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Der Waldelf - Das Herz der Sonnenberge

von Shizuka95
Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer, Fantasy / P12 / Gen
Elben & Elfen Kobolde & Feen Zauberer & Hexen
27.12.2022
21.03.2023
26
47.556
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19.03.2023 1.657
 
Bis zum Abend hatte ich die Bücher ohne Pause durchgearbeitet und mir unzählige Notizen gemacht, von denen ich jetzt schon wusste, dass die meisten davon hinfällig sein würden. Entweder Herr Fenas hatte meine Ideen schon längst ausprobiert oder er würde irgendetwas anderes daran auszusetzen haben. Mit einer gehörigen Portion Glück aber würde zumindest eine dabei sein, von der ich Herrn Fenas überzeugen könnte. Ich hatte mir vorgenommen, ihm gleich morgen früh meine Vorschläge zu unterbreiten. Auch wenn er mir aufgetragen hatte, mich nicht mehr blicken zu lassen, bis ich die Nullenergien wieder nutzen konnte.
Ich merkte kaum, wie die Stunden vergingen und hätte es nicht irgendwann an meiner Tür geklopft, hätte ich vermutlich nicht einmal gemerkt, dass der Tag fast vorbei war. Eilig schob ich meine Notizen, die auf mehreren Blatt Papier auf dem Wohnzimmertisch verstreut lagen, zusammen, dann stand ich auf und öffnete die Wohnungstür.
Vor mir stand eine Hochelfe mit honigblonden Haaren. Sie war relativ klein, damit aber immer noch ein paar Zentimeter größer als ich. Es war Alicia. Als ich kurz an ihr vorbei nach draußen blickte, sah ich nur in die Dunkelheit. „Ich habe es vergessen“, murmelte ich betreten.
Alicia lächelte zaghaft. „Das habe ich gemerkt. Deshalb dachte ich, vielleicht passt es besser, wenn ich dir einen Besuch abstatte? Oder störe ich?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht, komm rein.“
Als Alicia eintrat und es sich auf der Bank bequem machte, entging ihr mein Stapel an Büchern und Papier nicht. „Was ist das?“, fragte sie, während ihr Blick über meine Aufzeichnungen huschte.
Ich setzte mich neben sie. „Ich habe nach Heilmitteln für Herrn Fenas recherchiert.“
Mit großen Augen schaute Alicia mich an. „Hast du etwas gefunden?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Ich wiegte den Kopf hin und her. „Vermutlich nichts, was Herr Fenas noch nicht ausprobiert hat. Aber das werde ich morgen herausfinden, wenn ich zu ihm gehe.“
„Du willst zu ihm gehen? Aber ich dachte…“
„…dass er mich vorerst nicht sehen will“, unterbrach ich sie. „Ja, das stimmt.“ Ich zog die Schultern hoch. „Aber er sollte inzwischen wissen, dass ich mich nicht so leicht abwimmeln lasse.“
Alicia schmunzelte. „Dann ist das also jetzt deine neue Aufgabe? Herrn Fenas zu retten, koste es, was es wolle?“
„Das ist zumindest ein Plan, für den mich niemand verurteilen kann“, meinte ich.
Alicia legte ihren Kopf schief. „Hast du denn noch andere Pläne?“ Sie schob ihre Hände unsicher unter ihre Oberschenkel. „Ich meine nur… Weil du sagtest, dich würden die Nachtelfen noch beschäftigen.“
Ich zögerte mit meiner Antwort. Natürlich beschäftigten mich die Nachtelfen noch. Aber ich hatte mir doch jetzt fest vorgenommen, mich vorerst auf andere Dinge zu konzentrieren. „Meine anderen Pläne können warten“, sagte ich schließlich. „Herr Fenas nicht.“
Als Alicia nicht aufhörte, mich neugierig anzuschauen, fügte ich leise hinzu: „Ich möchte versuchen, den Fluch zu brechen.“
„Den Fluch brechen?“, wiederholte Alicia mit einer Mischung aus Erstaunen und Erschütterung. „Aber das kann doch nur der hohe Rat selbst. Wolltest du den Fluch brechen, bräuchtest du eine gewaltige Menge an magischer Energie, die du so nicht finden wirst. Ich bin mir sicher, selbst wenn alle Bewohner Grias versuchen würden, den Fluch aufzuheben, würde es ihnen nicht gelingen.“
„Ich weiß“, entgegnete ich matt. „Es wäre ein waghalsiger Versuch mit einer nahezu nichtigen Erfolgschance.“ Ich reckte die Arme in die Höhe, um mich zu strecken. Ich hatte heute viel zu viel Zeit im Sitzen verbracht. „Darum konzentriere ich mich erst einmal auf ein Thema, dass weniger waghalsig ist…“ Ich deutete auf das Papier auf dem Tisch. „…aber vermutlich eine fast ebenso geringe Erfolgschance hat.“
Alicia griff nach meinen Aufzeichnungen und las sie sich genauer durch.
„Die erste Seite ist weniger interessant“, sagte ich schnell. „Ich habe zwei Kräuter gefunden, die eventuell seine Beschwerden lindern könnten, ohne ihm dabei noch mehr zu schaden. Aber heilen werden sie ihn nicht.“ Ich nahm das oberste Blatt Papier aus Alicias Händen und legte es zurück auf den Tisch. „Auf der zweiten und dritten Seite steht etwas zu Gegengiften und Heilzaubern. Das wird vielleicht schon nützlicher sein.“  
Auf ihrer Stirn bildeten sich leichte Falten, als sie weiterlas. „Das sieht aus, als wolltest du Formeln verschiedener Gegengifte mit Heilzaubern kombinieren.“
„Du sagst das, als spräche etwas dagegen.“
Sie schaute mich fragen an. „Das einzige, was dagegen spricht, ist, dass diese Mischung wahnsinnig kompliziert ist.“
Ich grinste und sprang auf. „Warte einen Moment.“ Mit zügigen Schritten ging ich ins Schlafzimmer, in dem mein Rucksack stand. Ich fischte zwei gläserne Phiolen daraus. Eine beinhaltete eine blass weinrote, die andere eine kräftig tannengrüne Flüssigkeit. Ich kehrte zu Alicia zurück und hielt ihr die Phiolen vor die Nase. „So kompliziert war es gar nicht.“
Mit offen stehendem Mund nahm Alicia die Phiolen in die Hände. „Sind das zwei verschiedenen Gegengifte?“, fragte sie.
Ich nickte.
„Die hast du heute mal eben gemacht?“
Ich nickte erneut. „Allerdings habe ich dafür deinen Auftritt verpasst.“
Alicia schüttelte, noch immer fasziniert, den Kopf. „Wenn nur einer von diesen Tränken wirkt, sei dir das mehr als verziehen.“
„Da würde ich mir allerdings nicht allzu große Hoffnungen machen“, wandte ich ein. „Ich weiß nicht, was Herr Fenas schon alles ausprobiert hat.“
„Nevin, allein deine Aufzeichnungen sind so komplex, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass sich jemand vor dir schon solche Mühe damit gemacht hat, ein Gegengift zu finden“, entgegnete Alicia und legte die Phiolen auf den Tisch.
„Aber auch das muss nichts heißen“, sagte ich. „Nur weil etwas noch nicht ausprobiert wurde, heißt das nicht, dass es funktionieren wird.“
„Es muss einfach funktionieren.“ Alicia seufzte. „Ich kann mir die Akademie gar nicht ohne Herrn Fenas vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand anderes die Akademie leiten könnte.“
Ich sammelte die Phiolen wieder ein und betrachtete die bunten Flüssigkeiten nachdenklich.
Alicia hatte recht. Wer, wenn nicht Herr Fenas, sollte die Akademie leiten?
„Ich könnte mir höchstens deinen Vater als Akademieleiter vorstellen“, überlegte Alicia laut.
