Zwei Unbeugsame Krähen
von Freudentraenen
Kurzbeschreibung
Ein Junge, der seinen Platz in einer neuen Welt sucht, und ein Mädchen mit einem brennenden Verlangen, eine mächtige Hexe zu werden. Ihr zufälliges Aufeinandertreffen in der Verbotenen Abteilung während ihres ersten Weihnachtens in Hogwarts wird ihre beiden Leben auf einen anderen Pfad führen. Wird es ein Pfad in die Dunkelheit sein? Blutmagie, Korrumpierung & Mächtige Harry/Daphne
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Het
Daphne Greengrass
Harry Potter
28.11.2022
18.03.2023
11
68.272
47
Alle Kapitel
30 Reviews
30 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
1 Review
18.03.2023
8.476
Kapitel Elf – Blick in den Spiegel
Ein tosender Schneesturm war über die Ländereien von Hogwarts hereingebrochen und tauchte das im Winter ohnehin nicht vom Licht verwöhnte Schloss in bedrückende Dunkelheit. Bedrückend zumindest für die meisten Schülerinnen und Schüler. Harry hingegen lief fröhlich durch die Gänge, die nur von ein paar flackernden Fackeln erhellt wurden. Bis spät in die Nacht hatte er mit Daphne im Raum der Wünsche gesessen, so spät, dass sie schließlich nebeneinander eingeschlafen waren. Dennoch war er nicht müde. Sein Körper schmerzte zwar ein wenig von der Nacht auf steinernem Boden, aber das konnte ihm nicht egaler sein. Der Schmerz würde vergehen, aber die Gewissheit, die ihm die letzte Nacht gebracht hatte, würde ihn für den Rest seines Lebens begleiten, dessen war er sich sicher.
Instinktiv strich er mit den Fingern über die Handfläche seiner linken Hand. Die Wunde war verheilt, aber er erinnerte sich noch genau an das Gefühl, als Daphnes Blut über seine Haut geflossen war und sich mit seinem vermischt hatte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ja, am Ende hatte sich doch noch alles zum Guten gewendet, und die Zukunft sah viel rosiger aus, als er es gestern zwischendurch für möglich gehalten hatte.
Nur eine Sache war völlig aus dem Ruder gelaufen...
Das Lächeln erlosch auf Harrys Gesicht, als er sich dem Klassenzimmer für Verwandlung näherte. Davor warteten schon viele der anderen Schüler und Schülerinnen, und ganz am Rande standen Ron und Hermine. Beide blickten auf, als er sich näherte. Er würde den ersten Schritt machen, aber nicht mehr. Dann waren die beiden dran.
„Hey“, sagte er.
„Hey“, antwortete Ron.
Sie sahen sich unsicher an. Hermine biss sich auf die Lippe. Sie machte einen Schritt nach vorne, dann stoppte sie. Sie verschränkte ihre Hände, nur um sie dann wieder zu lösen. Schließlich sagte sie leise: „Hey, Harry.“
„Du bist gestern nicht in den Schlafsaal zurückgekommen“, sagte Ron. Es war keine Frage.
„Das stimmt“, sagte Harry.
„Wo warst du denn?“
„Ich war unterwegs. Meinen Kopf frei bekommen, nach ... nach dem, was passiert ist.“
„Mit Daphne?“, fragte Hermine.
Harry zog eine Augenbraue hoch. So hatte Hermine sie seit Beginn des Schuljahres nicht mehr genannt. „Ja, mit Daphne.“
Wieder breitete sich Schweigen zwischen den dreien aus. Ein unangenehmes Schweigen, schwer von verlorenem Vertrauen und Schuldgefühlen. Harry hatte gedacht, dass er nach den langen Nächten im Besenschrank unter der Treppe an Stille gewöhnt war und sie ihm nichts mehr ausmachen würde, aber dieses Schweigen tat weh. Ihm entgingen auch nicht die Blicke der anderen Schüler. Ein wenig erinnerten sie ihn an Tante Petunia, die aus dem Küchenfenster schaute, um die Nachbarn zu beobachten.
Schließlich war es Hermine, die das Schweigen durchbrach. „Harry ... es tut mir leid.“
„Was tut dir leid?“
Hermine biss sich wieder auf die Lippe. Sie sah an ihm vorbei zu einem Punkt an der Wand, als könnte sie es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen. „Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe. Über dich und Daphne. Ich verstehe, dass du sie nur beschützen wolltest, so wie du mich oder Ron beschützt hättest.“
„Ja, Malfoy ist einfach ein widerlicher Bastard“, sagte Ron. „Und Crabbe und Goyle auch. Die haben sicher verdient, was ihr ihnen angetan habt. Mir tut auch leid, was ich gestern gesagt habe.“
Harry atmete erleichtert auf. Eine schwere Last schien von seinen Schultern zu fallen. „Schon gut. Freunde verzeihen sich doch, oder?“
Hermine schenkte ihm ein etwas gezwungenes Lächeln und sagte: „Ja, genau.“
Ron trat einen Schritt vor und klopfte Harry auf die Schulter. „Danke, Kumpel.“
Harry nickte ihm zu. Er glaubte nicht, dass gleich alles wieder so sein würde wie vorher, aber es war ein Anfang und darüber war er froh.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Klassenzimmers und die Schüler begannen nach und nach einzutreten.
„Dann wollen wir mal“, sagte Harry.
Zusammen mit den anderen betraten Harry, Ron und Hermine das Klassenzimmer und setzten sich in eine der mittleren Reihen. Sie hatten Verwandlung mit den Ravenclaws, aber es waren sowohl Ravenclaws als auch Gryffindors, die Harry anstarrten.
„Hey, Potter“, rief Antony Goldstein von der anderen Seite des Raumes. „Stimmt es, dass das Ministerium gegen dich und Greengrass wegen versuchten Mordes ermittelt?“
Bevor Harry antworten konnte, rief Ron zurück: „Glaubst du wirklich, dass Harry dann noch hier sitzen würde? Dummkopf.“
„Das reicht, meine Herren“, ertönte die herrische Stimme von Professor McGonagall. Ihre Lehrerin betrat den Raum und augenblicklich war es mucksmäuschenstill. „Fünf Punkte Abzug für Gryffindor, Mr. Weasley, für die Beleidigung. Sparen Sie sich das für die Ferien auf, aber in diesem Schloss und vor allem in diesem Klassenzimmer will ich so etwas nicht hören. Und, Mr. Goldstein, fünf Punkte Abzug für Ravenclaw für das Verbreiten übler Gerüchte. Auch das dulde ich hier nicht. Mr. Potter wird dieser Schule noch mindestens fünfeinhalb Jahre erhalten bleiben, vorausgesetzt, er besteht seine Prüfungen. Das gilt für sie alle.“
Professor McGonagall trat an ihr Pult und drehte sich zu ihnen um. „Fahren wir fort. In der letzten Stunde haben Sie gelernt, wie man die Farbe einer Eulenfeder verändert. Heute gehen wir einen Schritt weiter.“ Sie nahm eine graue Eulenfeder von ihrem Pult, deutete mit ihrem Zauberstab darauf und sagte deutlich: „Plumceava.“
Die Feder wurde dunkler, etwas schmaler und länger, bis Professor McGonagall schließlich eine ganz schwarze Feder in der Hand hielt.
„Wie Sie sehen, habe ich nicht nur die Farbe der Feder verändert, sondern auch ihre Form und Struktur. Diejenigen unter Ihnen, die sich mit Ornithologie auskennen, werden feststellen, dass sie jetzt nicht mehr von der Feder eines Raben zu unterscheiden ist. In gewissem Sinne ist sie jetzt eine Rabenfeder, und nur das geübte Auge mit geschulten magischen Sinnen könnte noch erkennen, dass sie vorher etwas anderes war. Diese Veränderung der Materie ist also viel tiefgreifender als ein bloßer Farbwechsel. Was ist daher das Allerwichtigste, wenn Sie sich gleich selbst an dem Zauber versuchen werden? Ja, Miss Granger.“
Eine Handvoll Hände hatte sich auf Professor McGonagalls Frage gemeldet, aber Hermine war wie immer die Schnellste.
„Konzentration und Sorgfalt“, sagte Hermine. „Nach Henots Regeln der Verwandlungsreihenfolge müssen wir die gewünschte Verwandlung in kleine Teile zerlegen und diese nacheinander ausführen, um den Fluss der Magie zu lenken. So habe ich in der letzten Stunde mit der Spitze der Feder begonnen und mich in Gedanken Schritt für Schritt bis zum Schaft vorgearbeitet, um am Ende die ganze Feder umgefärbt zu haben.“
McGonagall nickte zustimmend. „Sie haben vollkommen recht, Miss Granger. Aber wann, glauben Sie, stoßen wir mit dieser Vorgehensweise spätestens an unsere Grenzen?“
Hermine runzelte die Stirn. Harry kannte ihren Blick gut genug, um zu wissen, dass sie in diesem Moment auf der Suche nach der Antwort in Gedanken sämtliche Inhalte ihrer Lehrbücher durchging. Aber er wusste auch, dass sie keinen Erfolg haben würde, denn das stand nicht in den Lehrbüchern für das zweite Schuljahr. Er meldete sich.
„Ja, Mr. Potter“, sagte Professor McGonagall.
„Wenn wir an Lebewesen Veränderungen vornehmen, die über bloße kosmetische Anpassungen hinausgehen“, sagte er. „Denn während es bei einer Feder noch möglich ist, die Verwandlung zu zerlegen, ist dies bei Organen wie Herzen oder Gehirnen zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn es in einer Zehntelsekunde geschieht, kann ein Lebewesen kein halbes Gehirn haben.“
„Sehr richtig, Mr. Potter. Zugegeben, das wird erst viel später im Curriculum relevant, aber was ist Ihrer Meinung nach in einem solchen Fall stattdessen notwendig?“
„Wir dürfen nicht versuchen, den Fluss der Magie zu lenken, als wäre sie ein Bach in einem Garten. Vielmehr müssen wir sie entfesseln. Die Magie muss das ganze Wesen des zu verwandelnden Lebewesens vollständig erfassen, es in seinem Kern berühren und für immer verändern. Dazu müssen wir uns der Macht der Magie bewusst sein, dürfen aber gleichzeitig keine Angst vor ihr haben“.
„Ich sehe, da hat jemand seine Circe gelesen“, sagte Professor McGonagall. „Die meisten modernen Autoren würden das wahrscheinlich etwas anders formulieren, aber es ist zweifellos ein faszinierendes Thema für die magische Forschung. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich mehr dafür interessieren, Mr. Potter, ich kann Ihnen gerne weitere Bücher dazu empfehlen. Die wesensverändernde Verwandlung von Lebewesen wird jedoch erst zu einem viel späteren Zeitpunkt Ihrer schulischen Laufbahn eine Rolle spielen. Wenden wir uns also wieder dem Zauber zu, den wir vorhin gesehen haben.“
Professor McGonagall schwang ihren Zauberstab, und Eulenfedern flogen zu ihren Plätzen und blieben vor ihnen auf den Tischen liegen. „Versuchen Sie den Zauber selbst. Der Zauberspruch heißt Plumceava. Sie finden ihn auf Seite vierhundertzehn Ihres Buches, zusammen mit weiteren Hinweisen zur mentalen Vorbereitung und Durchführung. Probieren Sie aus, wie weit Sie kommen. Ich gehe durch die Reihen und beobachte erst einmal nur. Zögern Sie aber nicht, mich anzusprechen, wenn Sie Fragen haben. In zwanzig Minuten gehen wir alles noch einmal gemeinsam durch. Sie können anfangen.“
Die Schüler zückten ihre Zauberstäbe, und kurz darauf erfüllte das Schwingen von Zauberstäben und das Murmeln von Zaubersprüchen den Raum.
Ron beugte sich zu ihm. „Woher wusstest du das denn?“, fragte er leise.
„Circe ist eine von Daphnes Lieblingsgelehrten“, antwortete Harry achselzuckend.
Neben ihnen übte Hermine schon fleißig und hatte es auch schon geschafft, dass ihre Feder rabenschwarz war, aber es war immer noch eine Eulenfeder, das war deutlich zu sehen, nur eben schwarz.
Harry betrachtete seine eigene Feder vor sich. Wie sonst auch, wenn er mit Daphne einen neuen Zauber lernte, schloss er die Augen, atmete ein paar Mal tief ein und aus und tastete nach der Magie in sich. Inzwischen fiel ihm das so leicht, wie an einem windstillen, sonnigen Tag auf seinem Nimbus zu fliegen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als die gewohnte Wärme ihn erfasste und sich in seinem ganzen Körper auszubreiten begann, von seinem Herzen über seinen Arm bis hin zu seiner Hand und dem Zauberstab darin. Für einen Moment war ihm, als spürte er ein Kitzeln auf seiner Haut, das Kitzeln einer Feder, wie in seinen Träumen. Sein Lächeln vertiefte sich. Er ließ die Magie aus sich herausbrechen und sagte: „Plumceava.“
Als er die Augen wieder öffnete, lag eine schwarze, wohlgeformte und irgendwie vertraute Feder vor ihm.
„Sehr gut gemacht, Mr. Potter“, sagte Professor McGonagall und trat an ihren Tisch. Ron und Hermine nickten ihm beeindruckt zu, und auf so manchem Gesicht der anderen Schüler war ein neidischer Ausdruck zu sehen. „Ich dachte mir schon, dass Sie keine Probleme damit haben würden, als Miss Greengrass es gestern auch auf Anhieb geschafft hat, jedenfalls fast.“ Sie nahm die Feder in die Hand und betrachtete sie nachdenklich. „Wie merkwürdig, dass Sie genau denselben Fehler gemacht haben. Denn das ist eine Krähenfeder, keine Rabenfeder.“
Harry lächelte seine Hauslehrerin unschuldig an. Er ignorierte die Schatten, die bei der Erwähnung von Daphne über Rons und Hermines Gesichter huschten. „Was Sie nicht sagen, Professor. Das ist ja wirklich kurios.“
Insgeheim konnte er sich sehr gut vorstellen, was der Grund dafür sein mochte, und der Gedanke ließ sein Herz höher schlagen.
„Sie beide sind wirklich ein außergewöhnliches Duo“, sprach Professor McGonagall weiter. „Außergewöhnlich in der Tat. Nun denn, fünf Punkte für Gryffindor für eine dennoch bemerkenswerte Verwandlung beim ersten Versuch, auch wenn Sie sich im Vogel vertan haben.“
Um sie herum nahmen die anderen Schüler ihre Übungen wieder auf. Aber Professor McGonagall blieb an ihrem Tisch. Sie beugte sich zu Harry hinunter und sagte leise, so dass nur er sie verstehen konnte: „Wenn Sie Miss Greengrass später sehen, woran ich nicht den geringsten Zweifel habe, sagen Sie ihr, dass Sie beide um fünf zu Professor Dumbledore kommen sollen. Er erwartet Sie beide zu Ihrem ersten Nachsitzen bei ihm. Das Passwort ist dasselbe wie gestern.“
„Ähm, Professor? Können Sie mir bitte noch einmal sagen, wie das Passwort gestern lautete?“ Auf ihren fragenden Blick hin fuhr Harry fort. „Ich fürchte, ich war gestern nicht ganz aufmerksam, als Snape uns dorthin geführt hat.“
Ein verständnisvolles Lächeln legte sich um Professor McGonagalls Lippen. „Natürlich. Das Passwort lautet...“
„Sahnetorte“, sagte Harry, und der Wasserspeier drehte sich zur Seite und gab den Blick auf die Wendeltreppe dahinter frei. Harry und Daphne traten auf die Stufen, und die Treppe setzte sich leise in Bewegung, um sie zum Büro des Schulleiters zu bringen.
„Ich kann nicht glauben, dass jemand Sahnetorte als Passwort wählen kann“, sagte Daphne. „Ich meine, kann man nicht wenigstens was Leckeres nehmen?“
„Also ich mag Sahnetorte.“
„Mit dir stimmt ja auch was nicht.“
Die Treppe stoppte und sie standen nun vor der unscheinbaren Holztür, hinter der gestern so viel passiert war. Sie tauschten einen Blick. Daphne holte tief Luft, bevor sie ihm kurz zunickte. Harry klopfte an die Tür.
„Bitte kommt herein“, erklang die Stimme ihres Schulleiters.
Harry und Daphne betraten das Büro, das noch genauso aussah wie am Tag zuvor. Aber es wirkte gleich viel einladender, wenn man nicht von einem geifernden Snape hineingetrieben wurde. Das warme Kerzenlicht der Kronleuchter unter der Decke tauchte den Raum in einen orangefarbenen Schein und ließ sogar den mit einem schwarzen Tuch verhüllten Spiegel neben Dumbledores Schreibtisch weniger bedrohlich wirken. Diesmal war auch der Platz hinter dem klauenfüßigen Schreibtisch nicht leer, sondern von Dumbledore besetzt, der sie anlächelte. Und neben ihm saß auf einer goldenen Stange ein Phönix, so erhaben und prächtig in seinem rotgoldenen Gefieder, dass man schon auf den ersten Blick wusste, dass man es hier mit einem sagenumwobenen Wesen zu tun hatte. Harrys Augen weiteten sich vor Staunen.
„Der erste Anblick von Fawkes verfehlt nie seine Wirkung“, sagte Dumbledore mit einem leichten Glucksen. „Er würde es nie zugeben, aber er genießt das Staunen.“
„Sie haben einen Phönix, Professor?“, fragte Harry immer noch etwas ungläubig. Er musste sich zusammenreißen, um nicht auf den Phönix, Fawkes, zuzugehen und ihn aus der Nähe zu betrachten.
„Haben? Nein, das ganz bestimmt nicht, denn einen Phönix kann man nicht besitzen, Harry. Sie sind die freiheitsliebendsten und unbeugsamsten Wesen, die man sich vorstellen kann. Und sie werden sehr, sehr alt. Viel eher könnte man also sagen, dass Fawkes mich, für eine Zeit seines Lebens, hat.“ Dumbledore lächelte in seinen weißen Bart. „Vor allem aber war er mir in vielen Abenteuern ein treuer Freund.“
Er deutete auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. „Bitte setzt euch. Wir haben einiges zu besprechen.“
Harry und Daphne setzten sich nebeneinander. Draußen hatte sich der Sturm gelegt, wie man durch die Fenster sehen konnte, und war leichtem Schneefall gewichen. In einem endlosen Reigen tanzten die Schneeflocken in der hereinbrechenden Dunkelheit. Eigentlich ein schöner Anblick, der dazu einlud, vor dem Kaminfeuer ein gutes Buch zu lesen – Harry hatte noch einige Bücher aus der Verbotenen Abteilung und dem Raum der Wünsche in der Tasche, die er noch nicht zu Ende gelesen hatte. Aber diese Gedanken verschwanden so schnell aus Harrys Kopf, wie sie gekommen waren, denn er wusste nicht, was sie bei diesem Treffen mit ihrem Schulleiter erwarten würde. Gestern und im Sommer hatte er ihnen geholfen, sehr geholfen sogar, aber was würde das für die Zukunft bedeuten? Sie mussten achtsam bleiben.
„Haben euch eure Mitschüler Probleme gemacht?“, fragte Dumbledore.
Harry zuckte die Schultern. „Es gab ein paar böse Worte, aber es scheint alles gut zu werden.“
Jedenfalls mit Ron und Hermine, fügte er in Gedanken hinzu. Oliver hatte er heute noch nicht gesehen und er hatte auch keine Lust dazu. Bei Ron und Hermine wusste er wenigstens, dass sie sich wirklich Sorgen um ihn machten, auch wenn sie aus ihren Sorgen die völlig falschen Schlüsse zogen, aber Oliver war einfach nur ein Arsch gewesen. Vielleicht war er das schon immer gewesen. Nun, jetzt war es ihm auch egal.
„Vor allem böse Blicke“, sagte Daphne. „Einen Beliebtheitspreis werde ich in Slytherin jedenfalls nicht gewinnen.“ Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, begleitet von einem Hauch von Genugtuung in ihrer Stimme, als sie weitersprach. „Und Malfoy und seine beiden Kumpane haben sofort die Flucht ergriffen, als sie mich sahen.“
„Es wird eine Weile dauern, bis eure Klassenkameraden euch wieder unvoreingenommen begegnen können. Die gestrigen Ereignisse werden, fürchte ich, noch lange nachwirken.“
„Dann soll es so sein“, entgegnete Daphne. Mehr sagte sie nicht.
Dumbledore betrachtete sie mit einem intensiven Blick seiner hellblauen Augen, doch schließlich nickte er langsam. „Wir können nicht mehr ändern, was geschehen ist, aber wir können unsere Lehren daraus ziehen. Das ist auch der Grund, warum ich entschieden habe, dass ihr mit mir nachsitzen werdet. Und glaubt nicht, dass mir eure Blicke entgangen sind. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass ihr eure Zeit lieber anders verbringen würdet, aber manchmal muss sich die Arroganz der Jugend damit abfinden, von den Alten zu lernen.“
„Das ist nicht wahr, Professor“, sagte Harry.
„Richtig“, sagte Daphne und nickte schnell. „Sie sind ein mächtiger Zauberer, Professor, vielleicht der mächtigste seit Merlin selbst. Wir können noch viel von Ihnen lernen.“
„Lernen, sagst du, Daphne? Was wollt ihr denn von mir lernen? Mächtige Zaubersprüche, uralte Magie, das Wissen aus dreitausend Jahren Zaubereigeschichte? Gewiss, ich könnte euch vieles davon beibringen, aber ich frage mich, ob ich damit nicht nur noch mehr Öl in das Feuer in euch gießen würde. Glaubt nicht, dass mir die Ringe an euren Fingern entgangen sind.“
Harrys Herz setzte einen Schlag aus.
„Freundschafts–“, begann er, doch Dumbledore unterbrach ihn sofort.
„Bitte, Harry, beschäme mich nicht mit dieser Lüge. Wir wissen beide, dass es keine Freundschaftsringe sind, die ihr da tragt. Aber was, frage ich mich, könnten zwei Kinder wie ihr sich davon versprechen, sich in Blutmagie zu versuchen?“
Harrys Herz schlug wild in seiner Brust. Er wechselte einen Blick mit Daphne. Er konnte sehen, wie hinter ihren bernsteinfarbenen Augen ihr Verstand arbeitete.
„Um...“, begann sie langsam.
„Animagi zu werden!“, beendete Harry. Ihm war eine Idee gekommen.
Die Antwort schien Dumbledore zu überraschen, denn er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Doch sein Blick war immer noch auf sie gerichtet. „Animagi?“
„Ich habe gelesen, dass das eine Möglichkeit ist, seinem Inneren Geist näher zu kommen“, sagte Daphne.
„Das ist es, aber es gehört nicht zu den gewöhnlichen Wegen, im Gegenteil“, sagte Dumbledore. „Es ist ein langer und schmerzhafter Weg, wenn ich mich recht erinnere, und nur wenige schaffen es, ihn bis zum Ende zu gehen. Warum auch sollte man sich selbst Schmerzen zufügen, wenn es weitaus weniger grausame Wege gibt, um zum gleichen Ergebnis zu gelangen?“
Ein neues Lächeln umspielte Daphnes Lippen, ein Lächeln, das nach außen hin freundlich wirkte, im Innern aber von kalter Berechnung getrieben war, wie Harry nur zu gut wusste. Ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken. Na, das konnte interessant werden.
„Aber es ist der einzige Weg, der ohne Zauberstab auskommt. Und vor Hogwarts hatte ich keinen Zauberstab.“
„Du hast schon vor Hogwarts damit angefangen?“
Daphne nickte. „Und ich glaube, dass ich es schon bald hinbekommen werde…“
Dumbledore strich sich durch seinen langen weißen Bart, während sich seine Augen auf Harry richteten. „Und du, Harry?“
„Ich wollte es auch unbedingt versuchen, als Daphne mir davon erzählt hat“, sagte er, und nur zehn Jahre intensives Training bei den Dursleys hielten ihn davon ab, über das ganze Gesicht zu grinsen. Sie logen nicht, und doch verbargen sie die Wahrheit in ihrer Fülle.
Stille breitete sich im Raum aus. Dumbledore war in seinem Stuhl zusammengesackt und sah nun aus wie der alte Mann, der er war, während er sich weiter über den Bart strich, tief in Gedanken versunken, wie es schien. Fawkes hatte den Kopf unter den Flügel gelegt und schlief. Einige der Porträts an den Wänden taten es ihm gleich, aber noch mehr von ihnen betrachteten sie mit neugierigen Blicken, während sie das Gespräch verfolgten.
„Vielleicht hätte ich es wissen müssen“, sagte Dumbledore schließlich, seine Stimme so leise, dass Harry sie fast nicht verstand. „Wie der Vater, so der Sohn...“
„Was meinen Sie, Professor?“, fragte Harry.
Dumbledore zuckte zusammen, als hätte er vergessen, dass sie bei ihm waren. Er schenkte Harry ein angestrengtes Lächeln. „Ich schwelge nur in Erinnerungen, Harry. Ich musste an deinen Vater denken.“
Harry hatte plötzlich ein seltsames Gefühl in seinem Inneren, als würde sein Magen gleichzeitig gedehnt und zusammengedrückt. „Was ... warum?“
„Dein Vater hat sich in jungen Jahren auch das Ziel gesetzt, ein Animagus zu werden, und es schließlich auch geschafft. Da war er nur ein paar Jahre älter als du jetzt.“
Das seltsame Gefühl in Harry verschwand und wurde durch eine wohlige Wärme ersetzt. Er begann zu lächeln. Dann spürte er eine Hand in seiner. Daphne drückte seine Hand und schenkte ihm ebenfalls ein warmes Lächeln, diesmal ein echtes, ohne Lug und Trug.
Sein Vater war ein Animagus gewesen! Jetzt war er noch begieriger darauf, seine eigene Verwandlung zu vollenden. Er würde es schaffen und seinen Vater stolz machen!
„Ich nehme an, ihr habt euch intensiv damit beschäftigt?“, sagte Dumbledore. „Die Ringe an euren Fingern lassen keinen anderen Schluss zu.“
„Ja, wir speichern die Lebenskraft, die durch unseren Schmerz freigesetzt wird“, sagte Daphne. „Sie nah am Körper zu tragen, stärkt unsere Verbindung zu unserer inneren Magie.“
„Dann kennt ihr auch die Gefahren, die damit verbunden sind?“
Daphne öffnete den Mund, und Harry erkannte, dass sie sich im letzten Moment zurückhielt, mit der Zunge zu schnalzen. Stattdessen nickte sie. „Wir haben davon gelesen.“
„Aber versteht ihr es auch?“
„Was meinen Sie, Professor?“, fragte Harry.
Dumbledore seufzte. „Blutmagie ist wie Feuer. Zweifellos nützlich, um bestimmte Ziele zu erreichen, sich zu wärmen oder den Weg vor sich zu erhellen, aber man kann sich auch daran verbrennen.“
„Das gilt für jede Magie“, sagte Daphne.
„Aber nicht jede Magie ist in der Lage, eure Seele selbst in Brand zu setzen. Blutmagie, das müsst ihr euch immer vor Augen halten, legt euer Innerstes frei, nicht nur euren Inneren Geist, mit dem ihr euch verbinden müsst, um eure Animagusform zu finden, sondern alles, was euch als Menschen ausmacht, als die Personen, die ihr seid. Mit all euren Träumen, euren Ängsten, euren Sorgen. Mit all euren Gefühlen, im Guten wie im Schlechten.“ Dumbledore sah sie über den Rand seiner halbmondförmigen Brille hinweg an. „Findet ihr es nicht seltsam, dass ihr gestern so außer Kontrolle geraten seid? Oh, ich bin sicher, dass ihr euch an den Herren Malfoy, Crabbe und Goyle rächen wolltet, vor allem du, Daphne, aber wurde dieses Verlangen vielleicht durch die Glut eurer in Brand gesetzten Seelen noch weiter angefacht?“
Harry widerstand dem Drang, sich zu Daphne zu drehen, zu sehr fürchtete er, dass diese Bewegung sie verraten würde. Ebenso widerstand er dem Drang, Dumbledore zuzurufen, dass er falsch lag. Vielleicht hatte er sogar Recht, zumindest teilweise, aber das war unwichtig. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, am Ende kam er immer wieder zum selben Schluss: Was sie gestern getan hatten, war richtig gewesen. Sie hatten keine andere Wahl gehabt, und Malfoy, Crabbe und Goyle hatten es mehr als verdient. Gut angefühlt hatte es sich ebenfalls.
Auch Daphne schwieg und so sprach Dumbledore schließlich weiter.
„Die Welt ist leider ein viel grausamerer Ort, als wir es uns wünschen würden, und euch beiden ist schon viel Leid zugefügt worden. Ich würde mir wünschen, dass ihr in Zukunft in Ruhe und Frieden leben könnt, und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um das zu erreichen.“ Für einen Moment wanderte Dumbledores Blick zu dem verhüllten Spiegel, aber nur ganz kurz, bevor er sich wieder ihr zuwandte. Er holte tief Luft und sprach weiter. „Aber das wird leider nicht der Fall sein. Ihr werdet noch oft in Situationen geraten, in denen ihr wütend, zornig und verzweifelt sein werdet. Situationen, in denen die Macht der Magie so verlockend sein wird, dass sie all eure Probleme wegfegen könnte, zumal ihr, wenn ich meinen Lehrern glauben darf, schon jetzt die begabtesten und ehrgeizigsten Schüler seid, die sie je gesehen haben. Auf jeden Fall die begabtesten seit über fünfzig Jahren.“
„Worauf wollen Sie hinaus, Professor?“, fragte Daphne vorsichtig.
„Es wird noch viele Situationen in eurem Leben geben, in denen es verlockend sein wird, so zu handeln wie gestern und der Versuchung der Magie nachzugeben. Deshalb habe ich euch gesagt, dass wir gemeinsam daran arbeiten werden, die ungezähmte Magie in euch zu zähmen. Habt ihr schon einmal von Okklumentik gehört?“
„Ich habe darüber gelesen und würde es gerne einmal lernen“, sagte Harry.
Daphne fügte hinzu: „Ich habe als Kind ein paar Grundübungen gelernt. Vor allem, um einen geistigen Angriff erkennen und abwehren zu können. Aber ich habe mir vorgenommen, irgendwann noch mehr zu lernen“.
„Dieses Irgendwann ist jetzt“, sagte Dumbledore. „Okklumentik ist in erster Linie dazu da, geistige Angriffe abzuwehren, da hast du Recht, Daphne, aber sie kann noch mehr. Wenn man sie richtig einsetzt, kann man damit auch seine Gedanken ordnen und seine Gefühle beherrschen, anstatt von ihnen beherrscht zu werden.“
„Und das werden Sie uns beibringen?“, fragte Harry.
Dumbledore schüttelte den Kopf. „Ich werde euch Hinweise geben und vielleicht einen Schubs in die richtige Richtung. Aber das eigentliche Lernen werde ich euch nicht abnehmen können, denn das ist sehr individuell und persönlich. Aber wir werden uns regelmäßig hier treffen, um uns über eure Fortschritte auszutauschen.“
„Das ist alles?“, fragte Daphne erstaunt. „Sie werden uns nicht daran hindern, weiterzumachen? Oder das Ministerium informieren?“
„Würde es etwas nützen, wenn ich es euch verbiete?“ Dumbledore lächelte sie an. „Ihr braucht nichts zu sagen, ich war auch einmal in eurem Alter und hatte einen unstillbaren Durst danach, die Geheimnisse der Magie zu ergründen und mich zu beweisen. Die Arroganz der Jugend, wohl wahr…“ Dumbledores Lächeln wurde für einen Moment wehmütig, so schien es Harry, bevor er sanft den Kopf schüttelte. „Und soll ich euch ein kleines Geheimnis verraten? Ich kann auch nichts sagen, was ich nicht gehört habe.“ Er steckte sich den Finger ins Ohr. „Irgendwie habe ich schon den ganzen Tag ein komisches Pfeifen in den Ohren. Habt ihr was gesagt?“
Harry grinste breit. Er öffnete den Mund, als plötzlich tatsächlich ein lautes Fiepen durch den Raum hallte. Es war grässlich und schief und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Aus einer silbernen Kugel auf Dumbledores Tisch begann Dampf aufzusteigen.
„Albus? Albus, bist du da?“, ertönte Professor McGonagalls Stimme aus der Kugel.
Dumbledore legte seine Hand auf die Kugel und sagte: „Ja, Minerva?“
„Es ist schon wieder passiert! Du musst sofort kommen! In den vierten Stock!“
Schnell stand Dumbledore auf, als wäre er ein jüngerer Mann. Auch Fawkes hatte sich aufgerichtet und breitete seine Flügel aus.
„Bleibt hier, ich bin gleich wieder da.“
Fawkes schrie laut auf. Er stieß sich von seiner goldenen Stange ab und landete mit einem Flügelschlag auf Dumbledores Schulter. Es gab einen Knall, ein grelles, feuriges Licht, und Dumbledore und Phönix waren verschwunden, nur noch flimmernde Luft, wo sie eben noch gewesen waren.
Zurück blieben Harry und Daphne und die Porträts der ehemaligen Schulleiter, auf deren Gesichtern sich tiefe Besorgnis abzeichnete.
„Wow“, sagte Daphne.
„Wow“, stimmte Harry zu,
„Glaubst du, dass etwas Schlimmes passiert ist?“
Harry zuckte die Schultern. „Es klang, als gäbe es ein weiteres Opfer. Wir werden es bald wissen, und im Moment können wir sowieso nichts tun.“
„Hmm, hmm, hmmm.“ Daphne sah ihn an. Ein verschmitztes Funkeln war in ihre goldenen Augen getreten. „Was glaubst du, was ein Zauberer wie Dumbledore hier so alles versteckt hat?“
„Alte Bücher, die zu gefährlich sind, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Unglaublich mächtige magische Artefakte? Liebesbriefe?“
„Ihh“, sagte Daphne schaudernd.
Harry lachte auf. „Du hast ihn doch selbst gehört. Er war auch mal jung.“
„Dennoch, er könnte unser Großvater sein.“ Daphne schüttelte den Kopf. Dann stand sie auf. „Lass uns mal umschauen.“
„Hey!“, ertönte die Stimme eines der Porträts, ein glatzköpfiger Zauberer, dem graue Haare aus den Ohren sprossen. „Das dürft ihr nicht!“
Daphne schnalzte mit der Zunge. „Wir werden schon nichts kaputt machen, keine Sorge. Ich bin nur neugierig, vor allem, was das hier sein soll. Schon die ganze Zeit bleibt mein Blick daran hängen und will es sehen, wie ein Juckreiz, den man einfach nicht loswird ...“
Damit ging sie auf den großen Spiegel zu, der neben dem Schreibtisch stand.
„Nein!“, riefen nun mehrere Porträts gleichzeitig, und auch Harry sprang auf, aber Daphne streckte bereits die Hand aus. Sie griff nach dem schwarzen Tuch, das den Spiegel verhüllte, und riss es herunter.
Von einem Moment auf den anderen durchzuckte Harrys Kopf ein furchtbarer Schmerz, als würden ihn Tausende glühender Nadeln durchbohren. Er schrie auf und sank auf die Knie. Seine Hand drückte auf seine Narbe, die sich anfühlte, als stünde sie in Flammen. Tränen traten ihm in die Augen, doch sein Blick war fest auf den Spiegel gerichtet.
Dunkle Schatten schimmerten im Spiegelglas und bewegten sich. Sie nahmen Farbe an und formten Gestalten. Deutlich konnte Harry einen Mann und eine Frau erkennen. Die Frau hatte lange rote Haare und grüne Augen, wie Harry sie schon tausendmal in anderen Spiegeln gesehen hatte, und die Haare des Mannes waren genauso schwarz und zerzaust wie seine eigenen. Die beiden lächelten ihn an ... doch dann wurden ihre Gestalten plötzlich auseinandergerissen. Ein abgrundtief böses Lachen erklang, ein Lachen wie aus dem Schlund der Hölle. Dort, wo der Mann und die Frau gestanden hatten, blickte ihm nun ein Gesicht entgegen. Es war ein weißes, schlangenhaftes Gesicht mit zwei kleinen Löchern, wo die Nase sein sollte, und blutroten Augen.
Der Schmerz verschwand aus Harrys Bewusstsein, das einzige, was er jetzt noch fühlte, war Hass. Hass, der wie flüssiges Feuer durch seine Adern brannte.
Er richtete sich auf und taumelte zum Spiegel, vor dem immer noch Daphne stand. Ihre Augen waren glasig geworden, während sie in den Spiegel starrte. Langsam hob sie die Hand, um ihn zu berühren...
Ein feuriger Blitz erhellte das Turmzimmer, gefolgt von einem roten, der Daphne in den Rücken traf. Sie sank zu Boden.
Harry wirbelte herum. Dumbledore war genau dort erschienen, wo er zuvor verschwunden war, Fawkes auf der Schulter und sein Zauberstab immer noch auf Daphne gerichtet. Harry schrie auf und stürzte sich auf ihn, um ihm die Kehle aufzureißen, aber ein weiterer roter Blitz schoss aus Dumbledoes Zauberstab und traf ihn in die Brust. Harrys Welt versank in Dunkelheit.
Als Harry wieder zu sich kam, spürte er die Wärme eines nahen Kaminfeuers. Er konnte sogar das brennende Nadelholz riechen und das Knacken der Holzscheite hören. Ab und zu zerbrach eines. Es waren angenehme, beruhigende Geräusche, aber ganz und gar nicht beruhigend war, dass er sich nicht bewegen konnte. Er schien auf einem Stuhl zu sitzen, aber seine Arme und Beine waren mit Stricken gefesselt. Er öffnete die Augen, aber das grelle Licht blendete ihn. Seine Augen tränten und gaben nur langsam den Blick auf seine Umgebung frei.
„Vorsicht, Harry“, ertönte eine vertraute Stimme, die von Professor Dumbledore.
Harry blinzelte. Er saß immer noch in Dumbledores Büro, genau auf dem Stuhl, auf dem er während ihres Gesprächs gesessen hatte. Neben ihm saß Daphne, aber sie war immer noch bewusstlos, ihr Brustkorb hob und senkte sich sanft. Auch sie war an den Stuhl gefesselt. Der große Spiegel neben dem Schreibtisch war wieder verhängt. Sie waren allein, bis auf Dumbledore, der sich über das Kaminfeuer beugte, und die allgegenwärtigen Blicke der Porträts an der Wand.
„Ich bin froh und erleichtert, dass du wieder bei Sinnen bist“, sagte Dumbledore. Er drehte sich zu ihm um, und mit einem Schwung seines Zauberstabs fielen die Fesseln von Harry.
In diesem Moment ging auch ein Ruck durch Daphnes Körper. Sie stieß ein leises Stöhnen aus und öffnete blinzelnd die Augen.
Harry sprang auf. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, doch dann kniete er vor Daphne und hielt ihre Hände. Sie waren unnatürlich kalt. „Daph? Kannst du mich hören, Daph? Geht es dir gut?“
Daphnes Augen fixierten ihn. Hässliche rote Fäden durchzogen das sonst makellose Weiß und umspannten ihre goldenen Iriden wie ein Spinnennetz. Aber sie lächelte ihn schwach an. „Mir ... mir geht es gut.“
„Ihr habt Glück, dass ich rechtzeitig gekommen bin, sonst könntet ihr das jetzt nicht sagen“, sagte Dumbledore. Er kam auf sie zu und reichte ihnen zwei Tassen heiße Schokolade.
Auch von Daphne fielen nun die Fesseln. Dankbar nahmen die beiden die Tassen und begannen zu trinken. Die Schokolade tat gut und in Harry breitete sich eine wohlige Wärme aus.
„Was ... was ist passiert? Was war das?“, fragte er schließlich, als er ausgetrunken hatte. Mit der linken Hand deutete er auf den verhängten Spiegel. Seine rechte Hand hielt immer noch die von Daphne, die ebenfalls warm geworden war. Keiner der beiden machte Anstalten, die Hand des anderen loszulassen, zu aufgewühlt waren sie noch von dem, was gerade geschehen war.
„Das Überbleibsel eines törichten Plans“, sagte Dumbledore, der wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. „Es war mein Fehler, dass ihr in diese Gefahr geraten seid, ein Fehler, den ich nicht wiederholen werde, das verspreche ich euch.“ Er zögerte einen Moment und fragte dann: „Was habt ihr gesehen, als ihr in den Spiegel geschaut habt?“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Harry. „Ich glaube ... ich glaube, ich habe meine Eltern gesehen ...“
Dumbledore beugte sich vor und Daphne drückte seine Hand noch fester, so fest, dass es fast weh tat, aber Harry war dankbar dafür.
Mit zitternder Stimme sprach er weiter. „Aber ... ich habe sie nicht lange gesehen. Sie wurden auseinandergerissen, und dann sah ich ein Gesicht und hörte ein Lachen, ein böses, abscheuliches Lachen. Es war Voldemort, ich bin mir sicher. Ich weiß einfach, dass er es war. Und die ganze Zeit tat meine Narbe weh...“
„Es tut mir leid, dass du das erleben musstest, Harry. Der Spiegel zeigt schreckliche Dinge, weil ein böser Geist darin gefangen ist.“ Dumbledore wandte seinen Blick Daphne zu. „Was hast du gesehen, Daphne, wenn ich fragen darf?“
Aber Daphne schüttelte nur den Kopf. „Sie dürfen nicht. Aber ich frage Sie, warum Sie überhaupt ein so schreckliches und gefährliches Artefakt in Ihrem Büro haben?“
„Um ein noch größeres Übel aufzuhalten ...“
Es war Daphne anzusehen, dass die Antwort ihres Schulleiters ihre Neugier nicht im Geringsten befriedigte, aber irgendetwas sagte Harry, dass sie nicht mehr Informationen von ihm bekommen würden.
„Ich möchte euch bitten, niemandem zu erzählen, was hier passiert ist“, sagte Dumbledore. „Nicht einmal euren Freunden. Es könnten schlimme Dinge passieren, wenn dieses Wissen in die falschen Hände gerät.“
Daphne schnalzte mit der Zunge. „Das wird nicht schwer sein. Mein einziger Freund sitzt hier neben mir.“
Dumbledores Blick fiel auf Harry.
„Ich werde niemandem etwas erzählen“, sagte er.
„Ich danke euch. Es ist spät geworden, also geht am besten in eure Gemeinschaftsräume zurück. Ich lasse euch etwas zu essen bringen.“
Harry war froh, endlich von hier wegzukommen, aber eines wollte er noch wissen. „Professor, warum wurden Sie vorhin weggerufen?“
Dumbledore seufzte auf, und sein Gesicht wurde noch gequälter und sorgenvoller, wenn das überhaupt möglich war. „Es wurde ein weiteres versteinertes Opfer gefunden. Sir Nicholas, der Hausgeist von Gryffindor…“
Als Harry und Daphne kurz darauf durch die verlassenen Korridore des Schlosses gingen, ließen sie die Ereignisse in Dumbledores Büro immer noch nicht los.
„Daphne“, sagte Harry.
„Hmm“, erwiderte seine beste Freundin als Zeichen dafür, dass sie gehört hatte.
„Was hast du im Spiegel gesehen?“
Daphne sah ihn unsicher an. „Bist du sicher, dass du das wissen willst?“
„Wir haben uns doch versprochen, immer füreinander da zu sein. Nichts wird das je ändern.
Daphne seufzte leise. Dann nickte sie. Sie strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares hinters Ohr, bevor sie zu sprechen begann. „Ich habe Blut gesehen. Blutüberströmte Asche und Knochen, so weit das Auge reichte. Es war ein Schlachtfeld und schwarze Krähen kreisten darüber. Aber ich habe es nicht nur gesehen. Es war, als würde ich selbst dort stehen. Ich fühlte mich stark, als ob ich nie wieder Angst haben müsste. Es fühlte sich gut an...“ Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Aber Harry, warum sehe ich so etwas und du siehst deine Eltern und Voldemort?“
Darauf wusste Harry auch keine Antwort. Dafür nahm er ihre beiden Hände in seine und führte sie langsam an seine Lippen. Er küsste sie und fast war es, als könnte er das Blut schmecken, das am Abend zuvor über ihre Haut geronnen war, sein eigenes und ihres.
„Wir werden es gemeinsam herausfinden.“
Doch als sie zwei Tage später zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde bei Dumbledore erschienen, war der Spiegel verschwunden.
In Hogwarts sorgte die neue Versteinerung immerhin dafür, dass Harry und Daphne ein wenig aus dem Fokus der Schülerschaft verschwanden. Wen interessierten schon die Streitereien einiger Zweitklässler, auch wenn Potter und das Greengrass-Mädchen froh sein konnten, nicht von der Schule geflogen zu sein, wie Harry mehr als einmal im Vorbeigehen hörte. Aber viel öfter drehten sich die Gespräche unter den Schülern jetzt um die Frage, was zur Hölle einen Geist versteinern lassen konnte.
Oliver und der Rest des Quidditch-Teams zeigten ihm zwar immer noch die kalte Schulter, aber Harry war froh, dass er sich wieder mit Ron und Hermine vertragen hatte. Die beiden behandelten Daphne sogar mit einer neu entdeckten Höflichkeit – Freundlichkeit würde er nicht sagen, denn dafür war es nicht aufrichtig genug. Daphne wiederum erzählte ihm in zufriedenem Ton, dass sie im Slytherin-Kerker mit neuem Respekt behandelt wurde, manchmal sogar mit Furcht. Malfoy, Crabbe und Goyle belästigten sie nicht mehr, und auch Parkinson und ihre Clique begnügten sich vorerst mit giftigen Blicken.
„Arme Pansy“, sagte Daphne bei einem ihrer Treffen im Raum der Wünsche, während sie gegen sich bewegende Holzpuppen kämpften. Eine der Puppen hatte Snapes Gesicht. „Du hättest sie hören sollen, als sie darüber gejammert hat, was wir ihrem lieben Draco angetan haben. Die beiden sind jetzt übrigens verlobt.“ Sie lachte und ließ einen Termitenschwarm über die Puppe mit Snapes Gesicht herfallen. „Ich würde ihr ja mein Beileid aussprechen, aber sie freut sich wirklich darüber! Na, da haben sich zwei gefunden. Aber sie hat Davis gezwungen, das Bett mit ihr zu tauschen, damit sie weiter weg von mir ist. Als ob ihr das im Fall der Fälle helfen würde...“
In ihren weiteren Treffen mit Dumbledore fuhr der alte Schulleiter damit fort, sich vor allem mit ihnen zu unterhalten, über Geschichte, Philosophie und die Theorie von Zauberei und Hexerei, doch vor allem drehten sich ihre Gespräche immer wieder um die Gefahren unkontrollierter Magie und wie man sie beherrschen konnte. Harry und Daphne nickten und lächelten höflich, machten aber heimlich weiter wie bisher. Warum auch nicht, denn bisher war ja alles gut gegangen, so dachte Harry zumindest, wenn er abends erschöpft von den Strapazen des Tages in sein Bett fiel.
Dumbledore verwies sie auch auf einige Bücher aus seiner Privatbibliothek über Okklumentik, und das war etwas, was Harry und Daphne dankbar annahmen. Sie hatten ihre Geheimnisse, und sie wussten selbst, dass es verheerende Folgen haben würde, wenn sie ans Licht kämen. Und die Erfahrung, von diesem Spiegel besessen gewesen zu sein, oder was auch immer in Dumbledores Büro passiert war, und der Wunsch, so etwas nie wieder geschehen zu lassen, hatten sie in ihrer Entschlossenheit nur noch bestärkt.
So vergingen die letzten Tage bis zu den Ferien. Bald war Weihnachten und Daphne hatte die genialste Idee aller Zeiten...
„Wuhuuu!
Der Wind peitschte Harry ins Gesicht, mit all seiner brutalen Härte und Kälte, aber er fühlte sich einfach wunderbar. Er fühlte sich frei, er fühlte sich lebendig, hier auf seinem Besen, weit, weit über den Ländereien von Hogwarts und dem Schloss, das zu dieser Stunde des Tages noch völlig im Dunkeln lag. Über ihm erstreckte sich der wolkenlose Nachthimmel, in dem Tausende und Abertausende von Sternen funkelten, die einzigen Zeugen ihres morgendlichen Ausflugs. Und nicht nur er freute sich.
„Krah, krah, krah!“, ertönte neben ihm der Ruf einer Krähe. Es war eine Krähe mit goldenen Augen und einem Gefieder so schwarz wie die Sünde.
Die Krähe machte einen Salto in der Luft und Harry tat es ihr nach. Beide mussten lachen, Harry mit seiner menschlichen Stimme und die Krähe mit ihrem Krächzen. Gemeinsam zu fliegen war wirklich die beste Idee, die Daphne je gehabt hatte!
Einige Augenblicke flogen sie ruhig nebeneinander, so nah, dass Harry nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Daphnes Federn zu streicheln. Dann drehte Daphne ihren Krähenkopf.
„Krah!“
Sie nickte in Richtung einer kleinen Lichtung am Hang eines der Berge, die zu ihrer Linken auftauchten.
„Alles klar!“, rief Harry zurück, und gemeinsam machten sie eine scharfe Kurve und flogen auf die Lichtung zu.
Harry landete zuerst. Er sprang von seinem Besen, drehte sich um und sah gerade noch, wie die Umrisse der Krähe verschwammen, wie das Schwarz ihrer Federn verwischte und sich in die Länge zog wie Rauchschwaden im Wind. Und schon stand Daphne vor ihm. Seine beste Freundin grinste ihn an.
Harry grinste zurück. „Ich fliege schneller als du.“
„Es kommt doch nicht auf die Schnelligkeit an.“ Daphne breitete die Arme aus und bewegte sie auf und ab, als wären es Flügel. „Oh Harry, wenn du nur einmal geflogen bist, richtig geflogen, meine ich, nicht auf Besen oder Teppichen oder in den Blechvögeln, die die Muggel benutzen, sondern du selbst, dann wirst du für immer auf Erden wandeln, mit deinen Augen himmelwärts gerichtet. Denn dort bist du gewesen und dort wird es dich immer wieder hinziehen.“
„Wer so fliegen will, braucht Flügel...“
Daphne ließ die Arme sinken. Einen Moment sah sie ihn an, dann nickte sie. „Das stimmt. Aber die kannst du dir nur selbst verdienen. Ich habe ein anderes Geschenk für dich.“ Damit griff sie in die Tasche ihres Umhangs und holte eine in rotes Geschenkpapier eingewickelte Schachtel hervor. „Frohe Weihnachten, Harry.“
Lächelnd nahm Harry das Geschenk aus ihrer Hand. Frohe Weihnachten, in der Tat. Es war genau ein Jahr her, dass sie sich in der Verbotenen Abteilung begegnet waren. Alles, was danach kam, hatte damals seinen Anfang genommen. Nun, genau ein Jahr wäre es vermutlich erst in der Nacht, wie Daphne zweifelsfrei anmerken würde, wenn er seine Gedanken mir ihr teilen würde. Harry gluckste leise.
„Ist was?“, fragte Daphne.
Harry schüttelte nur den Kopf, während er das Geschenk auspackte. Er öffnete die kleine Schachtel und heraus kam eine Brille. Sie sah fast genauso aus wie die, die er schon trug, vielleicht ein bisschen weniger verbogen, aber genauso schlicht. Zumindest bis man genauer hinsah. Feine, ganz feine Symbole waren in das Gestell eingraviert, und Harry konnte die Magie deutlich spüren, als er die Brille in die Hand nahm. Ein angenehmes Kribbeln lief über seine Haut.
„Ich habe die Zauber selbst eingewebt“, erklärte Daphne. „Sie wird nie verrutschen und Schmutz und Staub abweisen.“
„Danke, Daph. Das ist wirklich ein wunderbares Geschenk. Ich glaube immer mehr, dass du eines Tages eine professionelle Verzaubererin werden wirst.“
„Es gefällt dir also?“
„Und wie!“ Harry setzte sich die Brille auf. Sie saß wie angegossen. „Wie sehe ich aus?“
„So einfältig wie immer“, sagte Daphne, aber sie lächelte dabei.
Jetzt griff auch Harry in seinen Umhang und holte ein Geschenk heraus. Dieses war in smaragdgrünes Geschenkpapier eingewickelt.
„Oh, wie edel“, sagte Daphne. Harry gab ihr das Geschenk und sie packte es schnell aus. Zum Vorschein kamen dunkle Lederstiefel, die Daphnes Augen weit aufreißen ließen. „Sind das ...“
„Ja, Drachenlederstiefel“, sagte Harry. „Du hast doch gesagt, dass dir deine alten Stiefel langsam zu klein werden.“
Daphne strahlte vor Freude. „Danke, Harry. Sie sind wunderschön.“
Sie beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn sanft auf die Wange. Harry schoss das Blut in den Kopf, und sein Nacken fühlte sich plötzlich ganz heiß an, aber gleichzeitig konnte er sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Offenbar hatte er das richtige Geschenk ausgesucht. Und allein Daphnes Lächeln, das sie ihm danach schenkte, war die fünfzig Galleonen, die die Stiefel gekostet hatten, mehr als wert; noch nie hatte er etwas so Teures gekauft, und er konnte sich niemanden vorstellen, für den er es lieber getan hätte.
Dann setzten sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm in der Mitte der kleinen Lichtung. Die Nacht verblasste, ihre Dunkelheit wurde vom anbrechenden Morgen verdrängt. Der Wind trug eine leichte Wärme mit sich, als die Sonne über die Berggipfel stieg und die Landschaft in ihr goldenes Licht tauchte.
Harry seufzte zufrieden. „Danke, Daphne.“
„Du hast dich doch schon bedankt.“
„Für die Brille, ja, aber nicht dafür.“ Er deutete auf ihre Umgebung. „Für all das hier. Für diesen Ausflug. Für das gemeinsame Fliegen. Ich kann es kaum erwarten, mir meine eigenen Flügel zu verdienen und mich wieder mit dir in die Lüfte zu schwingen, als dein Ebenbürtiger und Gefährte.“
„Das wäre schön“, sagte Daphne und drückte seine Hand. „Meinst du, es wird noch lange dauern?“
„Die Träume werden immer häufiger. Und erst gestern habe ich wieder eine Feder in meinem Bett gefunden. Wenn ich mich ganz fest darauf konzentriere und nach meinem Inneren Geist taste, mit allem, was du mich gelehrt hast, dann ... dann kann ich es spüren, Daph! Ich spüre, dass da etwas in mir ist, das ausbrechen will. Ich spüre, wie es nach mir greift, und ich strecke meine Hand aus, ich kann es spüren, an meinen Fingerspitzen, ein kitzelndes Gefühl, ein weiches Gefühl, und richtig, es fühlt sich so, so richtig.“ Harry schnappte nach Luft, so schnell hatte er gesprochen. „Aber dann ist es plötzlich weg, und ich fühle mich leer ...“
Daphne drückte wieder seine Hand. Die andere Hand legte sie ihm auf die Schulter und lächelte ihn mitfühlend an. „Du hast in unglaublich kurzer Zeit einen unglaublich weiten Weg zurückgelegt. Ich habe Jahre gebraucht, um dahin zu kommen, wo du nach nur einem Jahr bist. Du wirst es bald schaffen, da bin ich mir sicher.“
Harry lächelte zurück. Er wollte noch etwas sagen, als es plötzlich hinter ihnen im Unterholz knackte. Er sprang auf und Daphne tat es ihm gleich. Sie konnten gerade noch ihre Zauberstäbe zücken, als plötzlich eine riesige Spinne aus dem Wald hervorbrach, direkt auf sie zu. In ihren acht Augen funkelte der Hunger und ihre Greifer klickten, um sie zu packen und zu verschlingen.
Harry und Daphne reagierten instinktiv, das Ergebnis unzähliger Übungskämpfe, die sie miteinander bestritten hatten.
„Stupor!“, riefen sie. Die Ringe an ihren Fingern glühten auf, und zwei Schockzauber, verstärkt durch die Lebenskraft gequälter Tiere, trafen die Spinne in ihren massigen Körper. Doch die Zauber verlangsamten die Spinne nur, aber stoppten sie nicht.
„Stupor! Stupor! Stupor!“ Immer mehr Schockzauber trafen die Spinne, die immer langsamer wurde und schließlich zu ihren Füßen zusammenbrach, die acht Beine und die Klauen schwach zuckend. Sie war besiegt, daran bestand kein Zweifel mehr. Das Adrenalin in Harrys Körper wich einem Anflug von Stolz.
„Hah!“, rief Daphne. „Du dachtest wohl, du könntest uns überraschen, was, du Mistvieh? Aber nein, wir werden heute nicht deine Beute sein. Im Gegenteil, du wirst diejenige sein, die für diesen Frevel büßen muss! Cruc–“
„Nein!“, schrie Harry, packte Daphnes Zauberstabarm und drückte ihn nach unten. „Bist du verrückt?! Das ist einer der unverzeihlichen Flüche! Der bringt dich nach Askaban!“
„Nur wenn man ihn gegen Menschen einsetzt. Und nur, wenn man erwischt wird“, sagte Daphne. Doch dann nickte sie. „Aber gut, lassen wir das. Willst du sonst noch etwas mit ihr machen? Ihre Lebenskraft speichern?“
Harry schüttelte den Kopf. Er wollte nur so schnell wie möglich von hier weg. Sein Magen fühlte sich flau an und ein schmerzhaftes Stechen schoss ihm durch die Stirn.
„Diffindo.“
Ein Lichtstrahl schoss durch die Luft und traf die Spinne. Ihr Kopf wurde abgetrennt und blieb vor ihnen im Gras liegen, die Augen leer und leblos. Blaues Blut spritzte aus dem Kadaver und etwas davon landete auf Daphnes Stiefeln.
„Igitt!“, schrie sie.
Das flaue Gefühl in Harrys Magen verschwand, als er lachen musste. Daphnes angeekeltes Gesicht sah einfach zu lustig aus, während sie hastig begann, die Stiefel mit einem Zauber zu reinigen.
„Lach nicht! Das ist alles deine Schuld!“
Harry lachte nur noch mehr.
Die Absätze von Daphnes neuen Drachenlederstiefeln klackten laut auf dem Steinboden, als sie ein paar Stunden später zum Slytherin-Gemeinschaftsraum zurückkehrte. Sie war schon fast dort, als sie um eine Ecke bog und ihr plötzlich Crabbe und Goyle entgegenkamen, ihre Gesichter so hohl und dumm wie immer. Vielleicht sogar noch dümmer als sonst, denn als Daphne ihnen ihr scheußlichstes Lächeln schenkte, zuckten sie zwar kurz zusammen, aber anders als sonst ergriffen sie nicht sofort die Flucht.
Daphne runzelte die Stirn. Dann dämmerte es ihr. „Oh, bei Morgana!“
Mit wenigen schnellen Schritten hatte sie die Distanz zwischen sich und den beiden überwunden. Bevor die beiden reagieren konnten, stieß sie sie in eine Besenkammer, die glücklicherweise direkt neben ihnen lag, und schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter ihnen zu.
„Ihr Idioten! Ihr Schwachköpfe! Ich hätte nie gedacht, dass ihr so dumm sein könntet!“
Crabbe und Goyle sahen sie fassungslos an.
„Äh, Greengrass“, sagte Goyle schließlich. Er wechselte einen Blick mit Crabbe. „Lass uns in Ruhe? Ja, lasst uns in Ruhe! Wir haben Wichtigeres zu tun!“
„Ruhe, du Idiot! Wichtiges zu tun, von wegen. Niemals hätte ich gedacht, dass ihr es wirklich tun würdet.“ Daphne schüttelte ungläubig den Kopf.
„Du weißt, wer wir sind“, sagte Crabbe, seine Stimme so scharf, dass der echte Crabbe sich wahrscheinlich die Zunge daran abgeschnitten hätte.
„Gut erkannt, Granger. Du bist doch Granger, oder?“, sagte Daphne. Crabbes Gesichtszüge verhärteten sich, aber das war alles, was Daphne als Antwort brauchte. Sie sah Goyle an. „Und das bist du, Weasley.“
Goyle wurde aschfahl, zumindest das war ein vertrauter Anblick.
„Woher weißt du von unserem Plan?“, fragte Crabbe alias Hermine Granger.
„Bitte, Harry hat mir sofort von eurem dummen Plan erzählt“, sagte Daphne. Sie verschränkte die Arme. „Mit Vielsafttrank in den Slytherin-Kerker eindringen, um Malfoy zu verhören, wirklich? Ihr habt Glück, dass ihr mich getroffen habt. Hätte Snape euch erwischt, müsstet ihr beide bereits eure Koffer packen.“
„Du musstest auch nicht deine Koffer packen!“, erwiderte Goyle alias Ron Weasley hitzig.
Daphne schenkte ihm ihr süßlichstes falsches Lächeln. „Es hat seine Vorteile, Dumbledores Goldjungen zum besten Freund zu haben.“
„Benutzt du ihn?“, fragte die verwandelte Granger kühl.
„Zweitschlauste Hexe im Jahr, wer’s glaubt“, sagte Daphne mit einem Augenrollen. „Nur die Schwachen lassen sich benutzen. Glaubst du etwa, Harry ist schwach?“
„Natürlich nicht! Ich ...“ Die verwandelte Granger wechselte einen Blick mit dem verwandelten Weasley, der genauso planlos wirkte wie sie. „Wären wir wirklich aufgeflogen?“
„Schneller, als du deine Hand heben kannst, wenn ein Lehrer eine Frage stellt. Selbst jetzt siehst du viel klüger aus, als Crabbe es sich in seinen kühnsten Träumen erhoffen könnte. Und du Weasley, der echte Goyle hätte sich schon längst in die Hose gemacht.“ Daphne rümpfte die Nase. „Aber ihr seht dennoch aus wie sie, und ich fürchte, ich muss mich übergeben, wenn ich noch länger mit euch hier drin bleibe. Deshalb gehe ich jetzt. Aber ich kann euch nur raten: Bleibt hier, bis die Wirkung des Vielsafttranks vorbei ist, und dann nehmt die Beine in die Hand. Ich sage euch noch einmal, Malfoy ist nicht der Erbe von Slytherin, und auch sonst niemand, den ihr mit eurer Maskerade täuschen könntet. Und wenn ihr mir nicht glaubt, dann glaubt wenigstens Harry. Ihr seid doch seine Freunde, oder?“
„Natürlich sind wir das!“, sagte der verwandelte Weasley.
„Dann verhaltet euch auch endlich so.“
Daphne drehte sich um und wollte gerade die Tür der Besenkammer öffnen, als noch einmal die Stimme der verwandelten Granger erklang.
„Greengrass ... danke. Wenn wir wirklich so schnell aufgeflogen wären, sind wir dir zu Dank verpflichtet...“ Man konnte in ihrer Stimme hören, wie schwer ihr diese Worte fielen.
„Gern geschehen“, erwiderte Daphne knapp. Dann ging sie hinaus und konnte endlich wieder frei atmen.
Was für Idioten. Du schuldest mir was, Harry...
Ein tosender Schneesturm war über die Ländereien von Hogwarts hereingebrochen und tauchte das im Winter ohnehin nicht vom Licht verwöhnte Schloss in bedrückende Dunkelheit. Bedrückend zumindest für die meisten Schülerinnen und Schüler. Harry hingegen lief fröhlich durch die Gänge, die nur von ein paar flackernden Fackeln erhellt wurden. Bis spät in die Nacht hatte er mit Daphne im Raum der Wünsche gesessen, so spät, dass sie schließlich nebeneinander eingeschlafen waren. Dennoch war er nicht müde. Sein Körper schmerzte zwar ein wenig von der Nacht auf steinernem Boden, aber das konnte ihm nicht egaler sein. Der Schmerz würde vergehen, aber die Gewissheit, die ihm die letzte Nacht gebracht hatte, würde ihn für den Rest seines Lebens begleiten, dessen war er sich sicher.
Instinktiv strich er mit den Fingern über die Handfläche seiner linken Hand. Die Wunde war verheilt, aber er erinnerte sich noch genau an das Gefühl, als Daphnes Blut über seine Haut geflossen war und sich mit seinem vermischt hatte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ja, am Ende hatte sich doch noch alles zum Guten gewendet, und die Zukunft sah viel rosiger aus, als er es gestern zwischendurch für möglich gehalten hatte.
Nur eine Sache war völlig aus dem Ruder gelaufen...
Das Lächeln erlosch auf Harrys Gesicht, als er sich dem Klassenzimmer für Verwandlung näherte. Davor warteten schon viele der anderen Schüler und Schülerinnen, und ganz am Rande standen Ron und Hermine. Beide blickten auf, als er sich näherte. Er würde den ersten Schritt machen, aber nicht mehr. Dann waren die beiden dran.
„Hey“, sagte er.
„Hey“, antwortete Ron.
Sie sahen sich unsicher an. Hermine biss sich auf die Lippe. Sie machte einen Schritt nach vorne, dann stoppte sie. Sie verschränkte ihre Hände, nur um sie dann wieder zu lösen. Schließlich sagte sie leise: „Hey, Harry.“
„Du bist gestern nicht in den Schlafsaal zurückgekommen“, sagte Ron. Es war keine Frage.
„Das stimmt“, sagte Harry.
„Wo warst du denn?“
„Ich war unterwegs. Meinen Kopf frei bekommen, nach ... nach dem, was passiert ist.“
„Mit Daphne?“, fragte Hermine.
Harry zog eine Augenbraue hoch. So hatte Hermine sie seit Beginn des Schuljahres nicht mehr genannt. „Ja, mit Daphne.“
Wieder breitete sich Schweigen zwischen den dreien aus. Ein unangenehmes Schweigen, schwer von verlorenem Vertrauen und Schuldgefühlen. Harry hatte gedacht, dass er nach den langen Nächten im Besenschrank unter der Treppe an Stille gewöhnt war und sie ihm nichts mehr ausmachen würde, aber dieses Schweigen tat weh. Ihm entgingen auch nicht die Blicke der anderen Schüler. Ein wenig erinnerten sie ihn an Tante Petunia, die aus dem Küchenfenster schaute, um die Nachbarn zu beobachten.
Schließlich war es Hermine, die das Schweigen durchbrach. „Harry ... es tut mir leid.“
„Was tut dir leid?“
Hermine biss sich wieder auf die Lippe. Sie sah an ihm vorbei zu einem Punkt an der Wand, als könnte sie es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen. „Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe. Über dich und Daphne. Ich verstehe, dass du sie nur beschützen wolltest, so wie du mich oder Ron beschützt hättest.“
„Ja, Malfoy ist einfach ein widerlicher Bastard“, sagte Ron. „Und Crabbe und Goyle auch. Die haben sicher verdient, was ihr ihnen angetan habt. Mir tut auch leid, was ich gestern gesagt habe.“
Harry atmete erleichtert auf. Eine schwere Last schien von seinen Schultern zu fallen. „Schon gut. Freunde verzeihen sich doch, oder?“
Hermine schenkte ihm ein etwas gezwungenes Lächeln und sagte: „Ja, genau.“
Ron trat einen Schritt vor und klopfte Harry auf die Schulter. „Danke, Kumpel.“
Harry nickte ihm zu. Er glaubte nicht, dass gleich alles wieder so sein würde wie vorher, aber es war ein Anfang und darüber war er froh.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Klassenzimmers und die Schüler begannen nach und nach einzutreten.
„Dann wollen wir mal“, sagte Harry.
Zusammen mit den anderen betraten Harry, Ron und Hermine das Klassenzimmer und setzten sich in eine der mittleren Reihen. Sie hatten Verwandlung mit den Ravenclaws, aber es waren sowohl Ravenclaws als auch Gryffindors, die Harry anstarrten.
„Hey, Potter“, rief Antony Goldstein von der anderen Seite des Raumes. „Stimmt es, dass das Ministerium gegen dich und Greengrass wegen versuchten Mordes ermittelt?“
Bevor Harry antworten konnte, rief Ron zurück: „Glaubst du wirklich, dass Harry dann noch hier sitzen würde? Dummkopf.“
„Das reicht, meine Herren“, ertönte die herrische Stimme von Professor McGonagall. Ihre Lehrerin betrat den Raum und augenblicklich war es mucksmäuschenstill. „Fünf Punkte Abzug für Gryffindor, Mr. Weasley, für die Beleidigung. Sparen Sie sich das für die Ferien auf, aber in diesem Schloss und vor allem in diesem Klassenzimmer will ich so etwas nicht hören. Und, Mr. Goldstein, fünf Punkte Abzug für Ravenclaw für das Verbreiten übler Gerüchte. Auch das dulde ich hier nicht. Mr. Potter wird dieser Schule noch mindestens fünfeinhalb Jahre erhalten bleiben, vorausgesetzt, er besteht seine Prüfungen. Das gilt für sie alle.“
Professor McGonagall trat an ihr Pult und drehte sich zu ihnen um. „Fahren wir fort. In der letzten Stunde haben Sie gelernt, wie man die Farbe einer Eulenfeder verändert. Heute gehen wir einen Schritt weiter.“ Sie nahm eine graue Eulenfeder von ihrem Pult, deutete mit ihrem Zauberstab darauf und sagte deutlich: „Plumceava.“
Die Feder wurde dunkler, etwas schmaler und länger, bis Professor McGonagall schließlich eine ganz schwarze Feder in der Hand hielt.
„Wie Sie sehen, habe ich nicht nur die Farbe der Feder verändert, sondern auch ihre Form und Struktur. Diejenigen unter Ihnen, die sich mit Ornithologie auskennen, werden feststellen, dass sie jetzt nicht mehr von der Feder eines Raben zu unterscheiden ist. In gewissem Sinne ist sie jetzt eine Rabenfeder, und nur das geübte Auge mit geschulten magischen Sinnen könnte noch erkennen, dass sie vorher etwas anderes war. Diese Veränderung der Materie ist also viel tiefgreifender als ein bloßer Farbwechsel. Was ist daher das Allerwichtigste, wenn Sie sich gleich selbst an dem Zauber versuchen werden? Ja, Miss Granger.“
Eine Handvoll Hände hatte sich auf Professor McGonagalls Frage gemeldet, aber Hermine war wie immer die Schnellste.
„Konzentration und Sorgfalt“, sagte Hermine. „Nach Henots Regeln der Verwandlungsreihenfolge müssen wir die gewünschte Verwandlung in kleine Teile zerlegen und diese nacheinander ausführen, um den Fluss der Magie zu lenken. So habe ich in der letzten Stunde mit der Spitze der Feder begonnen und mich in Gedanken Schritt für Schritt bis zum Schaft vorgearbeitet, um am Ende die ganze Feder umgefärbt zu haben.“
McGonagall nickte zustimmend. „Sie haben vollkommen recht, Miss Granger. Aber wann, glauben Sie, stoßen wir mit dieser Vorgehensweise spätestens an unsere Grenzen?“
Hermine runzelte die Stirn. Harry kannte ihren Blick gut genug, um zu wissen, dass sie in diesem Moment auf der Suche nach der Antwort in Gedanken sämtliche Inhalte ihrer Lehrbücher durchging. Aber er wusste auch, dass sie keinen Erfolg haben würde, denn das stand nicht in den Lehrbüchern für das zweite Schuljahr. Er meldete sich.
„Ja, Mr. Potter“, sagte Professor McGonagall.
„Wenn wir an Lebewesen Veränderungen vornehmen, die über bloße kosmetische Anpassungen hinausgehen“, sagte er. „Denn während es bei einer Feder noch möglich ist, die Verwandlung zu zerlegen, ist dies bei Organen wie Herzen oder Gehirnen zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn es in einer Zehntelsekunde geschieht, kann ein Lebewesen kein halbes Gehirn haben.“
„Sehr richtig, Mr. Potter. Zugegeben, das wird erst viel später im Curriculum relevant, aber was ist Ihrer Meinung nach in einem solchen Fall stattdessen notwendig?“
„Wir dürfen nicht versuchen, den Fluss der Magie zu lenken, als wäre sie ein Bach in einem Garten. Vielmehr müssen wir sie entfesseln. Die Magie muss das ganze Wesen des zu verwandelnden Lebewesens vollständig erfassen, es in seinem Kern berühren und für immer verändern. Dazu müssen wir uns der Macht der Magie bewusst sein, dürfen aber gleichzeitig keine Angst vor ihr haben“.
„Ich sehe, da hat jemand seine Circe gelesen“, sagte Professor McGonagall. „Die meisten modernen Autoren würden das wahrscheinlich etwas anders formulieren, aber es ist zweifellos ein faszinierendes Thema für die magische Forschung. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich mehr dafür interessieren, Mr. Potter, ich kann Ihnen gerne weitere Bücher dazu empfehlen. Die wesensverändernde Verwandlung von Lebewesen wird jedoch erst zu einem viel späteren Zeitpunkt Ihrer schulischen Laufbahn eine Rolle spielen. Wenden wir uns also wieder dem Zauber zu, den wir vorhin gesehen haben.“
Professor McGonagall schwang ihren Zauberstab, und Eulenfedern flogen zu ihren Plätzen und blieben vor ihnen auf den Tischen liegen. „Versuchen Sie den Zauber selbst. Der Zauberspruch heißt Plumceava. Sie finden ihn auf Seite vierhundertzehn Ihres Buches, zusammen mit weiteren Hinweisen zur mentalen Vorbereitung und Durchführung. Probieren Sie aus, wie weit Sie kommen. Ich gehe durch die Reihen und beobachte erst einmal nur. Zögern Sie aber nicht, mich anzusprechen, wenn Sie Fragen haben. In zwanzig Minuten gehen wir alles noch einmal gemeinsam durch. Sie können anfangen.“
Die Schüler zückten ihre Zauberstäbe, und kurz darauf erfüllte das Schwingen von Zauberstäben und das Murmeln von Zaubersprüchen den Raum.
Ron beugte sich zu ihm. „Woher wusstest du das denn?“, fragte er leise.
„Circe ist eine von Daphnes Lieblingsgelehrten“, antwortete Harry achselzuckend.
Neben ihnen übte Hermine schon fleißig und hatte es auch schon geschafft, dass ihre Feder rabenschwarz war, aber es war immer noch eine Eulenfeder, das war deutlich zu sehen, nur eben schwarz.
Harry betrachtete seine eigene Feder vor sich. Wie sonst auch, wenn er mit Daphne einen neuen Zauber lernte, schloss er die Augen, atmete ein paar Mal tief ein und aus und tastete nach der Magie in sich. Inzwischen fiel ihm das so leicht, wie an einem windstillen, sonnigen Tag auf seinem Nimbus zu fliegen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als die gewohnte Wärme ihn erfasste und sich in seinem ganzen Körper auszubreiten begann, von seinem Herzen über seinen Arm bis hin zu seiner Hand und dem Zauberstab darin. Für einen Moment war ihm, als spürte er ein Kitzeln auf seiner Haut, das Kitzeln einer Feder, wie in seinen Träumen. Sein Lächeln vertiefte sich. Er ließ die Magie aus sich herausbrechen und sagte: „Plumceava.“
Als er die Augen wieder öffnete, lag eine schwarze, wohlgeformte und irgendwie vertraute Feder vor ihm.
„Sehr gut gemacht, Mr. Potter“, sagte Professor McGonagall und trat an ihren Tisch. Ron und Hermine nickten ihm beeindruckt zu, und auf so manchem Gesicht der anderen Schüler war ein neidischer Ausdruck zu sehen. „Ich dachte mir schon, dass Sie keine Probleme damit haben würden, als Miss Greengrass es gestern auch auf Anhieb geschafft hat, jedenfalls fast.“ Sie nahm die Feder in die Hand und betrachtete sie nachdenklich. „Wie merkwürdig, dass Sie genau denselben Fehler gemacht haben. Denn das ist eine Krähenfeder, keine Rabenfeder.“
Harry lächelte seine Hauslehrerin unschuldig an. Er ignorierte die Schatten, die bei der Erwähnung von Daphne über Rons und Hermines Gesichter huschten. „Was Sie nicht sagen, Professor. Das ist ja wirklich kurios.“
Insgeheim konnte er sich sehr gut vorstellen, was der Grund dafür sein mochte, und der Gedanke ließ sein Herz höher schlagen.
„Sie beide sind wirklich ein außergewöhnliches Duo“, sprach Professor McGonagall weiter. „Außergewöhnlich in der Tat. Nun denn, fünf Punkte für Gryffindor für eine dennoch bemerkenswerte Verwandlung beim ersten Versuch, auch wenn Sie sich im Vogel vertan haben.“
Um sie herum nahmen die anderen Schüler ihre Übungen wieder auf. Aber Professor McGonagall blieb an ihrem Tisch. Sie beugte sich zu Harry hinunter und sagte leise, so dass nur er sie verstehen konnte: „Wenn Sie Miss Greengrass später sehen, woran ich nicht den geringsten Zweifel habe, sagen Sie ihr, dass Sie beide um fünf zu Professor Dumbledore kommen sollen. Er erwartet Sie beide zu Ihrem ersten Nachsitzen bei ihm. Das Passwort ist dasselbe wie gestern.“
„Ähm, Professor? Können Sie mir bitte noch einmal sagen, wie das Passwort gestern lautete?“ Auf ihren fragenden Blick hin fuhr Harry fort. „Ich fürchte, ich war gestern nicht ganz aufmerksam, als Snape uns dorthin geführt hat.“
Ein verständnisvolles Lächeln legte sich um Professor McGonagalls Lippen. „Natürlich. Das Passwort lautet...“
„Sahnetorte“, sagte Harry, und der Wasserspeier drehte sich zur Seite und gab den Blick auf die Wendeltreppe dahinter frei. Harry und Daphne traten auf die Stufen, und die Treppe setzte sich leise in Bewegung, um sie zum Büro des Schulleiters zu bringen.
„Ich kann nicht glauben, dass jemand Sahnetorte als Passwort wählen kann“, sagte Daphne. „Ich meine, kann man nicht wenigstens was Leckeres nehmen?“
„Also ich mag Sahnetorte.“
„Mit dir stimmt ja auch was nicht.“
Die Treppe stoppte und sie standen nun vor der unscheinbaren Holztür, hinter der gestern so viel passiert war. Sie tauschten einen Blick. Daphne holte tief Luft, bevor sie ihm kurz zunickte. Harry klopfte an die Tür.
„Bitte kommt herein“, erklang die Stimme ihres Schulleiters.
Harry und Daphne betraten das Büro, das noch genauso aussah wie am Tag zuvor. Aber es wirkte gleich viel einladender, wenn man nicht von einem geifernden Snape hineingetrieben wurde. Das warme Kerzenlicht der Kronleuchter unter der Decke tauchte den Raum in einen orangefarbenen Schein und ließ sogar den mit einem schwarzen Tuch verhüllten Spiegel neben Dumbledores Schreibtisch weniger bedrohlich wirken. Diesmal war auch der Platz hinter dem klauenfüßigen Schreibtisch nicht leer, sondern von Dumbledore besetzt, der sie anlächelte. Und neben ihm saß auf einer goldenen Stange ein Phönix, so erhaben und prächtig in seinem rotgoldenen Gefieder, dass man schon auf den ersten Blick wusste, dass man es hier mit einem sagenumwobenen Wesen zu tun hatte. Harrys Augen weiteten sich vor Staunen.
„Der erste Anblick von Fawkes verfehlt nie seine Wirkung“, sagte Dumbledore mit einem leichten Glucksen. „Er würde es nie zugeben, aber er genießt das Staunen.“
„Sie haben einen Phönix, Professor?“, fragte Harry immer noch etwas ungläubig. Er musste sich zusammenreißen, um nicht auf den Phönix, Fawkes, zuzugehen und ihn aus der Nähe zu betrachten.
„Haben? Nein, das ganz bestimmt nicht, denn einen Phönix kann man nicht besitzen, Harry. Sie sind die freiheitsliebendsten und unbeugsamsten Wesen, die man sich vorstellen kann. Und sie werden sehr, sehr alt. Viel eher könnte man also sagen, dass Fawkes mich, für eine Zeit seines Lebens, hat.“ Dumbledore lächelte in seinen weißen Bart. „Vor allem aber war er mir in vielen Abenteuern ein treuer Freund.“
Er deutete auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. „Bitte setzt euch. Wir haben einiges zu besprechen.“
Harry und Daphne setzten sich nebeneinander. Draußen hatte sich der Sturm gelegt, wie man durch die Fenster sehen konnte, und war leichtem Schneefall gewichen. In einem endlosen Reigen tanzten die Schneeflocken in der hereinbrechenden Dunkelheit. Eigentlich ein schöner Anblick, der dazu einlud, vor dem Kaminfeuer ein gutes Buch zu lesen – Harry hatte noch einige Bücher aus der Verbotenen Abteilung und dem Raum der Wünsche in der Tasche, die er noch nicht zu Ende gelesen hatte. Aber diese Gedanken verschwanden so schnell aus Harrys Kopf, wie sie gekommen waren, denn er wusste nicht, was sie bei diesem Treffen mit ihrem Schulleiter erwarten würde. Gestern und im Sommer hatte er ihnen geholfen, sehr geholfen sogar, aber was würde das für die Zukunft bedeuten? Sie mussten achtsam bleiben.
„Haben euch eure Mitschüler Probleme gemacht?“, fragte Dumbledore.
Harry zuckte die Schultern. „Es gab ein paar böse Worte, aber es scheint alles gut zu werden.“
Jedenfalls mit Ron und Hermine, fügte er in Gedanken hinzu. Oliver hatte er heute noch nicht gesehen und er hatte auch keine Lust dazu. Bei Ron und Hermine wusste er wenigstens, dass sie sich wirklich Sorgen um ihn machten, auch wenn sie aus ihren Sorgen die völlig falschen Schlüsse zogen, aber Oliver war einfach nur ein Arsch gewesen. Vielleicht war er das schon immer gewesen. Nun, jetzt war es ihm auch egal.
„Vor allem böse Blicke“, sagte Daphne. „Einen Beliebtheitspreis werde ich in Slytherin jedenfalls nicht gewinnen.“ Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, begleitet von einem Hauch von Genugtuung in ihrer Stimme, als sie weitersprach. „Und Malfoy und seine beiden Kumpane haben sofort die Flucht ergriffen, als sie mich sahen.“
„Es wird eine Weile dauern, bis eure Klassenkameraden euch wieder unvoreingenommen begegnen können. Die gestrigen Ereignisse werden, fürchte ich, noch lange nachwirken.“
„Dann soll es so sein“, entgegnete Daphne. Mehr sagte sie nicht.
Dumbledore betrachtete sie mit einem intensiven Blick seiner hellblauen Augen, doch schließlich nickte er langsam. „Wir können nicht mehr ändern, was geschehen ist, aber wir können unsere Lehren daraus ziehen. Das ist auch der Grund, warum ich entschieden habe, dass ihr mit mir nachsitzen werdet. Und glaubt nicht, dass mir eure Blicke entgangen sind. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass ihr eure Zeit lieber anders verbringen würdet, aber manchmal muss sich die Arroganz der Jugend damit abfinden, von den Alten zu lernen.“
„Das ist nicht wahr, Professor“, sagte Harry.
„Richtig“, sagte Daphne und nickte schnell. „Sie sind ein mächtiger Zauberer, Professor, vielleicht der mächtigste seit Merlin selbst. Wir können noch viel von Ihnen lernen.“
„Lernen, sagst du, Daphne? Was wollt ihr denn von mir lernen? Mächtige Zaubersprüche, uralte Magie, das Wissen aus dreitausend Jahren Zaubereigeschichte? Gewiss, ich könnte euch vieles davon beibringen, aber ich frage mich, ob ich damit nicht nur noch mehr Öl in das Feuer in euch gießen würde. Glaubt nicht, dass mir die Ringe an euren Fingern entgangen sind.“
Harrys Herz setzte einen Schlag aus.
„Freundschafts–“, begann er, doch Dumbledore unterbrach ihn sofort.
„Bitte, Harry, beschäme mich nicht mit dieser Lüge. Wir wissen beide, dass es keine Freundschaftsringe sind, die ihr da tragt. Aber was, frage ich mich, könnten zwei Kinder wie ihr sich davon versprechen, sich in Blutmagie zu versuchen?“
Harrys Herz schlug wild in seiner Brust. Er wechselte einen Blick mit Daphne. Er konnte sehen, wie hinter ihren bernsteinfarbenen Augen ihr Verstand arbeitete.
„Um...“, begann sie langsam.
„Animagi zu werden!“, beendete Harry. Ihm war eine Idee gekommen.
Die Antwort schien Dumbledore zu überraschen, denn er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Doch sein Blick war immer noch auf sie gerichtet. „Animagi?“
„Ich habe gelesen, dass das eine Möglichkeit ist, seinem Inneren Geist näher zu kommen“, sagte Daphne.
„Das ist es, aber es gehört nicht zu den gewöhnlichen Wegen, im Gegenteil“, sagte Dumbledore. „Es ist ein langer und schmerzhafter Weg, wenn ich mich recht erinnere, und nur wenige schaffen es, ihn bis zum Ende zu gehen. Warum auch sollte man sich selbst Schmerzen zufügen, wenn es weitaus weniger grausame Wege gibt, um zum gleichen Ergebnis zu gelangen?“
Ein neues Lächeln umspielte Daphnes Lippen, ein Lächeln, das nach außen hin freundlich wirkte, im Innern aber von kalter Berechnung getrieben war, wie Harry nur zu gut wusste. Ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken. Na, das konnte interessant werden.
„Aber es ist der einzige Weg, der ohne Zauberstab auskommt. Und vor Hogwarts hatte ich keinen Zauberstab.“
„Du hast schon vor Hogwarts damit angefangen?“
Daphne nickte. „Und ich glaube, dass ich es schon bald hinbekommen werde…“
Dumbledore strich sich durch seinen langen weißen Bart, während sich seine Augen auf Harry richteten. „Und du, Harry?“
„Ich wollte es auch unbedingt versuchen, als Daphne mir davon erzählt hat“, sagte er, und nur zehn Jahre intensives Training bei den Dursleys hielten ihn davon ab, über das ganze Gesicht zu grinsen. Sie logen nicht, und doch verbargen sie die Wahrheit in ihrer Fülle.
Stille breitete sich im Raum aus. Dumbledore war in seinem Stuhl zusammengesackt und sah nun aus wie der alte Mann, der er war, während er sich weiter über den Bart strich, tief in Gedanken versunken, wie es schien. Fawkes hatte den Kopf unter den Flügel gelegt und schlief. Einige der Porträts an den Wänden taten es ihm gleich, aber noch mehr von ihnen betrachteten sie mit neugierigen Blicken, während sie das Gespräch verfolgten.
„Vielleicht hätte ich es wissen müssen“, sagte Dumbledore schließlich, seine Stimme so leise, dass Harry sie fast nicht verstand. „Wie der Vater, so der Sohn...“
„Was meinen Sie, Professor?“, fragte Harry.
Dumbledore zuckte zusammen, als hätte er vergessen, dass sie bei ihm waren. Er schenkte Harry ein angestrengtes Lächeln. „Ich schwelge nur in Erinnerungen, Harry. Ich musste an deinen Vater denken.“
Harry hatte plötzlich ein seltsames Gefühl in seinem Inneren, als würde sein Magen gleichzeitig gedehnt und zusammengedrückt. „Was ... warum?“
„Dein Vater hat sich in jungen Jahren auch das Ziel gesetzt, ein Animagus zu werden, und es schließlich auch geschafft. Da war er nur ein paar Jahre älter als du jetzt.“
Das seltsame Gefühl in Harry verschwand und wurde durch eine wohlige Wärme ersetzt. Er begann zu lächeln. Dann spürte er eine Hand in seiner. Daphne drückte seine Hand und schenkte ihm ebenfalls ein warmes Lächeln, diesmal ein echtes, ohne Lug und Trug.
Sein Vater war ein Animagus gewesen! Jetzt war er noch begieriger darauf, seine eigene Verwandlung zu vollenden. Er würde es schaffen und seinen Vater stolz machen!
„Ich nehme an, ihr habt euch intensiv damit beschäftigt?“, sagte Dumbledore. „Die Ringe an euren Fingern lassen keinen anderen Schluss zu.“
„Ja, wir speichern die Lebenskraft, die durch unseren Schmerz freigesetzt wird“, sagte Daphne. „Sie nah am Körper zu tragen, stärkt unsere Verbindung zu unserer inneren Magie.“
„Dann kennt ihr auch die Gefahren, die damit verbunden sind?“
Daphne öffnete den Mund, und Harry erkannte, dass sie sich im letzten Moment zurückhielt, mit der Zunge zu schnalzen. Stattdessen nickte sie. „Wir haben davon gelesen.“
„Aber versteht ihr es auch?“
„Was meinen Sie, Professor?“, fragte Harry.
Dumbledore seufzte. „Blutmagie ist wie Feuer. Zweifellos nützlich, um bestimmte Ziele zu erreichen, sich zu wärmen oder den Weg vor sich zu erhellen, aber man kann sich auch daran verbrennen.“
„Das gilt für jede Magie“, sagte Daphne.
„Aber nicht jede Magie ist in der Lage, eure Seele selbst in Brand zu setzen. Blutmagie, das müsst ihr euch immer vor Augen halten, legt euer Innerstes frei, nicht nur euren Inneren Geist, mit dem ihr euch verbinden müsst, um eure Animagusform zu finden, sondern alles, was euch als Menschen ausmacht, als die Personen, die ihr seid. Mit all euren Träumen, euren Ängsten, euren Sorgen. Mit all euren Gefühlen, im Guten wie im Schlechten.“ Dumbledore sah sie über den Rand seiner halbmondförmigen Brille hinweg an. „Findet ihr es nicht seltsam, dass ihr gestern so außer Kontrolle geraten seid? Oh, ich bin sicher, dass ihr euch an den Herren Malfoy, Crabbe und Goyle rächen wolltet, vor allem du, Daphne, aber wurde dieses Verlangen vielleicht durch die Glut eurer in Brand gesetzten Seelen noch weiter angefacht?“
Harry widerstand dem Drang, sich zu Daphne zu drehen, zu sehr fürchtete er, dass diese Bewegung sie verraten würde. Ebenso widerstand er dem Drang, Dumbledore zuzurufen, dass er falsch lag. Vielleicht hatte er sogar Recht, zumindest teilweise, aber das war unwichtig. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, am Ende kam er immer wieder zum selben Schluss: Was sie gestern getan hatten, war richtig gewesen. Sie hatten keine andere Wahl gehabt, und Malfoy, Crabbe und Goyle hatten es mehr als verdient. Gut angefühlt hatte es sich ebenfalls.
Auch Daphne schwieg und so sprach Dumbledore schließlich weiter.
„Die Welt ist leider ein viel grausamerer Ort, als wir es uns wünschen würden, und euch beiden ist schon viel Leid zugefügt worden. Ich würde mir wünschen, dass ihr in Zukunft in Ruhe und Frieden leben könnt, und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um das zu erreichen.“ Für einen Moment wanderte Dumbledores Blick zu dem verhüllten Spiegel, aber nur ganz kurz, bevor er sich wieder ihr zuwandte. Er holte tief Luft und sprach weiter. „Aber das wird leider nicht der Fall sein. Ihr werdet noch oft in Situationen geraten, in denen ihr wütend, zornig und verzweifelt sein werdet. Situationen, in denen die Macht der Magie so verlockend sein wird, dass sie all eure Probleme wegfegen könnte, zumal ihr, wenn ich meinen Lehrern glauben darf, schon jetzt die begabtesten und ehrgeizigsten Schüler seid, die sie je gesehen haben. Auf jeden Fall die begabtesten seit über fünfzig Jahren.“
„Worauf wollen Sie hinaus, Professor?“, fragte Daphne vorsichtig.
„Es wird noch viele Situationen in eurem Leben geben, in denen es verlockend sein wird, so zu handeln wie gestern und der Versuchung der Magie nachzugeben. Deshalb habe ich euch gesagt, dass wir gemeinsam daran arbeiten werden, die ungezähmte Magie in euch zu zähmen. Habt ihr schon einmal von Okklumentik gehört?“
„Ich habe darüber gelesen und würde es gerne einmal lernen“, sagte Harry.
Daphne fügte hinzu: „Ich habe als Kind ein paar Grundübungen gelernt. Vor allem, um einen geistigen Angriff erkennen und abwehren zu können. Aber ich habe mir vorgenommen, irgendwann noch mehr zu lernen“.
„Dieses Irgendwann ist jetzt“, sagte Dumbledore. „Okklumentik ist in erster Linie dazu da, geistige Angriffe abzuwehren, da hast du Recht, Daphne, aber sie kann noch mehr. Wenn man sie richtig einsetzt, kann man damit auch seine Gedanken ordnen und seine Gefühle beherrschen, anstatt von ihnen beherrscht zu werden.“
„Und das werden Sie uns beibringen?“, fragte Harry.
Dumbledore schüttelte den Kopf. „Ich werde euch Hinweise geben und vielleicht einen Schubs in die richtige Richtung. Aber das eigentliche Lernen werde ich euch nicht abnehmen können, denn das ist sehr individuell und persönlich. Aber wir werden uns regelmäßig hier treffen, um uns über eure Fortschritte auszutauschen.“
„Das ist alles?“, fragte Daphne erstaunt. „Sie werden uns nicht daran hindern, weiterzumachen? Oder das Ministerium informieren?“
„Würde es etwas nützen, wenn ich es euch verbiete?“ Dumbledore lächelte sie an. „Ihr braucht nichts zu sagen, ich war auch einmal in eurem Alter und hatte einen unstillbaren Durst danach, die Geheimnisse der Magie zu ergründen und mich zu beweisen. Die Arroganz der Jugend, wohl wahr…“ Dumbledores Lächeln wurde für einen Moment wehmütig, so schien es Harry, bevor er sanft den Kopf schüttelte. „Und soll ich euch ein kleines Geheimnis verraten? Ich kann auch nichts sagen, was ich nicht gehört habe.“ Er steckte sich den Finger ins Ohr. „Irgendwie habe ich schon den ganzen Tag ein komisches Pfeifen in den Ohren. Habt ihr was gesagt?“
Harry grinste breit. Er öffnete den Mund, als plötzlich tatsächlich ein lautes Fiepen durch den Raum hallte. Es war grässlich und schief und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Aus einer silbernen Kugel auf Dumbledores Tisch begann Dampf aufzusteigen.
„Albus? Albus, bist du da?“, ertönte Professor McGonagalls Stimme aus der Kugel.
Dumbledore legte seine Hand auf die Kugel und sagte: „Ja, Minerva?“
„Es ist schon wieder passiert! Du musst sofort kommen! In den vierten Stock!“
Schnell stand Dumbledore auf, als wäre er ein jüngerer Mann. Auch Fawkes hatte sich aufgerichtet und breitete seine Flügel aus.
„Bleibt hier, ich bin gleich wieder da.“
Fawkes schrie laut auf. Er stieß sich von seiner goldenen Stange ab und landete mit einem Flügelschlag auf Dumbledores Schulter. Es gab einen Knall, ein grelles, feuriges Licht, und Dumbledore und Phönix waren verschwunden, nur noch flimmernde Luft, wo sie eben noch gewesen waren.
Zurück blieben Harry und Daphne und die Porträts der ehemaligen Schulleiter, auf deren Gesichtern sich tiefe Besorgnis abzeichnete.
„Wow“, sagte Daphne.
„Wow“, stimmte Harry zu,
„Glaubst du, dass etwas Schlimmes passiert ist?“
Harry zuckte die Schultern. „Es klang, als gäbe es ein weiteres Opfer. Wir werden es bald wissen, und im Moment können wir sowieso nichts tun.“
„Hmm, hmm, hmmm.“ Daphne sah ihn an. Ein verschmitztes Funkeln war in ihre goldenen Augen getreten. „Was glaubst du, was ein Zauberer wie Dumbledore hier so alles versteckt hat?“
„Alte Bücher, die zu gefährlich sind, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Unglaublich mächtige magische Artefakte? Liebesbriefe?“
„Ihh“, sagte Daphne schaudernd.
Harry lachte auf. „Du hast ihn doch selbst gehört. Er war auch mal jung.“
„Dennoch, er könnte unser Großvater sein.“ Daphne schüttelte den Kopf. Dann stand sie auf. „Lass uns mal umschauen.“
„Hey!“, ertönte die Stimme eines der Porträts, ein glatzköpfiger Zauberer, dem graue Haare aus den Ohren sprossen. „Das dürft ihr nicht!“
Daphne schnalzte mit der Zunge. „Wir werden schon nichts kaputt machen, keine Sorge. Ich bin nur neugierig, vor allem, was das hier sein soll. Schon die ganze Zeit bleibt mein Blick daran hängen und will es sehen, wie ein Juckreiz, den man einfach nicht loswird ...“
Damit ging sie auf den großen Spiegel zu, der neben dem Schreibtisch stand.
„Nein!“, riefen nun mehrere Porträts gleichzeitig, und auch Harry sprang auf, aber Daphne streckte bereits die Hand aus. Sie griff nach dem schwarzen Tuch, das den Spiegel verhüllte, und riss es herunter.
Von einem Moment auf den anderen durchzuckte Harrys Kopf ein furchtbarer Schmerz, als würden ihn Tausende glühender Nadeln durchbohren. Er schrie auf und sank auf die Knie. Seine Hand drückte auf seine Narbe, die sich anfühlte, als stünde sie in Flammen. Tränen traten ihm in die Augen, doch sein Blick war fest auf den Spiegel gerichtet.
Dunkle Schatten schimmerten im Spiegelglas und bewegten sich. Sie nahmen Farbe an und formten Gestalten. Deutlich konnte Harry einen Mann und eine Frau erkennen. Die Frau hatte lange rote Haare und grüne Augen, wie Harry sie schon tausendmal in anderen Spiegeln gesehen hatte, und die Haare des Mannes waren genauso schwarz und zerzaust wie seine eigenen. Die beiden lächelten ihn an ... doch dann wurden ihre Gestalten plötzlich auseinandergerissen. Ein abgrundtief böses Lachen erklang, ein Lachen wie aus dem Schlund der Hölle. Dort, wo der Mann und die Frau gestanden hatten, blickte ihm nun ein Gesicht entgegen. Es war ein weißes, schlangenhaftes Gesicht mit zwei kleinen Löchern, wo die Nase sein sollte, und blutroten Augen.
Der Schmerz verschwand aus Harrys Bewusstsein, das einzige, was er jetzt noch fühlte, war Hass. Hass, der wie flüssiges Feuer durch seine Adern brannte.
Er richtete sich auf und taumelte zum Spiegel, vor dem immer noch Daphne stand. Ihre Augen waren glasig geworden, während sie in den Spiegel starrte. Langsam hob sie die Hand, um ihn zu berühren...
Ein feuriger Blitz erhellte das Turmzimmer, gefolgt von einem roten, der Daphne in den Rücken traf. Sie sank zu Boden.
Harry wirbelte herum. Dumbledore war genau dort erschienen, wo er zuvor verschwunden war, Fawkes auf der Schulter und sein Zauberstab immer noch auf Daphne gerichtet. Harry schrie auf und stürzte sich auf ihn, um ihm die Kehle aufzureißen, aber ein weiterer roter Blitz schoss aus Dumbledoes Zauberstab und traf ihn in die Brust. Harrys Welt versank in Dunkelheit.
Als Harry wieder zu sich kam, spürte er die Wärme eines nahen Kaminfeuers. Er konnte sogar das brennende Nadelholz riechen und das Knacken der Holzscheite hören. Ab und zu zerbrach eines. Es waren angenehme, beruhigende Geräusche, aber ganz und gar nicht beruhigend war, dass er sich nicht bewegen konnte. Er schien auf einem Stuhl zu sitzen, aber seine Arme und Beine waren mit Stricken gefesselt. Er öffnete die Augen, aber das grelle Licht blendete ihn. Seine Augen tränten und gaben nur langsam den Blick auf seine Umgebung frei.
„Vorsicht, Harry“, ertönte eine vertraute Stimme, die von Professor Dumbledore.
Harry blinzelte. Er saß immer noch in Dumbledores Büro, genau auf dem Stuhl, auf dem er während ihres Gesprächs gesessen hatte. Neben ihm saß Daphne, aber sie war immer noch bewusstlos, ihr Brustkorb hob und senkte sich sanft. Auch sie war an den Stuhl gefesselt. Der große Spiegel neben dem Schreibtisch war wieder verhängt. Sie waren allein, bis auf Dumbledore, der sich über das Kaminfeuer beugte, und die allgegenwärtigen Blicke der Porträts an der Wand.
„Ich bin froh und erleichtert, dass du wieder bei Sinnen bist“, sagte Dumbledore. Er drehte sich zu ihm um, und mit einem Schwung seines Zauberstabs fielen die Fesseln von Harry.
In diesem Moment ging auch ein Ruck durch Daphnes Körper. Sie stieß ein leises Stöhnen aus und öffnete blinzelnd die Augen.
Harry sprang auf. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, doch dann kniete er vor Daphne und hielt ihre Hände. Sie waren unnatürlich kalt. „Daph? Kannst du mich hören, Daph? Geht es dir gut?“
Daphnes Augen fixierten ihn. Hässliche rote Fäden durchzogen das sonst makellose Weiß und umspannten ihre goldenen Iriden wie ein Spinnennetz. Aber sie lächelte ihn schwach an. „Mir ... mir geht es gut.“
„Ihr habt Glück, dass ich rechtzeitig gekommen bin, sonst könntet ihr das jetzt nicht sagen“, sagte Dumbledore. Er kam auf sie zu und reichte ihnen zwei Tassen heiße Schokolade.
Auch von Daphne fielen nun die Fesseln. Dankbar nahmen die beiden die Tassen und begannen zu trinken. Die Schokolade tat gut und in Harry breitete sich eine wohlige Wärme aus.
„Was ... was ist passiert? Was war das?“, fragte er schließlich, als er ausgetrunken hatte. Mit der linken Hand deutete er auf den verhängten Spiegel. Seine rechte Hand hielt immer noch die von Daphne, die ebenfalls warm geworden war. Keiner der beiden machte Anstalten, die Hand des anderen loszulassen, zu aufgewühlt waren sie noch von dem, was gerade geschehen war.
„Das Überbleibsel eines törichten Plans“, sagte Dumbledore, der wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. „Es war mein Fehler, dass ihr in diese Gefahr geraten seid, ein Fehler, den ich nicht wiederholen werde, das verspreche ich euch.“ Er zögerte einen Moment und fragte dann: „Was habt ihr gesehen, als ihr in den Spiegel geschaut habt?“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Harry. „Ich glaube ... ich glaube, ich habe meine Eltern gesehen ...“
Dumbledore beugte sich vor und Daphne drückte seine Hand noch fester, so fest, dass es fast weh tat, aber Harry war dankbar dafür.
Mit zitternder Stimme sprach er weiter. „Aber ... ich habe sie nicht lange gesehen. Sie wurden auseinandergerissen, und dann sah ich ein Gesicht und hörte ein Lachen, ein böses, abscheuliches Lachen. Es war Voldemort, ich bin mir sicher. Ich weiß einfach, dass er es war. Und die ganze Zeit tat meine Narbe weh...“
„Es tut mir leid, dass du das erleben musstest, Harry. Der Spiegel zeigt schreckliche Dinge, weil ein böser Geist darin gefangen ist.“ Dumbledore wandte seinen Blick Daphne zu. „Was hast du gesehen, Daphne, wenn ich fragen darf?“
Aber Daphne schüttelte nur den Kopf. „Sie dürfen nicht. Aber ich frage Sie, warum Sie überhaupt ein so schreckliches und gefährliches Artefakt in Ihrem Büro haben?“
„Um ein noch größeres Übel aufzuhalten ...“
Es war Daphne anzusehen, dass die Antwort ihres Schulleiters ihre Neugier nicht im Geringsten befriedigte, aber irgendetwas sagte Harry, dass sie nicht mehr Informationen von ihm bekommen würden.
„Ich möchte euch bitten, niemandem zu erzählen, was hier passiert ist“, sagte Dumbledore. „Nicht einmal euren Freunden. Es könnten schlimme Dinge passieren, wenn dieses Wissen in die falschen Hände gerät.“
Daphne schnalzte mit der Zunge. „Das wird nicht schwer sein. Mein einziger Freund sitzt hier neben mir.“
Dumbledores Blick fiel auf Harry.
„Ich werde niemandem etwas erzählen“, sagte er.
„Ich danke euch. Es ist spät geworden, also geht am besten in eure Gemeinschaftsräume zurück. Ich lasse euch etwas zu essen bringen.“
Harry war froh, endlich von hier wegzukommen, aber eines wollte er noch wissen. „Professor, warum wurden Sie vorhin weggerufen?“
Dumbledore seufzte auf, und sein Gesicht wurde noch gequälter und sorgenvoller, wenn das überhaupt möglich war. „Es wurde ein weiteres versteinertes Opfer gefunden. Sir Nicholas, der Hausgeist von Gryffindor…“
Als Harry und Daphne kurz darauf durch die verlassenen Korridore des Schlosses gingen, ließen sie die Ereignisse in Dumbledores Büro immer noch nicht los.
„Daphne“, sagte Harry.
„Hmm“, erwiderte seine beste Freundin als Zeichen dafür, dass sie gehört hatte.
„Was hast du im Spiegel gesehen?“
Daphne sah ihn unsicher an. „Bist du sicher, dass du das wissen willst?“
„Wir haben uns doch versprochen, immer füreinander da zu sein. Nichts wird das je ändern.
Daphne seufzte leise. Dann nickte sie. Sie strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares hinters Ohr, bevor sie zu sprechen begann. „Ich habe Blut gesehen. Blutüberströmte Asche und Knochen, so weit das Auge reichte. Es war ein Schlachtfeld und schwarze Krähen kreisten darüber. Aber ich habe es nicht nur gesehen. Es war, als würde ich selbst dort stehen. Ich fühlte mich stark, als ob ich nie wieder Angst haben müsste. Es fühlte sich gut an...“ Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Aber Harry, warum sehe ich so etwas und du siehst deine Eltern und Voldemort?“
Darauf wusste Harry auch keine Antwort. Dafür nahm er ihre beiden Hände in seine und führte sie langsam an seine Lippen. Er küsste sie und fast war es, als könnte er das Blut schmecken, das am Abend zuvor über ihre Haut geronnen war, sein eigenes und ihres.
„Wir werden es gemeinsam herausfinden.“
Doch als sie zwei Tage später zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde bei Dumbledore erschienen, war der Spiegel verschwunden.
In Hogwarts sorgte die neue Versteinerung immerhin dafür, dass Harry und Daphne ein wenig aus dem Fokus der Schülerschaft verschwanden. Wen interessierten schon die Streitereien einiger Zweitklässler, auch wenn Potter und das Greengrass-Mädchen froh sein konnten, nicht von der Schule geflogen zu sein, wie Harry mehr als einmal im Vorbeigehen hörte. Aber viel öfter drehten sich die Gespräche unter den Schülern jetzt um die Frage, was zur Hölle einen Geist versteinern lassen konnte.
Oliver und der Rest des Quidditch-Teams zeigten ihm zwar immer noch die kalte Schulter, aber Harry war froh, dass er sich wieder mit Ron und Hermine vertragen hatte. Die beiden behandelten Daphne sogar mit einer neu entdeckten Höflichkeit – Freundlichkeit würde er nicht sagen, denn dafür war es nicht aufrichtig genug. Daphne wiederum erzählte ihm in zufriedenem Ton, dass sie im Slytherin-Kerker mit neuem Respekt behandelt wurde, manchmal sogar mit Furcht. Malfoy, Crabbe und Goyle belästigten sie nicht mehr, und auch Parkinson und ihre Clique begnügten sich vorerst mit giftigen Blicken.
„Arme Pansy“, sagte Daphne bei einem ihrer Treffen im Raum der Wünsche, während sie gegen sich bewegende Holzpuppen kämpften. Eine der Puppen hatte Snapes Gesicht. „Du hättest sie hören sollen, als sie darüber gejammert hat, was wir ihrem lieben Draco angetan haben. Die beiden sind jetzt übrigens verlobt.“ Sie lachte und ließ einen Termitenschwarm über die Puppe mit Snapes Gesicht herfallen. „Ich würde ihr ja mein Beileid aussprechen, aber sie freut sich wirklich darüber! Na, da haben sich zwei gefunden. Aber sie hat Davis gezwungen, das Bett mit ihr zu tauschen, damit sie weiter weg von mir ist. Als ob ihr das im Fall der Fälle helfen würde...“
In ihren weiteren Treffen mit Dumbledore fuhr der alte Schulleiter damit fort, sich vor allem mit ihnen zu unterhalten, über Geschichte, Philosophie und die Theorie von Zauberei und Hexerei, doch vor allem drehten sich ihre Gespräche immer wieder um die Gefahren unkontrollierter Magie und wie man sie beherrschen konnte. Harry und Daphne nickten und lächelten höflich, machten aber heimlich weiter wie bisher. Warum auch nicht, denn bisher war ja alles gut gegangen, so dachte Harry zumindest, wenn er abends erschöpft von den Strapazen des Tages in sein Bett fiel.
Dumbledore verwies sie auch auf einige Bücher aus seiner Privatbibliothek über Okklumentik, und das war etwas, was Harry und Daphne dankbar annahmen. Sie hatten ihre Geheimnisse, und sie wussten selbst, dass es verheerende Folgen haben würde, wenn sie ans Licht kämen. Und die Erfahrung, von diesem Spiegel besessen gewesen zu sein, oder was auch immer in Dumbledores Büro passiert war, und der Wunsch, so etwas nie wieder geschehen zu lassen, hatten sie in ihrer Entschlossenheit nur noch bestärkt.
So vergingen die letzten Tage bis zu den Ferien. Bald war Weihnachten und Daphne hatte die genialste Idee aller Zeiten...
„Wuhuuu!
Der Wind peitschte Harry ins Gesicht, mit all seiner brutalen Härte und Kälte, aber er fühlte sich einfach wunderbar. Er fühlte sich frei, er fühlte sich lebendig, hier auf seinem Besen, weit, weit über den Ländereien von Hogwarts und dem Schloss, das zu dieser Stunde des Tages noch völlig im Dunkeln lag. Über ihm erstreckte sich der wolkenlose Nachthimmel, in dem Tausende und Abertausende von Sternen funkelten, die einzigen Zeugen ihres morgendlichen Ausflugs. Und nicht nur er freute sich.
„Krah, krah, krah!“, ertönte neben ihm der Ruf einer Krähe. Es war eine Krähe mit goldenen Augen und einem Gefieder so schwarz wie die Sünde.
Die Krähe machte einen Salto in der Luft und Harry tat es ihr nach. Beide mussten lachen, Harry mit seiner menschlichen Stimme und die Krähe mit ihrem Krächzen. Gemeinsam zu fliegen war wirklich die beste Idee, die Daphne je gehabt hatte!
Einige Augenblicke flogen sie ruhig nebeneinander, so nah, dass Harry nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Daphnes Federn zu streicheln. Dann drehte Daphne ihren Krähenkopf.
„Krah!“
Sie nickte in Richtung einer kleinen Lichtung am Hang eines der Berge, die zu ihrer Linken auftauchten.
„Alles klar!“, rief Harry zurück, und gemeinsam machten sie eine scharfe Kurve und flogen auf die Lichtung zu.
Harry landete zuerst. Er sprang von seinem Besen, drehte sich um und sah gerade noch, wie die Umrisse der Krähe verschwammen, wie das Schwarz ihrer Federn verwischte und sich in die Länge zog wie Rauchschwaden im Wind. Und schon stand Daphne vor ihm. Seine beste Freundin grinste ihn an.
Harry grinste zurück. „Ich fliege schneller als du.“
„Es kommt doch nicht auf die Schnelligkeit an.“ Daphne breitete die Arme aus und bewegte sie auf und ab, als wären es Flügel. „Oh Harry, wenn du nur einmal geflogen bist, richtig geflogen, meine ich, nicht auf Besen oder Teppichen oder in den Blechvögeln, die die Muggel benutzen, sondern du selbst, dann wirst du für immer auf Erden wandeln, mit deinen Augen himmelwärts gerichtet. Denn dort bist du gewesen und dort wird es dich immer wieder hinziehen.“
„Wer so fliegen will, braucht Flügel...“
Daphne ließ die Arme sinken. Einen Moment sah sie ihn an, dann nickte sie. „Das stimmt. Aber die kannst du dir nur selbst verdienen. Ich habe ein anderes Geschenk für dich.“ Damit griff sie in die Tasche ihres Umhangs und holte eine in rotes Geschenkpapier eingewickelte Schachtel hervor. „Frohe Weihnachten, Harry.“
Lächelnd nahm Harry das Geschenk aus ihrer Hand. Frohe Weihnachten, in der Tat. Es war genau ein Jahr her, dass sie sich in der Verbotenen Abteilung begegnet waren. Alles, was danach kam, hatte damals seinen Anfang genommen. Nun, genau ein Jahr wäre es vermutlich erst in der Nacht, wie Daphne zweifelsfrei anmerken würde, wenn er seine Gedanken mir ihr teilen würde. Harry gluckste leise.
„Ist was?“, fragte Daphne.
Harry schüttelte nur den Kopf, während er das Geschenk auspackte. Er öffnete die kleine Schachtel und heraus kam eine Brille. Sie sah fast genauso aus wie die, die er schon trug, vielleicht ein bisschen weniger verbogen, aber genauso schlicht. Zumindest bis man genauer hinsah. Feine, ganz feine Symbole waren in das Gestell eingraviert, und Harry konnte die Magie deutlich spüren, als er die Brille in die Hand nahm. Ein angenehmes Kribbeln lief über seine Haut.
„Ich habe die Zauber selbst eingewebt“, erklärte Daphne. „Sie wird nie verrutschen und Schmutz und Staub abweisen.“
„Danke, Daph. Das ist wirklich ein wunderbares Geschenk. Ich glaube immer mehr, dass du eines Tages eine professionelle Verzaubererin werden wirst.“
„Es gefällt dir also?“
„Und wie!“ Harry setzte sich die Brille auf. Sie saß wie angegossen. „Wie sehe ich aus?“
„So einfältig wie immer“, sagte Daphne, aber sie lächelte dabei.
Jetzt griff auch Harry in seinen Umhang und holte ein Geschenk heraus. Dieses war in smaragdgrünes Geschenkpapier eingewickelt.
„Oh, wie edel“, sagte Daphne. Harry gab ihr das Geschenk und sie packte es schnell aus. Zum Vorschein kamen dunkle Lederstiefel, die Daphnes Augen weit aufreißen ließen. „Sind das ...“
„Ja, Drachenlederstiefel“, sagte Harry. „Du hast doch gesagt, dass dir deine alten Stiefel langsam zu klein werden.“
Daphne strahlte vor Freude. „Danke, Harry. Sie sind wunderschön.“
Sie beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn sanft auf die Wange. Harry schoss das Blut in den Kopf, und sein Nacken fühlte sich plötzlich ganz heiß an, aber gleichzeitig konnte er sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Offenbar hatte er das richtige Geschenk ausgesucht. Und allein Daphnes Lächeln, das sie ihm danach schenkte, war die fünfzig Galleonen, die die Stiefel gekostet hatten, mehr als wert; noch nie hatte er etwas so Teures gekauft, und er konnte sich niemanden vorstellen, für den er es lieber getan hätte.
Dann setzten sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm in der Mitte der kleinen Lichtung. Die Nacht verblasste, ihre Dunkelheit wurde vom anbrechenden Morgen verdrängt. Der Wind trug eine leichte Wärme mit sich, als die Sonne über die Berggipfel stieg und die Landschaft in ihr goldenes Licht tauchte.
Harry seufzte zufrieden. „Danke, Daphne.“
„Du hast dich doch schon bedankt.“
„Für die Brille, ja, aber nicht dafür.“ Er deutete auf ihre Umgebung. „Für all das hier. Für diesen Ausflug. Für das gemeinsame Fliegen. Ich kann es kaum erwarten, mir meine eigenen Flügel zu verdienen und mich wieder mit dir in die Lüfte zu schwingen, als dein Ebenbürtiger und Gefährte.“
„Das wäre schön“, sagte Daphne und drückte seine Hand. „Meinst du, es wird noch lange dauern?“
„Die Träume werden immer häufiger. Und erst gestern habe ich wieder eine Feder in meinem Bett gefunden. Wenn ich mich ganz fest darauf konzentriere und nach meinem Inneren Geist taste, mit allem, was du mich gelehrt hast, dann ... dann kann ich es spüren, Daph! Ich spüre, dass da etwas in mir ist, das ausbrechen will. Ich spüre, wie es nach mir greift, und ich strecke meine Hand aus, ich kann es spüren, an meinen Fingerspitzen, ein kitzelndes Gefühl, ein weiches Gefühl, und richtig, es fühlt sich so, so richtig.“ Harry schnappte nach Luft, so schnell hatte er gesprochen. „Aber dann ist es plötzlich weg, und ich fühle mich leer ...“
Daphne drückte wieder seine Hand. Die andere Hand legte sie ihm auf die Schulter und lächelte ihn mitfühlend an. „Du hast in unglaublich kurzer Zeit einen unglaublich weiten Weg zurückgelegt. Ich habe Jahre gebraucht, um dahin zu kommen, wo du nach nur einem Jahr bist. Du wirst es bald schaffen, da bin ich mir sicher.“
Harry lächelte zurück. Er wollte noch etwas sagen, als es plötzlich hinter ihnen im Unterholz knackte. Er sprang auf und Daphne tat es ihm gleich. Sie konnten gerade noch ihre Zauberstäbe zücken, als plötzlich eine riesige Spinne aus dem Wald hervorbrach, direkt auf sie zu. In ihren acht Augen funkelte der Hunger und ihre Greifer klickten, um sie zu packen und zu verschlingen.
Harry und Daphne reagierten instinktiv, das Ergebnis unzähliger Übungskämpfe, die sie miteinander bestritten hatten.
„Stupor!“, riefen sie. Die Ringe an ihren Fingern glühten auf, und zwei Schockzauber, verstärkt durch die Lebenskraft gequälter Tiere, trafen die Spinne in ihren massigen Körper. Doch die Zauber verlangsamten die Spinne nur, aber stoppten sie nicht.
„Stupor! Stupor! Stupor!“ Immer mehr Schockzauber trafen die Spinne, die immer langsamer wurde und schließlich zu ihren Füßen zusammenbrach, die acht Beine und die Klauen schwach zuckend. Sie war besiegt, daran bestand kein Zweifel mehr. Das Adrenalin in Harrys Körper wich einem Anflug von Stolz.
„Hah!“, rief Daphne. „Du dachtest wohl, du könntest uns überraschen, was, du Mistvieh? Aber nein, wir werden heute nicht deine Beute sein. Im Gegenteil, du wirst diejenige sein, die für diesen Frevel büßen muss! Cruc–“
„Nein!“, schrie Harry, packte Daphnes Zauberstabarm und drückte ihn nach unten. „Bist du verrückt?! Das ist einer der unverzeihlichen Flüche! Der bringt dich nach Askaban!“
„Nur wenn man ihn gegen Menschen einsetzt. Und nur, wenn man erwischt wird“, sagte Daphne. Doch dann nickte sie. „Aber gut, lassen wir das. Willst du sonst noch etwas mit ihr machen? Ihre Lebenskraft speichern?“
Harry schüttelte den Kopf. Er wollte nur so schnell wie möglich von hier weg. Sein Magen fühlte sich flau an und ein schmerzhaftes Stechen schoss ihm durch die Stirn.
„Diffindo.“
Ein Lichtstrahl schoss durch die Luft und traf die Spinne. Ihr Kopf wurde abgetrennt und blieb vor ihnen im Gras liegen, die Augen leer und leblos. Blaues Blut spritzte aus dem Kadaver und etwas davon landete auf Daphnes Stiefeln.
„Igitt!“, schrie sie.
Das flaue Gefühl in Harrys Magen verschwand, als er lachen musste. Daphnes angeekeltes Gesicht sah einfach zu lustig aus, während sie hastig begann, die Stiefel mit einem Zauber zu reinigen.
„Lach nicht! Das ist alles deine Schuld!“
Harry lachte nur noch mehr.
Die Absätze von Daphnes neuen Drachenlederstiefeln klackten laut auf dem Steinboden, als sie ein paar Stunden später zum Slytherin-Gemeinschaftsraum zurückkehrte. Sie war schon fast dort, als sie um eine Ecke bog und ihr plötzlich Crabbe und Goyle entgegenkamen, ihre Gesichter so hohl und dumm wie immer. Vielleicht sogar noch dümmer als sonst, denn als Daphne ihnen ihr scheußlichstes Lächeln schenkte, zuckten sie zwar kurz zusammen, aber anders als sonst ergriffen sie nicht sofort die Flucht.
Daphne runzelte die Stirn. Dann dämmerte es ihr. „Oh, bei Morgana!“
Mit wenigen schnellen Schritten hatte sie die Distanz zwischen sich und den beiden überwunden. Bevor die beiden reagieren konnten, stieß sie sie in eine Besenkammer, die glücklicherweise direkt neben ihnen lag, und schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter ihnen zu.
„Ihr Idioten! Ihr Schwachköpfe! Ich hätte nie gedacht, dass ihr so dumm sein könntet!“
Crabbe und Goyle sahen sie fassungslos an.
„Äh, Greengrass“, sagte Goyle schließlich. Er wechselte einen Blick mit Crabbe. „Lass uns in Ruhe? Ja, lasst uns in Ruhe! Wir haben Wichtigeres zu tun!“
„Ruhe, du Idiot! Wichtiges zu tun, von wegen. Niemals hätte ich gedacht, dass ihr es wirklich tun würdet.“ Daphne schüttelte ungläubig den Kopf.
„Du weißt, wer wir sind“, sagte Crabbe, seine Stimme so scharf, dass der echte Crabbe sich wahrscheinlich die Zunge daran abgeschnitten hätte.
„Gut erkannt, Granger. Du bist doch Granger, oder?“, sagte Daphne. Crabbes Gesichtszüge verhärteten sich, aber das war alles, was Daphne als Antwort brauchte. Sie sah Goyle an. „Und das bist du, Weasley.“
Goyle wurde aschfahl, zumindest das war ein vertrauter Anblick.
„Woher weißt du von unserem Plan?“, fragte Crabbe alias Hermine Granger.
„Bitte, Harry hat mir sofort von eurem dummen Plan erzählt“, sagte Daphne. Sie verschränkte die Arme. „Mit Vielsafttrank in den Slytherin-Kerker eindringen, um Malfoy zu verhören, wirklich? Ihr habt Glück, dass ihr mich getroffen habt. Hätte Snape euch erwischt, müsstet ihr beide bereits eure Koffer packen.“
„Du musstest auch nicht deine Koffer packen!“, erwiderte Goyle alias Ron Weasley hitzig.
Daphne schenkte ihm ihr süßlichstes falsches Lächeln. „Es hat seine Vorteile, Dumbledores Goldjungen zum besten Freund zu haben.“
„Benutzt du ihn?“, fragte die verwandelte Granger kühl.
„Zweitschlauste Hexe im Jahr, wer’s glaubt“, sagte Daphne mit einem Augenrollen. „Nur die Schwachen lassen sich benutzen. Glaubst du etwa, Harry ist schwach?“
„Natürlich nicht! Ich ...“ Die verwandelte Granger wechselte einen Blick mit dem verwandelten Weasley, der genauso planlos wirkte wie sie. „Wären wir wirklich aufgeflogen?“
„Schneller, als du deine Hand heben kannst, wenn ein Lehrer eine Frage stellt. Selbst jetzt siehst du viel klüger aus, als Crabbe es sich in seinen kühnsten Träumen erhoffen könnte. Und du Weasley, der echte Goyle hätte sich schon längst in die Hose gemacht.“ Daphne rümpfte die Nase. „Aber ihr seht dennoch aus wie sie, und ich fürchte, ich muss mich übergeben, wenn ich noch länger mit euch hier drin bleibe. Deshalb gehe ich jetzt. Aber ich kann euch nur raten: Bleibt hier, bis die Wirkung des Vielsafttranks vorbei ist, und dann nehmt die Beine in die Hand. Ich sage euch noch einmal, Malfoy ist nicht der Erbe von Slytherin, und auch sonst niemand, den ihr mit eurer Maskerade täuschen könntet. Und wenn ihr mir nicht glaubt, dann glaubt wenigstens Harry. Ihr seid doch seine Freunde, oder?“
„Natürlich sind wir das!“, sagte der verwandelte Weasley.
„Dann verhaltet euch auch endlich so.“
Daphne drehte sich um und wollte gerade die Tür der Besenkammer öffnen, als noch einmal die Stimme der verwandelten Granger erklang.
„Greengrass ... danke. Wenn wir wirklich so schnell aufgeflogen wären, sind wir dir zu Dank verpflichtet...“ Man konnte in ihrer Stimme hören, wie schwer ihr diese Worte fielen.
„Gern geschehen“, erwiderte Daphne knapp. Dann ging sie hinaus und konnte endlich wieder frei atmen.
Was für Idioten. Du schuldest mir was, Harry...