Eine lange Nacht (Der Jahreskreis - Teil 8)
Kurzbeschreibung
Das Ende des Pfades scheint erreicht worden zu sein. - Zeitrahmen: Die Geschichte spielt nach „The Knights of the Apocalypse“.
GeschichteDrama / P16 / Gen
Guy of Gisburne
OC (Own Character)
22.12.2022
22.12.2022
1
2.245
Alle Kapitel
noch keine Reviews
noch keine Reviews
Dieses Kapitel
noch keine Reviews
noch keine Reviews
22.12.2022
2.245
Seit der Gefangene hierhergebracht worden war, in den Kerker unterhalb der Burg von Winchester, bestand sein Leben – wenn er das denn immer noch ein Leben nennen wollte – aus einer einzigen langen Nacht. Und dies war im wörtlichen Sinne zu verstehen. Die Zeit davor war es ihm nur wie eine lange Nacht vorgekommen, aber nun war er gezwungen, im Dunkeln auszuharren. Er konnte ihr nur entgehen, wenn er schlief.
Ihm war bewusst, dies war noch nicht die endgültige Strafe für seine Vergehen, nicht das, was er zu erwarten hatte – das würde sehr viel rigoroser ausfallen – aber trotzdem sah er es als eine Art Bestrafung an. Und er war durchaus der Meinung, dies wäre angemessen, für das, was er getan hatte. Er hatte auch nicht vor zu leugnen, dass die Dinge, die man ihm vorwarf, der Wahrheit entsprachen. In dieser Hinsicht wollte er sich nichts vormachen, auch wenn er nicht verstehen konnte, wie es jemals so weit hatte kommen können. Was hatte ihn zu seinen Taten und Entscheidungen getrieben? Da er es selbst nicht verstand, war er auch nicht in der Lage, die entsprechenden Fragen derjenigen zu beantworten, die über ihn urteilen sollten. Dies war etwas, was denen nicht sonderlich gefiel und sie ließen ihn das spüren. Diese Nacht war nicht nur lang, sie war auch voller Schmerzen.
An Schmerzen war er allerdings bereits sein ganzes Leben gewöhnt, von klein auf hatte es sich nicht anders dargestellt. Aber auf diese Weise wusste er wenigstens, dass er noch am Leben war. Wie lange dieser Zustand allerdings noch anhalten würde, darauf hatte er keinerlei Einfluss, egal, was er seinen Befragern mitteilte und was diese ihm glaubten. Sie würden so oder so mit ihm machen, was sie für richtig hielten und es war ja auch nicht so, dass er anderer Meinung als sie wäre. Er wusste, er hatte eine Strafe verdient und er wusste auch, diese hatte hart auszufallen. Schließlich war dies sein ganzes Leben lang nie anders. Schon als kleiner Junge hatte der Mann, den alle für seinen Vater gehalten hatten – er selbst eingeschlossen – ihm beigebracht, dass er allein schon deshalb Strafe verdient hatte, weil es ihn gab. Und nichts, was er seitdem erlebt hatte, hatte ihm gezeigt, dass dies nicht stimmte.
Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er manchmal davon träumte, in seinem Leben müsste es auch noch etwas anderes geben. Etwas, über das andere Menschen verfügten. Liebe, Geborgenheit, Freunde, Familie. Aber sobald er wieder erwacht war, wusste er, dass dies auf ihn nicht zutraf. Er war nicht wie andere Menschen. Er war nichts wert und nichts, was er tat, konnte daran etwas ändern. Sein Stiefvater hatte ihn schon richtig eingeschätzt, auch wenn er selbst sich sein ganzes Leben lang dagegen gewehrt hatte. Jetzt aber wusste er, er hatte sich geirrt, als er dachte, er wäre in der Lage, etwas abzuändern.
