Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Elf Jahre und ein Tag

von Ken
Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
01.01.2023
09.04.2023
22
82.334
26
Alle Kapitel
59 Reviews
Dieses Kapitel
3 Reviews
 
26.02.2023 4.190
 
Kapitel 10 – Neuer Alltag II (10.09.2012)


-`ღ´-


„Oh ... ah ... hey.“

Müde drehte David sich herum, ignorierte die fremde Stimme. Ging ihn nichts an. Er konnte die Wärme der Spätsommersonne spüren, wie sie versuchte, ihn aus dem Bett zu kitzeln. Die letzten Tage war das Wetter so beschissen gewesen wie Davids Laune. Aber das schien sich heute Morgen endlich ändern zu wollen.

Ein Grund mehr, die letzten Wochen der Semesterferien zu genießen. Nächsten Monat würde es schon wieder weitergehen. Jahr drei. Wie viele da noch folgen würden, stand in den Sternen.

An fehlendem Talent lag es sicherlich nicht. Immerhin waren die Noten bisher gut genug, um nicht von der Uni zu fliegen. Den Bachelor würde er nächstes Jahr auch ohne größere Probleme bekommen und mit etwas Glück die Zulassung für den Master. In letzter Zeit fehlte David trotzdem immer öfter die Motivation. Zu so ziemlich allem, wenn man es genau nahm. Im Augenblick schloss das Aufwachen und Aufstehen ein.

„Ich ... bin ...“

„Interessiert mich nicht“, brummte ein sehr vertrauter Bariton. „In der Küche läuft der Kaffee durch, falls du welchen willst.“

Ein kräftiger Herzschlag gegen Davids Rippen schaffte das, was die beiden Männer für sich genommen bisher nicht erreicht hatten – er weckte ihn auf. Mit geweiteten Augen starrte David geradeaus auf die halb offen stehende Tür zu seinem Zimmer.

Irgendwo da draußen im Flur stand Tristan zusammen mit dem Typ, den David letzte Nacht abgeschleppt hatte. Er runzelte die Stirn und versuchte erfolglos, sich an den Namen zu erinnern.

„Ah ...“, setzte die fremde Stimme erneut an, brach allerdings sofort wieder ab.

Das Klappern einer Tür war zu hören – ganz sicher die Tür zum Badezimmer. Vermutlich war Tristan gerade darin verschwunden, um jedem Gespräch aus dem Weg zu gehen.

Prompt fragte David sich, ob er aufstehen sollte. Immerhin könnte man den Mann, den er abgeschleppt hatte, als seinen Gast bezeichnen. Wobei sehr zu hoffen war, dass der Typ das nicht als Einladung verstand, hier jetzt häufiger auftauchen zu können. Denn das war garantiert nicht der Fall.

Müde fuhr David sich über die Stirn. Ein schmerzhafter Stich rammte sich ihm von rechts in die Schläfe und er schloss die Augen sofort wieder. Das mit dem Trinken sollte er vielleicht lieber lassen. Oder zumindest reduzieren. Wobei David diesmal wenigstens keinen Filmriss hatte. Und er war in seinem eigenen Bett aufgewacht. Zwei Dinge, die er in letzter Zeit nicht immer schaffte – eher selten. Die Gründe waren stets die gleichen. Genau wie am Vortag war David dann jedes Mal frustriert und wollte sich abreagieren.

„Nur wegen der dämlichen Lerngruppe“, murmelte er verhalten – wohlwissend, dass es heute genauso wenig stimmte wie gestern. Aber womöglich würde David es ja irgendwann glauben, wenn er es sich nur lange genug einredete.

Dann müsste er auch nicht mehr darüber nachdenken, warum er in der Woche zuvor so fertig gewesen war, dass er sich von Vigo ein paar Pillen besorgt hatte. Dass die eigentlich zum ‚Aufwachen‘ gedacht waren, würde David mit dem Typ irgendwann noch einmal besprechen müssen. Wenn er ‚wach‘ gewesen wäre, hätte David schließlich wissen sollen, wie es hatte passieren können, dass er am folgenden Morgen ausgerechnet in Tristans Bett aufgewacht war.

