr sehen.“
Lachend schüttelte dieser den Kopf. „Kein Star Wars. Versprochen.“
„Du bist der Beste!“, rief David aus der Küche, als Tristan bereits den Flur betreten hatte.
Für einen Augenblick stockte sowohl sein Herz, als auch seine Schritte. Er schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er weiter in sein Zimmer lief. David hatte zwar in seinem den großen Fernseher, die DVD Sammlung befand sich allerdings bei Tristan.
Mit starrem Blick stand er also kurz drauf vor dem ehemaligen Bücherregal, in dem sich inzwischen eine DVD an die andere reihte. Wie viele Überstunden hatte Tristan geschoben, um die kaufen zu können? Dabei war er nie ein sonderlich großer Blockbusterfan gewesen.
Langsam ließ er einen Finger über die Rücken der Hüllen gleiten. Die Hälfte der Filme hätte er für sich selbst nie gekauft. Einmal aus der Videothek oder von irgend jemandem ausleihen. Nur, damit man den Streifen überhaupt gesehen hatte und mitreden konnte.
Tristan ließ den Finger hinabgleiten, bis der Arm schließlich neben seinem Körper hing. David liebte Filme, die damit verbundenen Filmabende noch viel mehr. Ins Kino ging er hingegen nur selten. Was hier stand, traf garantiert Davids Filmgeschmack. Eine Wahrheit, die ein gewisser Teil in Tristan nur zu gern verleugnete. Gleichzeitig war ihm jedoch sehr bewusst, dass es lediglich einen einzigen Grund dafür gab, dass er diesen ganzen Kram besaß – inklusive des verflixten Regals, in dem die DVDs standen.
„Ein Freundschaftsdienst“, flüsterte Tristan sich selbst zu.
Es war seine eigene Entscheidung gewesen – von Anfang an. Er hatte David angeboten, mit dem gemeinsam herauszufinden, ob er auf Männer stand. Es war anschließend Tristans Vorschlag gewesen, dass sie ihre Freundschaft um gelegentlichen Sex erweitern konnten. Er hatte vorgeschlagen, dass sie zusammenzogen. Es war alles von ihm ausgegangen. David hatte doch stets nur zustimmen müssen – und es jedes Mal getan.
„Der Weg des geringsten Widerstandes“, murmelte Tristan – wohlwissend, dass er am Ende in jeder Hinsicht wohl nur ein schlechter Ersatz war.