Der Widersacher (Der Ketzer und sein Widersacher #2)
Kurzbeschreibung
Die Bemühungen, in sein früheres Leben zurückzukehren, verursachen eine Katastrophe. - Zeitrahmen: Diese Geschichte spielt nach „The Knights of the Apocalypse“
GeschichteDrama / P16 / Gen
Guy of Gisburne
König John
Robert de Rainault der Sheriff of Nottingham
Robin of Loxley / Robert of Huntingdon
15.12.2022
15.12.2022
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Ich war mir sicher, dass dieser Tag einer der schlimmsten in meinem Leben werden würde. Zumindest würde er sich mit Sicherheit fast so stark auf mich auswirken wie der Tag, an dem mein Vater gestorben war, denn heute würde ich erneut ein Familienmitglied verlieren. Und ich musste wieder feststellen, dass ich auch dieses Mal dem Ereignis hilflos gegenüberstand, ohne irgendeine Möglichkeit einzugreifen. An diesem niederschmetternden Gefühl änderte auch die Tatsache nichts, dass mir dieses Familienmitglied niemals wirklich nahegestanden hatte. Wir beide hatten uns im Gegenteil immer auf verschiedenen Seiten wiedergefunden und ich konnte nicht leugnen, diesen Mann aus voller Seele gehasst zu haben.
Als ich erfuhr, dass es sich bei diesem Mann um meinen Bruder – um meinen Halbbruder – handelte, erschütterte mich dies ziemlich stark und ich hatte lange nicht gewusst, wie ich darauf reagieren sollte. Niemanden zu haben, mit dem ich über die ganze Angelegenheit sprechen konnte – sah man von Tuck ab, der aber an das Beichtgeheimnis gebunden war – hatte mich darüber hinaus noch mehr belastet. Und dies ging schon seit Jahren so.
Ich hatte lange mit der Frage gerungen, wem ich denn davon erzählen könnte. Ich konnte mich nie dazu überwinden, meinen Bruder einzuweihen - der niemals erfahren hatte, wer wirklich sein Vater war - denn ich fürchtete seine Reaktion. Ich konnte mir nicht vorstellen, der andere würde auf einmal familiäre Gefühle entwickeln, denn er war – meiner Meinung nach – von Hass zerfressen. Aber ich wusste auch nicht, wie ich das Geheimnis mit meinem Vater teilen könnte. Schließlich warf ich es dem Earl dann vor, ohne es zu wollen, aber zu diesem Zeitpunkt stand ich unter dem Bann eines Zaubers. Die Erinnerung an diesen Tag schmerzt mich bis heute noch, weil ich mir auch sicher bin, ab dann habe sich mein Vater ebenfalls mit der Frage herumgeplagt, ob er es riskieren konnte, den älteren seiner Söhne einzuweihen. Bestimmt belastete es ihn aber, als er wieder und wieder zu der Entscheidung kommen musste, er könne ihm nichts sagen. Und im Endeffekt sollte er niemals die Gelegenheit dazu erhalten.
Irgendwann war ich aber zu der Erkenntnis gekommen, ich müsse das schreckliche Familiengeheimnis mit der Frau teilen, die ich liebte und die mich ebenfalls liebte. Aber obwohl sich dies nicht als ein Desaster herausstellte, konnte ich mich meinen Freunden trotzdem nicht offenbaren. Das hätte ganz bestimmt viel zu viel Schaden angerichtet, denn sie alle hassten meinen Bruder wie den Teufel persönlich.
Aber am heutigen Tag würde sich dieses Problem nun lösen und danach musste niemand mehr erfahren, in welcher Beziehung wir gestanden hatten, denn dann wäre das in keiner Hinsicht mehr wichtig. Seltsamerweise wünschte ich mir aber nichts sehnlicher, als den vorgegebenen Ablauf dieses Tages verändern zu können. Seit Monaten schon zerbrach ich mir den Kopf, wie ich meinem Bruder helfen konnte und ich hatte meine Bemühungen noch einmal verstärkt, nachdem der König sein Urteil verkündet hatte. Aber ich war zu keiner Lösung gekommen.
Nun saß ich hier und konnte nichts anderes tun, als auf den Mann zu blicken, der heute hier sein Leben verlieren würde. Sicherlich hatte er den Tod verdient und dies sogar aus mehr als einem Grund. Ich musste auch zugeben, dass ich mich längst nicht so schwertun würde, wenn es der Scharfrichter mit dem Schwert wäre, der das Urteil vollstrecken sollte. Dies jedoch war nicht der Fall und das bereitete mir durchaus körperliche Schmerzen, denn ich hatte keinen Weg gefunden, dem anderen die Qualen zu ersparen, die er bald erleiden würde.
Früher, zu einer Zeit, als ich noch nicht wieder den Platz eingenommen hatte, von dem mein Vater von meiner Geburt an überzeugt war, er wäre meiner, da hätte ich kein Problem damit gehabt, eine passende Vorgehensweise zu finden. Ich hätte mich mit meinem Bogen so platziert, dass ich den Gefangenen mit einem Pfeil erlösen konnte. Nun aber war ich gezwungen in der Nähe des Königs zwischen den anderen Baronen zu sitzen, die der Hinrichtung beiwohnen wollten, und ich hätte alles zunichtegemacht, was ich in den letzten Monaten erreichen konnte, wenn ich die Waffe eines Gesetzlosen mit hierhergebracht hätte. Dies hätte meine Freunde und vor allen meine kleine Familie, also meine Ehefrau und meinen neugeborenen Sohn David, in große Gefahr gebracht. Ich hatte das Leben – oder besser gesagt: den raschen Tod – meines Erzfeindes gegen das Leben und Glück der anderen aufwiegen müssen und eigentlich hätte mir diese Entscheidung nicht schwerfallen dürfen. Trotzdem hatte ich das nicht auf diese Weise empfunden.
Ich wusste aber, dies lag vor allem daran, dass ich mich schuldig fühlte. Ich war mir ganz sicher, es waren meine Worte, die den König dazu bewogen hatten, dieses Urteil zu fällen. Und dies hatte dann natürlich zu dem geführt, was an diesem Tag geschehen würde. Ohne meine Aussage wäre wahrscheinlich alles anders geworden. Auf jeden Fall einfacher für mich zu ertragen und bestimmt auch einfacher für meinen Bruder.
Ich hatte darauf geachtet, die Große Halle erst zu betreten, nachdem der Gefangene dorthin gebracht worden war. Ich hatte mich bei dem Gedanken nicht wohlgefühlt, dass er mich zu Gesicht bekommen würde, auch wenn ich nicht sagen konnte, woher dieses Gefühl stammte. Trotzdem war mir natürlich bewusst, dass ich dem nicht völlig entgehen konnte, schließlich war ich hierhergekommen – oder besser gesagt: ich war hierher befohlen worden - weil das Gericht meine Aussage hören wollte.
Es gab allerdings noch einen weiteren Grund, weswegen ich mich erst so spät in die Halle begeben hatte. Früher hätte es mir keine Probleme bereitet, mich unter die Menschen zu mischen, die gekommen waren, um die Verhandlung gegen den einzig überlebenden Ritter der Apokalypse zu verfolgen. Aber früher war ich auch noch zu jung, um wirklich begreifen zu können, um was es heute hier ging. Mein früheres Ich wäre ganz bestimmt der Meinung, der Angeklagte würde nur bekommen, was ihm zustand. Inzwischen war ich zu der Erkenntnis gekommen, die meisten jungen Menschen würden dazu neigen, alles nur schwarz und weiß zu sehen und würden auch nur wenig Veranlassung zeigen, darüber nachzudenken, welche Gründe jemand gehabt haben könnte, auf eine ganz bestimmte Weise gehandelt zu haben. Und ich war auch nicht der Meinung, ich habe mich in dieser Hinsicht von der Mehrheit der jungen Menschen unterschieden, auch wenn ich das lange glaubte.
Jetzt aber war ich nicht mehr jung und ich hatte auch in den letzten Jahren ausreichend Erfahrungen sammeln können, um zu wissen, dass nicht immer alles so war, wie es sich auf den ersten Blick darstellte. Ich wusste nun, es gab Dinge, die Menschen zu Handlungen treiben konnten, an die sie anderenfalls niemals gedacht hätten. Es gab Vorkommnisse, die Menschen auf eine Art veränderten, die ganz bestimmt nicht gut zu nennen war und die sie zu einer Version von sich selbst machten, die sie in den Augen anderer als „schlecht“ dastehen lassen würde. Inzwischen war ich zu der Erkenntnis gelangt, dass einige der Dinge, die mein Bruder getan hatte, auf so etwas zurückzuführen waren. Wie sonst ließe sich erklären, dass ein Mann mit Lady Margaret als Mutter und David of Huntingdon als Vater für derartige Gräueltaten verantwortlich war? Ich hatte auf jeden Fall keine andere Erklärung finden können. Es sei denn, ich glaubte daran, es gäbe Menschen, die schon von Geburt an schlecht waren. Das aber wollte ich nicht.
Es war aber nicht nur die Tatsache, dass ich heutzutage nicht mehr jung und unbedarft war, die mir Probleme dabei bereitete, mich unter die anderen meines Standes zu mischen. Vor allem lag das natürlich daran, dass ich meine letzten Jahre in Sherwood zugebracht hatte, als ein Gesetzloser. Und nicht etwa als irgendein gewöhnlicher Gesetzloser, wenn man den anderen Menschen glauben wollte, sondern als der bekannteste und berüchtigtste des ganzen Reiches. Ich hielt das allerdings für übertrieben, denn ich wusste ja, dass ein Großteil dieses „Ruhms“ auf die Taten meines Vorgängers zurückzuführen war. Ich wollte mich auf keinen Fall mit fremden Federn schmücken. Trotzdem standen diese Jahre nun wie eine unüberwindliche Mauer zwischen mir und den anderen Adeligen. Ich hatte Erfahrungen gesammelt, von denen kaum jemand hier in der Halle eine Ahnung hatte, sah ich einmal von den Dienern oder den einfachen Soldaten ab. Dies waren aber auch Erfahrungen, die kaum jemand hätte sammeln wollen, denn als Adeliger führte man ein solches Leben nicht.
Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, von meinen Standesgenossen wieder aufgenommen worden zu sein, nachdem der König mich – und die anderen – begnadigt hatte. Und ich wusste, John habe das nur getan, weil er keinen Weg gefunden hatte, die Beteiligung dieses Gesetzlosen am Sieg über die Ritter der Apokalypse als nicht vorhanden zu erklären. Dazu gab es zu viele glaubwürdige Zeugen für das, was ich in St. John’s getan hatte, nicht nur meine und Marions Aussage oder die meiner Freunde. Da waren auch die Mönche, die uns im Kampf beigestanden hatten und selbst de Rainault hatte nicht völlig unterschlagen können, auf welchem Weg er nach St. John’s gekommen war und dass er die Ritter nicht alle eigenhändig erschlagen hatte.
Ich hatte es nicht als einfach empfunden, in mein „altes“ Leben zurückzukehren, weil ich schon lange nicht mehr der Mensch war, der vor vielen Jahren Hernes Ruf gefolgt war. Und ich war auch nicht die Art Mensch, die meine Zeit in Sherwood einfach als „Jugendsünde“ abtun und vergessen konnte. Wie sollte ich ablegen, was ich in diesen Jahren erlebt und erfahren hatte? Dies war mir einfach nicht möglich.
Seitdem der König mich als Earl of Huntingdon bestätigt hatte, war ich allerdings allem ferngeblieben, was mich mit meiner Zeit als Gesetzloser verband, mit Ausnahme meiner Ehefrau und meiner Freunde, die mir nach Huntingdon gefolgt waren. Dies lag aber nicht daran, dass ich mich wegen dieser Zeit schämte, es hatte sich allerdings als die einzige Möglichkeit für mich herausgestellt, nach dem Tod meines Vaters und den übrigen Veränderungen in meinem Leben nicht die Kontrolle über mich selbst zu verlieren oder vielleicht sogar zusammenzubrechen. Für mich hatte sich das als die einzige Möglichkeit dargestellt, in meinem neuen Leben anzukommen, ohne das alte vergessen zu müssen.
Aber nun befand ich mich hier und war nicht mehr in der Lage, mit dieser Strategie weiterzumachen. Jetzt musste ich mich wieder meiner Vergangenheit stellen, nur um festzustellen, dass mir das ziemlich schwerfiel. War ich tatsächlich ein solcher Feigling? Fürchtete ich mich so sehr vor dem, was heute hier geschehen würde. Damit meinte ich nicht etwa die Verhandlung, sondern was mit mir selbst passieren würde, weil ich hierhergekommen war. Vielleicht entsprach es tatsächlich der Wahrheit, dass ich nicht so mutig war wie mein Bruder, der sich vor nichts zu fürchten schien. Noch nicht einmal davor, sein Leben durch das Schwert des Scharfrichters zu verlieren.
Ich hatte gedacht, wenn ich dem König alles mitteilen würde, was nötig war, damit ich doch den Platz meines Vaters einnehmen konnte, wäre die ganze Angelegenheit, die mit dem Kampf in St. John’s zu Ende gegangen war, abgeschlossen worden. Ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet, ich würde gezwungen sein, all das noch einmal von mir geben zu müssen. Gab es nicht bereits genug, was gegen den Letzten der Ritter der Apokalypse sprach. War es wirklich nötig, dass ich hatte hierherkommen müssen? Und hatte der König auch Marion hierher befehlen müssen? Damit hatte er sie zu Tode erschreckt.
Marion hatte sich davor gefürchtet, diesem Befehl Folge zu leisten. Und sie hatte sich ebenfalls davor gefürchtet, ihm nicht Folge zu leisten. Es hatte mich sehr viel Überzeugungsarbeit gekostet, bis sie mir nachgegeben hatte und an einem sicheren Ort geblieben war. Zusammen mit unseren Freunden. Sie hatte Angst davor gehabt, mich allein gehen zu lassen, daher hatte ich ihr versichert, als Earl of Huntingdon wäre ich sicher, obwohl ich das selbst nicht glaubte. Sollte sie jemals erfahren, dass ich sie in dieser Angelegenheit hintergangen habe, dass ich ihr etwas vorgemacht hatte, dann war es nicht ausgeschlossen, dass sie mir das niemals verzeihen konnte. Aus diesem Grund hatte ich mit niemandem über meine Befürchtungen sprechen können, sondern hatte stattdessen alles für mich behalten und deshalb konnte ich jetzt nur noch hoffen, der König werde akzeptieren, dass ich meine Gemahlin nicht mitgebracht habe. Schließlich hatte ich ja einen durchaus nachvollziehbaren Grund parat.
Die Wahrheit war aber, dass ich sie weder der Gegenwart des Königs noch der des Sheriffs hatte aussetzen wollen. Aber auch nicht der der anderen Barone, schließlich wusste ich, wie sie über sie dachten. Ich wusste selbstverständlich auch, was sie über mich dachten, aber meine neue Position schützte mich in einem gewissen Maß. Für sie hätte das allerdings anders ausgesehen. Vor allem hatte ich sie aber deshalb nicht mitgenommen, weil es mir unmöglich war, vor ihr zu verbergen, wie ich mich dabei fühlen würde, wenn das Urteil über meinen Bruder gesprochen wurde. Und sie wusste selbst auch, dass dieses Urteil nur auf eine bestimmte Art ausfallen konnte, so wie ihr auch nicht verborgen geblieben war, wie sehr mich die ganze Situation peinigte.
Von meinem Standort hinter im Saal behielt ich die Hauptakteure im Auge. Ich hatte mit Verwunderung festgestellt, dass mein Bruder einen erstaunlich guten Eindruck machte, vor allem, wenn ich daran dachte, dass die Männer des Königs bestimmt nicht zimperlich daran gegangen waren, ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Mich hatten einige Informationen auf ziemlich verschlungenen Wegen erreicht, unter anderem auch, dass sie ihn nicht dazu hatten bringen können, etwas von sich zu geben. Trotzdem sah es jetzt so aus, als ob er in der Zwischenzeit gut behandelt worden war. Man konnte ihm auf jeden Fall nicht ansehen, dass er bei dem Kampf in St. John’s schwere Verletzungen davongetragen hatte und wenn er in der Zeit danach hart angefasst worden war, dann war davon inzwischen auch nichts mehr zu erkennen. Er sah ausgeruht und wohlgenährt aus und war auch standesgemäß gekleidet.
Natürlich hatte man ihn in Ketten gelegt, aber das hatte ich erwartet. Unerwartet fand ich allerdings, dass er auch geknebelt worden war. Bedeutete dies, dass für die Richter alles schon feststand und niemand mehr das Bedürfnis hatte, dem Angeklagten das Wort zu erlauben? Wollte man ihn daran hindern, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, selbst wenn das doch am Ausgang der Verhandlung nichts mehr geändert hätte?
Der Knebel war nicht das einzige, was mich beunruhigte. Da waren auch noch die Männer, die neben dem König als Richter fungierten. Ranulf de Blondeville und Gilbert de Clare – die Earls von Chester und Gloucester – machten mir keine Sorgen, auch nicht Peter des Roches, der schließlich der Oberste Justiziar war. Er war auch derjenige, der mich in meiner eigenen Sache am stärksten unterstützt hatte. So hatte er seinen Einfluss auf den König genutzt, um diesen verstehen zu lassen, er würde einen neuen Earl of Huntingdon benötigen. Aber er würde auch ein gutes Verhältnis zum schottischen König benötigen, um den Bestrebungen der Barone entgegenzuwirken, die sich nicht auf seine Seite geschlagen hatten. Bei der Entscheidung könne der König sich nicht erlauben Earl Davids einzigen Sohn einfach so zu übergehen. Besonders nicht nach dem, was in St. John’s vorgefallen war.
Des Roches war aber auch derjenige, der mich und Marion dazu gedrängt hatte, über die Ereignisse im Zusammenhang mit den Rittern der Apokalypse eine umfassende Aussage zu machen. Damals hatte er mir gesagt, dies würde ihm helfen den König zu überreden. Aber nun war ich mir nicht mehr sicher, ob dies wirklich der Wahrheit entsprach, denn mit einem Mal kam mir der Gedanke, ob des Roches nicht damals schon etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Und war er heute wirklich in seiner Position als Oberster Justiziar Teil dieses Gerichtes?
Meine Zweifel rührten vor allem daher, dass ich die beiden anderen Männer, die dort oben saßen, ebenfalls kannte. Bei dem einen handelte es sich um den Bischof von London, mit Namen William of Sainte-Mère-Église, ein Kirchenmann, der mir bisher weder demütig noch nachsichtig vorgekommen war und der andere war Eustace, der Bischof von Ely. Somit befanden sich mit des Roches, der ja auch der Bischof von Winchester war, drei Vertreter der Kirche in diesem Gericht und das erfüllte mich durchaus mit einer nicht zu kleinen Portion Sorge, obwohl ich nicht hätte sagen können, woher diese stammte. Aber es kam mir einfach nicht richtig vor und ich hatte schon vor Jahren gelernt, mich auf meine Instinkte zu verlassen.
Nachdem ich der Verhandlung aber nun schon seit geraumer Zeit folgte, musste ich mir selbst gegenüber eingestehen, dass ich mich wohl geirrt hatte, denn die drei Bischöfe zeigten in keiner Weise, dass sie vorhatten, sich in die Urteilsfindung des Königs einzumischen. Sie lauschten mit großer Aufmerksamkeit den Zeugen, die vor allem darüber sprachen, was der - mutmaßliche - Verräter getan hatte, bevor es zu dem Kampf in St. John’s gekommen war. Sie ließen sich aber auch darüber aus, was der Angeklagte gemacht hatte, nachdem er sich öffentlich als Ritter der Apokalypse zu erkennen gegeben hatte. Und alles, was sie von sich gaben, bestätigte den Vorwurf, es wäre ausschließlich darum gegangen, den König und seine Regentschaft zu überwerfen. Es war immer nur die Rede von Verrat.