Wahrscheinlich sollte David froh sein, dass er an dem Abend überhaupt irgendwie nach Hause gefunden hatte. Andererseits hatte Tristan sich ausgeschwiegen, wie genau sie in dem verdammten Bett gelandet waren. Obwohl es nicht schwer zu erraten war.

War ja nicht das erste Mal in all den Jahren. David hatte im Grunde nicht wirklich gefragt und Tristan ihm wie immer keine Vorwürfe gemacht, als sie irgendwann später in der Küche saßen und David sein Mittagessen serviert bekam. Stattdessen hatte Tristan ihn zunächst nur schweigend angesehen.

In dem Moment hatte David sich nichts mehr gewünscht, als dass der Kerl ihn zusammenstauchte. Weil es unverantwortlich war, sich zuzuballern, wenn er niemanden dabei hatte, der ihn notfalls aus der Klemme holen konnte. Weil David ständig mit irgendwelchen Kerlen schlief, die er nicht kannte – nicht einmal kennenlernen wollte. Und weil er dabei war, sein Studium und damit auch sein Leben endgültig in den Sand zu setzen.

Alles nur, weil David nicht loslassen konnte.

Ein blöder Anruf, jede noch so belanglose Nachricht von Brendan, oder irgendwelche Versprechen, dass er demnächst zu Besuch kommen würde – das alles trat weiterhin das verfluchte Kribbeln und Ziehen in Davids Bauch los. Also ja, im Grunde ging es wohl nur darum, dass er ein hoffnungsloser Trottel war, der es nie kapieren würde. Zumindest diese beschissene Hoffnung nicht loslassen konnte.

Brendan war Davids Freund. Und das würde er wohl immer sein. Schon allein, weil David es nicht fertig brachte, lebwohl zu sagen und in eine neue Zukunft zu blicken. Dabei hatte die Vertrautheit, die sie während ihrer Schulzeit geteilt hatten, doch in den vergangene zwei Jahren bereits stetig abgenommen.

Trotzdem hatte Tristan bisher recht behalten: Brendan meldete sich regelmäßig. Alle zwei bis drei Wochen kam er nach München. Natürlich nicht, um David zu besuchen. Sie schafften es ja nicht einmal mehr, sich jedes Mal wenigstens für ein paar Stunden zu treffen. Immerhin kam er ab und zu vorbei.

Wenn er in München war, hatte Dalia stets Priorität. Das Wissen zerrte jedes Mal aufs Neue an David Eingeweiden, sobald der Anruf kam, dass Brendan es diesmal nicht schaffen würde. Aber er schluckte es herunter. Versuchte, zufrieden zu sein, mit dem, was er bekam, denn mehr würde es nie werden. Loslassen konnte er trotzdem nicht.

Mit Tristan teilte sich David die Wohnung, seine Tage, mitunter ebenso die Nächte – wenn es sich ergab. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Entgegen allen Erwartungen hatte sich die Freundschaft zwischen ihnen Dreien also gehalten.

„Fragt sich, was besser gewesen wäre“, murmelte David.

Er presste Daumen und Zeigefinger gegen die Augen, in der Hoffnung, dass der Schmerz dahinter nachlassen würde. Mit den Kopfschmerzen kam stets auch zu viel Grübelei, zu viele Zweifel und vor allem machte es Davids ohnehin schon beschissene Stimmung noch ein stückweit schlechter.

Die Badezimmertür war ein weiteres Mal zu hören. David hob den Kopf, doch die hastige Bewegung führte zu einem zusätzlichen Stich in der Schläfe. Schritte – aber sie kamen nicht näher. Stattdessen entfernten sie sich. David wartete einen Augenblick, ob er eine weitere Zimmertür hören würde. Da dem nicht so war, verschwand Tristan wohl wieder in der Küche.