Er war der festen Überzeugung, diese Qual, die andere Leben nannten, würde bald zu Ende gehen. Schon vor einiger Zeit hatte er den Eindruck gewonnen, dass er nicht mehr mit tatsächlichem Interesse befragt wurde, als habe er seinen Befragern alles mitgeteilt, was diese hatten wissen wollen. Keiner würde ihn mehr nach dem fragen, was er bisher noch nicht gesagt hatte, denn sie wollten nichts erfahren, was nicht ihrer Meinung entsprach. Aber das war ihm egal, denn er war von Anfang an nicht davon ausgegangen, es gäbe etwas, das ihn noch retten könnte. Sein einziger Wunsch hatte darin bestanden, es nicht so lange dauern zu lassen, aber auch den hatte er schon vor geraumer Zeit fallen lassen, denn selbst wenn er in Erfüllung gegangen wäre, hätte das ja nichts geändert.
Sein ganzes Leben lang hatte er nichts selbst bestimmen können – auch wenn er sich das von Zeit zu Zeit einbildete – da empfand er es schon fast als Erleichterung, dass er damit jetzt auch nicht anfangen musste. Wahrscheinlich hätte ihm dafür auch die Kraft gefehlt und überhaupt hätte er nicht gewusst, wie er das anstellen sollte. Eher wäre es ihm wie eine Tortur vorgekommen, wäre er gezwungen worden, für sich selbst zu entscheiden.
Er hatte sich oft die Frage gestellt, ob andere Personen sich nur einbildeten, sie hätten Einfluss auf ihr Leben, nur um immer wieder zu der Antwort zu kommen, dass es zwei Sorten Mensch gab: Diejenigen, die bestimmen durften und diejenigen, die das nicht konnten. De Rainault gehörte definitiv zu ersten Sorte, Hood auch, aber er selbst genauso sicher zur zweiten. Es gab bestimmt auch Menschen, die von einer Kategorie in die andere gelangen konnten, aber zu denen gehörte er nicht. Er hatte nie über irgendetwas bestimmt, sich das nur ab und zu eingebildet.
Ihm war bewusst, dass er gerade wieder damit begann, in Selbstmitleid zu versinken, aber er wusste auch, dass er in seinem Zustand nichts dagegen tun konnte. Seitdem er sich hier im Kerker befand, passierte dies immer öfter – oder es kam ihm zumindest so vor –aber er hatte das auch schon zuvor durchgemacht. Wenn er allerdings bedachte, wie sich sein Leben gestaltet hatte, so war er nicht verwundert darüber. Und auch nicht darüber, dass ihm dies jetzt öfter passierte, denn er war ja jetzt auf keinen Fall besser dran als früher.
Gerne hätte er jetzt geschlafen, aber weil er in seiner Zelle auch noch angekettet war, hatte er einfach zu wenig Gelegenheit, sich zu bewegen und daher fühlte er sich zwar erschöpft – wenn auch nicht körperlich – aber nicht müde. Und die Gedanken, die ihm permanent durch den Kopf gingen – und die er im Schlaf gerne losgeworden wäre – machten es ihm auch nicht leichter, einzuschlafen. Er konnte sich einfach nicht so weit entspannen und schalt sich gleichzeitig einen Idioten, weil er doch genau wusste, dass er verlernt hatte, bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort in Schlaf zu versinken. Zu der Zeit, als er als junger Mann in der Normandie kämpfte, hatte das kein Problem dargestellt, aber jetzt war er nicht mehr jung. Er konnte nur versuchen, sich mit dem Gedanken zu trösten, er müsse sich nicht mehr lange mit seinen Problemen herumplagen. Zumindest hoffte er das. Er wusste zwar, dass sein Ende unschön werden würde, aber es würde ein Ende sein. Von allem.
Ganz plötzlich war allerdings jegliche Schläfrigkeit verschwunden, die er eben noch empfunden hatte, denn er meinte, ein Geräusch gehört zu haben. Er konnte nicht sagen, wie lange es her war, dass sich jemand um ihn gekümmert, ihm etwas zu essen oder Wasser gebracht hatte, weil er nicht der Meinung war, dies geschähe in regelmäßigen Abständen. Es war aber auch möglich, dass er sich in dieser Hinsicht irrte. Trotzdem hatte er in diesen Fällen die Person immer schon hören können, bevor diese in die Nähe der Tür kam, weil es das einzige war, was er von außerhalb seiner Zelle wahrnehmen konnte.
Aber dieses Mal war das anders, denn er war der Meinung, etwas in seiner Zelle gehört zu haben und er war sich sicher, es war keine der Ratten, die es irgendwie immer schafften, überall hineinzukommen. Es hatte sich eher angehört wie Schritte, was wiederum nicht sein konnte, weil die Tür nicht geöffnet worden war. Wie sollte also jemand zu ihm hereingekommen sein? Vielleicht war er ja doch eingeschlafen und hatte das Geräusch geträumt?
Trotzdem lauschte er in die Dunkelheit hinein, ohne dass ihm tatsächlich bewusst wurde, wie sehr er sich nach der Gesellschaft eines anderen Menschen sehnte. Er war bereits sehr lange allein in seiner Zelle, auch wenn es Personen gab, die ihm etwas brachten, denn diese sprachen niemals mit ihm. Er hätte selbst die Befragungen dieser Einsamkeit vorgezogen, aber sie waren bereits vor einiger Zeit eingestellt worden. Zuerst hatte er ja geglaubt, in Ruhe gelassen zu werden wäre etwas, über das er sich freuen könnte, aber das hatte sich schlussendlich als Irrtum herausgestellt.
Völlig unerwartet flammte ein kleines Licht in der Dunkelheit auf und der Gefangene drehte seinen Kopf rasch zur Seite und schloss die Augen. Die Helligkeit, so gering sie auch sein mochte, hatte geschmerzt, denn es war zu lange her, dass er das Dunkel hatte verlassen dürfen.
„Was ist?“, brachte er nach einiger Zeit mit brüchiger Stimme hervor, nachdem ihm klargeworden war, dass die andere Person sich nicht gerührt und auch nichts von sich gegeben hatte.
„Es ist Jul“, antwortete ihm eine überraschend sanfte Stimme. „Jeder Mensch sollte an Jul die Möglichkeit haben, ein Licht in der Dunkelheit zu erblicken.“
Jul? War es tatsächlich möglich, dass er sich schon so lange hier aufhielt? Der Gefangene wusste es nicht.
„Ich nicht“, hörte er sich sagen und stellte im selben Moment fest, dass es ihm ernst mit diesen Worten war. Er war tatsächlich der Meinung, kein Licht zu verdienen.
„Auch du, Guy“, widersprach ihm der andere.
Guy schüttelte den Kopf. Dies war etwas, über das er nicht sprechen wollte.
„Wie seid Ihr hier hereingekommen?“, wollte er stattdessen wissen.
„Ich benötige keine Türen“, entgegnete der andere Mann.
„Dann seid Ihr der Tod“, stellte Guy fest, denn das war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.
Aber erneut wurde ihm widersprochen. „Im Gegenteil, mein Freund.“
Freund? „Ich habe keine Freunde“, gab er von sich. Dies war auch etwas, von dem er überzeugt war.
„Nicht alles, was du zu wissen glaubst, entspricht der Wahrheit, Guy.“ Der andere klang tatsächlich so, als meinte er das ernst.
Der Gefangene öffnete seine Augen, blickte aber nicht auf das Licht. Nicht etwa, weil er den Schmerz fürchtete, sondern weil er nicht sehen wollte, wer sich hier bei ihm in der Zelle befand. Er hatte das Gefühl, die Stimme zu kennen, aber ihm fiel nicht ein, wo er dem anderen begegnet sein könnte. Vor allem hatte er aber Angst, er würde verschwinden, wenn er ihn erblickte und dann wäre er wieder allein.
„Du kannst mich ruhig anblicken, Guy, ich verspreche dir, nicht ohne dich von hier zu verschwinden.“ Es war, als könne der andere seine Gedanken lesen.
„Dann seid Ihr doch der Tod. Er ist der einzige, der mich von hier wegbringen kann“, stellte Guy ohne jegliche Angst in seiner Stimme fest. Wenn er jetzt sterben sollte, dann war ihm das nur recht. Er war es leid, in dieser Zelle, in der Dunkelheit, zu verrotten.
Der andere lachte und dies war etwas, was der Gefangene schon lange nicht mehr gehört hatte. Es berührte ihn auf der Stelle und dann musste er feststellen, dass er angefangen hatte zu weinen.
„Das wollte ich nicht“, entschuldigte sich der Unbekannte.
„Ist schon gut“, entgegnete Guy, der nicht wollte, dass der andere sich schlecht fühlte. Und dann fragte er sich, wann er das letzte Mal auf diese Weise an einen anderen Menschen gedacht hatte. Er wusste es nicht mehr.
„Was wollt Ihr?“, wagte er endlich die Frage zu stellen, die ihm am wichtigsten erschien.
„Mein Versprechen einlösen, mein Freund“, erhielt er zur Antwort. Aber bevor er etwas darauf erwidern konnte, fuhr der andere bereits fort. „Es tut mir leid, aber ich hatte ganz vergessen, wie viel Zeit bei dir vergangen ist. Ich hätte viel früher kommen sollen.“
Diese Worte verwirrten Guy. Auch wenn er selbst nicht genau wusste, wie viel Zeit er hier im Dunkeln verbracht hatte, so durfte das doch jemanden, der frei war, nicht passieren, oder? Er konzentrierte sich lieber auf etwas anderes.
„Welches Versprechen?“, wollte er wissen.
„Sieh mich bitte an, Guy“, bat der Unbekannte den Gefangenen und er brachte das auf eine so eindringliche Art hervor, dass Guy dem nichts entgegenzusetzen hatte. Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, drehte er den Kopf und starrte auf die Gestalt, die im Schein einer Kerze gut zu erkennen war.
Zuerst blickte er den jungen Mann, den er sah, nur verständnislos an, denn er wusste nicht, wer er sein könnte. Er sah ein feingeschnittenes Gesicht, dunkle Augen und schwarzes, langes Haar. Der andere Mann wirkte im ersten Moment zerbrechlich, aber Guy wusste von irgendwo her, dass dies ein falscher Eindruck war. Der Unbekannte war alles, aber nicht zerbrechlich. Von einem auf den anderen Moment wusste Guy, dass der junge Mann so stark war wie niemand sonst, den er kennengelernt hatte, aber auch so entschlossen, wie niemand sonst.
„Welches Versprechen?“, wiederholte Guy, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
„Das Versprechen, du könnest ein Teil meiner Familie werden und mit uns leben, Guy“, entgegnete der andere.
Dem Gefangenen war, als würde er sich auf einmal rückwärts durch die Zeit bewegen. Er erinnerte sich mit einem Mal an seine Ausflüge in den Wald, der sich in der Nähe des Hauses befand, in dem er aufgewachsen war. Er erinnerte sich auch an einen Sommer, in dem er eine ganze Nacht in diesem Wald verbracht hatte. Und dabei hatte es sich nicht um irgendeine Nacht gehandelt, sondern um die kürzeste des Jahres. Und er hatte sie auch nicht allein verbracht, sondern mit einem Freund. Einem Freund, den er offenbar schon vor langer Zeit vergessen hatte, was ihm sehr unangenehm war.
Der andere lächelte ihn an und streckte ihm dann seine Hand entgegen.
„Lass uns gehen, Guy“, bat er ihn.
Guy of Gisburne - der Zeit seines Lebens davon überzeugt war, kein Recht zu haben, diesen Namen zu tragen, der einstmals ein Ritter war, Stellvertreter des Sheriffs von Nottingham, bis er sich von allem abgewandt hatte, was er zuvor als richtig ansah, um sich an einen Dämonen zu binden, der ihm Rache versprochen hatte - ergriff die Hand seines Freundes, der so sehr viel jünger wirkte als er selbst. Im selben Moment spürte er, wie alles, was ihn fesselte, von ihm abfiel.
„Wenn das dein Wunsch ist, dann werde ich dich gerne begleiten, Hasel.“ Die lange Nacht hatte für den jungen Mann jeglichen Schrecken verloren.
Ihm war bewusst, dies war noch nicht die endgültige Strafe für seine Vergehen, nicht das, was er zu erwarten hatte – das würde sehr viel rigoroser ausfallen – aber trotzdem sah er es als eine Art Bestrafung an. Und er war durchaus der Meinung, dies wäre angemessen, für das, was er getan hatte. Er hatte auch nicht vor zu leugnen, dass die Dinge, die man ihm vorwarf, der Wahrheit entsprachen. In dieser Hinsicht wollte er sich nichts vormachen, auch wenn er nicht verstehen konnte, wie es jemals so weit hatte kommen können. Was hatte ihn zu seinen Taten und Entscheidungen getrieben? Da er es selbst nicht verstand, war er auch nicht in der Lage, die entsprechenden Fragen derjenigen zu beantworten, die über ihn urteilen sollten. Dies war etwas, was denen nicht sonderlich gefiel und sie ließen ihn das spüren. Diese Nacht war nicht nur lang, sie war auch voller Schmerzen.
An Schmerzen war er allerdings bereits sein ganzes Leben gewöhnt, von klein auf hatte es sich nicht anders dargestellt. Aber auf diese Weise wusste er wenigstens, dass er noch am Leben war. Wie lange dieser Zustand allerdings noch anhalten würde, darauf hatte er keinerlei Einfluss, egal, was er seinen Befragern mitteilte und was diese ihm glaubten. Sie würden so oder so mit ihm machen, was sie für richtig hielten und es war ja auch nicht so, dass er anderer Meinung als sie wäre. Er wusste, er hatte eine Strafe verdient und er wusste auch, diese hatte hart auszufallen. Schließlich war dies sein ganzes Leben lang nie anders. Schon als kleiner Junge hatte der Mann, den alle für seinen Vater gehalten hatten – er selbst eingeschlossen – ihm beigebracht, dass er allein schon deshalb Strafe verdient hatte, weil es ihn gab. Und nichts, was er seitdem erlebt hatte, hatte ihm gezeigt, dass dies nicht stimmte.
Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er manchmal davon träumte, in seinem Leben müsste es auch noch etwas anderes geben. Etwas, über das andere Menschen verfügten. Liebe, Geborgenheit, Freunde, Familie. Aber sobald er wieder erwacht war, wusste er, dass dies auf ihn nicht zutraf. Er war nicht wie andere Menschen. Er war nichts wert und nichts, was er tat, konnte daran etwas ändern. Sein Stiefvater hatte ihn schon richtig eingeschätzt, auch wenn er selbst sich sein ganzes Leben lang dagegen gewehrt hatte. Jetzt aber wusste er, er hatte sich geirrt, als er dachte, er wäre in der Lage, etwas abzuändern.
Er war der festen Überzeugung, diese Qual, die andere Leben nannten, würde bald zu Ende gehen. Schon vor einiger Zeit hatte er den Eindruck gewonnen, dass er nicht mehr mit tatsächlichem Interesse befragt wurde, als habe er seinen Befragern alles mitgeteilt, was diese hatten wissen wollen. Keiner würde ihn mehr nach dem fragen, was er bisher noch nicht gesagt hatte, denn sie wollten nichts erfahren, was nicht ihrer Meinung entsprach. Aber das war ihm egal, denn er war von Anfang an nicht davon ausgegangen, es gäbe etwas, das ihn noch retten könnte. Sein einziger Wunsch hatte darin bestanden, es nicht so lange dauern zu lassen, aber auch den hatte er schon vor geraumer Zeit fallen lassen, denn selbst wenn er in Erfüllung gegangen wäre, hätte das ja nichts geändert.
Sein ganzes Leben lang hatte er nichts selbst bestimmen können – auch wenn er sich das von Zeit zu Zeit einbildete – da empfand er es schon fast als Erleichterung, dass er damit jetzt auch nicht anfangen musste. Wahrscheinlich hätte ihm dafür auch die Kraft gefehlt und überhaupt hätte er nicht gewusst, wie er das anstellen sollte. Eher wäre es ihm wie eine Tortur vorgekommen, wäre er gezwungen worden, für sich selbst zu entscheiden.
Er hatte sich oft die Frage gestellt, ob andere Personen sich nur einbildeten, sie hätten Einfluss auf ihr Leben, nur um immer wieder zu der Antwort zu kommen, dass es zwei Sorten Mensch gab: Diejenigen, die bestimmen durften und diejenigen, die das nicht konnten. De Rainault gehörte definitiv zu ersten Sorte, Hood auch, aber er selbst genauso sicher zur zweiten. Es gab bestimmt auch Menschen, die von einer Kategorie in die andere gelangen konnten, aber zu denen gehörte er nicht. Er hatte nie über irgendetwas bestimmt, sich das nur ab und zu eingebildet.
Ihm war bewusst, dass er gerade wieder damit begann, in Selbstmitleid zu versinken, aber er wusste auch, dass er in seinem Zustand nichts dagegen tun konnte. Seitdem er sich hier im Kerker befand, passierte dies immer öfter – oder es kam ihm zumindest so vor –aber er hatte das auch schon zuvor durchgemacht. Wenn er allerdings bedachte, wie sich sein Leben gestaltet hatte, so war er nicht verwundert darüber. Und auch nicht darüber, dass ihm dies jetzt öfter passierte, denn er war ja jetzt auf keinen Fall besser dran als früher.
Gerne hätte er jetzt geschlafen, aber weil er in seiner Zelle auch noch angekettet war, hatte er einfach zu wenig Gelegenheit, sich zu bewegen und daher fühlte er sich zwar erschöpft – wenn auch nicht körperlich – aber nicht müde. Und die Gedanken, die ihm permanent durch den Kopf gingen – und die er im Schlaf gerne losgeworden wäre – machten es ihm auch nicht leichter, einzuschlafen. Er konnte sich einfach nicht so weit entspannen und schalt sich gleichzeitig einen Idioten, weil er doch genau wusste, dass er verlernt hatte, bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort in Schlaf zu versinken. Zu der Zeit, als er als junger Mann in der Normandie kämpfte, hatte das kein Problem dargestellt, aber jetzt war er nicht mehr jung. Er konnte nur versuchen, sich mit dem Gedanken zu trösten, er müsse sich nicht mehr lange mit seinen Problemen herumplagen. Zumindest hoffte er das. Er wusste zwar, dass sein Ende unschön werden würde, aber es würde ein Ende sein. Von allem.
Ganz plötzlich war allerdings jegliche Schläfrigkeit verschwunden, die er eben noch empfunden hatte, denn er meinte, ein Geräusch gehört zu haben. Er konnte nicht sagen, wie lange es her war, dass sich jemand um ihn gekümmert, ihm etwas zu essen oder Wasser gebracht hatte, weil er nicht der Meinung war, dies geschähe in regelmäßigen Abständen. Es war aber auch möglich, dass er sich in dieser Hinsicht irrte. Trotzdem hatte er in diesen Fällen die Person immer schon hören können, bevor diese in die Nähe der Tür kam, weil es das einzige war, was er von außerhalb seiner Zelle wahrnehmen konnte.
Aber dieses Mal war das anders, denn er war der Meinung, etwas in seiner Zelle gehört zu haben und er war sich sicher, es war keine der Ratten, die es irgendwie immer schafften, überall hineinzukommen. Es hatte sich eher angehört wie Schritte, was wiederum nicht sein konnte, weil die Tür nicht geöffnet worden war. Wie sollte also jemand zu ihm hereingekommen sein? Vielleicht war er ja doch eingeschlafen und hatte das Geräusch geträumt?
Trotzdem lauschte er in die Dunkelheit hinein, ohne dass ihm tatsächlich bewusst wurde, wie sehr er sich nach der Gesellschaft eines anderen Menschen sehnte. Er war bereits sehr lange allein in seiner Zelle, auch wenn es Personen gab, die ihm etwas brachten, denn diese sprachen niemals mit ihm. Er hätte selbst die Befragungen dieser Einsamkeit vorgezogen, aber sie waren bereits vor einiger Zeit eingestellt worden. Zuerst hatte er ja geglaubt, in Ruhe gelassen zu werden wäre etwas, über das er sich freuen könnte, aber das hatte sich schlussendlich als Irrtum herausgestellt.
Völlig unerwartet flammte ein kleines Licht in der Dunkelheit auf und der Gefangene drehte seinen Kopf rasch zur Seite und schloss die Augen. Die Helligkeit, so gering sie auch sein mochte, hatte geschmerzt, denn es war zu lange her, dass er das Dunkel hatte verlassen dürfen.
„Was ist?“, brachte er nach einiger Zeit mit brüchiger Stimme hervor, nachdem ihm klargeworden war, dass die andere Person sich nicht gerührt und auch nichts von sich gegeben hatte.
„Es ist Jul“, antwortete ihm eine überraschend sanfte Stimme. „Jeder Mensch sollte an Jul die Möglichkeit haben, ein Licht in der Dunkelheit zu erblicken.“
Jul? War es tatsächlich möglich, dass er sich schon so lange hier aufhielt? Der Gefangene wusste es nicht.
„Ich nicht“, hörte er sich sagen und stellte im selben Moment fest, dass es ihm ernst mit diesen Worten war. Er war tatsächlich der Meinung, kein Licht zu verdienen.
„Auch du, Guy“, widersprach ihm der andere.
Guy schüttelte den Kopf. Dies war etwas, über das er nicht sprechen wollte.
„Wie seid Ihr hier hereingekommen?“, wollte er stattdessen wissen.
„Ich benötige keine Türen“, entgegnete der andere Mann.
„Dann seid Ihr der Tod“, stellte Guy fest, denn das war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.
Aber erneut wurde ihm widersprochen. „Im Gegenteil, mein Freund.“
Freund? „Ich habe keine Freunde“, gab er von sich. Dies war auch etwas, von dem er überzeugt war.
„Nicht alles, was du zu wissen glaubst, entspricht der Wahrheit, Guy.“ Der andere klang tatsächlich so, als meinte er das ernst.
Der Gefangene öffnete seine Augen, blickte aber nicht auf das Licht. Nicht etwa, weil er den Schmerz fürchtete, sondern weil er nicht sehen wollte, wer sich hier bei ihm in der Zelle befand. Er hatte das Gefühl, die Stimme zu kennen, aber ihm fiel nicht ein, wo er dem anderen begegnet sein könnte. Vor allem hatte er aber Angst, er würde verschwinden, wenn er ihn erblickte und dann wäre er wieder allein.
„Du kannst mich ruhig anblicken, Guy, ich verspreche dir, nicht ohne dich von hier zu verschwinden.“ Es war, als könne der andere seine Gedanken lesen.
„Dann seid Ihr doch der Tod. Er ist der einzige, der mich von hier wegbringen kann“, stellte Guy ohne jegliche Angst in seiner Stimme fest. Wenn er jetzt sterben sollte, dann war ihm das nur recht. Er war es leid, in dieser Zelle, in der Dunkelheit, zu verrotten.
Der andere lachte und dies war etwas, was der Gefangene schon lange nicht mehr gehört hatte. Es berührte ihn auf der Stelle und dann musste er feststellen, dass er angefangen hatte zu weinen.
„Das wollte ich nicht“, entschuldigte sich der Unbekannte.
„Ist schon gut“, entgegnete Guy, der nicht wollte, dass der andere sich schlecht fühlte. Und dann fragte er sich, wann er das letzte Mal auf diese Weise an einen anderen Menschen gedacht hatte. Er wusste es nicht mehr.
„Was wollt Ihr?“, wagte er endlich die Frage zu stellen, die ihm am wichtigsten erschien.
„Mein Versprechen einlösen, mein Freund“, erhielt er zur Antwort. Aber bevor er etwas darauf erwidern konnte, fuhr der andere bereits fort. „Es tut mir leid, aber ich hatte ganz vergessen, wie viel Zeit bei dir vergangen ist. Ich hätte viel früher kommen sollen.“
Diese Worte verwirrten Guy. Auch wenn er selbst nicht genau wusste, wie viel Zeit er hier im Dunkeln verbracht hatte, so durfte das doch jemanden, der frei war, nicht passieren, oder? Er konzentrierte sich lieber auf etwas anderes.
„Welches Versprechen?“, wollte er wissen.
„Sieh mich bitte an, Guy“, bat der Unbekannte den Gefangenen und er brachte das auf eine so eindringliche Art hervor, dass Guy dem nichts entgegenzusetzen hatte. Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, drehte er den Kopf und starrte auf die Gestalt, die im Schein einer Kerze gut zu erkennen war.
Zuerst blickte er den jungen Mann, den er sah, nur verständnislos an, denn er wusste nicht, wer er sein könnte. Er sah ein feingeschnittenes Gesicht, dunkle Augen und schwarzes, langes Haar. Der andere Mann wirkte im ersten Moment zerbrechlich, aber Guy wusste von irgendwo her, dass dies ein falscher Eindruck war. Der Unbekannte war alles, aber nicht zerbrechlich. Von einem auf den anderen Moment wusste Guy, dass der junge Mann so stark war wie niemand sonst, den er kennengelernt hatte, aber auch so entschlossen, wie niemand sonst.
„Welches Versprechen?“, wiederholte Guy, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
„Das Versprechen, du könnest ein Teil meiner Familie werden und mit uns leben, Guy“, entgegnete der andere.
Dem Gefangenen war, als würde er sich auf einmal rückwärts durch die Zeit bewegen. Er erinnerte sich mit einem Mal an seine Ausflüge in den Wald, der sich in der Nähe des Hauses befand, in dem er aufgewachsen war. Er erinnerte sich auch an einen Sommer, in dem er eine ganze Nacht in diesem Wald verbracht hatte. Und dabei hatte es sich nicht um irgendeine Nacht gehandelt, sondern um die kürzeste des Jahres. Und er hatte sie auch nicht allein verbracht, sondern mit einem Freund. Einem Freund, den er offenbar schon vor langer Zeit vergessen hatte, was ihm sehr unangenehm war.
Der andere lächelte ihn an und streckte ihm dann seine Hand entgegen.
„Lass uns gehen, Guy“, bat er ihn.
Guy of Gisburne - der Zeit seines Lebens davon überzeugt war, kein Recht zu haben, diesen Namen zu tragen, der einstmals ein Ritter war, Stellvertreter des Sheriffs von Nottingham, bis er sich von allem abgewandt hatte, was er zuvor als richtig ansah, um sich an einen Dämonen zu binden, der ihm Rache versprochen hatte - ergriff die Hand seines Freundes, der so sehr viel jünger wirkte als er selbst. Im selben Moment spürte er, wie alles, was ihn fesselte, von ihm abfiel.
„Wenn das dein Wunsch ist, dann werde ich dich gerne begleiten, Hasel.“ Die lange Nacht hatte für den jungen Mann jeglichen Schrecken verloren.