Trotzdem war ich nicht imstande, meine Sorge völlig loszuwerden. Aber vielleicht rührte meine Unruhe auch daher, dass auch ich noch als Zeuge vor diesem Gericht auftreten musste. Jedes Mal, wenn einer der Männer, die bereits aufgerufen worden waren, sich wieder an seinen Platz in der Menge zurückbegeben durfte, rechnete ich damit, dass ich der Nächste war, der etwas sagen musste. Ich rechnete auch damit, mich vor dem König rechtfertigen zu müssen, weil ich meine Gemahlin nicht mit hierhergebracht hatte. Aber jedes Mal wurde jemand anderes aufgerufen.
Selbst der Sheriff von Nottingham hatte sich bereits darüber auslassen dürfen, was er beobachtet und miterlebt hatte, aber auch, was seiner Meinung nach geschehen war. Der Mann sonnte sich praktisch im Wohlwollen des Königs, denn er hatte ihm die Namen derjenigen mitbringen können, die sich alle den Rittern der Apokalypse angeschlossen hatten. Ich war erstaunt, als er davon absah, seine Aussage zu stark auszuschmücken, bis ich verstand, dass de Rainault mich gesehen haben musste, als man ihn nach vorne gerufen hatte. Ich hätte ja gerne gewusst, was er den Anwesenden ansonsten erzählt hätte. Ich bedauerte es sehr, dass es mir nicht gelungen war „unsichtbar“ zu bleiben. Anderenfalls hätte das dem Ansehen des Sheriffs vielleicht schaden können. Allerdings schien nie etwas an dem Mann hängenzubleiben.
Schließlich kam ein Zeitpunkt, an dem jeder dem König ohne Probleme ansehen konnte, er müsse dringend eine Pause machen. Zumindest jeder, der John besser kannte. Dies war aber eigentlich nichts, über das ich mir den Kopf zerbrechen würde, allerdings hatte ich immer noch nicht sprechen dürfen. Dann wurde tatsächlich verkündet, der Herrscher würde sich jetzt erstmal zu seinem mittäglichen Mahl zurückziehen und das Gericht würde dann danach wieder zusammenkommen. Innerhalb kurzer Zeit hatte jeder die Gelegenheit ergriffen, aus der Halle herauszukommen. Oder besser gesagt: fast jeder. Auch dieses Mal hielt ich mich etwas zurück und ich wartete, bis der Großteil der Anwesenden gegangen war. Dabei konnte mir nicht entgehen, dass der Angeklagte an seinem Platz bleiben musste. Natürlich auch die Soldaten, die für seine Bewachung zuständig waren. Ich selbst entfernte mich nur äußerst ungern, denn irgendwie vermittelte mir das das Gefühl, ich würde meinen Bruder im Stich lassen, wenn ich jetzt ebenfalls ging. Aber ich konnte nicht bleiben, denn dann würde ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, die ich bisher hatte vermeiden können. Daher zog ich mich nun auch zurück, allerdings konnte ich mich auch nicht dazu durchringen, ebenfalls etwas zu essen. Irgendwie hatte ich überhaupt keinen Hunger. Vielleicht lag das daran, dass ich wusste, der Gefangene würde auch keine Gelegenheit dazu erhalten. Mir war bewusst, dies klang unsinnig, aber ich konnte nichts daran ändern, wie ich mich fühlte.
Wenn ich damals nur gewusst hätte, was geschehen würde, dann …
Was hätte ich getan? Was hätte ich tun können? Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte anders gehandelt, aber dies entsprach nicht der Wahrheit. Ich hätte nichts tun können.
Außer vielleicht … hatte es damals in der Großen Halle der Burg von Newark eine Möglichkeit für mich gegeben, meinen Bruder zu töten, um ihm zu ersparen, was er heute würde erleiden müssen? Ich war mir nicht sicher, ob ich nahe genug an ihn herangekommen wäre, denn ich war ja nur mit einem Dolch bewaffnet. Wenn ich davon überzeugt gewesen wäre, ich könne Erfolg haben, hätte ich es vielleicht getan. Ich war mir ziemlich sicher, mir hätte jeder im Nachhinein abgenommen, ich hätte mich an dem Mann rächen wollen, der als einziger von denen, die meinen Vater entführt hatten, überlebt hatte. Trotzdem hätte es natürlich ein großes Risiko für mich und meine Lieben dargestellt. Vielleicht wäre ich es eingegangen, wenn ich gewusst hätte, was kommen würde. Aber das hatte ich nicht gewusst. Nur die Richter – und von denen vielleicht auch nicht alle – konnten das gewusst haben.
Ich hüllte mich enger in meinen dicken Umhang, denn mit dem Moment, als der Gefangene nach draußen geführt worden war, hatte das sonnige Wetter, das uns seit Wochen begleitet hatte– und das diejenigen, die sich mit solchen Dingen auskannten, ziemlich verwundert hatte – ein Ende gefunden. Innerhalb kürzester Zeit waren dicke Wolken am Himmel aufgezogen und inzwischen hatten sie sich zu einer geschlossenen Wolkendecke zusammengefunden. Dazu war ein unangenehm kalter, böiger Wind aufgekommen, der es immer wieder schaffte, unter die Kleidung der Anwesenden zu fahren und sie erschaudern zu lassen. Aus diesem Grund kroch jeder praktisch in seinen Umhang hinein, um nicht noch mehr zu frieren.
Jeder bis auf einen, dem diese Möglichkeit nicht zur Verfügung stand. Ich beobachtete schon die ganze Zeit über, wie der Verurteilte immer wieder von Schaudern überfallen wurde und in der Kälte zitterte und fror. Aber ich wollte nicht daran denken, auf welche Weise er der Kälte bald entkommen würde. Bei diesem Gedanken wurde mir richtiggehend schlecht.
Die Zeit, bis der König sich imstande sah, wieder in die Große Halle zurückzukehren, kam mir unerträglich lang vor, obwohl ich – im Gegensatz zu meinem Bruder – die Gelegenheit hatte, mich hinzusetzen, etwas zu essen – obwohl ich darauf verzichtete – und zu trinken.
Kaum hatte John wieder auf seinem Thronsessel Platz genommen, als kam, was ich die ganze Zeit über befürchtet hatte. „Lasst uns dies nun zu Ende bringen“, machte der König den anderen klar, was er von ihnen erwartete.
Es war des Roches, der sofort auf diese Worte reagierte. „Wir haben nur noch zwei Aussagen, mein König“, versprach er seinem Herrscher.
Der reagierte mit einer durchaus fröhlich klingenden Antwort, was mir hinsichtlich dessen, was hier beschlossen werden würde, abartig vorkam. „Dann sollten wir jetzt schleunigst damit fortfahren“, gab er seinem Justiziar vor.
Woraufhin dieser verkündete: „Der Earl of Huntingdon möge vortreten.“
Nun war es soweit. Nun musste ich vor aller Augen – und Ohren – wiederholen, was ich des Roches vor vielen Monaten mitgeteilt hatte. Während ich mich nach vorne bewegte, schaffte ich es, meinen Bruder aus den Augenwinkeln im Auge zu behalten und daher konnte mir nicht entgehen, wie dieser erstaunt die Augen aufriss. Zwar hatte er sich sehr schnell wieder unter Kontrolle, aber trotzdem hatte er nicht vor mir verbergen können, dass er nicht damit gerechnet hatte, mich hier zu sehen. Aber wieso? Er hatte doch gewiss gehört, dass mein Name aufgerufen worden war. Aus welchem Grund war er dann so erstaunt, dass er das nicht hatte verbergen können, wo er sich doch bisher nichts hatte anmerken lassen?
„My Lord Earl“, riss des Roches mich aus meiner sinnlosen Grübelei. „Eure Gemahlin und Ihr habt bereits vor einiger Zeit über die Ereignisse, die zu dem Kampf in St. John’s führten und über den Kampf selbst eine Aussage gemacht. Diese wurde auch bereits niedergeschrieben und beglaubigt, daher glaube ich, es ist im Interesse dieses Gerichts und auch in seinem Sinn, wenn wir diese Aufzeichnung nun einfach verlesen werden. Damit müsst Ihr Euer Gedächtnis nicht bemühen.“
Wollte der Mann damit etwa andeuten, ich hätte vorgehabt, jetzt etwas anderes aussagen zu wollen als vor einigen Monaten. Hatte er vielleicht angenommen, ich wollte dem Angeklagten jetzt noch mehr anlasten als damals, denn er würde doch bestimmt nicht vermuten, ich wolle einiges zurücknehmen. Jedem war doch bekannt, dass ich und der Mann, von dem hier niemand wusste, dass er mein Bruder war, Erzfeinde waren und wir uns abgrundtief hassten. Dachte des Roches, ich würde deswegen jetzt meine Aussage ändern wollen?
„Das ist sehr zuvorkommend von Euch, My Lord.“ Ich konnte mich gerade noch so weit zusammenreißen, um nicht mehr zu sagen.
„Ich hatte mich darauf gefreut, den Anblick Eurer reizenden Gemahlin genießen zu dürfen.“
Das glaubte ich nun wieder völlig unbesehen. Der König hatte immer schon versucht, meine Ehefrau ins Bett zu bekommen. Dafür hätte er sie sogar begnadigt, aber er hatte nie wirklich eine Gelegenheit dazu bekommen. Es dann tun zu müssen, ohne dieses Bedürfnis stillen zu können, war ihm angeblich äußerst schwergefallen.
„Meine Gemahlin bedauert es sehr nicht hier sein zu können.“ Würde mir das irgendjemand hier abnehmen? „Aber angesichts der Tatsache, dass sie meinen Sohn unter dem Herzen trägt, wollten wir kein Risiko eingehen und sie den Strapazen einer Reise nicht aussetzen.“ Zumindest einer Reise hier nach Newark, ich hatte kein Problem damit gehabt, sie an einen sicheren Ort gehen zu lassen.
Ich merkte erst in diesem Moment, dass ich die Luft angehalten hatte, wahrscheinlich weil ich mir nicht sicher war, ob der König meine Worte akzeptieren würde oder ob ich mich gerade in große Schwierigkeiten gebracht hatte. Zu meiner Überraschung reagierte John aber überhaupt nicht auf das, was ich gesagt hatte und nach einer kurzen Pause fing des Roches dann auch an, zuerst Marions und dann meine eigene Aussage zu verlesen, was geraume Zeit dauerte.
Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, was hier wiedergegeben wurde, denn ich wollte sicher sein, dass meiner Aussage nichts hinzugefügt oder von ihr weggenommen worden war. Aber soweit ich das feststellen konnte, wurde sie genauso vorgetragen, wie ich sie vor einigen Monaten formuliert hatte. Ich war tatsächlich etwas erstaunt darüber, dass nichts an ihr verändert worden war, denn ich hatte auch über Baphomet gesprochen und auch darüber, dass de Montbalm vom Dämon besessen worden war und wie ich gegen ihn gekämpft – und gewonnen – hatte. Ich war nicht davon ausgegangen, der König wolle, dass dies allgemein bekannt wird.
Ich nutzte die Gelegenheit, als die Richter über meine Aussage sprachen und warf erneut einen Blick auf den Gefangenen. Dabei stellte ich fest, dass dieser auf einmal ziemlich bleich geworden war, was ich aber nicht verstand. Was von dem, was gerade verlesen worden war, hatte ihn derart erschreckt?
Ich muss zugeben, dass ich damals nicht verstanden hatte, was vor sich ging. Im Gegensatz zu meinem Bruder, dem zu diesem Zeitpunkt offenbar schon klar geworden war, was los war und worauf die ganze Angelegenheit hinauslaufen würde. Hatte dies vielleicht etwas damit zu tun, dass er viel öfter mit dem König zu tun gehabt hatte als ich selbst. Bevor ich Hernes Ruf folgte, hatte ich mit dem Herrscher über die Engländer nur indirekt zu tun gehabt und danach hatte ich noch weniger Gelegenheit, ihn zu treffen. Außerdem betrachtete ich alles aus einer völlig anderen Perspektive. Heutzutage bleibt mir nichts anderes übrig als festzustellen, dass ich zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung immer noch viel zu naiv war. Aus diesem Grund hatte ich wohl nicht den richtigen Schluss gezogen.
Das Urteil, das der König schließlich verkündete, brachte mich an den Rand eines Zusammenbruchs. Ich hatte keine Ahnung, woher ich die Kraft nehmen konnte, mich aufrecht zu halten. Und als ich zu meinem Bruder blickte, musste ich unwillkürlich fragen, woher dieser die Kraft nahm, aufrecht stehen zu bleiben, denn er konnte nicht mehr verbergen, dass ihn die Worte des Königs erschüttert hatten. Nun war er nicht mehr imstande, seine Angst zu verstecken und trotzdem hielt er sich immer noch aufrecht. War das allein sein Stolz, der es ihm nicht erlaubte, vor den Anwesenden zusammenzubrechen? Aber was war es bei mir selbst? Doch gewiss nicht Stolz? Aber vielleicht war es mein Selbsterhaltungstrieb, der sich jetzt bemerkbar machte. Es wäre bestimmt nicht gut für mich ausgegangen, wenn jemand darauf gekommen wäre, aus welchem Grund mich auf einmal eine solche Schwäche überfiel.
Genau deshalb war ich aber auch wie angewurzelt an meinem Platz stehengeblieben und hatte die Soldaten dabei beobachtet, wie sie den Verurteilten aus der Halle schleiften. Und daher konnte mir auch nicht entgehen, dass dieser mich die ganze Zeit über anstarrte. Dachte er vielleicht, ich hätte aus Rache ausgesagt?
Nur mit Mühe konnte ich die Übelkeit in Schach halten, die mich in dem Moment überfiel, als ich begriffen hatte, dass die Worte, die ich vor einigen Monaten dafür benutzt hatte, für mich und die anderen die Begnadigung des Königs zu erhalten, nun dafür gesorgt hatten, dass man meinen Bruder als Ketzer verurteilt hatte. Es war meine Schuld, dass er verbrannt werden würde. Einen schrecklicheren Tod konnte ich mir nicht vorstellen. Und ich hatte ihm das ganz gewiss nicht gewünscht.
Später war mir von vielen Personen bestätigt worden, dass ich im Augenblick der Urteilsverkündung weiß wie ein frischgebleichtes Laken geworden war. Selbstverständlich war ich von einigen Leuten auch gefragt worden, wieso ich derart reagiert hatte, aber bis dahin hatte ich mich schon etwas erholen können. Daher sagte ich in diesen Fällen nichts anderes, als dass ich noch nie hätte mitansehen müssen, wie jemand verbrannt wurde. Diese Vorstellung hätte mich ganz einfach erschreckt. Wahrscheinlich hielten die anderen mich für zimperlich und fragten sich vielleicht dann auch, ob es tatsächlich der Wahrheit entsprach, dass ich jahrelang als Gesetzloser in Sherwood gelebt und gegen den Sheriff und dessen Männer gekämpft hatte.
Jetzt, als ich darauf wartete, dass der König endlich erschien, damit das Urteil vollstreckt werden würde, sah ich ganz bestimmt wieder genauso bleich aus. Es hätte mir wahrscheinlich geholfen, wenn ich jetzt jemanden an meiner Seite gehabt hätte, mit dem ich einige Worte wechseln könnte, aber der einzige, der mich hierher nach Newark begleitet hatte, war Tuck und ihn hatte ich nicht dazu zwingen wollen, diesem schauerlichen Schauspiel beiwohnen zu müssen.
Dies hatte auch etwas damit zu tun, dass ich sowieso schon in seiner Schuld stand. Ich war dem Mönch sehr dankbar dafür, was er für mich und vor allem, was er für meinen Bruder getan hatte.
Nachdem ich nach der Gerichtsverhandlung nach Huntingdon zurückgekehrt war, träumte ich einige Male von meinem Bruder. Zuerst ging ich davon aus, es wären einfach Alpträume aufgrund des Schocks, den ich zweifelslos erlitten hatte, aber nach und nach verstand ich, dass Herne weiterhin in der Lage war, mir Träume zu senden, auch wenn ich Sherwood verlassen hatte. Das kam etwas überraschend für mich, hätte aber unter anderem Umständen eine freudige Neuigkeit dargestellt. Aber natürlich nicht in diesem Fall.
Was ich in diesen Träumen sah, erschreckte mich zutiefst, denn auf diese Weise bekam ich mit, wie mein Bruder nun behandelt wurde. Ich sah, wie sehr er von den Priestern und Mönchen bedrängt wurde, die sich offenbar alle Mühe gaben entweder seine unsterbliche Seele zu retten oder ihn bereits vor der Urteilsvollstreckung ins Grab zu treiben. Das tage- und nächtelange Beten, das Fasten, die ununterbrochene Anwesenheit eines Mönches in seiner Zelle und das Drängen auf tägliche Beichten sorgten sehr schnell dafür, dass mein Bruder nur noch ein Schatten seiner selbst war. Und der kahlgeschorene Schädel verstärkte diesen Eindruck noch.
Am Schlimmsten aber war, dass ich mit Sicherheit wusste, mein Bruder war in seinen Beichten nicht alles losgeworden, was er hatte sagen wollen. Egal, was über ihn gesagt worden war, ich wusste nun, dass es ihn quälte, dem Mönch, dem er offenbar nicht vertraute, nicht alles beichten zu können. Da kam mir auf einmal die Idee, auf welche Weise ich ihm doch noch – wenn auch nur in einem geringfügigen Ausmaß – helfen konnte. Daher hatte ich Tuck direkt am nächsten Morgen gefragt, ob er dazu bereit wäre, mich nach Newark zu begleiten.
Im Nachhinein wunderte ich mich darüber, dass ich tatsächlich die Erlaubnis erhalten hatte, den Verurteilten zusammen mit dem Mönch zu besuchen und dass wir sogar mit ihm allein bleiben durften, obwohl ich den Kirchenvertretern ansehen konnte, dass sie darüber nicht begeistert waren. Noch mehr erstaunte es mich allerdings, dass der Gefangene dieses Angebot annahm, obwohl er mich doch als Feind ansah. Aber er hatte es getan, was dazu führte, dass Tuck ihn noch ein paar Mal in der Zelle aufsuchte. Selbstverständlich hatte ich ihn nie gefragt, was ihm erzählt worden war, denn das hätte der Mönch mir niemals mitgeteilt.
An diesem Morgen hatte Tuck dann die Gelegenheit, dem Verurteilten zum letzten Mal in seinem Leben die Beichte abzunehmen. Ich stellte mir vor, was für eine Last das für meinen Freund war und ich wunderte mich nicht, dass er sofort danach in der Kapelle der Burg verschwunden war, wo er sich bestimmt immer noch befand, ins Gebet vertieft. Wie ich ihn kannte, bat er Gott aber auch um Verzeihung für den Sünder, der am heutigen Tag sein Leben verlieren würde. Auch wenn er ebenfalls gegen ihn gekämpft hatte, als er ein Gesetzloser war und der andere ein Mann des Sheriffs, so würde er ihn doch niemals verdammen, sondern im Gegenteil alles versuchen, seine Seele zu retten.
Mich schauderte und ich hielt meinen Umhang noch fester geschlossen. Es war genau der Moment, in dem der König endlich geruhte, sich zu uns zu gesellen und es war zu hoffen, dass es jetzt mit der Urteilsvollstreckung weiterging. Die Warterei zehrte an meinen Nerven, aber wie schlimm musste es erst für den Verurteilten sein. Ich warf einen Blick zu ihm hinüber und stellte fest, dass er mich anstarrte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte im Gegenteil darauf gehofft, in der Menge der Zuschauer zu verschwinden. War es feige, mir zu wünschen, der andere hätte mich nicht entdeckt? Auf diese Frage hatte ich keine Antwort.
Aber diese kurze Ablenkung hatte ausgereicht, mich nicht mitbekommen zu lassen, dass die Reisigbündel zwischen den größeren Holzstücken entzündet worden waren. Der böige Wind ließ die Flammen wild herumzucken und hochschießen, aber dies geschah vor allem hinter dem Verurteilten, der noch durch den Pfahl, an den er gekettet worden war, vor dem Feuer geschützt wurde. Dann wieder drückte der Wind die Flammen nach unten, aber gleichzeitig brachte er den Gestank verbrannten Fleisches zu den Zuschauern und nun war ich nicht mehr der Einzige, der bleich war. Seltsamerweise hatte ich bei meinem Bruder noch keine Anzeichen von Schmerz entdecken können. War es tatsächlich möglich, dass er sich derart unter Kontrolle hatte?