Langsam schwang David die Füße über den Bettrand und drückte sich nach oben. Aus dem Schrank kramte er eine frische Unterhose und eine Short heraus. Auf das T-Shirt verzichtete er. Die Sonne brannte jetzt schon durch das Fenster herein, da würde sich ihre Altbauwohnung im Laufe des Tages schnell wie eine Sauna anfühlen. Mit einem Seufzen trat er zur Zimmertür, um sich ebenfalls auf den Weg ins Bad zu machen.

„Wie lange willst du noch bleiben?“, hörte David Tristan in der Küche.

Seine Stimme war neutral, nicht wirklich unhöflich. Trotzdem klang sie merkwürdig schneidend. Das war nicht gerade typisch. Unsicher blieb David vor der Tür stehen und lauschte.

„Ich ... warte bis Dave aufwacht. Wollte noch nach seiner ... Nummer ... fragen.“

Ein kurzes Schnauben war zu hören, das nur von Tristan kommen konnte. „Viel Glück.“

Davids Puls schoss schlagartig in die Höhe. Ein Teil von ihm wollte in den Flur hinausstürmen und Tristan anfauchen, was er mit dem Kommentar meinte. Aber kaum hatte er die Hand auf die Türklinke gelegt, fuhr sein Mitbewohner bereits fort.

„Kannst gern warten. Vielleicht bist du ja derjenige welcher, bei dem alles anders ist.“

Das Hämmern in Davids Brust wollte einfach nicht aufhören. Eben war er wütend gewesen, aber Tristans Stimme klang weder schadenfroh noch kühl, sondern eher bedauernd. Vielleicht sogar mitleidig. Kam er so bei Tristan an? Wie jemand, den man bemitleiden musste? Oder war es dieser Typ, den Tristan bedauerte?

„Seid ihr ...?“, fragte Davids Gast weiter. Verdammt, er sollte sich wirklich an den Namen von dem Typ erinnern, wenn er ihm unter die Augen treten wollte.

„Offensichtlich Mitbewohner.“ Diesmal klang Tristans Stimme deutlich kühler.

Prompt grummelte es schon wieder in Davids Bauch. Er sollte wirklich da rausgehen und die Situation auflösen. Immerhin hatte er den Typ angeschleppt, mit ihm geschlafen und jetzt hockte der Stotterkönig in ihrer Küche und wartete darauf, dass David auftauchte. Je eher er sich dem Kerl stellte, desto schneller würde der verschwinden.

Aber anstatt genau das einfach zu tun, stand David weiterhin an der halb geöffneten Zimmertür und lauschte. Nur war vorerst außer dem Klappern von Geschirr nichts mehr zu hören.

Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde der Stein in Davids Magen größer, schwerer – unangenehmer. Trotzdem schaffte er es nicht, diesen entscheidenden Schritt zu machen. Weniger wegen des Mannes, dessen Namen ihm partout nicht mehr einfiel, sondern vielmehr wegen des anderen. Tristan. Davids Freund. Und obwohl er es nicht zugeben wollte, war die Freundschaft zwischen ihnen beiden inzwischen mindestens genauso wichtig für David geworden, wie die zu Brendan. Nur aus anderen Gründen.

Das Quietschen eines Stuhles auf Linoleum war zu hören. Nicht sicher, wer da gerade aufgestanden war, trat David einen Schritt von der Tür zurück. Es war feige, sich hier zu verstecken. Aber er konnte sich weiterhin nicht überwinden, Tristan vor diesem fremden Kerl gegenüberzutreten.

Der Typ wartete darauf, dass David auftauchte, um nach seiner Nummer zu fragen. Die würde er aber ganz sicher nicht bekommen. Das hier war ein einmaliges Erlebnis. Im wörtlichen, nicht übertragenen Sinne, denn sonderlich weltbewegend war der Sex nun wirklich nicht gewesen. Unterer Durchschnitt traf es wohl eher. Aber hey, sie waren beide gekommen. Es hatte schon schlimmere Nächte gegeben.