„Ich möchte mir darüber noch gar keine Gedanken machen“, entgegnete ich. „Aber dass mein Vater Akademieleiter werden würde, ist ausgeschlossen.“
„Warum?“
Unglücklich verzog ich den Mund und deutete mit meiner freien Hand auf mich. „Weil er froh sein kann, dass er überhaupt noch Lehrer sein darf.“
„Oh.“ Alicia senkte beschämt den Blick. „Daran habe ich nicht… Ich habe nicht…“, stammelte sie. „Tut mir leid…“
„Bevor ich mir Gedanken darum mache, wer ein guter Akademieleiter sein könnte“, wechselte ich das Thema, „würde ich mir doch noch eher überlegen, wer einen Grund hätte, den jetzigen Akademieleiter zu vergiften.“ Ich legte die Phiolen zurück in meinen Rucksack und setzte mich dann wieder zu Alicia auf die Bank. „Ob der hohe Rat dahintersteckt?“
Ich konnte spüren, wie Alicia neben mir zurückzuckte. „Niemals!“, widersprach sie heftig. „Warum sollte der hohe Rat so etwas tun?“
Ich zog die Schultern hoch. „Herr Fenas hat sicher schon einiges getan, was dem hohen Rat nicht gepasst hat. Vor allem seitdem ich an die Akademie gekommen bin.“
„Der hohe Rat weiß Herrn Fenas als Akademieleiter sehr zu schätzen“, erklärte Alicia. „Und selbst wenn nicht – ehe sie einen Giftanschlag auf ihn verüben würden, würden sie ihn einfach seines Amtes entheben. Sie würden ihn doch nicht einfach umbringen!“
Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte, meine Worte zurückzuhalten. Doch ich konnte mir eine bissige Bemerkung nicht verkneifen: „Wenn du das sagst. Nachdem sie ein ganzes Volk umgebracht haben, war ich mir da nicht mehr so sicher.“
Die Holzbank knarzte, als Alicia aufstand. Als ich zu ihr aufsah, bebte ihr Körper vor Anspannung. „Das… das ist etwas ganz anderes.“
„Ist es nicht“, beharrte ich.
„Herr Fenas ist ein Hochelf. Er gehört zu uns und er hat im Gegensatz zu den Nachtelfen niemanden getötet“, erinnerte mich Alicia. „Es ist etwas anderes.“
Alicia und ich starrten uns gegenseitig an und ich fragte mich, wie wir eigentlich schon wieder auf das Thema Nachtelfen gekommen waren. Ich wollte auf meiner Meinung beharren, ich wollte ihr sagen, dass die Hochelfen im hohen Rat für mich nichts anderes mehr als Mörder waren.
Ich biss mir auf die Zunge. Diesmal hielt ich mich zurück. Denn ich durfte nicht vergessen, dass der Hóyar, das Oberhaupt des hohen Rates, Alicias Vater war.
Ich schluckte meine Wut und meine Vorwürfe hinunter und nickte langsam. „Dann wird es wohl nicht der hohe Rat gewesen sein.“ Meine Stimme klang rauer und angesäuerter als ich wollte.
Alicia ließ ihre Schultern sinken. Doch sie setzte sich nicht wieder. Sie blieb eine Weile dort stehen und blickte hinunter auf den Boden zwischen dem Tisch und der Bank. Und je länger sie dort stand und zu Boden schaute, desto trauriger wirkte sie.
„Wenn du irgendwann den waghalsigen Versuch wagen willst, den Fluch zu brechen“, sagte sie, nachdem eine gefühlte Ewigkeit der Stille vergangen war, „dann will ich dir wieder dabei helfen.“ Jetzt erst sah sie mir wieder in die Augen. Und sie blickte mich dabei so niedergeschlagen und verletzt an, dass es mich selbst schmerzte. „Ich kann nicht rückgängig machen, was mein Vater angerichtet hat. Aber vielleicht kann ich helfen, es wiedergutzumachen.“ Tränen schimmerten in ihren Augen.
Ich erhob mich von der Bank und trat einen Schritt auf sie zu. „Das ist nicht deine Aufgabe.“ Ich nahm ihr Gesicht sanft in beide Hände. „Du musst gar nichts wiedergutmachen.“
Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel und tropfte auf meine rechte Hand. „Ich will es aber.“ Dann begann sie zu schluchzen und fiel in meine Arme. „Ich will es wiedergutmachen.“
Ich suchte nach tröstenden Worten, doch ich fühlte mich zu überrollt von ihren Gefühlen, als dass ich einen klaren Gedanken hätte fassen können.
Ich hatte nicht geahnt, dass sie sich Vorwürfe machte für das, was der Hóyar, ihr Vater, veranlasst hatte. Ich hatte nicht gedacht, dass sie scheinbar genauso sehr an dem Gedanken hing, die Nachtelfen zurückzuholen wie ich. Ich hatte nicht geglaubt, dass es sie so sehr quälte, dass unser Versuch, den Fluch aufzuhalten, gescheitert war.
„Danke“, sagte ich schließlich, während ich sie noch immer in meinen Armen hielt und weinen ließ. „Ich werde deine Hilfe sicher gebrauchen können.“
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