Elf Jahre und ein Tag
von Ken
Kurzbeschreibung
Sechs Umzüge in den letzten sieben Jahren. Tristan hat aufgehört, sich an Menschen binden zu wollen, Pläne zu machen - was zählt ist die Gegenwart. Dann lernt er Brendan kennen, der genau weiß, wo seine Zukunft hingehen soll. Und David, Brendans besten Freund, der in einer Vergangenheit festhängt, die er nicht loslassen kann - und dem Glauben an das Unmögliche. Drei Freunde auf der Suche nach dem Glück, der Liebe und dem Platz im Leben, wo sie hingehören.
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
01.01.2023
18.03.2023
16
60.415
15
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44 Reviews
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Dieses Kapitel
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01.01.2023
4.597
A/N: Ich wünsche allen LeserInnen ein wunderschönes neues Jahr 2023. Auch wenn ich aktuell noch immer mit gesundheitlichen Problemen kämpfe, kann ich doch mit wenigstens einer längeren neuen Story aufwarten. Diese ist auch bereits fertig geschrieben, sodass es regelmäßig Updates geben wird. Ich hoffe, sie gefällt euch und würde mich wie immer über Rückmeldungen freuen.
LG
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Was genau machte eigentlich ‚Alltag‘ aus? Waren es die immer gleichen Abläufe von Aufstehen, duschen, Zähne putzen, Frühstücken? War Langeweile ein Teil dieser Begriffsdefinition oder betraf das lediglich sein Leben? Dafür müsste er erst einmal wissen, was genau dieses ‚Leben‘ überhaupt darstellte.
Im Augenblick vermutlich nicht viel mehr als der Gang zur Schule. Irgendwie einen Abschluss machen und dann sehen, wie es weiterging. Vielleicht war das ja alles, worum es in diesem ‚Alltag‘ ging. Sich an die Vergangenheit erinnern, während man in der Gegenwart lebte und einer Zukunft nachrannte, die man doch nie erreichen würde. Denn sobald man dort ankam, war es ja keine Zukunft mehr.
„Tristan?“, schallte in diesem Moment die Stimme seines Vaters durch die kleine Wohnung und riss ihn damit dankenswerterweise aus seinen Gedanken. „Bist du wach?“
Nein, war er nicht. Andernfalls würde sein irres Hirn nicht vor dem ersten Kaffee bereits anfangen, sich in philosophischem Unsinn zu verfangen. Die Vergangenheit konnte man nicht ändern. Darüber zu sinnieren war entsprechend sinnfrei.
„Wacher als du, Dad“, gab Tristan laut zurück, damit sein Vater merkte, dass er längst in der Küche saß und nicht mehr im Bett rumgammelte. „Dein Kaffee wird übrigens kalt.“
Aus dem Flur war ein unterdrücktes Fluchen zu hören, bevor kurz darauf Tristans Vater in die Küche stürzte. Mitte fünfzig, mit allmählich schütter werdendem Haar und nicht nur der Grund dafür, dass Tristan existierte, sondern auch dafür, dass er diese Existenz ausgerechnet hier ausleben musste.
Um sich nicht schon wieder in irgendwelchem gedanklichen Unsinn zu verfangen, hob Tristan die eigene Kaffeetasse. Zeit, endlich aufzuwachen. Wie er eben festgestellt hatte, brachte es nichts, der Vergangenheit nachzutrauern. Nicht einmal, wenn die dazu geführt hatte, dass Tristan ausgerechnet in dieser schweineteuren, viel zu kleinen Zweizimmerwohnung in München festsaß.
„Du brauchst dich übrigens nicht so abhetzen, ich kann alleine zur Schule fahren“, murmelte Tristan.
„Ach Unsinn“, schoss sein Vater prompt zurück und griff nach der Kaffeetasse. „Natürlich fahre ich dich.“
„Setze dich wenigstens hin“, erwiderte Tristan grummelnd und sah dabei seinen Vater streng an.
Der grinste und ließ sich auf den Stuhl gegenüber seinem Sohn fallen. „Jawohl, Papa“, tönte der tiefe Bass – gefolgt von einem ebenso dröhnenden Lachen. Wenigstens einer, der gute Laune hatte. Tristan konnte sich dem weiterhin nicht anschließen und wandte sich lieber wieder seinem Müsli zu.
„Ich weiß, der erste Tag ist immer der Schlimmste“, fuhr sein Vater nach einem Moment des Schweigens fort.
Sofort schüttelte Tristan den Kopf. Dieses Gespräch hatten sie in den vergangenen Jahren zu oft geführt, als dass er das gerade heute wiederholen wollte. Es stimmte doch sowieso nicht. Sein Vater hatte keine Ahnung davon, wie es war, wenn man immer und immer wieder die Schule wechselte. Der erste Tag war nicht schlimm. Nicht mehr als alle, die darauf folgten. Er war nur nerviger.
„Lass gut sein, Dad.“
Der hörte aber nicht auf, sondern fuhr unbeeindruckt fort: „Ausgerechnet die letzten zwei Schuljahre. Ich hab echt alles versucht, um es zu verhindern, Tristan.“
„Ich weiß.“
„Und dass Frau Peric krank geworden ist ...“
Warum musste sein Vater unbedingt jetzt darüber sprechen? Es änderte verdammt noch einmal nichts!
Tristan schob sich die Brille weiter die Nase hinauf. „Lass es endlich, Dad. Sie ist zu krank. Du wolltest nicht, dass ich alleine in Berlin bleibe. Vergangen. Nicht zu ändern. Thema beendet.“
„Ja, das hatten wir uns wohl alle anders vorgestellt.“
Missmutig verzog Tristan den Mund. Wenn der Typ nicht sein Vater wäre, würde es klingen, als ob er es bedauerte, dass sie hier zusammen festsaßen. Dabei hätte der Kerl nur das tun müssen, was er gefühlt die letzten sieben Jahre getan hatte: Den Mund halten und arbeiten gehen. Während Tristan alleine zu Hause klarkam. Wenigstens für die paar Monate, bis er volljährig werden würde.
„Ich wäre auch ohne dich klargekommen, Dad.“
Vermutlich sogar besser als sein Vater ohne ihn. In diesem Haushalt gab es nur einen Mann, der einigermaßen kochen konnte. Und das war nicht der alte Mann da drüben. Wenn der regelmäßig Geld für die kleine Wohnung in Berlin geschickt hätte, müssten sie sich hier jetzt nicht in dieser Bruchbude zusammenquetschen, als wäre es eine Wohngemeinschaft. Was der Realität vermutlich näher kam, als der Begriff ‚Familie‘.
„So lange du minderjährig bist, bin ich für dich verantwortlich. Ich kann dich nicht einfach sechshundert Kilometer entfernt dir selbst überlassen, Tris. Das musst du verstehen.“
Tat er aber nicht. Tristan biss sich auf die Zunge, um seinen Vater nicht anzufauchen, dass er hier genauso alleingelassen wurde. Wann hatte der Kerl denn das letzte Mal etwas zum Abendessen gekocht? Oder die Wäsche gewaschen?
War ja nicht so, dass Tristan das alles als Last empfand. Er hatte seinem Vater stets gern geholfen. Sie hatten schließlich nur einander. Mit den ganzen Umzügen in den letzten Jahren hatte Tristan ohnehin nie irgendwo einen großen Freundeskreis aufbauen können.
Dass er in Berlin nach einer blöden Prügelei verhaftet worden war, hatte dummerweise nicht geholfen, Tristans Argumente zu stärken. Da war es am Ende völlig egal gewesen, dass er an der ganzen Sache nicht einmal Schuld hatte.
Wie immer verkniff Tristan sich deshalb jeden weiteren Kommentar. Es würde nichts ändern. Sein Vater hatte seinen Standpunkt und von dem würde er sich nicht abbringen lassen. Das hatten die vergangenen Monate an Diskussion mehr als deutlich gezeigt.
„Berlin ist so weit weg, Junge.“
Das Lächeln, welches Tristan aufsetzte, war nicht echt, aber es würde seinen Vater täuschen – und beruhigen. Streit brachte sie nicht weiter. Zwei Jahre, dann war Tristan mit der Schule fertig und würde hier ausziehen. Sollte es seinen Vater schon wieder woanders hin verschlagen, würde Tristan ihn nicht mehr begleiten. Und dass sie bis dahin nicht umziehen würden, hatte sein alter Herr ihm schließlich hoch und heilig versprochen.