„Soll ich ihn wegschicken?“

Erschrocken zuckte David zusammen und blickte zur Tür. Tristans muskulöse Gestalt konnte den Spalt, den die Tür offen gestanden hatte, vollkommen abdecken. Hinter dem dünnen dunkelblauen Drahtgestell von Brille starrten fragende Augen David an. Warteten auf eine Antwort, die nach zwei Jahren, die sie hier zusammen lebten, eigentlich selbstverständlich sein sollte.

Trotzdem zuckte David mit den Schultern. Er brachte kein Wort heraus, kaute lediglich auf seiner Unterlippe herum. Aber wie immer war das ausreichend für Tristan, um zu verstehen, was David brauchte.

Die Tür wurde zugezogen. Kurz darauf waren aus Richtung der Küche erneut Stimmen zu hören. Zu leise, um die Worte zu verstehen, aber Tristans tiefer Bariton war von der eher hohen und nasalen Stimme des anderen Mannes deutlich zu unterscheiden. Als die beiden mit einem Mal lauter wurden, trat David einen weiteren Schritt von der Tür zurück.

Er hatte keine Angst. Vor Tristan sowieso nicht. Aber auch nicht davor dass dieser Typ, den er letzte Nacht halbbesoffen abgeschleppt hatte, ihm gefährlich werden könnte. Dafür würde Tristan sorgen.

„Macht er doch immer ...“

Der Gedanke war verletzend, weil er wieder einmal zeigte, wie notwendig die Hilfe auch nach zwei Jahren noch war. Natürlich hätte David dort rausgehen können, um dem Kerl zu sagen, dass er nur eine weitere mehr oder weniger gesichts- und definitiv namenlose Kerbe im Bettpfosten war. Wahrscheinlich war es reichlich erbärmlich, es nicht zu tun. Aber so wie das da draußen gerade klang, würde der Typ das womöglich nicht so einfach akzeptieren – und auf einen ausgewachsenen Konflikt hatte er keine Lust. Schon gar nicht, wenn Tristan daneben stehen würde.

Die Wohnungstür schlug krachend zu und Stille kehrte ein. Offenbar war Davids nächtlicher Gast nun doch verschwunden. Er selbst stand weiterhin mit den frischen Klamotten gegen den nackten Bauch gepresst in seinem Zimmer und wartete.

„Er wird sich nicht mehr melden“, rief Tristan aus dem Flur. „Du kannst duschen.“

Ein Zittern wanderte durch Davids Körper. Er war ein blödes Arschloch, das quasi anonymen Sex mit so ziemlich jedem hatte, der danach fragte und sich nicht einmal die Mühe machte, den Namen im Kopf zu behalten. Keine Küsse, keine Gefühle, nur Sex. So wie er es mit Tristan stets gehalten hatte. Noch immer hielt. Weil der Mann der einzige war, der verstand, dass da in David etwas für einen anderen brannte, das er nicht loslassen konnte – oder wollte.

Tristan war immer für ihn da.

Deshalb wusste David auch nur zu gut, dass er nicht nur wegen der Lerngruppe so frustriert gewesen war. Sondern ebenso weil Tristan schon die ganzen Ferien jeden Abend in seinem beschissenen Nebenjob festhing. Weil er nie zu Hause war, sich Davids jämmerliches Geheule nicht anhörte, nicht auf der Couch neben ihm saß mit einem Hellen in der einen Hand und der anderen unter dem Hosenbund. Weil da kein Arm über Davids Schulter lag und keine Hand ihm durch die Haare fuhr.

„Wirklich alles okay bei dir?“, fragte Tristan zögerlich, aber laut genug, dass er auch durch die geschlossene Tür zu hören war.

„Ja“, presste David heraus. Er schloss für einen Moment die Augen, trat auf die Tür zu und öffnete sie. „Sorry, wegen des Typs“, meinte er grinsend.