Plötzlich musste ich jedoch mitansehen, wie ein Windstoß das Feuer auf eine Weise entfachte, dass die Flammen – für jeden unerwartet - hochschossen und sofort den Verurteilten umschlossen, sodass von ihm nichts mehr zu sehen war. Mein Mund öffnete sich zu einem Schrei, ohne dass mir das sofort bewusst wurde. Aber was immer ich auch hatte von mir geben wollen, es blieb in meiner Kehle stecken, denn in dem Moment hörte ich den schmerzerfüllten Schrei meines Bruders, der alle anderen Geräusche übertönte, selbst das laute Fauchen des Feuers.
Und im nächsten Augenblick ging die Welt in Dunkelheit unter.
Als ich erfuhr, dass es sich bei diesem Mann um meinen Bruder – um meinen Halbbruder – handelte, erschütterte mich dies ziemlich stark und ich hatte lange nicht gewusst, wie ich darauf reagieren sollte. Niemanden zu haben, mit dem ich über die ganze Angelegenheit sprechen konnte – sah man von Tuck ab, der aber an das Beichtgeheimnis gebunden war – hatte mich darüber hinaus noch mehr belastet. Und dies ging schon seit Jahren so.
Ich hatte lange mit der Frage gerungen, wem ich denn davon erzählen könnte. Ich konnte mich nie dazu überwinden, meinen Bruder einzuweihen - der niemals erfahren hatte, wer wirklich sein Vater war - denn ich fürchtete seine Reaktion. Ich konnte mir nicht vorstellen, der andere würde auf einmal familiäre Gefühle entwickeln, denn er war – meiner Meinung nach – von Hass zerfressen. Aber ich wusste auch nicht, wie ich das Geheimnis mit meinem Vater teilen könnte. Schließlich warf ich es dem Earl dann vor, ohne es zu wollen, aber zu diesem Zeitpunkt stand ich unter dem Bann eines Zaubers. Die Erinnerung an diesen Tag schmerzt mich bis heute noch, weil ich mir auch sicher bin, ab dann habe sich mein Vater ebenfalls mit der Frage herumgeplagt, ob er es riskieren konnte, den älteren seiner Söhne einzuweihen. Bestimmt belastete es ihn aber, als er wieder und wieder zu der Entscheidung kommen musste, er könne ihm nichts sagen. Und im Endeffekt sollte er niemals die Gelegenheit dazu erhalten.
Irgendwann war ich aber zu der Erkenntnis gekommen, ich müsse das schreckliche Familiengeheimnis mit der Frau teilen, die ich liebte und die mich ebenfalls liebte. Aber obwohl sich dies nicht als ein Desaster herausstellte, konnte ich mich meinen Freunden trotzdem nicht offenbaren. Das hätte ganz bestimmt viel zu viel Schaden angerichtet, denn sie alle hassten meinen Bruder wie den Teufel persönlich.
Aber am heutigen Tag würde sich dieses Problem nun lösen und danach musste niemand mehr erfahren, in welcher Beziehung wir gestanden hatten, denn dann wäre das in keiner Hinsicht mehr wichtig. Seltsamerweise wünschte ich mir aber nichts sehnlicher, als den vorgegebenen Ablauf dieses Tages verändern zu können. Seit Monaten schon zerbrach ich mir den Kopf, wie ich meinem Bruder helfen konnte und ich hatte meine Bemühungen noch einmal verstärkt, nachdem der König sein Urteil verkündet hatte. Aber ich war zu keiner Lösung gekommen.
Nun saß ich hier und konnte nichts anderes tun, als auf den Mann zu blicken, der heute hier sein Leben verlieren würde. Sicherlich hatte er den Tod verdient und dies sogar aus mehr als einem Grund. Ich musste auch zugeben, dass ich mich längst nicht so schwertun würde, wenn es der Scharfrichter mit dem Schwert wäre, der das Urteil vollstrecken sollte. Dies jedoch war nicht der Fall und das bereitete mir durchaus körperliche Schmerzen, denn ich hatte keinen Weg gefunden, dem anderen die Qualen zu ersparen, die er bald erleiden würde.
Früher, zu einer Zeit, als ich noch nicht wieder den Platz eingenommen hatte, von dem mein Vater von meiner Geburt an überzeugt war, er wäre meiner, da hätte ich kein Problem damit gehabt, eine passende Vorgehensweise zu finden. Ich hätte mich mit meinem Bogen so platziert, dass ich den Gefangenen mit einem Pfeil erlösen konnte. Nun aber war ich gezwungen in der Nähe des Königs zwischen den anderen Baronen zu sitzen, die der Hinrichtung beiwohnen wollten, und ich hätte alles zunichtegemacht, was ich in den letzten Monaten erreichen konnte, wenn ich die Waffe eines Gesetzlosen mit hierhergebracht hätte. Dies hätte meine Freunde und vor allen meine kleine Familie, also meine Ehefrau und meinen neugeborenen Sohn David, in große Gefahr gebracht. Ich hatte das Leben – oder besser gesagt: den raschen Tod – meines Erzfeindes gegen das Leben und Glück der anderen aufwiegen müssen und eigentlich hätte mir diese Entscheidung nicht schwerfallen dürfen. Trotzdem hatte ich das nicht auf diese Weise empfunden.
Ich wusste aber, dies lag vor allem daran, dass ich mich schuldig fühlte. Ich war mir ganz sicher, es waren meine Worte, die den König dazu bewogen hatten, dieses Urteil zu fällen. Und dies hatte dann natürlich zu dem geführt, was an diesem Tag geschehen würde. Ohne meine Aussage wäre wahrscheinlich alles anders geworden. Auf jeden Fall einfacher für mich zu ertragen und bestimmt auch einfacher für meinen Bruder.
Ich hatte darauf geachtet, die Große Halle erst zu betreten, nachdem der Gefangene dorthin gebracht worden war. Ich hatte mich bei dem Gedanken nicht wohlgefühlt, dass er mich zu Gesicht bekommen würde, auch wenn ich nicht sagen konnte, woher dieses Gefühl stammte. Trotzdem war mir natürlich bewusst, dass ich dem nicht völlig entgehen konnte, schließlich war ich hierhergekommen – oder besser gesagt: ich war hierher befohlen worden - weil das Gericht meine Aussage hören wollte.
Es gab allerdings noch einen weiteren Grund, weswegen ich mich erst so spät in die Halle begeben hatte. Früher hätte es mir keine Probleme bereitet, mich unter die Menschen zu mischen, die gekommen waren, um die Verhandlung gegen den einzig überlebenden Ritter der Apokalypse zu verfolgen. Aber früher war ich auch noch zu jung, um wirklich begreifen zu können, um was es heute hier ging. Mein früheres Ich wäre ganz bestimmt der Meinung, der Angeklagte würde nur bekommen, was ihm zustand. Inzwischen war ich zu der Erkenntnis gekommen, die meisten jungen Menschen würden dazu neigen, alles nur schwarz und weiß zu sehen und würden auch nur wenig Veranlassung zeigen, darüber nachzudenken, welche Gründe jemand gehabt haben könnte, auf eine ganz bestimmte Weise gehandelt zu haben. Und ich war auch nicht der Meinung, ich habe mich in dieser Hinsicht von der Mehrheit der jungen Menschen unterschieden, auch wenn ich das lange glaubte.
Jetzt aber war ich nicht mehr jung und ich hatte auch in den letzten Jahren ausreichend Erfahrungen sammeln können, um zu wissen, dass nicht immer alles so war, wie es sich auf den ersten Blick darstellte. Ich wusste nun, es gab Dinge, die Menschen zu Handlungen treiben konnten, an die sie anderenfalls niemals gedacht hätten. Es gab Vorkommnisse, die Menschen auf eine Art veränderten, die ganz bestimmt nicht gut zu nennen war und die sie zu einer Version von sich selbst machten, die sie in den Augen anderer als „schlecht“ dastehen lassen würde. Inzwischen war ich zu der Erkenntnis gelangt, dass einige der Dinge, die mein Bruder getan hatte, auf so etwas zurückzuführen waren. Wie sonst ließe sich erklären, dass ein Mann mit Lady Margaret als Mutter und David of Huntingdon als Vater für derartige Gräueltaten verantwortlich war? Ich hatte auf jeden Fall keine andere Erklärung finden können. Es sei denn, ich glaubte daran, es gäbe Menschen, die schon von Geburt an schlecht waren. Das aber wollte ich nicht.
Es war aber nicht nur die Tatsache, dass ich heutzutage nicht mehr jung und unbedarft war, die mir Probleme dabei bereitete, mich unter die anderen meines Standes zu mischen. Vor allem lag das natürlich daran, dass ich meine letzten Jahre in Sherwood zugebracht hatte, als ein Gesetzloser. Und nicht etwa als irgendein gewöhnlicher Gesetzloser, wenn man den anderen Menschen glauben wollte, sondern als der bekannteste und berüchtigtste des ganzen Reiches. Ich hielt das allerdings für übertrieben, denn ich wusste ja, dass ein Großteil dieses „Ruhms“ auf die Taten meines Vorgängers zurückzuführen war. Ich wollte mich auf keinen Fall mit fremden Federn schmücken. Trotzdem standen diese Jahre nun wie eine unüberwindliche Mauer zwischen mir und den anderen Adeligen. Ich hatte Erfahrungen gesammelt, von denen kaum jemand hier in der Halle eine Ahnung hatte, sah ich einmal von den Dienern oder den einfachen Soldaten ab. Dies waren aber auch Erfahrungen, die kaum jemand hätte sammeln wollen, denn als Adeliger führte man ein solches Leben nicht.
Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, von meinen Standesgenossen wieder aufgenommen worden zu sein, nachdem der König mich – und die anderen – begnadigt hatte. Und ich wusste, John habe das nur getan, weil er keinen Weg gefunden hatte, die Beteiligung dieses Gesetzlosen am Sieg über die Ritter der Apokalypse als nicht vorhanden zu erklären. Dazu gab es zu viele glaubwürdige Zeugen für das, was ich in St. John’s getan hatte, nicht nur meine und Marions Aussage oder die meiner Freunde. Da waren auch die Mönche, die uns im Kampf beigestanden hatten und selbst de Rainault hatte nicht völlig unterschlagen können, auf welchem Weg er nach St. John’s gekommen war und dass er die Ritter nicht alle eigenhändig erschlagen hatte.
Ich hatte es nicht als einfach empfunden, in mein „altes“ Leben zurückzukehren, weil ich schon lange nicht mehr der Mensch war, der vor vielen Jahren Hernes Ruf gefolgt war. Und ich war auch nicht die Art Mensch, die meine Zeit in Sherwood einfach als „Jugendsünde“ abtun und vergessen konnte. Wie sollte ich ablegen, was ich in diesen Jahren erlebt und erfahren hatte? Dies war mir einfach nicht möglich.
Seitdem der König mich als Earl of Huntingdon bestätigt hatte, war ich allerdings allem ferngeblieben, was mich mit meiner Zeit als Gesetzloser verband, mit Ausnahme meiner Ehefrau und meiner Freunde, die mir nach Huntingdon gefolgt waren. Dies lag aber nicht daran, dass ich mich wegen dieser Zeit schämte, es hatte sich allerdings als die einzige Möglichkeit für mich herausgestellt, nach dem Tod meines Vaters und den übrigen Veränderungen in meinem Leben nicht die Kontrolle über mich selbst zu verlieren oder vielleicht sogar zusammenzubrechen. Für mich hatte sich das als die einzige Möglichkeit dargestellt, in meinem neuen Leben anzukommen, ohne das alte vergessen zu müssen.
Aber nun befand ich mich hier und war nicht mehr in der Lage, mit dieser Strategie weiterzumachen. Jetzt musste ich mich wieder meiner Vergangenheit stellen, nur um festzustellen, dass mir das ziemlich schwerfiel. War ich tatsächlich ein solcher Feigling? Fürchtete ich mich so sehr vor dem, was heute hier geschehen würde. Damit meinte ich nicht etwa die Verhandlung, sondern was mit mir selbst passieren würde, weil ich hierhergekommen war. Vielleicht entsprach es tatsächlich der Wahrheit, dass ich nicht so mutig war wie mein Bruder, der sich vor nichts zu fürchten schien. Noch nicht einmal davor, sein Leben durch das Schwert des Scharfrichters zu verlieren.
Ich hatte gedacht, wenn ich dem König alles mitteilen würde, was nötig war, damit ich doch den Platz meines Vaters einnehmen konnte, wäre die ganze Angelegenheit, die mit dem Kampf in St. John’s zu Ende gegangen war, abgeschlossen worden. Ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet, ich würde gezwungen sein, all das noch einmal von mir geben zu müssen. Gab es nicht bereits genug, was gegen den Letzten der Ritter der Apokalypse sprach. War es wirklich nötig, dass ich hatte hierherkommen müssen? Und hatte der König auch Marion hierher befehlen müssen? Damit hatte er sie zu Tode erschreckt.
Marion hatte sich davor gefürchtet, diesem Befehl Folge zu leisten. Und sie hatte sich ebenfalls davor gefürchtet, ihm nicht Folge zu leisten. Es hatte mich sehr viel Überzeugungsarbeit gekostet, bis sie mir nachgegeben hatte und an einem sicheren Ort geblieben war. Zusammen mit unseren Freunden. Sie hatte Angst davor gehabt, mich allein gehen zu lassen, daher hatte ich ihr versichert, als Earl of Huntingdon wäre ich sicher, obwohl ich das selbst nicht glaubte. Sollte sie jemals erfahren, dass ich sie in dieser Angelegenheit hintergangen habe, dass ich ihr etwas vorgemacht hatte, dann war es nicht ausgeschlossen, dass sie mir das niemals verzeihen konnte. Aus diesem Grund hatte ich mit niemandem über meine Befürchtungen sprechen können, sondern hatte stattdessen alles für mich behalten und deshalb konnte ich jetzt nur noch hoffen, der König werde akzeptieren, dass ich meine Gemahlin nicht mitgebracht habe. Schließlich hatte ich ja einen durchaus nachvollziehbaren Grund parat.
Die Wahrheit war aber, dass ich sie weder der Gegenwart des Königs noch der des Sheriffs hatte aussetzen wollen. Aber auch nicht der der anderen Barone, schließlich wusste ich, wie sie über sie dachten. Ich wusste selbstverständlich auch, was sie über mich dachten, aber meine neue Position schützte mich in einem gewissen Maß. Für sie hätte das allerdings anders ausgesehen. Vor allem hatte ich sie aber deshalb nicht mitgenommen, weil es mir unmöglich war, vor ihr zu verbergen, wie ich mich dabei fühlen würde, wenn das Urteil über meinen Bruder gesprochen wurde. Und sie wusste selbst auch, dass dieses Urteil nur auf eine bestimmte Art ausfallen konnte, so wie ihr auch nicht verborgen geblieben war, wie sehr mich die ganze Situation peinigte.
Von meinem Standort hinter im Saal behielt ich die Hauptakteure im Auge. Ich hatte mit Verwunderung festgestellt, dass mein Bruder einen erstaunlich guten Eindruck machte, vor allem, wenn ich daran dachte, dass die Männer des Königs bestimmt nicht zimperlich daran gegangen waren, ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Mich hatten einige Informationen auf ziemlich verschlungenen Wegen erreicht, unter anderem auch, dass sie ihn nicht dazu hatten bringen können, etwas von sich zu geben. Trotzdem sah es jetzt so aus, als ob er in der Zwischenzeit gut behandelt worden war. Man konnte ihm auf jeden Fall nicht ansehen, dass er bei dem Kampf in St. John’s schwere Verletzungen davongetragen hatte und wenn er in der Zeit danach hart angefasst worden war, dann war davon inzwischen auch nichts mehr zu erkennen. Er sah ausgeruht und wohlgenährt aus und war auch standesgemäß gekleidet.
Natürlich hatte man ihn in Ketten gelegt, aber das hatte ich erwartet. Unerwartet fand ich allerdings, dass er auch geknebelt worden war. Bedeutete dies, dass für die Richter alles schon feststand und niemand mehr das Bedürfnis hatte, dem Angeklagten das Wort zu erlauben? Wollte man ihn daran hindern, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, selbst wenn das doch am Ausgang der Verhandlung nichts mehr geändert hätte?
Der Knebel war nicht das einzige, was mich beunruhigte. Da waren auch noch die Männer, die neben dem König als Richter fungierten. Ranulf de Blondeville und Gilbert de Clare – die Earls von Chester und Gloucester – machten mir keine Sorgen, auch nicht Peter des Roches, der schließlich der Oberste Justiziar war. Er war auch derjenige, der mich in meiner eigenen Sache am stärksten unterstützt hatte. So hatte er seinen Einfluss auf den König genutzt, um diesen verstehen zu lassen, er würde einen neuen Earl of Huntingdon benötigen. Aber er würde auch ein gutes Verhältnis zum schottischen König benötigen, um den Bestrebungen der Barone entgegenzuwirken, die sich nicht auf seine Seite geschlagen hatten. Bei der Entscheidung könne der König sich nicht erlauben Earl Davids einzigen Sohn einfach so zu übergehen. Besonders nicht nach dem, was in St. John’s vorgefallen war.
Des Roches war aber auch derjenige, der mich und Marion dazu gedrängt hatte, über die Ereignisse im Zusammenhang mit den Rittern der Apokalypse eine umfassende Aussage zu machen. Damals hatte er mir gesagt, dies würde ihm helfen den König zu überreden. Aber nun war ich mir nicht mehr sicher, ob dies wirklich der Wahrheit entsprach, denn mit einem Mal kam mir der Gedanke, ob des Roches nicht damals schon etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Und war er heute wirklich in seiner Position als Oberster Justiziar Teil dieses Gerichtes?
Meine Zweifel rührten vor allem daher, dass ich die beiden anderen Männer, die dort oben saßen, ebenfalls kannte. Bei dem einen handelte es sich um den Bischof von London, mit Namen William of Sainte-Mère-Église, ein Kirchenmann, der mir bisher weder demütig noch nachsichtig vorgekommen war und der andere war Eustace, der Bischof von Ely. Somit befanden sich mit des Roches, der ja auch der Bischof von Winchester war, drei Vertreter der Kirche in diesem Gericht und das erfüllte mich durchaus mit einer nicht zu kleinen Portion Sorge, obwohl ich nicht hätte sagen können, woher diese stammte. Aber es kam mir einfach nicht richtig vor und ich hatte schon vor Jahren gelernt, mich auf meine Instinkte zu verlassen.
Nachdem ich der Verhandlung aber nun schon seit geraumer Zeit folgte, musste ich mir selbst gegenüber eingestehen, dass ich mich wohl geirrt hatte, denn die drei Bischöfe zeigten in keiner Weise, dass sie vorhatten, sich in die Urteilsfindung des Königs einzumischen. Sie lauschten mit großer Aufmerksamkeit den Zeugen, die vor allem darüber sprachen, was der - mutmaßliche - Verräter getan hatte, bevor es zu dem Kampf in St. John’s gekommen war. Sie ließen sich aber auch darüber aus, was der Angeklagte gemacht hatte, nachdem er sich öffentlich als Ritter der Apokalypse zu erkennen gegeben hatte. Und alles, was sie von sich gaben, bestätigte den Vorwurf, es wäre ausschließlich darum gegangen, den König und seine Regentschaft zu überwerfen. Es war immer nur die Rede von Verrat.
Trotzdem war ich nicht imstande, meine Sorge völlig loszuwerden. Aber vielleicht rührte meine Unruhe auch daher, dass auch ich noch als Zeuge vor diesem Gericht auftreten musste. Jedes Mal, wenn einer der Männer, die bereits aufgerufen worden waren, sich wieder an seinen Platz in der Menge zurückbegeben durfte, rechnete ich damit, dass ich der Nächste war, der etwas sagen musste. Ich rechnete auch damit, mich vor dem König rechtfertigen zu müssen, weil ich meine Gemahlin nicht mit hierhergebracht hatte. Aber jedes Mal wurde jemand anderes aufgerufen.
Selbst der Sheriff von Nottingham hatte sich bereits darüber auslassen dürfen, was er beobachtet und miterlebt hatte, aber auch, was seiner Meinung nach geschehen war. Der Mann sonnte sich praktisch im Wohlwollen des Königs, denn er hatte ihm die Namen derjenigen mitbringen können, die sich alle den Rittern der Apokalypse angeschlossen hatten. Ich war erstaunt, als er davon absah, seine Aussage zu stark auszuschmücken, bis ich verstand, dass de Rainault mich gesehen haben musste, als man ihn nach vorne gerufen hatte. Ich hätte ja gerne gewusst, was er den Anwesenden ansonsten erzählt hätte. Ich bedauerte es sehr, dass es mir nicht gelungen war „unsichtbar“ zu bleiben. Anderenfalls hätte das dem Ansehen des Sheriffs vielleicht schaden können. Allerdings schien nie etwas an dem Mann hängenzubleiben.
Schließlich kam ein Zeitpunkt, an dem jeder dem König ohne Probleme ansehen konnte, er müsse dringend eine Pause machen. Zumindest jeder, der John besser kannte. Dies war aber eigentlich nichts, über das ich mir den Kopf zerbrechen würde, allerdings hatte ich immer noch nicht sprechen dürfen. Dann wurde tatsächlich verkündet, der Herrscher würde sich jetzt erstmal zu seinem mittäglichen Mahl zurückziehen und das Gericht würde dann danach wieder zusammenkommen. Innerhalb kurzer Zeit hatte jeder die Gelegenheit ergriffen, aus der Halle herauszukommen. Oder besser gesagt: fast jeder. Auch dieses Mal hielt ich mich etwas zurück und ich wartete, bis der Großteil der Anwesenden gegangen war. Dabei konnte mir nicht entgehen, dass der Angeklagte an seinem Platz bleiben musste. Natürlich auch die Soldaten, die für seine Bewachung zuständig waren. Ich selbst entfernte mich nur äußerst ungern, denn irgendwie vermittelte mir das das Gefühl, ich würde meinen Bruder im Stich lassen, wenn ich jetzt ebenfalls ging. Aber ich konnte nicht bleiben, denn dann würde ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, die ich bisher hatte vermeiden können. Daher zog ich mich nun auch zurück, allerdings konnte ich mich auch nicht dazu durchringen, ebenfalls etwas zu essen. Irgendwie hatte ich überhaupt keinen Hunger. Vielleicht lag das daran, dass ich wusste, der Gefangene würde auch keine Gelegenheit dazu erhalten. Mir war bewusst, dies klang unsinnig, aber ich konnte nichts daran ändern, wie ich mich fühlte.
Wenn ich damals nur gewusst hätte, was geschehen würde, dann …
Was hätte ich getan? Was hätte ich tun können? Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte anders gehandelt, aber dies entsprach nicht der Wahrheit. Ich hätte nichts tun können.
Außer vielleicht … hatte es damals in der Großen Halle der Burg von Newark eine Möglichkeit für mich gegeben, meinen Bruder zu töten, um ihm zu ersparen, was er heute würde erleiden müssen? Ich war mir nicht sicher, ob ich nahe genug an ihn herangekommen wäre, denn ich war ja nur mit einem Dolch bewaffnet. Wenn ich davon überzeugt gewesen wäre, ich könne Erfolg haben, hätte ich es vielleicht getan. Ich war mir ziemlich sicher, mir hätte jeder im Nachhinein abgenommen, ich hätte mich an dem Mann rächen wollen, der als einziger von denen, die meinen Vater entführt hatten, überlebt hatte. Trotzdem hätte es natürlich ein großes Risiko für mich und meine Lieben dargestellt. Vielleicht wäre ich es eingegangen, wenn ich gewusst hätte, was kommen würde. Aber das hatte ich nicht gewusst. Nur die Richter – und von denen vielleicht auch nicht alle – konnten das gewusst haben.
Ich hüllte mich enger in meinen dicken Umhang, denn mit dem Moment, als der Gefangene nach draußen geführt worden war, hatte das sonnige Wetter, das uns seit Wochen begleitet hatte– und das diejenigen, die sich mit solchen Dingen auskannten, ziemlich verwundert hatte – ein Ende gefunden. Innerhalb kürzester Zeit waren dicke Wolken am Himmel aufgezogen und inzwischen hatten sie sich zu einer geschlossenen Wolkendecke zusammengefunden. Dazu war ein unangenehm kalter, böiger Wind aufgekommen, der es immer wieder schaffte, unter die Kleidung der Anwesenden zu fahren und sie erschaudern zu lassen. Aus diesem Grund kroch jeder praktisch in seinen Umhang hinein, um nicht noch mehr zu frieren.
Jeder bis auf einen, dem diese Möglichkeit nicht zur Verfügung stand. Ich beobachtete schon die ganze Zeit über, wie der Verurteilte immer wieder von Schaudern überfallen wurde und in der Kälte zitterte und fror. Aber ich wollte nicht daran denken, auf welche Weise er der Kälte bald entkommen würde. Bei diesem Gedanken wurde mir richtiggehend schlecht.
Die Zeit, bis der König sich imstande sah, wieder in die Große Halle zurückzukehren, kam mir unerträglich lang vor, obwohl ich – im Gegensatz zu meinem Bruder – die Gelegenheit hatte, mich hinzusetzen, etwas zu essen – obwohl ich darauf verzichtete – und zu trinken.
Kaum hatte John wieder auf seinem Thronsessel Platz genommen, als kam, was ich die ganze Zeit über befürchtet hatte. „Lasst uns dies nun zu Ende bringen“, machte der König den anderen klar, was er von ihnen erwartete.
Es war des Roches, der sofort auf diese Worte reagierte. „Wir haben nur noch zwei Aussagen, mein König“, versprach er seinem Herrscher.
Der reagierte mit einer durchaus fröhlich klingenden Antwort, was mir hinsichtlich dessen, was hier beschlossen werden würde, abartig vorkam. „Dann sollten wir jetzt schleunigst damit fortfahren“, gab er seinem Justiziar vor.
Woraufhin dieser verkündete: „Der Earl of Huntingdon möge vortreten.“
Nun war es soweit. Nun musste ich vor aller Augen – und Ohren – wiederholen, was ich des Roches vor vielen Monaten mitgeteilt hatte. Während ich mich nach vorne bewegte, schaffte ich es, meinen Bruder aus den Augenwinkeln im Auge zu behalten und daher konnte mir nicht entgehen, wie dieser erstaunt die Augen aufriss. Zwar hatte er sich sehr schnell wieder unter Kontrolle, aber trotzdem hatte er nicht vor mir verbergen können, dass er nicht damit gerechnet hatte, mich hier zu sehen. Aber wieso? Er hatte doch gewiss gehört, dass mein Name aufgerufen worden war. Aus welchem Grund war er dann so erstaunt, dass er das nicht hatte verbergen können, wo er sich doch bisher nichts hatte anmerken lassen?
„My Lord Earl“, riss des Roches mich aus meiner sinnlosen Grübelei. „Eure Gemahlin und Ihr habt bereits vor einiger Zeit über die Ereignisse, die zu dem Kampf in St. John’s führten und über den Kampf selbst eine Aussage gemacht. Diese wurde auch bereits niedergeschrieben und beglaubigt, daher glaube ich, es ist im Interesse dieses Gerichts und auch in seinem Sinn, wenn wir diese Aufzeichnung nun einfach verlesen werden. Damit müsst Ihr Euer Gedächtnis nicht bemühen.“
Wollte der Mann damit etwa andeuten, ich hätte vorgehabt, jetzt etwas anderes aussagen zu wollen als vor einigen Monaten. Hatte er vielleicht angenommen, ich wollte dem Angeklagten jetzt noch mehr anlasten als damals, denn er würde doch bestimmt nicht vermuten, ich wolle einiges zurücknehmen. Jedem war doch bekannt, dass ich und der Mann, von dem hier niemand wusste, dass er mein Bruder war, Erzfeinde waren und wir uns abgrundtief hassten. Dachte des Roches, ich würde deswegen jetzt meine Aussage ändern wollen?
„Das ist sehr zuvorkommend von Euch, My Lord.“ Ich konnte mich gerade noch so weit zusammenreißen, um nicht mehr zu sagen.
„Ich hatte mich darauf gefreut, den Anblick Eurer reizenden Gemahlin genießen zu dürfen.“
Das glaubte ich nun wieder völlig unbesehen. Der König hatte immer schon versucht, meine Ehefrau ins Bett zu bekommen. Dafür hätte er sie sogar begnadigt, aber er hatte nie wirklich eine Gelegenheit dazu bekommen. Es dann tun zu müssen, ohne dieses Bedürfnis stillen zu können, war ihm angeblich äußerst schwergefallen.
„Meine Gemahlin bedauert es sehr nicht hier sein zu können.“ Würde mir das irgendjemand hier abnehmen? „Aber angesichts der Tatsache, dass sie meinen Sohn unter dem Herzen trägt, wollten wir kein Risiko eingehen und sie den Strapazen einer Reise nicht aussetzen.“ Zumindest einer Reise hier nach Newark, ich hatte kein Problem damit gehabt, sie an einen sicheren Ort gehen zu lassen.
Ich merkte erst in diesem Moment, dass ich die Luft angehalten hatte, wahrscheinlich weil ich mir nicht sicher war, ob der König meine Worte akzeptieren würde oder ob ich mich gerade in große Schwierigkeiten gebracht hatte. Zu meiner Überraschung reagierte John aber überhaupt nicht auf das, was ich gesagt hatte und nach einer kurzen Pause fing des Roches dann auch an, zuerst Marions und dann meine eigene Aussage zu verlesen, was geraume Zeit dauerte.
Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, was hier wiedergegeben wurde, denn ich wollte sicher sein, dass meiner Aussage nichts hinzugefügt oder von ihr weggenommen worden war. Aber soweit ich das feststellen konnte, wurde sie genauso vorgetragen, wie ich sie vor einigen Monaten formuliert hatte. Ich war tatsächlich etwas erstaunt darüber, dass nichts an ihr verändert worden war, denn ich hatte auch über Baphomet gesprochen und auch darüber, dass de Montbalm vom Dämon besessen worden war und wie ich gegen ihn gekämpft – und gewonnen – hatte. Ich war nicht davon ausgegangen, der König wolle, dass dies allgemein bekannt wird.
Ich nutzte die Gelegenheit, als die Richter über meine Aussage sprachen und warf erneut einen Blick auf den Gefangenen. Dabei stellte ich fest, dass dieser auf einmal ziemlich bleich geworden war, was ich aber nicht verstand. Was von dem, was gerade verlesen worden war, hatte ihn derart erschreckt?
Ich muss zugeben, dass ich damals nicht verstanden hatte, was vor sich ging. Im Gegensatz zu meinem Bruder, dem zu diesem Zeitpunkt offenbar schon klar geworden war, was los war und worauf die ganze Angelegenheit hinauslaufen würde. Hatte dies vielleicht etwas damit zu tun, dass er viel öfter mit dem König zu tun gehabt hatte als ich selbst. Bevor ich Hernes Ruf folgte, hatte ich mit dem Herrscher über die Engländer nur indirekt zu tun gehabt und danach hatte ich noch weniger Gelegenheit, ihn zu treffen. Außerdem betrachtete ich alles aus einer völlig anderen Perspektive. Heutzutage bleibt mir nichts anderes übrig als festzustellen, dass ich zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung immer noch viel zu naiv war. Aus diesem Grund hatte ich wohl nicht den richtigen Schluss gezogen.
Das Urteil, das der König schließlich verkündete, brachte mich an den Rand eines Zusammenbruchs. Ich hatte keine Ahnung, woher ich die Kraft nehmen konnte, mich aufrecht zu halten. Und als ich zu meinem Bruder blickte, musste ich unwillkürlich fragen, woher dieser die Kraft nahm, aufrecht stehen zu bleiben, denn er konnte nicht mehr verbergen, dass ihn die Worte des Königs erschüttert hatten. Nun war er nicht mehr imstande, seine Angst zu verstecken und trotzdem hielt er sich immer noch aufrecht. War das allein sein Stolz, der es ihm nicht erlaubte, vor den Anwesenden zusammenzubrechen? Aber was war es bei mir selbst? Doch gewiss nicht Stolz? Aber vielleicht war es mein Selbsterhaltungstrieb, der sich jetzt bemerkbar machte. Es wäre bestimmt nicht gut für mich ausgegangen, wenn jemand darauf gekommen wäre, aus welchem Grund mich auf einmal eine solche Schwäche überfiel.
Genau deshalb war ich aber auch wie angewurzelt an meinem Platz stehengeblieben und hatte die Soldaten dabei beobachtet, wie sie den Verurteilten aus der Halle schleiften. Und daher konnte mir auch nicht entgehen, dass dieser mich die ganze Zeit über anstarrte. Dachte er vielleicht, ich hätte aus Rache ausgesagt?
Nur mit Mühe konnte ich die Übelkeit in Schach halten, die mich in dem Moment überfiel, als ich begriffen hatte, dass die Worte, die ich vor einigen Monaten dafür benutzt hatte, für mich und die anderen die Begnadigung des Königs zu erhalten, nun dafür gesorgt hatten, dass man meinen Bruder als Ketzer verurteilt hatte. Es war meine Schuld, dass er verbrannt werden würde. Einen schrecklicheren Tod konnte ich mir nicht vorstellen. Und ich hatte ihm das ganz gewiss nicht gewünscht.
Später war mir von vielen Personen bestätigt worden, dass ich im Augenblick der Urteilsverkündung weiß wie ein frischgebleichtes Laken geworden war. Selbstverständlich war ich von einigen Leuten auch gefragt worden, wieso ich derart reagiert hatte, aber bis dahin hatte ich mich schon etwas erholen können. Daher sagte ich in diesen Fällen nichts anderes, als dass ich noch nie hätte mitansehen müssen, wie jemand verbrannt wurde. Diese Vorstellung hätte mich ganz einfach erschreckt. Wahrscheinlich hielten die anderen mich für zimperlich und fragten sich vielleicht dann auch, ob es tatsächlich der Wahrheit entsprach, dass ich jahrelang als Gesetzloser in Sherwood gelebt und gegen den Sheriff und dessen Männer gekämpft hatte.
Jetzt, als ich darauf wartete, dass der König endlich erschien, damit das Urteil vollstreckt werden würde, sah ich ganz bestimmt wieder genauso bleich aus. Es hätte mir wahrscheinlich geholfen, wenn ich jetzt jemanden an meiner Seite gehabt hätte, mit dem ich einige Worte wechseln könnte, aber der einzige, der mich hierher nach Newark begleitet hatte, war Tuck und ihn hatte ich nicht dazu zwingen wollen, diesem schauerlichen Schauspiel beiwohnen zu müssen.
Dies hatte auch etwas damit zu tun, dass ich sowieso schon in seiner Schuld stand. Ich war dem Mönch sehr dankbar dafür, was er für mich und vor allem, was er für meinen Bruder getan hatte.
Nachdem ich nach der Gerichtsverhandlung nach Huntingdon zurückgekehrt war, träumte ich einige Male von meinem Bruder. Zuerst ging ich davon aus, es wären einfach Alpträume aufgrund des Schocks, den ich zweifelslos erlitten hatte, aber nach und nach verstand ich, dass Herne weiterhin in der Lage war, mir Träume zu senden, auch wenn ich Sherwood verlassen hatte. Das kam etwas überraschend für mich, hätte aber unter anderem Umständen eine freudige Neuigkeit dargestellt. Aber natürlich nicht in diesem Fall.
Was ich in diesen Träumen sah, erschreckte mich zutiefst, denn auf diese Weise bekam ich mit, wie mein Bruder nun behandelt wurde. Ich sah, wie sehr er von den Priestern und Mönchen bedrängt wurde, die sich offenbar alle Mühe gaben entweder seine unsterbliche Seele zu retten oder ihn bereits vor der Urteilsvollstreckung ins Grab zu treiben. Das tage- und nächtelange Beten, das Fasten, die ununterbrochene Anwesenheit eines Mönches in seiner Zelle und das Drängen auf tägliche Beichten sorgten sehr schnell dafür, dass mein Bruder nur noch ein Schatten seiner selbst war. Und der kahlgeschorene Schädel verstärkte diesen Eindruck noch.
Am Schlimmsten aber war, dass ich mit Sicherheit wusste, mein Bruder war in seinen Beichten nicht alles losgeworden, was er hatte sagen wollen. Egal, was über ihn gesagt worden war, ich wusste nun, dass es ihn quälte, dem Mönch, dem er offenbar nicht vertraute, nicht alles beichten zu können. Da kam mir auf einmal die Idee, auf welche Weise ich ihm doch noch – wenn auch nur in einem geringfügigen Ausmaß – helfen konnte. Daher hatte ich Tuck direkt am nächsten Morgen gefragt, ob er dazu bereit wäre, mich nach Newark zu begleiten.
Im Nachhinein wunderte ich mich darüber, dass ich tatsächlich die Erlaubnis erhalten hatte, den Verurteilten zusammen mit dem Mönch zu besuchen und dass wir sogar mit ihm allein bleiben durften, obwohl ich den Kirchenvertretern ansehen konnte, dass sie darüber nicht begeistert waren. Noch mehr erstaunte es mich allerdings, dass der Gefangene dieses Angebot annahm, obwohl er mich doch als Feind ansah. Aber er hatte es getan, was dazu führte, dass Tuck ihn noch ein paar Mal in der Zelle aufsuchte. Selbstverständlich hatte ich ihn nie gefragt, was ihm erzählt worden war, denn das hätte der Mönch mir niemals mitgeteilt.
An diesem Morgen hatte Tuck dann die Gelegenheit, dem Verurteilten zum letzten Mal in seinem Leben die Beichte abzunehmen. Ich stellte mir vor, was für eine Last das für meinen Freund war und ich wunderte mich nicht, dass er sofort danach in der Kapelle der Burg verschwunden war, wo er sich bestimmt immer noch befand, ins Gebet vertieft. Wie ich ihn kannte, bat er Gott aber auch um Verzeihung für den Sünder, der am heutigen Tag sein Leben verlieren würde. Auch wenn er ebenfalls gegen ihn gekämpft hatte, als er ein Gesetzloser war und der andere ein Mann des Sheriffs, so würde er ihn doch niemals verdammen, sondern im Gegenteil alles versuchen, seine Seele zu retten.
Mich schauderte und ich hielt meinen Umhang noch fester geschlossen. Es war genau der Moment, in dem der König endlich geruhte, sich zu uns zu gesellen und es war zu hoffen, dass es jetzt mit der Urteilsvollstreckung weiterging. Die Warterei zehrte an meinen Nerven, aber wie schlimm musste es erst für den Verurteilten sein. Ich warf einen Blick zu ihm hinüber und stellte fest, dass er mich anstarrte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte im Gegenteil darauf gehofft, in der Menge der Zuschauer zu verschwinden. War es feige, mir zu wünschen, der andere hätte mich nicht entdeckt? Auf diese Frage hatte ich keine Antwort.
Aber diese kurze Ablenkung hatte ausgereicht, mich nicht mitbekommen zu lassen, dass die Reisigbündel zwischen den größeren Holzstücken entzündet worden waren. Der böige Wind ließ die Flammen wild herumzucken und hochschießen, aber dies geschah vor allem hinter dem Verurteilten, der noch durch den Pfahl, an den er gekettet worden war, vor dem Feuer geschützt wurde. Dann wieder drückte der Wind die Flammen nach unten, aber gleichzeitig brachte er den Gestank verbrannten Fleisches zu den Zuschauern und nun war ich nicht mehr der Einzige, der bleich war. Seltsamerweise hatte ich bei meinem Bruder noch keine Anzeichen von Schmerz entdecken können. War es tatsächlich möglich, dass er sich derart unter Kontrolle hatte?
Plötzlich musste ich jedoch mitansehen, wie ein Windstoß das Feuer auf eine Weise entfachte, dass die Flammen – für jeden unerwartet - hochschossen und sofort den Verurteilten umschlossen, sodass von ihm nichts mehr zu sehen war. Mein Mund öffnete sich zu einem Schrei, ohne dass mir das sofort bewusst wurde. Aber was immer ich auch hatte von mir geben wollen, es blieb in meiner Kehle stecken, denn in dem Moment hörte ich den schmerzerfüllten Schrei meines Bruders, der alle anderen Geräusche übertönte, selbst das laute Fauchen des Feuers.
Und im nächsten Augenblick ging die Welt in Dunkelheit unter.