„Ich weiß, dass du lieber in Berlin geblieben wärst, mein Junge.“
Diesmal winkte er ab und stand auf, um seine Schüssel wegzuräumen. „Es ist genug, Dad“, murmelte Tristan achselzuckend. „Ist doch jetzt eh egal.“
„Du kannst ... wie hieß dein Spezi in Berlin? Jedenfalls kannst du ihn ja in den Ferien einladen herzukommen.“
Tristan wandte sich ab, damit sein Vater nicht sehen konnte, wie er die Augen verdrehte. Es war gut gemeint, das wusste er. Dummerweise hatte sein alter Herr keine Ahnung, dass der ‚Kumpel‘ mit dem Tristan in Berlin immer abgehangen hatte, in Wirklichkeit dem Begriff eines ‚festen Freundes‘ näher gekommen war als jeder andere Junge vor ihm. Genauso wenig, wie Tristans Vater etwas davon wusste, dass eben dieser ‚Kumpel‘ der Grund für den Ärger mit den Bullen gewesen war. Oder dass die letzten Worte, die sie beide sich an den Kopf gehauen hatten, ein Wiedersehen garantiert ausschlossen.
„Mal sehen“, murmelte Tristan, wohlwissend, dass er weder fragen, noch Navid tatsächlich herkommen würde.
Wenn Tristan die vergangenen Jahre etwas gelehrt hatten, dann war es, dass dieses angebliche ‚Band‘ zu anderen Menschen nie hielt. Und dass es in der Hinsicht egal war, ob sie sich Bekannte, Freunde oder Lover schimpften. Das Label bestimmte lediglich wie lange sie sich noch bemühen würden, bevor es im Sande verlief.
Tristan hatte es sich genau deshalb abgewöhnt, irgendwo echte Freunde finden zu wollen. Ein paar Kumpel, mit denen man an langweiligen Nachmittagen abhängen konnte, einige Bekannte, mit denen man intimere Stunden teilen konnte. Das war genug. Wenn die sich dann nach ein paar Monaten nicht mehr meldeten und auf seine Nachrichten nur halbherzig reagierten, würde es nicht wehtun.
„Es ist okay, Dad. Wird schon werden. Tut’s doch immer.“
Als Tristan sich umdrehte, konnte er gerade noch sehen, wie sein Vater den Kopf senkte. Allerdings erwiderte er nichts – versuchte nicht, mehr diesen Umzug schönzureden. Immerhin über diese eine Sache waren sie sich inzwischen einig: Sie würden diese zwei Jahre noch gemeinsam überstehen. Was danach kam, stand in den Sternen.
„Wir müssen los, Dad“, sagte Tristan, um der schon wieder schlechter werdenden Stimmung zu entkommen.
Sein Vater nickte stumm und trank den inzwischen kalten Kaffee aus. Danach klimperte er noch einmal mit den Autoschlüsseln, atmete tief durch und sah Tristan mit einem Lächeln an. „Auf in den Kampf!“
Glücklicherweise schien die Schule an sich zunächst keinen Kampfplatz darzustellen. Zumindest ging es auf dem Schulhof recht gesittet zu. Da hatte Tristan in anderen Städten bereits schlechtere Erfahrungen gemacht. Insbesondere in seiner letzten Schule hatte Tristan die Pausen lieber im Gebäude verbracht als draußen. Hier schien es anders zuzugehen als in Berlin, aber auf den ersten Eindruck verließ er sich besser nicht.
„Auf in den Kampf“, wiederholte Tristan die Worte seines Vaters vom Frühstückstisch.
Der hatte sich glücklicherweise nicht dazu herabgelassen, seinen Sohn bis zum Direktor begleiten zu wollen. Dass Tristan überhaupt nach dem Vorgespräch dort aufschlagen musste, ging ihm gewaltig gegen den Strich.
Hoffentlich sah ihn niemand aus einem seiner Kurse dorthingehen. Bei Tristans Größe und Körperbau würde er sonst am Ende noch direkt als Berliner Vollspacken abgestempelt werden.
Was die Bayern von den ‚Preußen‘ hielten, konnte Tristan sich denken. Dabei war er ursprünglich nicht einmal in der Nähe von Preußen geboren. Aber augenscheinlich interessierte das hier niemanden.
Mit einem Seufzen schob er sich die Brille auf die Nase hoch. Mit der sah Tristan eher aus wie ein Nerd als wie ein Schläger. Aber das hatte in den letzten vier Schulen die Platzhirsche auch nicht davon abgehalten, ihn zunächst als Konkurrenz zu betrachten. Hoffentlich ging das Ding hier nicht genauso zu Bruch wie in Berlin. Sein Vater würde ihm die nächste Brille garantiert vom Taschengeld abziehen.
„Der erste Eindruck entscheidet“, murmelte Tristan und schlurfte weiter durch den Gang in Richtung Direktorat.
Es war der gleiche Weg, den er einige Tage zuvor mit seinem Vater bei der Schulanmeldung gegangen war. Links und Rechts von Tristan liefen lachende Jugendliche entlang. Nach den Sommerferien schien die generelle Stimmung gut zu sein. Wer konnte es ihnen verübeln?
Dank des Umzugs hatte Tristan selbst zwei Wochen länger Ferien gehabt. Ohne sich in München auszukennen, war der Versuch, wenigstens einmal auszugehen, dennoch grandios gescheitert. Das Internet hatte zwar so einige angebliche Hotspots ausgespuckt, alleine in irgendeinen Klub zu gehen, war Tristan allerdings zuwider. Ein Klubmensch war er ja aber auch schon früher nicht gewesen.
Vor dem Sekretariat angekommen, atmete Tristan noch einmal tief durch und trat ein.
„Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“
„Hallo“, begrüßte er die ältere Dame am Schreibtisch im Vorzimmer. „Tristan Niemek. Ich sollte mich hier melden.“
Die Frau blinzelte kurz irritiert und fing anschließend schweigend an, in einem Stapel Papieren zu wühlen. Mehr oder weniger geduldig wartete Tristan darauf, was als Nächstes passieren würde.
„Bitte sehr, junger Mann“, krächzte sie schließlich mit heiserer Stimme. „Ihr Schülerausweis, der Stundenplan und diese Unterlagen sind für Ihre Eltern.“
„Danke“, murmelte Tristan, bevor er sich wieder abwandte.
Siebzehn Jahre alt und irgendwie fühlte sich die Anrede mit ‚Sie‘ noch immer merkwürdig an. In Tristans letzten Schule hatte sich sein Jahrgang mehrheitlich dafür entschieden gehabt, nicht von den Lehrern ‚gesiezt‘ zu werden.
„Ihre erste Stunde ist Mathematik bei Herrn Daberkow in Raum 314. Wissen Sie, wie sie dorthin kommen?“
Mit einem Kopfschütteln verneinte Tristan. Woher zum Teufel hätte er sich in diesem Kasten denn auskennen sollen? Daraufhin erklärte die Frau ihm in knappen Worten den Aufbau des Gebäudes und die Nummerierung der Klassenzimmer, bevor sie ihn aus ihrem Büro scheuchte. Und so stand Tristan kurz darauf wieder in dem inzwischen von hektisch herumlaufenden Schülern gefüllten Flur und sah sich um.
Wie war das mit Trakt A gewesen? Oder war es B? Die gingen bis D, richtig? Die drei in der blöden Raumnummer stand für C, da war er sich ziemlich sicher. Und der war? Tristan sah nach links und rechts.
„Scheiße“, murmelte er und sah auf die Unterlagen in seinen Händen. Der erste Tag und er würde zu spät kommen.
Seufzend trat Tristan einen Schritt vor. Ganz sicher würde er sich von der alten Schachtel da drinnen keinen weiteren Vortrag über den Aufbau der Schule anhören. Wenn er erst einmal losgegangen war, würde er schon irgendwie klarkommen. Notfalls konnte er ja schließlich fragen.
Tristan sah sich, das hiesige Handyverbot verfluchend, um und entdeckte an einer Wand in der Nähe eine Uhr. Fünfzehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Das musste reichen, um irgendwo eine Raumnummer zu finden und sich anhand derer zu orientieren. Tristan trat einen weiteren Schritt in den Gang hinaus und wandte sich nach rechts.
Ehe er es sich versah, lag Tristan jedoch auf dem Boden und ein nicht gerade geringes Gewicht presste sich gegen seine Lendenwirbelsäule. Unter anderen Umständen hätte das vielleicht der Auftakt zu einer wunderbaren Bekanntschaft sein können. Mitten in der Schule sah die Sachlage aber weniger angenehm und dafür umso peinlicher aus.
„Was zum Geier ...!“, setzte Tristan zu einem Fluch an und sah über die Schulter zu seinem Angreifer.
„Ser‘s und sorry“, gab der Junge, der noch immer auf ihm lag mit einem breiten Grinsen zurück. Wenigstens rappelte der Kerl sich hastig auf. Nachdem der Typ stand, reichte er Tristan die Hand, um ihm aufzuhelfen. „Hast‘ dir wehgetan?“
„Nee“, antwortete Tristan grummelnd und stand ebenfalls auf. Die ausgestreckte Hand ignorierte er.
Der andere Junge zuckte, noch immer breit grinsend, die Schultern und meinte: „Also eigentlich bist du ja echt nicht zu übersehen, so groß wie du bist.“
Schon konnte Tristan spüren, wie es in seinen Ohren zu kribbeln begann. Um die Verlegenheit zu überspielen, schob er die Brille weiter rauf und presste die Lippen zusammen. Dass er ohne das Ding auf seiner Nase wie der typische Jock aussehen würde, war Tristan durchaus bewusst.
„Bist neu hier, oder?“
Er nickte bestätigend.
„Cool. Ich bin Brendan. Du?“
„Tristan.“
Der Junge namens Brendan grinste noch breiter und reichte ihm die Hand. „War nett, dich umzurennen. Muss aber los, sonst krieg ich keinen anständigen Platz im neuen Jahr. Man sieht sich bestimmt irgendwo. Dann renn ich dich auch nicht mehr um. Versprochen!“
Irritiert blickte Tristan Brendan hinterher, als der davoneilte. Noch immer war da das Kribbeln in seinen Ohren. Vermutlich glühten die schon vor Verlegenheit. Dabei hatte Tristan sich doch vorgenommen, sich nicht mehr von irgendwelchen Typen verunsichern zu lassen.
Auf jeden Fall hatte er nicht vor, sich gleich am ersten Tag hier versehentlich zu outen. Einen wirklichen Hehl hatte Tristan in den letzten Jahren zwar nicht draus gemacht, dass er auf Männer stand. Wie die hier in Bayern tickten, wusste er aber nicht. Und nach dem Ärger in Berlin wollte Tristan hier keine Wiederholung provozieren.
Er blinzelte und sah sich erneut um. Keine Zeit, um über so etwas nachzudenken. Er musste zum Unterricht und wusste immer noch nicht, wo genau der stattfand. Dieser Brendan war garantiert auch in der Oberstufe, also folgte Tristan dem. Mit etwas Glück hatten die oberen Jahrgänge alle im selben Gebäudeteil ihre Kurse.
Tatsächlich fand Tristan kurz darauf den Raum 326. Das war zwar nicht der, zu dem er musste, aber die Alte im Sekretariat hatte ihm ja, in scheinbar doch recht sinnvoller Voraussicht, erklärt, wie die Nummerierung aufgebaut war. Also wusste Tristan, dass er einen Stock tiefer musste. So schaffte er es, lockere sieben Minuten vor Stundenbeginn den richtigen Raum zu betreten.
Die Luft im Klassenzimmer schien zu vibrieren. Ein konstantes Brummen, wie in einem Bienenstock. Der größte Teil der Plätze war bereits besetzt. Neugierig ließ Tristan den Blick über die Anwesenden gleiten. Da stockte er an einem dunkelbraunen Haarschopf, der ihm ausgesprochen bekannt vorkam.
Der Junge, der dem Wuschelkopf gegenüber stand, lachte und deutete mit einem Mal in Tristans Richtung. Prompt beschleunigte sich sein Herzschlag. Wegrennen oder verstecken war keine Option. Abgesehen davon, dass er es wohl kaum schaffen würde, seine einen Meter siebenundachtzig Körpergröße hier irgendwo zu ‚verstecken‘.
„Hey, Tristan!“, rief es prompt aus Richtung seines neuen Bekannten Brendan. Was für ein dummer Zufall, dass er ausgerechnet von dem Kerl umgerannt worden war.
Lächelnd trat Tristan ein Stück in den Raum hinein, war sich aber nicht sicher, ob er da jetzt wirklich rübergehen sollte. Ehe er darüber nachdenken konnte, war Brendan aufgesprungen und hatte sich vor ihm aufgebaut. Damit standen sie sich schon wieder Auge in Auge. Mit einer automatischen Inventur vermerkte Tristan, dass dieser schelmische Blick Brendan jünger wirken ließ als der Rest seines Äußeren. Mochte daran liegen, dass da ein leichter Bartschatten auf Brendans Wangen schimmerte. Etwas, was Tristan von sich nicht behaupten konnte – selbst wenn er sich mal eine Woche nicht rasierte.
„Hätte nicht gedacht, dass man sich so schnell wiedersieht, Kumpel“, meinte Brendan mit einem lauten Lachen. Er schlug Tristan gegen den Oberarm und zog ihn abschließend mit sich mit zu der Gruppe, mit denen er zuvor gesprochen hatte. „Leute? Der Große hier ist Tristan. Er ist neu.“
„Jo. Sers. Grüß Dich“, tönte es aus drei Kehlen gleichzeitig.
Noch immer nicht sicher, was er von der spontanen Vertrautheit halten sollte, lächelte Tristan in die Runde und nickte den anderen zu. Eigentlich hatte er sich ja vorgenommen, diese letzten zwei Jahre einfach ruhig vorbeiziehen zu lassen. Keine Freundschaften, die sowieso nie halten würden, keine Beziehungen innerhalb der Schule. Es gab ausreichend andere Wege, um zu einem halbwegs erfüllenden Privatleben zu kommen. Solche, die den Alltag in der Schule nicht beeinträchtigen würden. Und ob Tristan am Ende hier in München studierte oder eine Ausbildung machen würde, wusste er schließlich ohnehin noch nicht.
Erneut schlug Brendan ihm gegen den Oberarm. Erst jetzt wurde Tristan klar, dass der Typ weitergeredet hatte, ohne dass er es mitbekommen hatte. Irritiert sah Tristan von einem der Jungen zum anderen. Die gingen derweil wieder zu ihrem vorherigen Gespräch über. Womöglich hatte Brendan ihm die Typen vorgestellt. Blöderweise war Tristan zu abgelenkt gewesen, um was davon mitzubekommen.
Unsicher sah er sich um. Es gab noch genug freie Plätze. Dazu zählten sowohl der neben Brendan als die beiden am Tisch auf der anderen Seite des Ganges am Fenster. Sich direkt zu seinen neuen Bekannten zu setzen, erschien Tristan zu gewagt. Zumal der dort ja mit seinen Kumpels stand und keiner von denen den Platz neben ihm beansprucht hatte. Mit Sicherheit gab es hier eine Hackordnung. Eine, die Tristan nicht kannte und der er sich auf keinen Fall in den Weg stellen wollte.
„Ent...schuldigt. Uhm. Suche ich mir einfach einen Platz aus oder sind die ... schon vergeben?“
„Freie Auswahl“, meinte einer der Jungen und deutete mit einer weiten Armbewegung durch den Raum. „Abgesehen von dem hier“, dabei trat er gegen den freien Stuhl neben Brendan. „Der ist in der Tat reserviert.“
„Hey, jetzt übertreib nicht, Amir!“, gab Brendan lachend zurück.
„Ach? Willst du behaupten, dass der nicht von deiner schlimmeren Hälfte belegt ist?“ Während die anderen lachten, verdrehte Brendan nur die Augen und winkte ab. „Na dann kann ich da ja heuer sitzen.“
Damit schnappte sich einer der Jungs einen Rucksack aus der nächsten Reihe und ließ sich auf den Stuhl neben Brendan fallen. Der sah zunächst etwas verwundert seinen spontanen Banknachbarn an, zog anschließend jedoch lediglich lachend die Schultern nach oben.
„Ihr seid so deppert manchmal, Leute.“
Die Übrigen fielen in das Gelächter ein. Da Tristan den Witz nicht einmal annähernd verstand, lächelte er lediglich und schob sich schließlich zu dem letzten komplett freien Tisch auf der anderen Seite des Ganges. Mit einem Klatschen landeten die Unterlagen der Sekretärin darauf.
Wenigstens sah das hier nach einem einigermaßen vernünftigen Platz aus. Weder ganz vorn bei den Strebern, noch die letzte Reihe, wo sich die hässlichen Vögel und Komiker versteckten. Und mit einem Tisch am Fenster hatte Tristan etwas, was er anstarren konnte, wenn der Unterricht zu langweilig wurde.
„Wo bleibt denn Dave überhaupt?“, fragte einer der Jungen hinter ihm.
Tristan versuchte, das Gespräch auszublenden, um nicht unnötig zu lauschen. Aber irgendetwas an der Bemerkung zerrte an seinem Unterbewusstsein. Da die Gruppe weiterhin am Nebentisch stand, war sie praktisch ohnehin nicht zu überhören.
„Ach, du kennst ihn doch, Amir. Der würde seine eigene Beerdigung verpennen. Den ersten Schultag sowieso“, gab Brendan mit anhaltendem Lachen zurück.
Aus dem Augenwinkel schielte Tristan zu seinem neuen Bekannten hinüber, während er sich zunächst auf den Platz am Gang setzte. Sonnengebräunte Haut, dunkle Augen, dazu die gekräuselten braunen Haare – äußerlich scheinbar ein südländischer Einschlag. Der Vorname gab dahingehend allerdings keinen Aufschluss. Und charakterlich? Eine Frohnatur, wie es aussah. Die um den Tisch herumstehenden Jungen deuteten außerdem darauf hin, dass Brendan recht gesellig und beliebt war. Wenn Tristan Anschluss suchen würde, wäre er dort an der richtigen Stelle.
‚Reiß dich zusammen‘, ermahnte er sich selbst. Tristan hatte einen Plan und fest vor, sich an diesen zu halten. Unauffällig bleiben. Wer keine Probleme verursachte, bekam auch keine.
Trotzdem schielte Tristan schon wieder zu Brendan hinüber, während er seinen Rucksack neben der Schulbank platzierte. Mit dem offensichtlichen Liebling im Kurs gut auszukommen würde bestimmt nicht schaden. Und es war ja nicht so, dass Tristan sich dem Typ gleich an den Hals schmeißen wollte. Aber zum Feind machen sollte er sich Brendan ebenfalls nicht. Zumal es hilfreich wäre, wenn ihm jemand zeigen würde, wo hier in München die interessanten Plätze waren.
Plötzliches Stühlerücken riss Tristan aus seinen Überlegungen. Als er aufblickte, hatte ein älterer Herr den Raum betreten und ging zum Lehrertisch. Neugierig geworden, ließ Tristan den Blick ein weiteres Mal durch den Klassenraum schweifen. Zwar waren Brendan und ein paar andere von den Tischen gestiegen, auf denen sie eben noch gesessen hatten, ansonsten quatschten sie allerdings alle munter weiter.
‚Scheinbar ist der Lehrer nicht sonderlich streng‘, vermerkte Tristan mental.
„Allmählich sollte deine unpünktliche Hälfte aber hier auftauchen“, hörte er den Jungen namens Amir lachend sagen.
Dafür kassierte der von Brendan ebenfalls einen Schlag auf den Oberarm. Tristan jedoch horchte auf. Endlich wurde ihm klar, was schon zuvor so merkwürdig an Amirs Bemerkung geklungen hatte. War da nicht der Name eines Jungen gefallen? Dave?
Obwohl er krampfhaft versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, beschleunigte sich Tristans Herzschlag. Jemanden zu kennen, der die Szene der Stadt kannte, wäre garantiert hilfreich. Damit wurde Brendan schlagartig wesentlich interessanter.
„Kommen Sie bitte allmählich zur Ruhe, die Stunde fängt gleich an“, bemerkte der Lehrer in einem ruhigen, tiefen Tonfall.
Tristan zwang sich, seine Gedanken zurück auf den Unterricht zu lenken. Selbst mit Kurssystem würde er einen Großteil der nächsten zwei Jahre mit diesen Leuten verbringen. Es gab keinen Grund, gleich alles am ersten Tag erfahren zu wollen.
Er beobachtete, wie die anderen sich ebenfalls auf ihre Plätze begaben. Die meisten Stühle waren besetzt, es gab neben dem Fensterplatz an Tristans Tisch kaum noch Auswahl. Alle Übrigen schienen aber bereits einen Platz gefunden zu haben, sodass er das Jahr zumindest in Mathe wohl alleine sitzen würde.
Herr Daberkow erhob sich und trat vor den Lehrertisch. Daran gelehnt schob er den Hemdsärmel an seinem linken Handgelenk nach oben und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Wie automatisch sah Tristan sich um und fand schließlich auch an der Wand neben der Tafel eine Uhr. Insofern die richtig lief, blieben noch zwei Minuten bis zum Unterrichtsbeginn.
Ein Murmeln ging durch die Klasse. Als Tristan nach rechts zu Brendan sah, wirkte der mit einem Mal reichlich nervös. Auch er starrte förmlich auf die Uhr an der Wand und kaute dabei auf der Unterlippe. Als Tristan wieder zum Lehrer sah, hatte der die Stirn krausgezogen und sah über seine Brille hinweg direkt zu Brendan. Irgendwie wirkte die Szene wie aus einer schlechten Komödie.
Mit einem Mal knallte die Tür gegen die Wand, als sie mit zu viel Schwung aufgestoßen wurde. Schwer atmend und lautstark keuchend stand da ein weiterer Junge. Lockige schwarze Haare, die aussahen, als hätten sie in den vergangenen sechs Wochen Ferien kein einziges Mal einen Kamm gesehen. Das Gesicht war unrasiert, die Augen von dunklen Ringen umgeben.
„David!“, grölte es aus dem Kreis der Jungen, die zuvor noch rund um Brendan gestanden hatten. Auch der brach lautstark in Gelächter aus. Und als Tristan zu ihrem Lehrer blickte, konnte selbst der sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen.
In diesem Moment klingelte die Schulglocke.
„Herzlichen Glückwunsch, Herr Asch“, bemerkte ihr Lehrer, während er sich vom Tisch abstieß und einen Schritt auf den Jungen an der Tür zutrat. „Sie haben es tatsächlich geschafft, zu meiner ersten Stunde dieses Jahr nicht zu spät zu kommen.“
Der Junge richtete sich auf und grinste den Lehrer an. „Ah, ich habe mich nur für Sie beeilt, Herr Daberkow!“, behauptete er lachend.
„Natürlich. Ich schlage vor, Sie begeben sich auf Ihren Platz, David. Der Kurs hat das Schuljahr mit ausreichend komödiantischer Einlage Ihrerseits begonnen. Wir haben schließlich nur zwei Jahre, um selbst Sie in Mathematik fit genug für Ihr Abitur zu bekommen.“
Tristan reckte den Hals, um einen weiteren Blick auf den Jungen werfen zu können, von dem Amir behauptet hatte, er wäre Brendans ‚schlechtere Hälfte‘. Im Grunde sah der so durchschnittlich aus, wie man nur sein konnte. Einzig das freche Grinsen, mit dem er ihren Lehrer anstarrte, hatte durchaus etwas. Ebendieses verging David jedoch, als der sich umdrehte und seinen Blick über die Anwesenden gleiten ließ.
Erst als Tristan Davids Augen folgte, wurde ihm klar, was die eben noch so gute Stimmung offensichtlich getrübt hatte. Der Platz neben Brendan war durch einen breit grinsenden Amir belegt. Der lehnte sich betont lässig zurück und zog dabei die Augenbrauen nach oben. Noch provokanter hätte er nicht rüberkommen können.
„Wie lange wollen Sie denn hier herumstehen, David?“, unterbrach Herr Daberkow die Szene, bevor es neben provokant, zusätzlich auch noch peinlich werden konnte. „Setzen Sie sich bitte endlich.“ Leider hatte ihr Lehrer mit Tristan deutlich weniger Mitleid, denn der Kerl wandte sich nun ihm zu: „Sie sind neu in diesem Jahrgang, oder?“
Tristan nickte steif.
„Wie heißen Sie.“
„Tristan Niemek“, gab er verhalten zurück. Unsicher schob er die Brille die Nase hinauf – dabei war die vermutlich vorher nicht einmal heruntergerutscht. Aber die Bewegung gab ihm Gelegenheit den Kopf zu senken und lieber auf die Unterlagen vor sich zu sehen, als den Rest des Kurses anblicken zu müssen.
„Wie sind Ihre Mathenoten bisher gewesen?“
„Hm?“ Irritiert sah Tristan auf und bemerkte, dass Herr Daberkow ihn weiterhin forschend ansah. „Äh. Eins?“
„Sehr schön. Dann hoffe ich, dass das so bleibt“, meinte der Lehrer und wandte sich anschließend der ganzen Klasse zu. „Es ist ihr vorletztes Jahr. Und obwohl ich Ihnen für dieses ausgesprochen viel Freude wünsche, möchte ich Sie daran erinnern, dass man das Abitur auch an unserer Schule nicht geschenkt bekommt.“
Leises Lachen und Kichern war aus dem Kurs zu hören. Selbst Tristan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Typ war zwar alt, machte aber einen zunehmend netteren Eindruck. Da Tristan Mathe mochte und in der Tat in den letzten Jahren immer mit einer Eins auf dem Zeugnis darin hatte glänzen können, versprach das zumindest ein angenehmes Fach in den nächsten Wochen und Monaten. Vielleicht war der Umzug am Ende gar nicht so mies, wie er gedacht hatte.
„Wieso sitzen Sie dieses Jahr nicht neben Tristan, David?“, meinte Herr Daberkow mit einem Mal. „Womöglich schaffen Ihre Noten es, sich in die gleiche Richtung zu entwickeln.“
Erschrocken sah Tristan zunächst zum Lehrer, dann zu Brendan und schlussendlich zu seinem neuen Banknachbarn. Der sah nicht begeistert aus. Allerdings stand zu hoffen, dass das eher an der fehlenden als der neu gewonnen Gesellschaft lag. Auf keinen Fall wollte Tristan sich hier zum Außenseiter machen, bevor er überhaupt angekommen war. David zuckte jedoch mit einem Mal grinsend die Schultern und schlenderte durch die Reihe zu Tristan hinüber.
„Rutsch doch mal“, meinte David schlagartig besser gelaunt, kaum dass er neben dem Tisch stand.
„Der Fensterplatz ist frei, David“, tönte es da bereits aus Richtung des Lehrertisches. „Frische Luft schadet auch Ihnen nicht.“
LG
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Kapitel 1 – Neue Schule (16.09.2008)
Was genau machte eigentlich ‚Alltag‘ aus? Waren es die immer gleichen Abläufe von Aufstehen, duschen, Zähne putzen, Frühstücken? War Langeweile ein Teil dieser Begriffsdefinition oder betraf das lediglich sein Leben? Dafür müsste er erst einmal wissen, was genau dieses ‚Leben‘ überhaupt darstellte.
Im Augenblick vermutlich nicht viel mehr als der Gang zur Schule. Irgendwie einen Abschluss machen und dann sehen, wie es weiterging. Vielleicht war das ja alles, worum es in diesem ‚Alltag‘ ging. Sich an die Vergangenheit erinnern, während man in der Gegenwart lebte und einer Zukunft nachrannte, die man doch nie erreichen würde. Denn sobald man dort ankam, war es ja keine Zukunft mehr.
„Tristan?“, schallte in diesem Moment die Stimme seines Vaters durch die kleine Wohnung und riss ihn damit dankenswerterweise aus seinen Gedanken. „Bist du wach?“
Nein, war er nicht. Andernfalls würde sein irres Hirn nicht vor dem ersten Kaffee bereits anfangen, sich in philosophischem Unsinn zu verfangen. Die Vergangenheit konnte man nicht ändern. Darüber zu sinnieren war entsprechend sinnfrei.
„Wacher als du, Dad“, gab Tristan laut zurück, damit sein Vater merkte, dass er längst in der Küche saß und nicht mehr im Bett rumgammelte. „Dein Kaffee wird übrigens kalt.“
Aus dem Flur war ein unterdrücktes Fluchen zu hören, bevor kurz darauf Tristans Vater in die Küche stürzte. Mitte fünfzig, mit allmählich schütter werdendem Haar und nicht nur der Grund dafür, dass Tristan existierte, sondern auch dafür, dass er diese Existenz ausgerechnet hier ausleben musste.
Um sich nicht schon wieder in irgendwelchem gedanklichen Unsinn zu verfangen, hob Tristan die eigene Kaffeetasse. Zeit, endlich aufzuwachen. Wie er eben festgestellt hatte, brachte es nichts, der Vergangenheit nachzutrauern. Nicht einmal, wenn die dazu geführt hatte, dass Tristan ausgerechnet in dieser schweineteuren, viel zu kleinen Zweizimmerwohnung in München festsaß.
„Du brauchst dich übrigens nicht so abhetzen, ich kann alleine zur Schule fahren“, murmelte Tristan.
„Ach Unsinn“, schoss sein Vater prompt zurück und griff nach der Kaffeetasse. „Natürlich fahre ich dich.“
„Setze dich wenigstens hin“, erwiderte Tristan grummelnd und sah dabei seinen Vater streng an.
Der grinste und ließ sich auf den Stuhl gegenüber seinem Sohn fallen. „Jawohl, Papa“, tönte der tiefe Bass – gefolgt von einem ebenso dröhnenden Lachen. Wenigstens einer, der gute Laune hatte. Tristan konnte sich dem weiterhin nicht anschließen und wandte sich lieber wieder seinem Müsli zu.
„Ich weiß, der erste Tag ist immer der Schlimmste“, fuhr sein Vater nach einem Moment des Schweigens fort.
Sofort schüttelte Tristan den Kopf. Dieses Gespräch hatten sie in den vergangenen Jahren zu oft geführt, als dass er das gerade heute wiederholen wollte. Es stimmte doch sowieso nicht. Sein Vater hatte keine Ahnung davon, wie es war, wenn man immer und immer wieder die Schule wechselte. Der erste Tag war nicht schlimm. Nicht mehr als alle, die darauf folgten. Er war nur nerviger.
„Lass gut sein, Dad.“
Der hörte aber nicht auf, sondern fuhr unbeeindruckt fort: „Ausgerechnet die letzten zwei Schuljahre. Ich hab echt alles versucht, um es zu verhindern, Tristan.“
„Ich weiß.“
„Und dass Frau Peric krank geworden ist ...“
Warum musste sein Vater unbedingt jetzt darüber sprechen? Es änderte verdammt noch einmal nichts!
Tristan schob sich die Brille weiter die Nase hinauf. „Lass es endlich, Dad. Sie ist zu krank. Du wolltest nicht, dass ich alleine in Berlin bleibe. Vergangen. Nicht zu ändern. Thema beendet.“
„Ja, das hatten wir uns wohl alle anders vorgestellt.“
Missmutig verzog Tristan den Mund. Wenn der Typ nicht sein Vater wäre, würde es klingen, als ob er es bedauerte, dass sie hier zusammen festsaßen. Dabei hätte der Kerl nur das tun müssen, was er gefühlt die letzten sieben Jahre getan hatte: Den Mund halten und arbeiten gehen. Während Tristan alleine zu Hause klarkam. Wenigstens für die paar Monate, bis er volljährig werden würde.
„Ich wäre auch ohne dich klargekommen, Dad.“
Vermutlich sogar besser als sein Vater ohne ihn. In diesem Haushalt gab es nur einen Mann, der einigermaßen kochen konnte. Und das war nicht der alte Mann da drüben. Wenn der regelmäßig Geld für die kleine Wohnung in Berlin geschickt hätte, müssten sie sich hier jetzt nicht in dieser Bruchbude zusammenquetschen, als wäre es eine Wohngemeinschaft. Was der Realität vermutlich näher kam, als der Begriff ‚Familie‘.
„So lange du minderjährig bist, bin ich für dich verantwortlich. Ich kann dich nicht einfach sechshundert Kilometer entfernt dir selbst überlassen, Tris. Das musst du verstehen.“
Tat er aber nicht. Tristan biss sich auf die Zunge, um seinen Vater nicht anzufauchen, dass er hier genauso alleingelassen wurde. Wann hatte der Kerl denn das letzte Mal etwas zum Abendessen gekocht? Oder die Wäsche gewaschen?
War ja nicht so, dass Tristan das alles als Last empfand. Er hatte seinem Vater stets gern geholfen. Sie hatten schließlich nur einander. Mit den ganzen Umzügen in den letzten Jahren hatte Tristan ohnehin nie irgendwo einen großen Freundeskreis aufbauen können.
Dass er in Berlin nach einer blöden Prügelei verhaftet worden war, hatte dummerweise nicht geholfen, Tristans Argumente zu stärken. Da war es am Ende völlig egal gewesen, dass er an der ganzen Sache nicht einmal Schuld hatte.
Wie immer verkniff Tristan sich deshalb jeden weiteren Kommentar. Es würde nichts ändern. Sein Vater hatte seinen Standpunkt und von dem würde er sich nicht abbringen lassen. Das hatten die vergangenen Monate an Diskussion mehr als deutlich gezeigt.
„Berlin ist so weit weg, Junge.“
Das Lächeln, welches Tristan aufsetzte, war nicht echt, aber es würde seinen Vater täuschen – und beruhigen. Streit brachte sie nicht weiter. Zwei Jahre, dann war Tristan mit der Schule fertig und würde hier ausziehen. Sollte es seinen Vater schon wieder woanders hin verschlagen, würde Tristan ihn nicht mehr begleiten. Und dass sie bis dahin nicht umziehen würden, hatte sein alter Herr ihm schließlich hoch und heilig versprochen.
„Ich weiß, dass du lieber in Berlin geblieben wärst, mein Junge.“
Diesmal winkte er ab und stand auf, um seine Schüssel wegzuräumen. „Es ist genug, Dad“, murmelte Tristan achselzuckend. „Ist doch jetzt eh egal.“
„Du kannst ... wie hieß dein Spezi in Berlin? Jedenfalls kannst du ihn ja in den Ferien einladen herzukommen.“
Tristan wandte sich ab, damit sein Vater nicht sehen konnte, wie er die Augen verdrehte. Es war gut gemeint, das wusste er. Dummerweise hatte sein alter Herr keine Ahnung, dass der ‚Kumpel‘ mit dem Tristan in Berlin immer abgehangen hatte, in Wirklichkeit dem Begriff eines ‚festen Freundes‘ näher gekommen war als jeder andere Junge vor ihm. Genauso wenig, wie Tristans Vater etwas davon wusste, dass eben dieser ‚Kumpel‘ der Grund für den Ärger mit den Bullen gewesen war. Oder dass die letzten Worte, die sie beide sich an den Kopf gehauen hatten, ein Wiedersehen garantiert ausschlossen.
„Mal sehen“, murmelte Tristan, wohlwissend, dass er weder fragen, noch Navid tatsächlich herkommen würde.
Wenn Tristan die vergangenen Jahre etwas gelehrt hatten, dann war es, dass dieses angebliche ‚Band‘ zu anderen Menschen nie hielt. Und dass es in der Hinsicht egal war, ob sie sich Bekannte, Freunde oder Lover schimpften. Das Label bestimmte lediglich wie lange sie sich noch bemühen würden, bevor es im Sande verlief.
Tristan hatte es sich genau deshalb abgewöhnt, irgendwo echte Freunde finden zu wollen. Ein paar Kumpel, mit denen man an langweiligen Nachmittagen abhängen konnte, einige Bekannte, mit denen man intimere Stunden teilen konnte. Das war genug. Wenn die sich dann nach ein paar Monaten nicht mehr meldeten und auf seine Nachrichten nur halbherzig reagierten, würde es nicht wehtun.
„Es ist okay, Dad. Wird schon werden. Tut’s doch immer.“
Als Tristan sich umdrehte, konnte er gerade noch sehen, wie sein Vater den Kopf senkte. Allerdings erwiderte er nichts – versuchte nicht, mehr diesen Umzug schönzureden. Immerhin über diese eine Sache waren sie sich inzwischen einig: Sie würden diese zwei Jahre noch gemeinsam überstehen. Was danach kam, stand in den Sternen.
„Wir müssen los, Dad“, sagte Tristan, um der schon wieder schlechter werdenden Stimmung zu entkommen.
Sein Vater nickte stumm und trank den inzwischen kalten Kaffee aus. Danach klimperte er noch einmal mit den Autoschlüsseln, atmete tief durch und sah Tristan mit einem Lächeln an. „Auf in den Kampf!“
-`ღ´-
Glücklicherweise schien die Schule an sich zunächst keinen Kampfplatz darzustellen. Zumindest ging es auf dem Schulhof recht gesittet zu. Da hatte Tristan in anderen Städten bereits schlechtere Erfahrungen gemacht. Insbesondere in seiner letzten Schule hatte Tristan die Pausen lieber im Gebäude verbracht als draußen. Hier schien es anders zuzugehen als in Berlin, aber auf den ersten Eindruck verließ er sich besser nicht.
„Auf in den Kampf“, wiederholte Tristan die Worte seines Vaters vom Frühstückstisch.
Der hatte sich glücklicherweise nicht dazu herabgelassen, seinen Sohn bis zum Direktor begleiten zu wollen. Dass Tristan überhaupt nach dem Vorgespräch dort aufschlagen musste, ging ihm gewaltig gegen den Strich.
Hoffentlich sah ihn niemand aus einem seiner Kurse dorthingehen. Bei Tristans Größe und Körperbau würde er sonst am Ende noch direkt als Berliner Vollspacken abgestempelt werden.
Was die Bayern von den ‚Preußen‘ hielten, konnte Tristan sich denken. Dabei war er ursprünglich nicht einmal in der Nähe von Preußen geboren. Aber augenscheinlich interessierte das hier niemanden.
Mit einem Seufzen schob er sich die Brille auf die Nase hoch. Mit der sah Tristan eher aus wie ein Nerd als wie ein Schläger. Aber das hatte in den letzten vier Schulen die Platzhirsche auch nicht davon abgehalten, ihn zunächst als Konkurrenz zu betrachten. Hoffentlich ging das Ding hier nicht genauso zu Bruch wie in Berlin. Sein Vater würde ihm die nächste Brille garantiert vom Taschengeld abziehen.
„Der erste Eindruck entscheidet“, murmelte Tristan und schlurfte weiter durch den Gang in Richtung Direktorat.
Es war der gleiche Weg, den er einige Tage zuvor mit seinem Vater bei der Schulanmeldung gegangen war. Links und Rechts von Tristan liefen lachende Jugendliche entlang. Nach den Sommerferien schien die generelle Stimmung gut zu sein. Wer konnte es ihnen verübeln?
Dank des Umzugs hatte Tristan selbst zwei Wochen länger Ferien gehabt. Ohne sich in München auszukennen, war der Versuch, wenigstens einmal auszugehen, dennoch grandios gescheitert. Das Internet hatte zwar so einige angebliche Hotspots ausgespuckt, alleine in irgendeinen Klub zu gehen, war Tristan allerdings zuwider. Ein Klubmensch war er ja aber auch schon früher nicht gewesen.
Vor dem Sekretariat angekommen, atmete Tristan noch einmal tief durch und trat ein.
„Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“
„Hallo“, begrüßte er die ältere Dame am Schreibtisch im Vorzimmer. „Tristan Niemek. Ich sollte mich hier melden.“
Die Frau blinzelte kurz irritiert und fing anschließend schweigend an, in einem Stapel Papieren zu wühlen. Mehr oder weniger geduldig wartete Tristan darauf, was als Nächstes passieren würde.
„Bitte sehr, junger Mann“, krächzte sie schließlich mit heiserer Stimme. „Ihr Schülerausweis, der Stundenplan und diese Unterlagen sind für Ihre Eltern.“
„Danke“, murmelte Tristan, bevor er sich wieder abwandte.
Siebzehn Jahre alt und irgendwie fühlte sich die Anrede mit ‚Sie‘ noch immer merkwürdig an. In Tristans letzten Schule hatte sich sein Jahrgang mehrheitlich dafür entschieden gehabt, nicht von den Lehrern ‚gesiezt‘ zu werden.
„Ihre erste Stunde ist Mathematik bei Herrn Daberkow in Raum 314. Wissen Sie, wie sie dorthin kommen?“
Mit einem Kopfschütteln verneinte Tristan. Woher zum Teufel hätte er sich in diesem Kasten denn auskennen sollen? Daraufhin erklärte die Frau ihm in knappen Worten den Aufbau des Gebäudes und die Nummerierung der Klassenzimmer, bevor sie ihn aus ihrem Büro scheuchte. Und so stand Tristan kurz darauf wieder in dem inzwischen von hektisch herumlaufenden Schülern gefüllten Flur und sah sich um.
Wie war das mit Trakt A gewesen? Oder war es B? Die gingen bis D, richtig? Die drei in der blöden Raumnummer stand für C, da war er sich ziemlich sicher. Und der war? Tristan sah nach links und rechts.
„Scheiße“, murmelte er und sah auf die Unterlagen in seinen Händen. Der erste Tag und er würde zu spät kommen.
Seufzend trat Tristan einen Schritt vor. Ganz sicher würde er sich von der alten Schachtel da drinnen keinen weiteren Vortrag über den Aufbau der Schule anhören. Wenn er erst einmal losgegangen war, würde er schon irgendwie klarkommen. Notfalls konnte er ja schließlich fragen.
Tristan sah sich, das hiesige Handyverbot verfluchend, um und entdeckte an einer Wand in der Nähe eine Uhr. Fünfzehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Das musste reichen, um irgendwo eine Raumnummer zu finden und sich anhand derer zu orientieren. Tristan trat einen weiteren Schritt in den Gang hinaus und wandte sich nach rechts.
Ehe er es sich versah, lag Tristan jedoch auf dem Boden und ein nicht gerade geringes Gewicht presste sich gegen seine Lendenwirbelsäule. Unter anderen Umständen hätte das vielleicht der Auftakt zu einer wunderbaren Bekanntschaft sein können. Mitten in der Schule sah die Sachlage aber weniger angenehm und dafür umso peinlicher aus.
„Was zum Geier ...!“, setzte Tristan zu einem Fluch an und sah über die Schulter zu seinem Angreifer.
„Ser‘s und sorry“, gab der Junge, der noch immer auf ihm lag mit einem breiten Grinsen zurück. Wenigstens rappelte der Kerl sich hastig auf. Nachdem der Typ stand, reichte er Tristan die Hand, um ihm aufzuhelfen. „Hast‘ dir wehgetan?“
„Nee“, antwortete Tristan grummelnd und stand ebenfalls auf. Die ausgestreckte Hand ignorierte er.
Der andere Junge zuckte, noch immer breit grinsend, die Schultern und meinte: „Also eigentlich bist du ja echt nicht zu übersehen, so groß wie du bist.“
Schon konnte Tristan spüren, wie es in seinen Ohren zu kribbeln begann. Um die Verlegenheit zu überspielen, schob er die Brille weiter rauf und presste die Lippen zusammen. Dass er ohne das Ding auf seiner Nase wie der typische Jock aussehen würde, war Tristan durchaus bewusst.
„Bist neu hier, oder?“
Er nickte bestätigend.
„Cool. Ich bin Brendan. Du?“
„Tristan.“
Der Junge namens Brendan grinste noch breiter und reichte ihm die Hand. „War nett, dich umzurennen. Muss aber los, sonst krieg ich keinen anständigen Platz im neuen Jahr. Man sieht sich bestimmt irgendwo. Dann renn ich dich auch nicht mehr um. Versprochen!“
Irritiert blickte Tristan Brendan hinterher, als der davoneilte. Noch immer war da das Kribbeln in seinen Ohren. Vermutlich glühten die schon vor Verlegenheit. Dabei hatte Tristan sich doch vorgenommen, sich nicht mehr von irgendwelchen Typen verunsichern zu lassen.
Auf jeden Fall hatte er nicht vor, sich gleich am ersten Tag hier versehentlich zu outen. Einen wirklichen Hehl hatte Tristan in den letzten Jahren zwar nicht draus gemacht, dass er auf Männer stand. Wie die hier in Bayern tickten, wusste er aber nicht. Und nach dem Ärger in Berlin wollte Tristan hier keine Wiederholung provozieren.
Er blinzelte und sah sich erneut um. Keine Zeit, um über so etwas nachzudenken. Er musste zum Unterricht und wusste immer noch nicht, wo genau der stattfand. Dieser Brendan war garantiert auch in der Oberstufe, also folgte Tristan dem. Mit etwas Glück hatten die oberen Jahrgänge alle im selben Gebäudeteil ihre Kurse.
Tatsächlich fand Tristan kurz darauf den Raum 326. Das war zwar nicht der, zu dem er musste, aber die Alte im Sekretariat hatte ihm ja, in scheinbar doch recht sinnvoller Voraussicht, erklärt, wie die Nummerierung aufgebaut war. Also wusste Tristan, dass er einen Stock tiefer musste. So schaffte er es, lockere sieben Minuten vor Stundenbeginn den richtigen Raum zu betreten.
Die Luft im Klassenzimmer schien zu vibrieren. Ein konstantes Brummen, wie in einem Bienenstock. Der größte Teil der Plätze war bereits besetzt. Neugierig ließ Tristan den Blick über die Anwesenden gleiten. Da stockte er an einem dunkelbraunen Haarschopf, der ihm ausgesprochen bekannt vorkam.
Der Junge, der dem Wuschelkopf gegenüber stand, lachte und deutete mit einem Mal in Tristans Richtung. Prompt beschleunigte sich sein Herzschlag. Wegrennen oder verstecken war keine Option. Abgesehen davon, dass er es wohl kaum schaffen würde, seine einen Meter siebenundachtzig Körpergröße hier irgendwo zu ‚verstecken‘.
„Hey, Tristan!“, rief es prompt aus Richtung seines neuen Bekannten Brendan. Was für ein dummer Zufall, dass er ausgerechnet von dem Kerl umgerannt worden war.
Lächelnd trat Tristan ein Stück in den Raum hinein, war sich aber nicht sicher, ob er da jetzt wirklich rübergehen sollte. Ehe er darüber nachdenken konnte, war Brendan aufgesprungen und hatte sich vor ihm aufgebaut. Damit standen sie sich schon wieder Auge in Auge. Mit einer automatischen Inventur vermerkte Tristan, dass dieser schelmische Blick Brendan jünger wirken ließ als der Rest seines Äußeren. Mochte daran liegen, dass da ein leichter Bartschatten auf Brendans Wangen schimmerte. Etwas, was Tristan von sich nicht behaupten konnte – selbst wenn er sich mal eine Woche nicht rasierte.
„Hätte nicht gedacht, dass man sich so schnell wiedersieht, Kumpel“, meinte Brendan mit einem lauten Lachen. Er schlug Tristan gegen den Oberarm und zog ihn abschließend mit sich mit zu der Gruppe, mit denen er zuvor gesprochen hatte. „Leute? Der Große hier ist Tristan. Er ist neu.“
„Jo. Sers. Grüß Dich“, tönte es aus drei Kehlen gleichzeitig.
Noch immer nicht sicher, was er von der spontanen Vertrautheit halten sollte, lächelte Tristan in die Runde und nickte den anderen zu. Eigentlich hatte er sich ja vorgenommen, diese letzten zwei Jahre einfach ruhig vorbeiziehen zu lassen. Keine Freundschaften, die sowieso nie halten würden, keine Beziehungen innerhalb der Schule. Es gab ausreichend andere Wege, um zu einem halbwegs erfüllenden Privatleben zu kommen. Solche, die den Alltag in der Schule nicht beeinträchtigen würden. Und ob Tristan am Ende hier in München studierte oder eine Ausbildung machen würde, wusste er schließlich ohnehin noch nicht.
Erneut schlug Brendan ihm gegen den Oberarm. Erst jetzt wurde Tristan klar, dass der Typ weitergeredet hatte, ohne dass er es mitbekommen hatte. Irritiert sah Tristan von einem der Jungen zum anderen. Die gingen derweil wieder zu ihrem vorherigen Gespräch über. Womöglich hatte Brendan ihm die Typen vorgestellt. Blöderweise war Tristan zu abgelenkt gewesen, um was davon mitzubekommen.
Unsicher sah er sich um. Es gab noch genug freie Plätze. Dazu zählten sowohl der neben Brendan als die beiden am Tisch auf der anderen Seite des Ganges am Fenster. Sich direkt zu seinen neuen Bekannten zu setzen, erschien Tristan zu gewagt. Zumal der dort ja mit seinen Kumpels stand und keiner von denen den Platz neben ihm beansprucht hatte. Mit Sicherheit gab es hier eine Hackordnung. Eine, die Tristan nicht kannte und der er sich auf keinen Fall in den Weg stellen wollte.
„Ent...schuldigt. Uhm. Suche ich mir einfach einen Platz aus oder sind die ... schon vergeben?“
„Freie Auswahl“, meinte einer der Jungen und deutete mit einer weiten Armbewegung durch den Raum. „Abgesehen von dem hier“, dabei trat er gegen den freien Stuhl neben Brendan. „Der ist in der Tat reserviert.“
„Hey, jetzt übertreib nicht, Amir!“, gab Brendan lachend zurück.
„Ach? Willst du behaupten, dass der nicht von deiner schlimmeren Hälfte belegt ist?“ Während die anderen lachten, verdrehte Brendan nur die Augen und winkte ab. „Na dann kann ich da ja heuer sitzen.“
Damit schnappte sich einer der Jungs einen Rucksack aus der nächsten Reihe und ließ sich auf den Stuhl neben Brendan fallen. Der sah zunächst etwas verwundert seinen spontanen Banknachbarn an, zog anschließend jedoch lediglich lachend die Schultern nach oben.
„Ihr seid so deppert manchmal, Leute.“
Die Übrigen fielen in das Gelächter ein. Da Tristan den Witz nicht einmal annähernd verstand, lächelte er lediglich und schob sich schließlich zu dem letzten komplett freien Tisch auf der anderen Seite des Ganges. Mit einem Klatschen landeten die Unterlagen der Sekretärin darauf.
Wenigstens sah das hier nach einem einigermaßen vernünftigen Platz aus. Weder ganz vorn bei den Strebern, noch die letzte Reihe, wo sich die hässlichen Vögel und Komiker versteckten. Und mit einem Tisch am Fenster hatte Tristan etwas, was er anstarren konnte, wenn der Unterricht zu langweilig wurde.
„Wo bleibt denn Dave überhaupt?“, fragte einer der Jungen hinter ihm.
Tristan versuchte, das Gespräch auszublenden, um nicht unnötig zu lauschen. Aber irgendetwas an der Bemerkung zerrte an seinem Unterbewusstsein. Da die Gruppe weiterhin am Nebentisch stand, war sie praktisch ohnehin nicht zu überhören.
„Ach, du kennst ihn doch, Amir. Der würde seine eigene Beerdigung verpennen. Den ersten Schultag sowieso“, gab Brendan mit anhaltendem Lachen zurück.
Aus dem Augenwinkel schielte Tristan zu seinem neuen Bekannten hinüber, während er sich zunächst auf den Platz am Gang setzte. Sonnengebräunte Haut, dunkle Augen, dazu die gekräuselten braunen Haare – äußerlich scheinbar ein südländischer Einschlag. Der Vorname gab dahingehend allerdings keinen Aufschluss. Und charakterlich? Eine Frohnatur, wie es aussah. Die um den Tisch herumstehenden Jungen deuteten außerdem darauf hin, dass Brendan recht gesellig und beliebt war. Wenn Tristan Anschluss suchen würde, wäre er dort an der richtigen Stelle.
‚Reiß dich zusammen‘, ermahnte er sich selbst. Tristan hatte einen Plan und fest vor, sich an diesen zu halten. Unauffällig bleiben. Wer keine Probleme verursachte, bekam auch keine.
Trotzdem schielte Tristan schon wieder zu Brendan hinüber, während er seinen Rucksack neben der Schulbank platzierte. Mit dem offensichtlichen Liebling im Kurs gut auszukommen würde bestimmt nicht schaden. Und es war ja nicht so, dass Tristan sich dem Typ gleich an den Hals schmeißen wollte. Aber zum Feind machen sollte er sich Brendan ebenfalls nicht. Zumal es hilfreich wäre, wenn ihm jemand zeigen würde, wo hier in München die interessanten Plätze waren.
Plötzliches Stühlerücken riss Tristan aus seinen Überlegungen. Als er aufblickte, hatte ein älterer Herr den Raum betreten und ging zum Lehrertisch. Neugierig geworden, ließ Tristan den Blick ein weiteres Mal durch den Klassenraum schweifen. Zwar waren Brendan und ein paar andere von den Tischen gestiegen, auf denen sie eben noch gesessen hatten, ansonsten quatschten sie allerdings alle munter weiter.
‚Scheinbar ist der Lehrer nicht sonderlich streng‘, vermerkte Tristan mental.
„Allmählich sollte deine unpünktliche Hälfte aber hier auftauchen“, hörte er den Jungen namens Amir lachend sagen.
Dafür kassierte der von Brendan ebenfalls einen Schlag auf den Oberarm. Tristan jedoch horchte auf. Endlich wurde ihm klar, was schon zuvor so merkwürdig an Amirs Bemerkung geklungen hatte. War da nicht der Name eines Jungen gefallen? Dave?
Obwohl er krampfhaft versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, beschleunigte sich Tristans Herzschlag. Jemanden zu kennen, der die Szene der Stadt kannte, wäre garantiert hilfreich. Damit wurde Brendan schlagartig wesentlich interessanter.
„Kommen Sie bitte allmählich zur Ruhe, die Stunde fängt gleich an“, bemerkte der Lehrer in einem ruhigen, tiefen Tonfall.
Tristan zwang sich, seine Gedanken zurück auf den Unterricht zu lenken. Selbst mit Kurssystem würde er einen Großteil der nächsten zwei Jahre mit diesen Leuten verbringen. Es gab keinen Grund, gleich alles am ersten Tag erfahren zu wollen.
Er beobachtete, wie die anderen sich ebenfalls auf ihre Plätze begaben. Die meisten Stühle waren besetzt, es gab neben dem Fensterplatz an Tristans Tisch kaum noch Auswahl. Alle Übrigen schienen aber bereits einen Platz gefunden zu haben, sodass er das Jahr zumindest in Mathe wohl alleine sitzen würde.
Herr Daberkow erhob sich und trat vor den Lehrertisch. Daran gelehnt schob er den Hemdsärmel an seinem linken Handgelenk nach oben und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Wie automatisch sah Tristan sich um und fand schließlich auch an der Wand neben der Tafel eine Uhr. Insofern die richtig lief, blieben noch zwei Minuten bis zum Unterrichtsbeginn.
Ein Murmeln ging durch die Klasse. Als Tristan nach rechts zu Brendan sah, wirkte der mit einem Mal reichlich nervös. Auch er starrte förmlich auf die Uhr an der Wand und kaute dabei auf der Unterlippe. Als Tristan wieder zum Lehrer sah, hatte der die Stirn krausgezogen und sah über seine Brille hinweg direkt zu Brendan. Irgendwie wirkte die Szene wie aus einer schlechten Komödie.
Mit einem Mal knallte die Tür gegen die Wand, als sie mit zu viel Schwung aufgestoßen wurde. Schwer atmend und lautstark keuchend stand da ein weiterer Junge. Lockige schwarze Haare, die aussahen, als hätten sie in den vergangenen sechs Wochen Ferien kein einziges Mal einen Kamm gesehen. Das Gesicht war unrasiert, die Augen von dunklen Ringen umgeben.
„David!“, grölte es aus dem Kreis der Jungen, die zuvor noch rund um Brendan gestanden hatten. Auch der brach lautstark in Gelächter aus. Und als Tristan zu ihrem Lehrer blickte, konnte selbst der sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen.
In diesem Moment klingelte die Schulglocke.
„Herzlichen Glückwunsch, Herr Asch“, bemerkte ihr Lehrer, während er sich vom Tisch abstieß und einen Schritt auf den Jungen an der Tür zutrat. „Sie haben es tatsächlich geschafft, zu meiner ersten Stunde dieses Jahr nicht zu spät zu kommen.“
Der Junge richtete sich auf und grinste den Lehrer an. „Ah, ich habe mich nur für Sie beeilt, Herr Daberkow!“, behauptete er lachend.
„Natürlich. Ich schlage vor, Sie begeben sich auf Ihren Platz, David. Der Kurs hat das Schuljahr mit ausreichend komödiantischer Einlage Ihrerseits begonnen. Wir haben schließlich nur zwei Jahre, um selbst Sie in Mathematik fit genug für Ihr Abitur zu bekommen.“
Tristan reckte den Hals, um einen weiteren Blick auf den Jungen werfen zu können, von dem Amir behauptet hatte, er wäre Brendans ‚schlechtere Hälfte‘. Im Grunde sah der so durchschnittlich aus, wie man nur sein konnte. Einzig das freche Grinsen, mit dem er ihren Lehrer anstarrte, hatte durchaus etwas. Ebendieses verging David jedoch, als der sich umdrehte und seinen Blick über die Anwesenden gleiten ließ.
Erst als Tristan Davids Augen folgte, wurde ihm klar, was die eben noch so gute Stimmung offensichtlich getrübt hatte. Der Platz neben Brendan war durch einen breit grinsenden Amir belegt. Der lehnte sich betont lässig zurück und zog dabei die Augenbrauen nach oben. Noch provokanter hätte er nicht rüberkommen können.
„Wie lange wollen Sie denn hier herumstehen, David?“, unterbrach Herr Daberkow die Szene, bevor es neben provokant, zusätzlich auch noch peinlich werden konnte. „Setzen Sie sich bitte endlich.“ Leider hatte ihr Lehrer mit Tristan deutlich weniger Mitleid, denn der Kerl wandte sich nun ihm zu: „Sie sind neu in diesem Jahrgang, oder?“
Tristan nickte steif.
„Wie heißen Sie.“
„Tristan Niemek“, gab er verhalten zurück. Unsicher schob er die Brille die Nase hinauf – dabei war die vermutlich vorher nicht einmal heruntergerutscht. Aber die Bewegung gab ihm Gelegenheit den Kopf zu senken und lieber auf die Unterlagen vor sich zu sehen, als den Rest des Kurses anblicken zu müssen.
„Wie sind Ihre Mathenoten bisher gewesen?“
„Hm?“ Irritiert sah Tristan auf und bemerkte, dass Herr Daberkow ihn weiterhin forschend ansah. „Äh. Eins?“
„Sehr schön. Dann hoffe ich, dass das so bleibt“, meinte der Lehrer und wandte sich anschließend der ganzen Klasse zu. „Es ist ihr vorletztes Jahr. Und obwohl ich Ihnen für dieses ausgesprochen viel Freude wünsche, möchte ich Sie daran erinnern, dass man das Abitur auch an unserer Schule nicht geschenkt bekommt.“
Leises Lachen und Kichern war aus dem Kurs zu hören. Selbst Tristan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Typ war zwar alt, machte aber einen zunehmend netteren Eindruck. Da Tristan Mathe mochte und in der Tat in den letzten Jahren immer mit einer Eins auf dem Zeugnis darin hatte glänzen können, versprach das zumindest ein angenehmes Fach in den nächsten Wochen und Monaten. Vielleicht war der Umzug am Ende gar nicht so mies, wie er gedacht hatte.
„Wieso sitzen Sie dieses Jahr nicht neben Tristan, David?“, meinte Herr Daberkow mit einem Mal. „Womöglich schaffen Ihre Noten es, sich in die gleiche Richtung zu entwickeln.“
Erschrocken sah Tristan zunächst zum Lehrer, dann zu Brendan und schlussendlich zu seinem neuen Banknachbarn. Der sah nicht begeistert aus. Allerdings stand zu hoffen, dass das eher an der fehlenden als der neu gewonnen Gesellschaft lag. Auf keinen Fall wollte Tristan sich hier zum Außenseiter machen, bevor er überhaupt angekommen war. David zuckte jedoch mit einem Mal grinsend die Schultern und schlenderte durch die Reihe zu Tristan hinüber.
„Rutsch doch mal“, meinte David schlagartig besser gelaunt, kaum dass er neben dem Tisch stand.
„Der Fensterplatz ist frei, David“, tönte es da bereits aus Richtung des Lehrertisches. „Frische Luft schadet auch Ihnen nicht.“