Diese Mischung aus Scham, Wut und Frust drückte zunehmend schmerzhafter von innen gegen Davids Rippen. Wie oft hatte er nach so einer Nacht schon quasi nackt vor Tristan gestanden?

„Wo auch immer du ihn aufgegabelt hast, du solltest den Klub für ein paar Nächte meiden“, erwiderte Tristan seinerseits grinsend.

„So schlimm?“

Lachend schüttelte Tristan den Kopf. „Ich fürchte, er ist verliebt.“

David seufzte und verdrehte die Augen. „Hey, er war nur ein One-Night-Stand. Das war vorher völlig klar.“

„Für das übergroße Hündchen offenbar nicht.“

Was sollte er darauf sagen? David konnte sich ja noch immer nicht einmal an den Namen von dem Typen erinnern. Er war sich relativ sicher, dass sie eine ganze Weile geredet hatte. Garantiert hatte David dem Kerl gesagt, dass er keine Beziehung fürs Leben, sondern nur Sex wollte. In dem Punkt war er immer ehrlich. Und die meisten, mit denen er solche Nächte verbrachte, suchten doch ohnehin genau das gleiche. Wer wollte Anfang zwanzig denn bitte unbedingt die Bindung fürs Leben?

Unsicher sah David zu Tristan, während er eigentlich lieber ins Bad flüchten und sich endlich die letzte Erinnerung an den Sex der vergangenen Nacht herunterwaschen wollte. Aber wie immer hatte David keine Ahnung, wie er Tristans Ausdruck deuten sollte.

Tatsächlich war er sich nicht einmal sicher, ob da etwas war – ein Vorwurf jedenfalls nicht. Den würde es ja aber nie geben. Sie waren Freunde. Beste Freunde. Nur ab und an brauchte David eben mehr als einen Freund. Mehr Nähe, mehr Körperlichkeit, mehr Sex. Alles Dinge, die Tristan bereitwillig gab, wenn man ihn fragte. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem dummen Spruch, der sich dazwischen herausquetschte.

All das ‚mehr‘, das David brauchte, fand er hier. Normalerweise. Wenn der Blödmann endlich mal wieder normale Schichten in seinem verfluchten Nebenjob haben würde. Denn je öfter er das notwendige ‚Mehr‘ woanders suchte, desto häufiger verlangte einer von den Typen ein ganz anderes ‚mehr‘ von David. Dieses mehr an Verbindlichkeit, welches er seinerseits vermeiden wollte. Genau wie Tristan. Zumindest behauptete der das.

„Es tut mir leid“, rutschte es David trotzdem heraus, bevor er sich selbst stoppen konnte.

Verwundert runzelte Tristan die Stirn. „Was meinst du?“

David wedelte mit der Hand herum, ohne wirklich auf irgendetwas Konkretes zu zeigen. „Dieser ... Typ. Die letzte Nacht ...“, setzte er an.

„Es ist deine Sache, mit wem du schläfst, David“, erwiderte Tristan hastig und wandte sich ab. „Mir bist du dafür keine Rechenschaft schuldig. Wir sind Freunde, nicht Lover. Daran hat sich nichts geändert.“

Sofort ließ David seine Hand nach vorn schnellen und hielt Tristan auf. „Ich ... ich weiß. Trotzdem.“ Er stockte und seufzte.

Eigentlich war er doch letzte Nacht ausgegangen, um den Scheiß zu vergessen. Wenigstens für eine Weile. Und ohne Tristan schon wieder damit zu belasten. Aber es hatte wie so oft nur recht mäßig funktioniert.

„Brendan hat sich gestern gemeldet“, murmelte David, nicht sicher, warum er es jetzt doch sagte.

Es sollte keine Entschuldigung sein, nicht einmal eine Ausrede, trotzdem spürte David, wie sich die Muskeln unter seiner Hand anspannten. Tristan antwortete jedoch nicht.

„Er wird dieses Wochenende doch nicht herkommen. Dalia und er wollen einen Kurzurlaub vor dem neuen Semester machen.“

David wusste selbst nicht, was er erwartete. Aber nachdem ihn der eine Freund versetzt hatte, wollte er den anderen nicht auch noch verlieren. Dabei spielte es nicht einmal eine Rolle, dass David Brendans Freundschaft nicht wirklich verloren hatte.

Sie telefonierten, schrieben sich Nachrichten, trafen sich, wenigstens ab und an. In den vergangenen zwei Jahren war David sogar ein paar Mal nach Mannheim gefahren, um seinen alten Freund zu besuchen.

Aber etwas hatte sich trotzdem verändert. Und das meiste davon dürfte damit zu tun haben, dass außer Brendans Beziehungsstatus und die Studienfortschritte kaum noch ein Gesprächsthema zwischen ihnen zu finden war.

So sehr David versuchte, sich für seinen besten Freund zu freuen. Es kam Folter gleich, wenn Brendan ihm mal wieder etwas von der leider viel zu gut verlaufenden Fernbeziehung mit Dalia erzählte. Oder vom Studium und den ganzen neuen ‚Kumpels‘, die Brendan in der Fremde gefunden hatte.

Momente, in denen David sich oftmals nicht sicher war, ob es nicht einfacher gewesen wäre, ihre Freundschaft wäre an der Entfernung zerbrochen. Oder daran, dass er Brendan die Wahrheit sagen würde. Dieses Eingeständnis, das David bis heute nicht über die Lippen gebracht hatte. Weil er Angst hatte, dass es diesen letzten Funken zwischen ihnen endgültig zerstören würde.

Aber womöglich hätte David mit einem Geständnis den ganzen Gefühlsmist, der sich weiterhin in ihm aufstaute, als gescheiterte Jugendliebe abtun können. Sich jemand anderen suchen. Verlieben. Eine Beziehung suchte David nicht und Tristan war offenbar ohne eine eben solche schließlich auch glücklich. War also möglich.

Trotz all dieser rationalen Gründe, die dagegen sprachen, blieb Brendan weiterhin ein Teil von Davids Leben. Und so stand er lediglich schweigend da, während Tristan bereits wieder in Richtung Küche verschwunden war.

Einen Moment lang starrte David seinem Freund nach, bevor er sich schließlich ins Bad aufmachte und endlich die bitternötige Dusche nachholte. Er ließ sich Zeit, mit allem und so dauert es sicherlich eine halbe Stunde, bis David wieder aus dem Bad trat und selbst in Richtung Küche schlurfte.

Fast befürchtete er, niemanden mehr vorzufinden. Aber auch diesmal wurden Davids Befürchtungen nicht erfüllt. Tristan stand am Herd und kochte. Wie eine verfluchte Hausfrau, die für ihren jämmerlichen Vollidioten von Mann das Essen auf den Tisch brachte. Egal wie dämlich der sich aufführte. Oder was für ein Arschloch er war.

„Es tut mir leid, Tris“, murmelte David erneut.

Dieser antwortete nicht, rührte nur weiterhin mit dem Schaber im Wok. Es roch lecker – aber das tat es ja immer. Mochte daran liegen, dass Tristan fast jeden Tag am Herd stand.

Wie oft war David in den letzten zwei Jahren nach Hause gekommen und hatte einen fertig vorbereiteten Teller mit Abendessen vorgefunden? Daneben lag stets ein fein säuberlich beschriebener Zettel mit den Anweisungen, wie lange das Essen in der Mikrowelle brauchen würde.

Tristan hatte sich nie beschwert, hatte – genau wie heute – nie etwas zu den Männern gesagt, die David aus irgendwelchen Klubs abschleppte. Vielleicht war es ihm auch schlicht egal. Ein fast noch unangenehmerer Gedanke.

„Warum tust du das, Tris?“, brachte David schließlich mit krächzender Stimme heraus.

Stirnrunzelnd drehte Tristan sich nun doch um und sah ihn fragend an. „Es ist schon nach zwölf. Ich hab Hunger und du kannst vermutlich auch etwas brauchen.“

Typisch‘, zuckte es David durch den Kopf. Doch das Lächeln konnte er nicht unterdrücken.

Also tat er zur Abwechslung genau das, was von ihm erwartet wurde und setzte sich an den Küchentisch. Mit dem Finger fuhr er über die Kratzer im Holz.

„Hast du eigentlich inzwischen jemanden?“, fragte David irgendwann zögerlich.

Er wagte es nicht, aufzusehen, während er mit stetig heftiger schlagendem Herzen auf eine Antwort wartete. Je länger es dauert, desto unsicherer wurde er, ob er ebendiese Antwort überhaupt hören wollte. Sie hatten nie darüber gesprochen, was passieren würde, wenn einer von ihnen einen festen Partner fand und Tristan betonte schließlich immer, dass er nicht einmal einen suchte. Jedenfalls nicht für das, was andere Leute unter einer Beziehung verstehen würden. Aber das hieß ja am Ende trotzdem nicht viel.

„Was genau meinst du?“, fragte Tristan gelassen zurück, anstatt zu antworten.

„Einen ... Freund.“

„Du bist mein Freund. Brendan auch. Ich würde nicht unbedingt behaupten, dass das für die Leute an der Uni in gleicher Weise gilt, aber mit Rina und Jasper komme ich ziemlich gut klar.“

David stöhnte und schüttelte den Kopf. Bevor er antworten konnte, stellte Tristan ihm jedoch bereits eine Schüssel mit dem Mittagessen vor die Nase.

„Mein Chef auf Arbeit ist ein echt netter Kerl, aber sicherlich kein Freund“, fuhr Tristan ungerührt fort, während er sich auf den Stuhl neben David setzte.

„Du weißt, was ich meinte“, flüsterte dieser verhalten.

Tristan hob die Hand und schlug David gespielt gegen den Oberarm. „Klar weiß ich das. Aber du kennst die Antwort doch sowieso.“

„Wa...rum nicht? Du ... siehst gut aus, bist nett, nicht die Oberniete im Bett ...“

„Ah. Danke“, unterbrach Tristan trocken.

Als David aufblickte, strahlte ihm jedoch ein verschmitztes Grinsen entgegen.

„Nicht die Oberniete im Bett – das Kompliment schlechthin.“

„Du weißt, was ich meine.“

Tristan lachte. „Ja. Immerhin bin ich einer der wenigen Männer, denen du mehr als einmal ins Bett gefolgt bist.“

David kaute mit gerunzelter Stirn auf seiner Unterlippe herum. Dass Tristan genau genommen der einzige Typ war, der jemals mehr als ein schnell vergessener One-Night-Stand gewesen war, sagte er lieber nicht. Das konnte schließlich nur falsch rüberkommen.

„Du kannst kochen ...“, murmelte David stattdessen.

„Oh ja, das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass man mit jemandem eine Beziehung führt, Davi. Kann es dir beibringen, falls du Interesse hast und endlich erwachsen werden willst.“

Schnaubend schüttelte David den Kopf. „Danke, dafür fehlt mir jedes Talent.“

Als er einen Seitenblick zu Tristan warf, hatte der bereits angefangen zu essen. Aus Erfahrung wusste David, dass sie so nicht weiterreden brauchten. Also schwieg er und schob zunächst lustlos das Essen in der Schüssel herum. Erst als er bemerkte, dass Tristans Bewegungen ebenfalls langsamer wurden, zwang David sich, den Arm zu heben und etwas zu essen.

Es schmeckte wie immer hervorragend. Tristan hatte den Dreh mit dem Kochen echt heraus. Es war eine Schande für die Männerwelt, dass der Kerl sich offenbar einer festen Partnerschaft verweigerte.

Bei dem Gedanken senkte David den Kopf ein Stück. Er war ja selbst nicht besser. Nur, dass es bei ihm nicht wirklich ein Verlust war. Man sah ja an der Art und Weise, wie er die Freundschaft mit Tristan förmlich missbrauchte, wie viel Beziehungspotenzial in David steckte.

Tendenz gen null.

Das Essen verlief schweigend. Um keinen weiteren Anlass für Besorgnis zu geben, führte David Gabel um Gabel zum Mund. Auch wenn er sich dazu geradezu zwingen musste. Bei jedem Bissen schien sein Magen mehr zu rebellieren. Je länger er hier saß, desto klarer wurde David, dass das hier nicht sein Platz war.

Tristan sollte hier mit jemandem sitzen, für den er mehr als ein Fuckbuddy oder einfach nur ein Freund war. Egal wie oft der Mann behauptete, dass er keine Beziehung wollte, Tristan stellte für David auch heute wieder den Inbegriff dessen dar, was dieses Wort bedeutete.

Zumindest würde er es sich so vorstellen. Man kam nach Hause, hatte jemanden zum Reden und Abhängen. Wenn einem danach war, war der Sex reichlich befriedigend und kochen konnte Tristan auch noch. Gut, er hatte es nicht so mit dem Rest vom Haushalt, aber der ging David leicht von der Hand. Insofern ergänzten sie sich tatsächlich. Was konnte man sich mehr von einem Mann wünschen?

„Warum willst du keine Beziehung?“, fragte David, als Tristan irgendwann aufstand, um seinen inzwischen leeren Teller in der Spülmaschine zu verstauen.

Der zuckte mit den Schultern, schloss den Geschirrspüler und drehte sich herum. Mit dem Po gegen die Arbeitsplatte gelehnt, verschränkte er die Arme vor der Brust. „Warum hast du keine?“

Mit einem humorlosen Lachen senkte David den Blick auf die zerkratzte Tischplatte. „Wir wissen doch beide, dass ich niemanden da draußen glücklich machen kann.“

Wieder war da dieses Schweigen. Als David schließlich den Kopf hob und Tristan ansah, blickte der recht finster zurück.

„Was ist mit Brendan? Glaubst du, du hättest ihn auch unglücklich gemacht?“

Wie ein plötzlich auftauchender Tsunami überrollte eine Welle aus Scham und Wut David und ließ ihn aufspringen. Wütend fauchte er Tristan an: „Das hat nichts damit zu tun!“

„Ach ja?“, gab der gelassen zurück.

Erschrocken über sich selbst und das wie wild in seiner Brust pochende Herz, trat David einen Schritt nach hinten und murmelte: „Als ob ich noch immer in Brendan verknallt wäre.“

Die Lüge kam ihm so schnell über die Lippen, dass David nicht einmal wusste, wieso er sie aussprach, zumal Tristan die ihm eh niemals abkaufen würde. Der stieß sich derweil von der Arbeitsplatte ab und lief, nachdem er David auf die Schulter geklopft hatte, an ihm vorbei in Richtung Flur.

„Ich brauche keine komplizierte Beziehung, die sich eh irgendwann verkrümeln wird, Davi“, sagte Tristan mit einem unüberhörbaren Lachen in der Stimme. „Unkomplizierter Sex liegt mir eher. Wenn du Bedarf hast, du weißt, wo du mich findest.“

Von jetzt auf gleich war da ein geradezu gigantischer Kloß, der David den Hals abschnürte. Bevor er etwas antworten konnte, war Tristan jedoch bereits in seinem Zimmer verschwunden.

In den letzten Jahren war David so oft durch die gleiche Tür gegangen und hatte in den Armen dieses Mannes Trost gefunden. Irgendwie musste er es endlich auf die Reihe bringen, die Vergangenheit loszulassen. Vielleicht sollte er doch einmal ernsthaft versuchen, irgendeinen von diesen Typen, die er jedes Wochenende abschleppte, zu Daten. Sei es nur, damit Tristan sich auch endlich jemanden suchte.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast