Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Porzellanpuppen

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Het
Andromeda Tonks Barty Crouch Jr. Ginevra Molly "Ginny" Weasley Harry Potter Kreacher Ted "Teddy" Remus Lupin
16.11.2022
14.12.2022
3
27.484
8
Alle Kapitel
11 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
 
14.12.2022 15.967
 
Das Kapitel kam nun ein paar Tage später als angekündigt, hat aber auch die Länge von etwa 3 meiner üblichen Kapitel. Dafür ist es auch das letzte Kapitel für dieses Jahr, da ich versuche, zwischen den Jahren noch ein Slytherin Hearts Kapitel zu posten.

Wer nicht unendlich viel Zeit zum Lesen hat, kann sich das Kapitel in 3 Sinnabschnitte einteilen und diese nacheinander lesen:
14.03. – 24.03. Ich nenne es den Harry-allein-zu-Haus-Part (auch wenn noch mehr passiert, aber zumindest Saphira taucht in diesen Abschnitten nicht auf)
07.04. Kreacher stellt seine Kochkünste unter Beweis
14.04. Ein Nachmittag in London


In diesem Sinne: Willkommen zurück zu einer Folge von: „Hilfe, mein Haus sieht scheiße aus, reiß es bitte ab und bau ein neues.“
Und Harry hat sowas von Mummy issues … omg.

3/6
_______________________________________

Porzellanpuppen

3. Puppenmund

Dienstag, 14.03.2000

„Mutter-Vater-Kind? Wer ist die neue Frau an Potters Seite?“, rezitierte George mit glühender Inbrunst und warf Harry den Tagespropheten lachend auf sein Stück Sahnetorte – das dritte in Folge, da Molly den Anblick eines leeren Tellers vor Harry noch immer nicht ertrug.
Es waren diese seltenen Momente, in denen George zu seiner alten Unbeschwertheit zurückfand, die in Harry für gewöhnlich einen Funken Hoffnung entzündeten, dass doch alles besser werden könnte; vielleicht nicht wieder gut, aber irgendwie … in Ordnung. Das flüchtige Gefühl positiver Erwartung blieb heute aus.

„Ich war mit Teddy da“, verteidigte er sich nach einem unwirschen Blick auf das Foto, welches die halbe Titelseite füllte. Ausgerechnet in dem Moment, da er sich vorbeugte, um Saphira das Eis von der Nase zu wischen, und dabei so ungünstig Teddy verdeckte, dass es aussah, als wären er, Saphira und Sophie alleine dort gewesen, hatte man sie durch die zur Neueröffnung bunt geschmückte Fensterscheibe fotographiert. „Ich besuche ihn jeden Sonntag und Saphira war nun einmal auch da … Hätte ich darauf bestehen sollen, mit Teddy alleine nach London zu reisen?“
„Das wissen wir doch“, beschwichtigte Molly, ebenfalls eine Spur amüsiert. „Andromeda war gestern hier und hat erzählt, dass du Teddy zum ersten Mal die Winkelgasse gezeigt hast. Ich weiß, du hasst diese Schmierfinken, aber wir alle freuen uns, dass du dich trotzdem wieder vor die Tür traust. Du wirst sehen, es wird dir gut tun!“
Mit einem empörten Blick auf die verschmierte Sahne entfernte sie die Zeitung von Harrys Teller und drückte sie George zurück in die Hände.
„Wirf das weg, George, und ärger Harry nicht so“, tadelte sie ihren Sohn und tauschte den nicht mehr ganz so ansehnlichen Kuchen auf Harrys Teller dabei schneller aus, als dieser protestieren konnte.

„Oh, Mutter, ich bin nicht –“, begann der Angesprochene schelmisch grinsend, doch sein Satz blieb unvollständig und das Lachen in seinem Hals stecken.
Es waren diese Momente, in denen George für Sekundenbruchteile vergaß, dass Fred nie wieder bei ihm sein würde, die allen Anwesenden wieder und wieder das Herz brachen.
Ich bin nicht George, würde ihm nie wieder jemand glauben, keine Menschenseele mehr zum Lachen bringen … aber vielleicht war es das, was er in seinen dunkelsten Stunden ersehnte, nicht George sein, nicht der Zurückgelassene, dem auf ewig seine zweite Hälfte fehlte, sein Bruder, sein Zwilling, sein bester Freund.

Die Stille war so ohrenbetäubend laut, dass Harry am liebsten geschrien hätte.

„Ich … ich kann das doch nicht wegschmeißen, wenn Harry den besten Teil noch gar nicht gelesen hat!“, nahm George das Gespräch wieder auf und nur der Hauch eines Zitterns in seiner Stimme verriet ihn noch. Er hatte schon so verdammt viele Situationen dieser Art durchstehen müssen, dass er sie inzwischen beinahe routinemäßig überspielte, egal wie tief der Schmerz in Wahrheit noch immer saß.
„Von Teddy schreiben sie tatsächlich kein Wort, dafür wird wild darüber spekuliert, wer denn nur Vater von Blacks Kind sein könnte … und ob du dir da vielleicht einen Ausrutscher eingehandelt haben könntest. Ein ganzer Absatz darüber, dass Ginny mit ihrer Karriere nur so durchstartet, um es dir heimzuzahlen, ist auch dabei.“ Georges Mund lachte, doch seine Augen blieben ernst. Obwohl Harry sicher war, dass dies dem kleinen Zwischenfall, den niemand ansprach, geschuldet war und George nicht ihm zürnte, fühlte er sich schlecht, dass diese infamen Gerüchte ausgerechnet die Weasleys treffen mussten, wo doch jeder ahnte, wie es um ihn und Ginny stand.

„Und genau deshalb meide ich die Öffentlichkeit normalerweise“, erwiderte Harry verbittert.
„Bei den Haaren können wir es ihnen nicht verübeln“, scherzte George weiter, als ertrüge er das Schweigen genauso wenig wie Harry. Mit dem Zeigefinger tippte er dabei auf Sophies schwarze Zöpfe. „Malfoy wird’s wohl auch nicht gewesen sein, hm?“
„Bis auf Dracos Mutter hatten alle Blacks dunkles Haar“, wiederholte Harry Saphiras Argument, mit dem sie der Frage nach dem Vater des Kindes erfolgreich ausgewichen war.
„Also doch Malfoy?“, hakte George nach.
„Keine Ahnung, sie hat es mir nicht erzählt und eigentlich geht’s mich auch nichts an“, gab Harry zurück und nahm George damit den Wind aus den Segeln. In matter Ernüchterung sagte dieser nun:
„Eigentlich hast du Recht. Wir sollten selbst nicht so neugierig in anderer Leuts Leben stieren …“
„Also weg damit!“, pflichtete Molly bei und entriss ihm die Zeitung, um diese selbst zu entsorgen.

„Weg womit?“, erklang hinter Harry eine Stimme, die wie Skele-Wachs in seinen Eingeweiden brannte.
„Ginny!“, stieß er aus und wandte sich nach ihr um, erschrocken feststellend, dass sie ihrer Mutter die Zeitung aus der Hand geschnappt hatte.
„Ach, dummes Zeug!“, zischte sie nach einem flüchtigen Blick darauf und beförderte das Schundblatt endgültig in den Abfalleimer. „Und deshalb ziehst du so ein Gesicht? Solchen Unsinn verbreiten sie doch schon seit Jahren über dich. Warum lässt du dich davon so fertigmachen?“
„Das … ich … Ich war mit Teddy unterwegs, Saphira war nur zufällig auch bei Andromeda“, spulte Harry seine Entschuldigung ab, ohne auf das Gesagte einzugehen.
„Weiß ich doch, hat Andromeda gestern erzählt“, winkte sie ab.
„Ach, wie lange bist du denn schon wieder hier?“, schnappte Harry. „Du hättest ruhig mal schreiben können.“

„Tja, es wird Zeit, dass ich die Biege mache und euch Turteltauben nicht länger störe“, beschloss George – bevor Ginny zu einer Antwort ansetzen konnte – und klopfte Harry zum Abschied auf die Schulter. „Ron sollte man nicht zu lange alleine im Laden lassen, sonst verschenkt er wieder zu viel Liebestrank an die Ladies.“
„Tschau“, rief Harry ihm nach und als er sich umwandte, schien sich auch Molly urplötzlich in Luft aufgelöst zu haben.

„Harry“, Ginny wirkte ernst, aber nicht verärgert, „wir müssen mal reden. Kommst du mit hoch, da sind wir wirklich ungestört.“
Wortlos nickte er und folgte ihr aus der menschenleeren Küche heraus, ihre Skepsis über die wahre Privatsphäre darin allerdings teilend.

„Das ist wirklich nicht, wonach es –“, begann Harry sich erneut zu rechtfertigen, doch Ginnys einhaltgebietend erhobene Hand brachte ihn zum Schweigen.
„Dennoch wagst du dich mit mir nicht in die Öffentlichkeit“, murmelte sie bitter, räusperte sich und wirkte mit einem Mal deutlich milder denn zuvor. „Aber das Traurige daran ist, dass nur mein verletzter Stolz deswegen noch angekratzt ist.“
„Wie meinst du das?“, fragte Harry vorsichtig. Er fühlte sich, als würde er fallen, den Halt verlieren, doch seine Füße standen fest auf den Dielen.
„Eigentlich freue ich mich, dass du langsam zurück ins Leben findest, Harry, wirklich, weil ich … ich hab dich verdammt gerne, ich hoffe, das weißt du. Aber ich kann nicht länger in der Luft hängen. Ich möchte nach vorne schauen, leben.“

„Machst du gerade Schluss mit mir?“ Ernüchterung überfiel ihn, als wäre er plötzlich unsanft auf dem harten Boden der Tatsachen gelandet, der sich weitaus unspektakulärer anfühlte denn erwartet.
„Ich weiß nicht, ist da denn noch etwas zwischen uns, das man beenden kann?“
„Also … na ja, ich … ich … Vielleicht?“
„Schau, und genau das kann ich nicht mehr“, erklärte Ginny und nahm behutsam seine Hand in ihre. „Ich werde dich immer gerne haben, aber ich kann nicht ewig auf dich warten. Das tut mir weh.“
„Ich wollte dich nie verletzen“, murmelte Harry schuldbewusst und erwiderte ihren Händedruck, als klammerte sich ein jämmerlicher Rest Nostalgie in ihm an diese längst tote Beziehung.
„Ich weiß, Harry. Und ich würde mich wirklich freuen, wenn wir es hinbekämen, wieder Freunde zu werden.“
„Freunde“, wiederholte er unbewusst nickend und wartete angespannt auf den Sturm negativer Emotionen, der bislang ausgeblieben war. Viel eher fühlte es sich an, als hätte Ginny einen zentnerschweren Stein von seiner Brust entfernt, die Beklemmung gelöst, die ihn während all ihrer merkwürdigen Treffen in den letzten paar Monaten nur schwer hatte atmen lassen.
„Was die Zukunft bringt, weiß niemand“, wandte sie beschwichtigend ein, klang dabei allerdings nicht im Ansatz überzeugt davon, dass sie in Zukunft ihre Meinung noch einmal änderte. „Jetzt aber brauche ich klare Verhältnisse.“

„Ich verstehe“, seufzte er und zerzauste unsicher sein Haar. „Wahrscheinlich hast du Recht.“
Einen Moment lang sahen sie betreten überall hin, nur nicht einander an, dann fasste sich Ginny ein Herz und schloss ihn so unvermittelt in die Arme, dass Harry beinahe das Gleichgewicht verlor. Erleichtert erwiderte er ihre feste Umarmung, in der so viel mehr echtes Gefühl steckte denn in jeder anderen Berührung, die sie in den vergangenen Monaten ausgetauscht hatten.

„Los, gehen wir wieder runter, bevor Mum sich zu viele Hoffnungen macht.“

+

Freitag, 17.03.2000

Es war einer dieser Tage, an denen Harry es bis zum späten Nachmittag kaum aus dem Bett schaffte. Wieder und wieder zog er die Decke wie ein Leichentuch über die vor Schmerz pochende Stirn, wälzte sich von der einen auf die andere Seite, nippte drei, vier, fünfmal an seinem liebsten Zimmergenossen, dem Traumlos-Trank, bis er die Anspannung in seinem Nacken nicht länger ertrug und gequält gähnend die Füße auf die rauen Dielen stellte, neblige Leere im Kopf, bleierne Schwere in den Gliedern.
Stöhnend rieb er über sein verschlafenes Gesicht und wedelte mit dem Zauberstab in Richtung des Fensters, sodass die Vorhänge auseinanderstoben und grässlich grelles Tageslicht in seine trostlose Dachkammer fiel. Wahrscheinlich müsste der muffige Raum dringend gelüftet werden, doch Harry war noch nicht bereit, die Geräusche anderer Menschen in seine abgeschottete Welt hineinzulassen.

Ein Blick auf den Nachttisch verriet, dass er Kreacher dringend losschicken musste, neuen Traumlos-Trank zu besorgen, sofern er plante, in der folgenden Woche nicht vollends durchzudrehen. Zum Glück war verschreibungspflichtig in der Magierwelt ein Fremdwort, dennoch verkauften die meisten Apotheken bloß eine Flasche pro Kunde. Um kritischen Nachfragen und dummem Geschwätz aus dem Weg zu gehen, schickte Harry den Elfen abwechselnd in verschiedene Apotheken außerhalb Londons, wo zumindest Kreacher unbehelligt behaupten konnte, er besorge den Trank für seine Besitzerin, die mal Smith, mal Walker, mal Adams hieß.
Wie er sich fühlte, dass er – anstatt seinen glorreichen Triumph zu feiern und im Angesicht all seiner guten Taten Abend für Abend sorglos mit einem Herzen leicht wie eine Feder in süße Träume zu fallen – nichts mehr fürchtete, denn sich ohne dieses Hilfsmittel den grauenhaften Erinnerungen zu stellen, ging niemanden etwas an.

Träge stülpte er einen Pullover über den Kopf, ohne sich die Mühe zu machen, das Shirt vorher zu wechseln; die Pyjama-Hose behielt er an, er plante ohnehin nicht, das Haus zu verlassen, und geduscht hatte er seit seinem Besuch im Fuchsbau vor drei Tagen sowieso nicht.
Der Hals brannte ihm, als hätte ein Grindeloh seine Krallen hineingeschlagen; eine Nebenwirkung der Arznei, doch seine einzige richtige Motivation, hinunterzugehen und sich ein Glas Wasser zu holen.

„Der Herr ist heute überaus früh auf den Beinen“, krächzte Kreacher ihm lauthals entgegen, nicht gerade ein Segen für Harrys hämmernde Kopfschmerzen.
„Spar dir deinen Zynismus, Kreacher“, murrte er, aber der Elf tat so, als hätte er ihn nicht gehört.
„Sein Frühstück steht schon im Esszimmer bereit.“

Seit Stunden durchgeweichte, eklig-matschige Cornflakes erwarteten ihn, die Milch bereits auf Zimmertemperatur, so wie jeden Morgen … oder zumeist Nachmittag. Harry hasste breiige Cornflakes. Bei den Dursleys hatte er sie häufig so essen müssen, da Tante Petunia in eben jenem Moment, da Harry kühle Milch auf knusprige Frühstücksflocken gegossen hatte, immer noch irgendetwas eingefallen war, das er unverzüglich zu erledigen hatte. Wäsche aufhängen, den Steinplattenweg zur Straße fegen, kurz zum Laden um die Ecke gehen und irgendeinen Unsinn kaufen, nach dem Dudley plötzlich verlangte, als hinge sein ganzes Lebensglück von einer bestimmten Sorte Fruchtaufstrich ab.
Sobald Harry wieder am Tisch saß, waren seine Knusperflakes zu einer undefinierbaren Masse geworden, die er so lustlos in sich hineingeschaufelt hatte wie heutzutage auch. Vielleicht war er von Hogwarts zu sehr verwöhnt worden, aber manchmal verdächtigte er Kreacher, dies nur zu tun, um ihn zu ärgern. Andererseits sollte er sich glücklich schätzen, dass ihm überhaupt jemand Essen zubereitete, denn Harry war nicht sicher, ob er selbst jeden Tag den Elan dafür aufbrächte.

Im Esszimmer erwartete ihn neben seinem Frühstück, das er aß, ohne etwas zu schmecken, auch ein weiterer Brief von Hermione; der dritte, seitdem er ihr das letzte Mal geantwortet hatte, wenn er nicht irrte. Er musste ihr schreiben, wenn er nicht wollte, dass sie Ron damit behelligte, ihn aus seiner Isolation zu zerren. Aber etwas in ihm hinderte ihn daran. Er fühlte sich wie blockiert, unfähig, diesen sozialen Konventionen gerecht zu werden, und Harry konnte nicht einmal sich selbst erklären, was sein verdammtes Problem eigentlich war.
Alleine der Gedanke daran, die Briefe zu öffnen und Antworten zu formulieren, laugte ihn aus.

Er langte nach dem Pergamentumschlag und schlurfte in den Salon, um ihn dort auf den Stapel ungeöffneter Briefe zu werfen, und schrie vor Schreck auf.
Vom Beistelltisch neben dem Kamin aus starrte ihn eine schwarzhaarige Puppe mit stechend-blauen Augen an, die er dort nicht hingestellt hatte. Im Gegenteil, diese Ausgeburt eines Gruselkabinetts sollte hinter Schloss und Riegel in Regulus‘ Zimmer sitzen.
Ihre unangenehm süßlich lächelnden Lippen widerten ihn an. Etwas an ihnen erschien Harry einfach nicht richtig. Vielleicht war es die Tatsache, dass diese sich zwar haptisch erhaben vom Gesicht abhoben, aber der Künstler sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie in einer anderen Farbe zu bemalen als den Rest des pausbackigen Gesichts.

„Kreacher!“
„Der Herr hat nach –“
„Warum steht das da?“ Harry gestikulierte fuchtelnd in Richtung der Puppe, ohne diese anzusehen.
„Kreacher hat sie in Master Regulus‘ Zimmer gefunden. Dort gehört sie nicht hin. Master Regulus pflegte nicht, mit Puppen zu spielen. Er bevorzugte –“
„Ist mir vollkommen egal, pack das Ding weg, weit weg – am besten: schmeiß es weg.“
„Aber diese Puppe gehörte einst Miss Lucretia, sie wurde eigens angefertigt nach ihrem Vorbild. Ein solch persönliches Erbstück der Familie Black kann Kreacher nicht wegwerfen!“, protestierte der Elf und wand sich gequält vor Harrys Füßen, wie er es immer tat, wenn er sich einem Befehl widersetzen wollte. Nicht zum ersten Mal fragte sich Harry, ob es Hauselfen körperliche Schmerzen bereitete, ihren Besitzern nicht zu gehorchen, Kreacher zumindest ließ es so aussehen.
„Schon gut, dann kuschel in deinem Nest damit, du darfst sie behalten. Ich will sie nur nicht mehr sehen“, lenkte er ein und zuckte die Schultern. An sich war es ihm völlig gleich, solange das Ding ihn nicht länger verschreckte.
„Kreacher wird sie der jungen Miss Sophie schenken, wie es sich für ein Erbstück gehört“, murmelte der Elf im Rausgehen vor sich hin.
„Mach das“, seufzte Harry, nicht ahnend, dass Kreacher dies als Genehmigung interpretierte, noch am selben Abend im Hause Crouch aufzutauchen und eben dies in die Tat umzusetzen.

Er las Hermiones Brief vom Boden auf, der ihm beim Anblick der Puppe vor Schreck entglitten war, und setzte seine Mission fort, diesen dorthin zu legen, wo er kollektiv mit den anderen ignoriert werden konnte.

„Ginny hat mich verlassen“, grummelte er vor sich hin, als wäre die wenige Tage alte Trennung eine Erklärung für seine schon Monate anhaltende Niedergeschlagenheit (denn jede fadenscheinige Ablenkung war einfacher zu ertragen als die Wahrheit), und zuckte ein zweites Mal heftig zusammen, als Kreacher wieder neben ihm auftauchte – ohne Puppe.
„Gute Neuigkeiten hört Kreacher, dreckige Muggelfreundin, die sie ist, hat –“
„Halt die Klappe!“, zischte Harry und beerdigte den Briefstapel in einer Schublade des Sekretärs, um von diesem nicht länger verhöhnt zu werden.

„Das rothaarige Wiesel –“
„Was habe ich gesagt, Kreacher?“
„Master hat nicht präzisiert, wie lange genau Kreacher die Klappe halten soll.“
Wenn er es so genau wissen will, kann ich ihn auch für immer schweigen lassen, dachte Harry einen zornigen Moment lang und brachte es doch nicht über sich. Obgleich er und Ron Hermione wegen ihrer Belfer … pardon, B. Elfe. R. Sache nicht selten belächelt hatten, musste er zugeben, dass sie so ganz Unrecht nicht hatte. Außerdem spräche dann wirklich niemand mehr mit ihm in diesem trostlosen Gemäuer … und das konnte er sich aller Selbstvorwürfe zum Trotz nicht antun.

„Sprich nicht schlecht über Ginny oder die Weasleys. Niemals“, sagte er stattdessen und fügte in einem Anflug kindischer selber-Manier hinzu: „Deine heilige Saphira ist auch eine Blutsverräterin. Sie kannte Muggelstämmige, denen im Krieg der Prozess gemacht wurde.“
Wen eigentlich, wunderte er sich im Stillen. Ihm fiel kein muggelstämmiger Schüler ein, der mit Slytherins – geschweige denn mit jemandem, der Draco Malfoy derart nahe gestanden hatte – befreundet gewesen wäre. Aber was wusste er schon über Saphira Black?
Gar nichts. Jedenfalls nichts, das rechtfertigte, wie positiv ihre letzten Treffen in seiner Erinnerung anmuteten. Es war nett gewesen, wirklich nett, und das verklärte seine Sicht auf die Realität. Sie war Malfoys Exfreundin, einer Familie von Todessern entstammend.
Sie mochte eine gute Mutter sein, hatte (indem sie, um Sophies Willen, die Todesser verließ) eine richtige Entscheidung für sich und ihr Kind getroffen, doch außerhalb ihrer Mutterrolle blieb sie, wer sie war: eine Slytherin, eine steife, verschlossene Reinblüterin, die nicht hinter ihre schicke Fassade blicken ließ.
Eine Frau, die er nicht im Mindesten verstand – nicht, dass er im Frauenverstehen jemals irgendeine Expertise besessen hätte –, die wiederum vorgab, zu begreifen, was in ihm vorging. Was qualifizierte sie eigentlich dafür? Rein gar nichts. Dennoch … Harry vermochte nicht zu leugnen, dass sie zur rechten Zeit die richtigen Worte gefunden, den Nagel so präzise auf den Kopf getroffen hatte, dass es ihn gleichzeitig gruselte wie faszinierte.

Auf diesem Ohr schien Kreacher selektiv taub zu sein, denn das einzige, was sein Interesse auf sich zog, war selbstredend der Name Saphira Black.
„Wann können wir mit Miss Blacks Besuch rechnen? Hat sie bereits ein Datum genannt? Kreacher muss das Essen vorbereiten.“
„Ich frag sie, wenn es dich glücklich macht“, stöhnte Harry und ließ den selig lächelnden Elf stehen.
Er war unsicher, ob es eine gute oder wahnsinnig schlechte Idee war, Kreachers Wunsch nachzukommen, aber in ihm war eine Neugier entflammt, die sich über diese Ausrede, sie wiederzusehen, freute.

+

20. – 24.03.2000

Tatsächlich fiel Harry der folgende Besuch im Fuchsbau leichter, obgleich Mollys Begeisterung über die deutlich entspanntere Stimmung zwischen Harry und Ginny ihm Sorgen bereitete, dass das Wissen um ihre endgültige Trennung ihr womöglich ein weiteres Mal das Herz bräche.
Sogar Ron besuchte er in der darauffolgenden Woche gleich zweimal hintereinander im Laden. Am Montag bloß, um auf dem Weg zur Spendersitzung im St Mungo (bei der final über Umfang und Kosten der neuen Station diskutiert wurde) kurz Hallo zu sagen, am Mittwoch gemeinsam mit Andromeda und Teddy, um seinem Patensohn einen ganzen Haufen kindgerechter Scherzartikel zu kaufen.

Besonders seine Zeit mit Teddy munterte ihn aktuell erheblich auf und so stimmte er zögerlich zu, als Andromeda ihn für Freitag zu einer größeren Runde einlud, obgleich alleine der Gedanke an Menschenansammlungen, bei denen seine aktive Teilnahme verlangt wurde, ihn mental so sehr erschöpfte, dass er glaubte, davor und danach 48 Stunden am Stück schlafen zu müssen. Einige der noch verbliebenen Ordensmitglieder sowie die gesamte Familie Weasley waren geladen … und wider Erwarten ertrug Harry die Gesellschaft für ein paar Stunden, ohne jemanden ungerecht anzufahren oder sich gedanklich auszuklinken. Die Gespräche flossen mühelos dahin und zumeist reichte es aus, wenn er zustimmend nickte oder zwei, drei Worte beitrug; niemand verlangte ihm etwas ab, das er nicht leisten konnte. Und selbst Ginny lachte wieder in seiner Gegenwart. Merlin, wann hatte er sie das letzte Mal lachen sehen? So einsam er sich nach wie vor fühlte und so wenig er selbst emotional zu den anderen durchdrang, wusste er doch, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Nicht nur für sich, sondern auch für ihn.
Ein Wermutstropfen blieb: Die Trennung hatte ihn der Illusion beraubt, zerbrochene Dinge wieder in Ordnung bringen zu können. Dies war endgültig, das spürte er. Genau wie die Toten, die nicht zurückkämen, würden auch er und Ginny nie wieder ein festes Paar sein und vermutlich war sie sich dessen schon länger bewusst gewesen, als er es hatte wahrhaben wollen.

Etwas in ihm mahnte dennoch, das bereits geplante Abendessen mit Saphira in zwei Wochen lieber noch nicht zu erwähnen. Genau genommen war es schließlich nicht er, der mit ihr essen wollte. Nein, es war Kreacher, der ihm seit Saphiras Besuch Tag ein, Tag aus damit in den Ohren lag. Beinahe, als hätte auch der Elf es satt, mit Harry als einzige Gesellschaft in diesem viel zu großen Haus alleine zu bleiben.

+

Freitag, 07.04.2000

Ein geeignetes Datum für dieses Abendessen zu finden, hatte sich als relativ aufwändiges Unterfangen herausgestellt, da Saphira zu Harrys Überraschung einen relativ straff und weit im Voraus durchgeplanten Kalender führte, was nicht zuletzt den langen Wartezeiten für Portschlüssel geschuldet war, die sie für ihre Besuche bei Andromeda in Sevenoaks benötigte. So trafen sie sich am frühen Freitagabend vor Saphiras Rückreise nach Cornwall.

„Ich habe eine Überraschung für dich“, begrüßte Harry eine geschafft aussehende Saphira, als diese über die Türschwelle trat. Sein erster Blick fiel auf ihre rot geschminkten Lippen, der zweite auf Sophie, die von einem Tragetuch gehalten auf dem Rücken ihrer Mutter döste.
„Ihr müsst nachher nicht mit dem Zug zurückfahren“, erklärte er und deutete dabei auf eine schlichte Tonvase neben dem mächtigen Klotz von einem Schuhregal, das heutzutage merkwürdig einsam, gar verlassen wirkte – kein Vergleich zu Zeiten des Ordens, in denen sich hier regelmäßig ein bunter Haufen verschiedenster Schuhe aufgetürmt hatte.

„Dieser Portschlüssel bringt euch heute Abend um halb elf zurück nach Cornwall, direkt in die Eingangshalle des Crouch-Anwesens, wo euer Gepäck schon auf euch wartet. Ariadne hat es eben bei Andromeda abgeholt.“
„Salazar sei Dank“, seufzte sie und streifte den Reiseumhang von ihren Schultern, wodurch Sophie müde blinzelnd erwachte. „Heute ist wirklich nichts so gelaufen, wie es geplant war, aber das ist die erste Abweichung, über die ich mich freue.“
Harry sei Dank“, korrigierte er mit einem schiefen Grinsen, doch eine Spur verunsichert. Sie wirkte verschlossener als bei ihren vorherigen Treffen und er wusste nicht recht, damit umzugehen. Verschlossenheit war in den vergangenen Monaten schließlich sein Zustand gewesen. „Einer der wenigen Vorteile, ich zu sein. Mir schlägt man heutzutage im Ministerium selbst kurzfristig nichts ab.“
„Das ist wirklich sehr nett von dir, Harry.“ Erleichterung befiel ihn, denn Saphira klang darüber so ehrlich erfreut, dass er sich zum ersten Mal seit Wochen fühlte, als hätte er etwas richtig gemacht.
Ein Glück, dass er sich heute in letzter Sekunde dazu aufgerafft hatte, den bestellten Portschlüssel abzuholen. Nicht nur das: Er war geduscht, trug frische Klamotten und sogar seine Zähne waren geputzt – und das alles vor 16 Uhr.

„Kannst du das Monster kurz halten, während ich das Tuch abnehme?“, bat Saphira und wandte ihm den Rücken zu. „Wenn das so weitergeht, sehe ich bald aus wie eine alte Hexe mit Buckel.“
Momentan sah es eher aus, als hätte sie zwei Köpfe, aber Harry behielt diesen Gedanken für sich und sagte nur: „Klar.“

Mit dem Zeigefinger strich er über den winzigen Handrücken, damit sie sich nicht erschreckte, bevor er ihr behutsam unter die Arme griff.
„Na, du. Hattest du einen langen Tag?“, fragte er an Sophie gewandt, deren zuckersüß verschlafene Miene ihn unweigerlich zum Lächeln brachte. Obwohl sie erst seit kurzem in derart persönlichem Kontakt standen und all seiner rationalen Zweifel zum Trotz, fühlte es sich seltsam vertraut an, Zeit mit den beiden zu verbringen.

Durch einen winzigen Spalt breit geöffnete Augen beobachtete Sophie ihn und fuhr, anstatt zu antworten, damit fort, an einem Zipfel ihres Ärmels zu nuckeln.
„Das kann man wohl sagen“, erzählte Saphira anstelle ihrer Tochter, indes sie den Zauberstab locker aus dem Handgelenk kreisen ließ, um die Verschnürung zu lösen. „Eigentlich hätte Andromeda bis eben auf sie aufgepasst, da ich einige Einkäufe erledigen und einen Termin im St Mungo wahrnehmen musste, denn mein …“, sie hielt kurz inne, ehe sie weitersprach, „Heiler konnte aufgrund akuter Krankheitsfälle diese und nächste Woche keine Hausbesuche realisieren. Aber dann bekam Teddy über Nacht Fieber und da wollte ich ihr Sophie nicht zusätzlich auflasten – zumal auch ich kein krankes Kind gebrauchen kann.“

„Hast du noch was von Andromeda gehört? Geht es Teddy sehr schlecht?“ Harrys Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen, als hätte ihm jemand eine Faust direkt in die Magengrube gerammt.
„Sie hat mir vorhin geeult, es geht ihm schon sehr viel besser. Ein Heiler war am Mittag bei ihnen und hat ihm einen Fiebersaft gegeben. Es sei nichts Ernstes und er sollte morgen schon wieder auf den Beinen sein, sagt der Heiler. Aber Teddy freut sich bestimmt, wenn du ihm am Sonntag einen Genesungsbesuch abstattest.“
„Das mache ich“, bekräftigte Harry erleichtert und überreichte ihr Sophie, die zwar nicht dagegen protestierte, von ihm getragen zu werden, aber sehnsüchtig die Arme in Richtung ihrer Mutter ausstreckte. Trotzdem wusste er ihr gewachsenes Vertrauen in ihn zu schätzen, das ein ungeahntes Glücksgefühl in ihm wachrief.

„Tut mir leid, dass dein Tag so anstrengend war“, fügte er hinzu, um auf ihr ursprüngliches Gespräch zurückzukommen.
„Ach, so ist es manchmal. Wir haben aber auch noch etwas Schönes unternommen und Augustus, einen Freund von mir, besucht.“
„Mag ich nicht“, nuschelte Sophie dazwischen.
„Was magst du nicht?“
„Sustus.“
„Augustus magst du nicht?“, wiederholte Saphira und musste kichern, als Sophie vehement den Kopf schüttelte.
„Aber seine Katze mochtest du.“
„Auch eine Katte haben!“, freute sich Sophie, musste jedoch fast im selben Moment schon wieder gähnen und lehnte den Kopf müde an Saphiras Schulter.
„Ja, wir schauen mal, wenn wir fertig eingerichtet sind“, meinte diese und tätschelte ihr sanft den Rücken.

„Also … warst du heute auf einem Date?“, erkundigte er sich halb neugierig, halb auf der Suche nach einem Gesprächsaufhänger.
„Ich? Ach was, Gus und ich sind schon ewig Freunde – und ich date nicht mehr, dieser Hippogreif hat seine letzte Feder längst gelassen.“
Die unvermittelte Ernsthaftigkeit, welche ihre Stimme bei den letzten Worten tränkte, versetzte ihm einen kleinen Dämpfer.
Nun, da die meisten Todesser hinter Schloss und Riegel saßen, war es wohl schwierig geworden, ihrem Männergeschmack gerecht zu werden, dachte Harry eine zynische Sekunde lang, dennoch konnte er nicht an sich halten und entgegnete: „Das wirst du Kreacher dann allerdings selbst erklären müssen. Ich bin mir ziemlich sicher, er ist der Ansicht, dass du heute ein Date mit ihm hast.“
„Und nun überlässt du es mir, sein Herz zu brechen?“ Zumindest ein Hauch von Amüsement zeichnete sich auf ihrer schwer durchschaubaren Miene ab.

„Da musst du wohl durch.“
Irgendetwas machte ihn nervös. Eventuell war es doch keine so gute Idee gewesen, Saphira einzuladen. Worüber sollte er überhaupt einen ganzen Abend lang mit ihr reden? Ausgerechnet er, der momentan kaum ein Gespräch länger als fünf Minuten am Laufen hielt.

„Hast du Hunger?“, fragte er schließlich, nachdem sie einige quälende Sekunden synchron durch die – einst imposante, heutzutage eher einer überdimensionierten Abstellkammer gleichenden – Eingangshalle (und bloß nicht einander an-) geschaut hatten, in der es bereits herrlich nach Kreachers angekündigtem Festmahl roch.
„Oh ja, sehr sogar“, bestätigte Saphira zu seiner großen Erleichterung mit einem zaghaften Lächeln, das sein Herz erreichte. Harry vermochte nicht zu sagen, was es war, aber etwas an ihrer sanften, ruhigen Art vermittelte ihm ein wohliges Gefühl. Dennoch kam er mehr und mehr dahinter, was sie bisweilen derart unmenschlich wirken ließ: Zwischen ihr und der Umwelt schwebte eine unsichtbare, doch massive Barriere, die nur selten und stets ausschließlich von ihrer Seite aus mit der Bekundung rein positiver Emotionen durchdrungen wurde.

„Aber hast du ein Gästezimmer, wo wir die Kleine schlafen legen können? Eigentlich hätte sie ihren Mittagsschlaf bei Andromeda gemacht und wäre nun frisch erholt, aber … unter den gegebenen Umständen war sie den ganzen Tag auf den Beinen.“
„Ehm …“ Harry kratzte sich verlegen am Kopf. Zwar verfügte das Haus über eine Unzahl an Räumen, jedoch …
„… würde ich ganz ehrlich gesagt nur mein Bett anbieten wollen, weil es das einzige ist, in dem ich die Matratze ausgetauscht habe, und die anderen … naja, die muffen ziemlich stark. Ich werde meins neu beziehen, dann darf sie darin gerne schlafen. – Wenn das für dich in Ordnung ist. Komm einfach mal mit hoch, ich zeig’s dir.“

~

„Auch ein bisschen karg hier, findest du nicht? Als wärst du nur zwei Tage zu Besuch und wolltest gleich wieder los“, kommentierte Saphira die dürftige Einrichtung Harrys Schlafzimmers, das neben Bett und Nachttisch lediglich seinen Schrankkoffer voll persönlicher Habseligkeiten beherbergte.
„Hm“, grummelte er und zuckte ob dieser ungefragten Bewertung seines Schlafzimmerambientes abwehrend die Schultern. Verkehrt lag sie damit durchaus nicht, doch anstatt etwas zu erwidern, machte er sich stumm daran, die Decke von ihrem Bezug zu befreien.

„Du musst das nicht tun, ich erledige das und beziehe es dir bevor wir gehen auch nochmal frisch“, wandte Saphira ein und sah sich dabei im Raum um, vermutlich auf der Suche nach einem Ort, an dem sie Sophie solange absetzen konnte.
„Unsinn, ihr seid meine Gäste. Setz dich“, widersprach Harry, hielt auf Saphiras skeptisch gehobene Brauen hin inne und ergänzte: „Keine Ahnung wohin, aber …“ Ein warmherziges Lachen stahl sich auf ihre blassen Züge, das Harrys Verlegenheit eine Spur weniger unangenehm machte.
„Das ist lieb von dir, Harry.“

Umständlich pfriemelte er eine Ecke des Lakens unter die Matratze; den Zauberstab zu nutzen und sich mit seinen erbärmlichen Haushaltsfähigkeiten endgültig zum Trottel zu machen, wagte er lieber nicht. Wahrscheinlich hätte er einfach Kreacher bitten sollen, dies für ihn zu erledigen, aber es war ihm unangenehm genug, dass der Elf neuerdings geflissentlich jeden Morgen seine dreckige Wäsche vom Boden auflas und ihm auch sonst überall hinterher räumte – vermutlich in stiller Hoffnung, seine angebetete Saphira stünde einmal unangekündigt vor der Türe …

„Mach dir das nicht zur Gewohnheit.“
Irritiert sah Harry von seiner Arbeit auf, nicht ahnend, wovon sie sprach. Glühend heiße Scham befiel ihn, kroch von seiner Magengegend in Richtung des Halses und legte sich peinigend rot auf seine Wangen, als seine Augen auf die (nur noch zu einem Viertel gefüllte) Flasche Traumlos-Trank trafen … und die drei leeren Phiolen daneben. Es gehörte schon so selbstverständlich zu seinem Alltag, dass er überhaupt nicht daran gedacht hatte.

„Das Absetzen ist grauenhaft.“
„Sprichst du aus Erfahrung?“, hielt Harry verteidigend dagegen und schon in der nächsten Sekunde tat ihm sein harscher Tonfall leid.
„Ich habe tagelang kein Auge mehr zugetan“, hauchte sie mit abwesendem Blick und in einer Stimmlage, die Harry vermuten ließ, dass es diesmal Saphira war, an der die Erinnerungen zerrten, sie mit scharfen Klauen zurück in die Vergangenheit rissen. „Die Albträume fühlten sich lebendiger an denn zuvor.“
„Wovon hast du –“
„Das tut nichts zur Sache.“ Nun hatte sie selbst wohl mehr von sich preisgegeben, als ihr lieb war. Wenigstens damit war er jetzt nicht mehr alleine.
Seine Augen fanden die ihren und Harry hielt unbewusst den Atem an. Für die Dauer eines Wimpernschlags beschlich ihn der Eindruck, durch ihre sorgsam gewahrte Fassade hindurch in einen ähnlich schrecklichen Abgrund zu schauen, wie jener gähnende Schlund, der sich in seinen Träumen vor ihm auftat. Ein Blinzeln später wirkte sie wieder so freundlich distanziert wie zuvor. Der Abgrund fest verschlossen, als hätte das klaffende Loch in ihrer Contenance nie bestanden.

„Ich nehm das auch gar nicht oft, nur … ab und zu mal.“ Ihr skeptischer Blick strafte seine Worte Lügen, doch Harry war froh, dass sie nicht weiter darauf einging. Dennoch wunderte er sich im Stillen darüber, was sie schon erlebt haben könnte, um diesen Trank zu benötigen. Er dachte an ihren Krankenhausaufenthalt während des fünften Schuljahres, ihre häufigen Termine bei Madam Pomfrey, über welche die Mädchen getuschelt hatten … ihr grässliches Erscheinungsbild damals. Möglicherweise hatte es etwas damit zu tun. Und weshalb war sie heute eigentlich im St Mungo gewesen?

~

„Und wenn du aufwachst und ich zu dir kommen soll, was machst du dann?“, fragte Saphira eine Viertelstunde später vor dem viel zu großen Bett kniend, in dem die Zweijährige unfassbar klein und zerbrechlich aussah. Etwas an diesem Anblick stimmte Harry traurig, aber er konnte den Finger nicht ganz darauf legen, was es war.
„Drache“, murmelte Sophie und hielt ihr Plüschtier vors Gesicht.
Harry konnte sich nicht helfen, die Tatsache, dass es ausgerechnet ein Kuscheldrache war, erinnerte ihn unweigerlich an Draco, obwohl dieser rein rechnerisch nicht als Vater infrage kam, wenn sie seit Beginn des sechsten Schuljahres getrennt waren … wie Saphira schließlich nicht müde wurde, ihm zu erzählen. Letztlich wohl doch bloß ein ganz normales Spielzeug für Magierkinder, das er nicht überinterpretieren sollte.

„Drew Selwyn. Wir wollten sogar mal heiraten“, hatte sie bei ihrem letzten Treffen erzählt. Auch ein Todesser, eine ambivalentere und vermutlich deutlich gefährlichere Person noch dazu.
Vielleicht war er des Rätsels Lösung …

„Richtig, dann drückst du ganz fest deinen Drachen und ich komme sofort zu dir“, fuhr Saphira leise fort und streichelte ihrer Tochter übers Haar. „Magst du es ausprobieren?“
Sophie tat wie ihr geheißen und nun entdeckte Harry auch die kleine Stoffkugel in Saphiras Hand, die augenblicklich aufleuchtete.

Im Türrahmen lehnend lauschte er dem Schlaflied, das sie ihrer Tochter sang, und schloss für einen Moment die Augen. Ein warmes Gefühl breitete sich von seiner Magengegend bis in die Fingerspitzen aus und als er die Lider wieder aufschlug, konnte er sich des Eindrucks nicht verwehren, dass der Raum im flackernden Schein der Kerze auf dem Nachtschränkchen mit einem Mal gemütlicher wirkte, einladender, lebendiger, obgleich sich – abgesehen von seinem Besuch – nichts hier drinnen verändert hatte.
Eines war jedenfalls unleugbar: Trotz ihres jungen Alters machte Saphira ihre Sache als Mutter verdammt gut. Und wer war er, darüber überhaupt zu urteilen? Schließlich war seine Mutter kaum älter gewesen … und Harry in Sophies Alter längst eine Waise.

„Was auch immer“, dachte er unbeabsichtigt laut – zu viel Zeit mit sich selbst zu verbringen hatte seinen sozialen Fähigkeiten einen deutlichen Abbruch getan – und lenkte Saphiras Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment auf sich. Dieselbe unverwechselbare Liebe einer Mutter, mit der auch Lily ihn auf den Bildern in seinem Fotoalbum bedacht hatte, prägte das Lächeln auf ihren kirschroten Lippen und Harry konnte nicht anders, als es zu erwidern.

Kaum drei Monate waren ins Land gestrichen, seitdem er Saphiras Haut mit Tante Petunias grässlichem Geschirr verglichen hatte; heute lag ihm nichts ferner, als diese beiden Frauen miteinander in Verbindung zu bringen. Suspekt war sie ihm bisweilen noch immer – und er wunderte sich zunehmend, wie tief sie eigentlich im Sumpf der Todesser gesteckt hatte, wenn sie mit einem davon sogar beinahe den Bund der Ehe eingegangen wäre –, aber er konnte nicht leugnen, dass ihre Gesellschaft ihm angenehm war.

„Wollen wir?“ Ihr Flüstern riss ihn so unvermittelt aus dem Strudel seiner Gedanken, dass er beinahe laut geantwortet und das schlafende Kind womöglich aufgeweckt hätte, doch er rief sich gerade rechtzeitig zur Raison, nickte stattdessen bloß mit halb geöffnetem Mund und kam sich vor wie ein Idiot.

~
 
„Miss Black sitzt hier“, bestimmte Kreacher und deutete auf den Stuhl vor sich, den er mit einer tiefen Verbeugung für Saphira zurückzog. „Kreacher hat Miss Black ein Kissen gewaschen, damit sie bequem sitzt.“
Über so viel Tatendrang staunte Harry nicht schlecht, indes er sich ihr gegenüber auf einem ungepolsterten Stuhl niederließ. Sogar das Silbergedeck an Saphiras Platz hatte der Elf poliert, Harrys nicht. Noch dazu stand dort ein deutlich in die Jahre gekommener, aber akribisch gereinigter Kinderhochstuhl, von dem Harry nicht einmal wusste, dass sie ihn besaßen – oder dass er ihn besaß, obgleich es sich nicht selten so anfühlte, als gehörte all dies Kreacher und er wäre nur ein ungebetener Gast. Ein bisschen war es schließlich auch so.

„Die junge Miss Sophie wird nicht mitessen?“, erkundigte sich der Elf eine Spur enttäuscht.
„Nein, Kreacher, sie schläft schon. Aber ich danke dir.“ Sie legte die Stoffkugel gut sichtbar auf den Tisch zwischen ihnen. „Ein Glück, dass ich diesen Drachen überall mit hinschleppe. Ohne hätte ich sie wahrscheinlich nur schwer dazu bewegen können, ganz alleine in einem fremden Raum zu schlafen. Aber sei gewarnt: Es ist gut möglich, dass sie in der ersten Stunde noch ein oder zweimal aufwacht und ausprobiert, ob ich auch wirklich komme. Manche sagen, man soll die Kinder schreien lassen, aber … ich kann das nicht. Ich möchte, dass sie sich immer auf mich verlassen kann. Und ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie dort ganz alleine liegt und Angst hat oder traurig ist. Vielleicht bin ich zu weich …“

„Finde ich nicht“, widersprach Harry. „So eine Mutter hätte ich mir auch gewünscht.“ Er biss sich auf die Zunge. Verdammt, wo kam dieses Geständnis nun wieder her? Einen Seelenstriptease über seine verkorkste Kindheit wollte er wirklich nicht hinlegen.
„Du bist bei deiner Tante und deinem Onkel aufgewachsen, oder?“
„Hm“, machte er nur, ob seiner Scham unfähig, den Unwillen, dieses Thema zu vertiefen, adäquat auszudrücken.
„Meine Mutter und ich hatten auch ein schwieriges Verhältnis – kommt in den besten Familien vor, schätze ich. Andererseits … gehörten wir ohnehin nicht zu den besten Familien, wo sie doch als unverheiratete Mutter einen tendenziell eher schlechten Ruf hatte. Sie hat mich immer davor gewarnt, so zu enden wie sie. Trotzdem glaube ich, dass sie mehr Trauer als Ärger empfinden würde, wüsste sie, wo ich heutzutage stehe.“
Da waren sie wieder: Blacks merkwürdige Aussagen, mit denen er nichts anfangen konnte, das zynische Lächeln, das ihn früher so abgestoßen hatte und heute wundern ließ, ob sie mehr Schmerz in sich trug, als er zu ahnen imstande war.

In seinem ganzen Leben war er noch nie so froh gewesen, Kreacher zu sehen, der ein Tablett mit Häppchen auf dem Kopf balancierend in den Raum getapst kam und ihn von der Verpflichtung einer Antwort befreite, zumindest für den Moment.

„Oh, für mich kein Wein, danke“, wies sie Kreacher an.
„Würde ein Tee Miss Blacks Wünschen gerecht?“
„Gerne, solange es nichts mit Minze ist.“
Der Elf überlegte kurz und nickte dann eifrig, bevor er – ohne Harry auch nur einen Hauch von Beachtung angedeihen zu lassen – davonstapfte.
„Ich nehm ein Wasser“, rief Harry ihm nach und ahnte bereits, dass dieser Wunsch auf mysteriöse Weise in Vergessenheit geraten würde.
„Wer mag denn keine Minze?“, wunderte er sich und erntete einen Blick, so kalt, dass es ihn schauderte. Ein weiteres Mal glaubte er, dahinter steckte mehr denn rein geschmackliche Abneigung, doch obgleich diese rätselhafte Verschlossenheit seine Neugier weckte, begriff er, dass der rechte Zeitpunkt für weitere Nachfragen noch nicht gekommen war.

„Sag mal“, begann er, um ja keine noch unangenehmere Pause entstehen zu lassen. Unter ihren wachsamen Augen wurde er zunehmend nervöser und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die schiere Unmenge an Besteck, die Kreacher um seinen Teller herum drappiert hatte – unwissend, was genau er damit anfangen sollte.
„Ja?“
„Wen kanntest du eigentlich bei den Prozessen gegen die Muggelstämmigen?“
Vielleicht jemanden auf Seiten der Kläger, nicht der Angeklagten, schoss es ihm in den Sinn.
„Augustus“, erklärte sie ohne Umschweife und zerschlug seine vorverurteilende Vermutung. „Augustus Pye. Er ist –“
„Heiler?“, unterbrach Harry sie.
„Ja, fast. Das heißt: bald.“
„Er hat für den Orden gearbeitet, oder?“
Saphira nickte bloß.
„Hätte ich dir irgendwie nicht zugetraut.“
„Was? Mit einem Muggelstämmigen befreundet zu sein?“
Nun war es an Harry, bestätigend den Kopf zu neigen.
„Hat auch eine ganze Weile gedauert, bis ich öffentlich zu meinen Freundschaften gestanden habe“, gab sie zu und es hatte nichts Abwehrendes; tatsächlich schien sie diesbezüglich mit sich im Reinen zu sein. Wahrscheinlich war sie wirklich längst nicht mehr die traditionsbewusste, konservativ-rassistische Reinblüterin, die er bisweilen noch immer in ihr sah – oder sehen wollte. Immerhin hatte Tonks mehrere Monate mit ihr zusammen gelebt, so schlimm konnte Saphira demnach nicht sein, oder?
Seine Ambivalenz ihr gegenüber machte ihn ratlos.

„Und wie passt das damit zusammen, dass du einen Todesser heiraten wolltest?“, platzte es aus ihm heraus, bevor der Gedanke sein Bewusstsein überhaupt erreicht hatte.
Erst denken, dann sprechen, erst denken, dann sprechen, erst denken, dann sprechen, mahnte die Vernunft – zu spät.
Überrascht blinzelte sie ihn durch helle, ungetuschte Wimpern hindurch an. Ihre müden Augen wirkten heute gar nicht so erschreckend groß – oder der Lippenstift lenkte gut davon ab. Vielleicht hatte er schlicht und ergreifend zu viel Fokus auf ihre leicht aus der Norm fallenden Gesichtsproportionen gelegt, dass sein Hirn nur mehr das wahrnahm.
„Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb Augustus noch lebt, mal darüber nachgedacht?“

Wieder betrat Kreacher gerade im rechten Moment – diesmal wohl zu Saphiras Erleichterung – den Raum und kredenzte die zweite Vorspeise.
„Lassen Sie es sich gut schmecken, Miss.“ Er verbeugte sich so tief, dass seine Nasenspitze den Boden berührte.
„Warte mit deinem Antrag bis zum Nachtisch, ja?“, spottete Harry, um die Stimmung aufzulockern, doch Saphira lachte nicht.

Mit wachsender innerer Unruhe versuchte er, es ihr gleichzutun und sich auf das Essen zu konzentrieren, doch die Unmenge an Messern, Gabeln und Löffeln überforderte ihn. Vorsichtig schielte er zu ihr herüber, um herauszufinden, wo sie begonnen hatte. Wie schon in Fortescues Eissalon fiel ihm ihre kerzengerade Haltung auf, die vielleicht rückenschonend, aber keinesfalls bequem sein konnte. Es passte zu ihren steifen, konservativen Roben, die sie nach wie vor trug.
Da er in der akkuraten Aufreihung von Messern und Gabeln rechts und links ihres Tellers keine Lücke entdecken konnte, nahm er an, sie müsste außen begonnen haben, und beschloss, dasselbe zu tun. Etwas zu hastig griff er danach und schob das Silber klirrend gegeneinander.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Saphira ohne den Hauch von Häme in der Stimme, offenbar aufrichtig bereit, ihm diese unnötig komplizierte Konvention nahezubringen.
Einige Sekunden lang starrte Harry peinlich berührt auf seinen Teller, fühlte ihren Blick auf sich und log trotz ihres netten Angebots: „Danke, ich komm klar.“

Als er ihr Besteck wieder auf dem Teller kratzen hörte, wagte er endlich, sie anzusehen. Ein weiches Schmunzeln umspielte ihre roten Lippen, die dem blassen Gesicht einen Klecks Leben verliehen. Für einen Moment blieb Harry an der scheinbar perfekten Symmetrie ihrer Oberlippe hängen, ein Detail, das er noch nie bewusst betrachtet hatte. Sie war keine konventionelle Schönheit, bei weitem nicht, doch ihre Mängel fesselten seine Aufmerksamkeit. Das Puppenhafte an ihr, unter dem sie ihre Persönlichkeit, Wesenszüge, Träume und Fehler nur bruchstückhaft erahnen ließ, irritierte wie faszinierte ihn, pichte ihn an, den Mensch dahinter zu ergründen, der mit erschreckend wenigen Sätzen so präzise auf den Punkt gebracht hatte, was seine Seele quälte, dass in Harry das Bedürfnis wuchs, auch in die ihre zu blicken.

„Gus hat mich dasselbe übrigens in Bezug auf dich gefragt“, sagte sie aus dem Nichts heraus, sodass Harry vor Schreck beinahe die Gabel hätte fallen lassen.
„Hm?“
„Ob das hier ein Date ist“, präzisierte sie in einem Tonfall, der die vollkommene Absurdität des Gesagten implizierte und Harry für den Bruchteil einer Sekunde kränkte. Nicht, dass er ein Date mit Saphira Black haben wollen würde, keinesfalls, aber ganz so lächerlich konnte es doch nicht sein, mit ihm auf ein Date zu gehen, oder?
„Na, ist es doch auch“, hielt er dagegen. „Du hast ein Date mit Kreacher.“
Diesmal kicherte sie, hielt dabei wohlerzogen die Serviette vor den Mund, doch ihr ehrliches Amüsement war ansteckend, weckte den Anflug eines alten, längst totgeglaubten lustigeren Harrys in ihm. Seine Schultern – von denen er gar nicht bemerkt hatte, dass er sie anspannte – entkrampften sich ob der körperlich spürbar gelockerten Atmosphäre.

Sekunden später erschien der Elf wie gerufen mit der Hauptspeise.

„Es ist kompliziert“, begann Saphira, indes sie konzentriert ihr Gemüse kleinschnitt.
„Was?“ Harry hatte nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wovon sie sprach.
„Drew und ich … Meine Mutter wollte, dass wir heiraten. Das war mein schlimmster Albtraum. Ich wusste mein Leben lang, dass der Tag kommen könnte, an dem sie derartiges von mir verlangt, emotional darauf vorbereitet war ich trotzdem nicht. Für einige Tage zog ich in Erwägung, mich lieber umzubringen, als dem Folge zu leisten. Aber ich lernte ihn kennen … meine Mutter starb – und ich war ganz alleine … war ich nicht, aber es fühlte sich so an. Er war da und … in jugendlicher Naivität verknallte ich mich in ihn. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte sicherlich auch, dass ihn zu heiraten ein einfacher Weg gewesen wäre, mein Erbe und damit das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, zu behalten. Aber wie du siehst, habe ich darauf verzichtet. Nachdem ich untergetaucht bin, hat er mir geschrieben, viele Male. Er hat die Briefe zu Andromeda geschickt, in der Vermutung, dass sie mich erreichen würden. Haben sie. Andromeda hätte Grund gehabt, sie mir zu unterschlagen, denn angesichts meiner emotionalen Instabilität damals hätte wohl kaum jemand meinem Urteilsvermögen getraut. Aber sie hat immer gesagt, es sei wichtig, dass ich mit allen zur Verfügung stehenden Informationen meine eigene Entscheidung treffe. Und das hat mehr bewirkt als jeder Überredungsversuch es vermocht hätte.“

„Sie weiß, wie das ist“, murmelte er und fragte sich, ob sie wirklich so anders, so viel verurteilenswerter war denn Sirius und Andromeda. Immerhin hatte sie den Absprung aus eigenem Antrieb heraus gewagt, später als Sirius zwar, aber in Anbetracht der konservativen Strukturen, in denen sie aufgewachsen war, hatte sie als Frau vielleicht ganz andere Hindernisse überwinden müssen, von denen er sich keine rechte Vorstellung machen konnte.
„Ich habe auf keinen seiner Briefe reagiert. Ich hätte jederzeit zurückgehen und mich von ihm finanziell absichern lassen können. Das Haus meiner Mutter hätte mir gehört – und wegen diesem hier hätte ich dich wohl mindestens auf eine Ausgleichszahlung verklagen können. Habe ich aber nicht.“

„Hm“, war alles, was ihm mit einem Mund voller Brokkoli darauf einfiel, da er sich noch immer uneins war, was er eigentlich von ihr halten sollte.
„Drew ist kein schlechter Mensch, kein Todesser aus Überzeugung. Opportunist trifft es wohl am ehesten – was keine Entschuldigung ist. Aber er hatte es nicht leicht im Leben und Lucius … Lucius hat ihn ziemlich in die Ecke gedrängt. Ich bin davon überzeugt, wäre er nicht so alleine gewesen … hätte er etwas gehabt, wofür es sich zu kämpfen lohnt, hätte er andere Wege gefunden. Wie auch immer …“
„Einsam bin ich auch, trotzdem würde ich eher sterben, als mich dem nächstbesten schwarzen Magier anzuschließen.“
Du bist einsam?“, wiederholte Saphira – und Harry hätte sich ohrfeigen können.
„Naja, nicht einsam in diesem Sinne. Ich … ach, nein, bin ich nicht. Das ist falsch rübergekommen. Ich meinte, selbst wenn ich einsam wäre, würde ich niemals …“, stammelte er und malträtierte sein Essen gewaltsamer denn notwendig. Was redete er nur wieder? Und wieso erzählte er diese beschämenden Wahrheiten ausgerechnet ihr? Harry wünschte, er würde begreifen, was sie an sich hatte, das ihn dazu brachte, sich derart verwundbar zu machen. Wenn er nicht aufpasste, ritt er sich hier in ganz große Schwierigkeiten hinein. Was sie nicht alles mit diesen Informationen anstellen könnte … mit Malfoy über ihn zu lästern wäre dabei noch das geringste Übel.

„Du hast Ideale“, stellte sie unvermittelt fest. „Und du zögerst nicht, sie mit deinem Leben zu verteidigen. Das bewundere ich an dir.“
„Jah“, sagte er gedehnt, da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Es war eine Feststellung, die seines Erachtens keines Komplimentes wert sein sollte und doch … war da etwas in ihm, das sich geschmeichelt fühlte. Falscher Stolz, vermutlich.

„War für mich irgendwie immer selbstverständlich“, wehrte er ab.
„Du bist mutig, das bin ich nie gewesen. Ich habe sehr viel mehr Zeit in meinem Leben damit zugebracht, Angst vor Dingen zu haben, anstatt sie einfach zu tun.“ Ihre Offenheit imponierte ihm irgendwie. Es war weniger, was sie sagte, sondern mehr, wie sie es sagte. Sie schämte sich dessen nicht, schien mit sich im Reinen zu sein. Ein Zustand, von dem Harry kaum weiter entfernt sein könnte.
„Mutig ist nicht, wer keine Angst verspürt, sondern wer trotz der Angst handelt“, hielt er dagegen, mehr um seine eigene Unzulänglichkeit zu überspielen.
„Hast du das in einem Kalender gelesen?“ Nun klang sie ein bisschen zynisch.
„Hat Remus mal zu mir gesagt.“
„Oh.“ Saphira senkte den Blick auf ihren beinahe leeren Teller und legte das Besteck beiseite, als wäre ihr der Appetit vergangen. Eines musste man Harry wohl lassen: Die Stimmung zu kippen, war sein Spezialgebiet; darin machte ihm niemand etwas vor.
„Teddy verpasst wirklich wahnsinnig gute Eltern, hm?“
Harry nickte zustimmend, obwohl sie ihn nicht ansah. Kommunikation war auch nicht so seins. Aber was war heutzutage überhaupt noch seins?
„Glaubst du, er kann sich an sie erinnern?“, fragte er, ohne zu wissen, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.
„Nicht bewusst, aber … ich werde nie vergessen, wie bitterlich er in den ersten Wochen nach ihrem Tod geweint hat, weil er einfach nicht verstehen konnte, warum sie nicht zurückkommen.“

Nachdem sie geendet hatte, hob Saphira den Kopf und sah ihn direkt an – ihr erster richtiger Augenkontakt heute. Harry hatte beinahe vergessen, wie sehr ihn die dunkelgrünen Iriden faszinierten … und mit einem Mal fühlte er sich ihr auf merkwürdige Weise verbunden, davon überzeugt, dass die gleiche, bleierne Traurigkeit über den Verlust der gemeinsamen Freunde in diesem Moment auch in ihr aufwallte.

Viel zu früh brach Saphira die Stille, noch bevor er seine Emotionen wieder tief in sich vergraben konnte.
„Hast du mal auf Teddy aufgepasst, während Andromeda nicht da war?“
Harry schüttelte wie automatisiert den Kopf und hörte ihr bei den folgenden Worten kaum noch zu.
„Inzwischen vertraut er mir wieder, aber nach Doras Tod, als Andromeda ihn nach England holte und ich ihn in Folge deutlich seltener sah, hat er sich kaum beruhigen lassen, wenn sie ihn mit mir alleine gelassen hat. Wir haben ihn ganz langsam erneut daran gewöhnt. Ich hoffe, dass diese Angst, wieder verlassen zu werden, ihn nicht ewig begleiten wird.“

„Ich dachte, du wärst mit Teddy bei deiner Mutter?“
„Ich hab es nicht ausgehalten, nichts zu wissen –“, brachte Tonks abgehetzt hervor. Sie wirkte gequält. „Sie kümmert sich um ihn – hast du Remus gesehen?“
„Er wollte eine Gruppe von Kämpfern auf das Gelände führen –“
Ohne ein weiteres Wort eilte Tonks aus dem Raum der Wünsche.

Das nächste Mal, dass er sie sah, lag sie in der Mitte der Großen Halle, zwischen Fred und Remus … bleich und reglos, die Augen geschlossen, fast friedlich, als würden sie unter dem verzauberten Sternenhimmel schlafen.

„Harry Potter, ich spreche nun direkt zu dir. Du hast deine Freunde für dich sterben lassen, anstatt mir selbst entgegenzutreten.“

Es war seine Schuld, dass Teddy keine Eltern mehr hatte. Seine.

„Harry?“
Warme Finger streiften seine eiskalte Hand, aus dem Augenwinkel nahm er eine Gestalt neben sich wahr und Harry sprang so hektisch auf, dass der Holzstuhl laut klappernd auf die abgewetzten Marmorfliesen fiel.

„Tut mir leid“, hauchte Saphira, die er entgeistert anstarrte, nicht ganz sicher, wie es sein konnte, dass sie plötzlich nicht mehr am Tischende gegenüber saß, sondern neben ihm stand. Er hatte doch wirklich geglaubt, das langsam im Griff zu haben, zumindest tagsüber und in Gesellschaft nicht mehr so tief in den Strudel seiner schlimmsten Erinnerungen abzutauchen, als umzingelte ihn eine Horde Dementoren, denen er nichts entgegenzusetzen hatte.
Das Herz pochte ihm so heftig in der Brust, dass er kaum Luft bekam.
Krampfhaft versuchte er, sich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren, musterte Saphira, deren verständnisvolle, aber zum Glück nicht mitleidige Miene ihn ein weiteres Mal glauben ließ, sie besäße die Fähigkeit, so mühlos in die Abgründe seiner Seele zu blicken, als wäre sein Körper aus Glas.


„Du …“, begann Harry zahllose Sekunden später mit heiserer Stimme, und räusperte sich. „Du hast da was.“ Er legte einen bebenden Zeigefinger neben seinen Mund, um zu demonstrieren, wovon er sprach.
„Lippenstift“, präzisierte er unnötigerweise und nahm gerade noch wahr, wie sie indigniert die Hand vor den Mund hob, indes er sich mindestens zehn mal so peinlich berührt wie sie von ihr abwandte.

„Ich geh kurz …“ Sie verschwand vage in Richtung des Bades gestikulierend im Flur.

„Vollidiot“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, nachdem Saphira den Raum verlassen hatte und die Dunkelheit ihn wieder einzuhüllen drohte.
Mit einem leisen Plopp apparierte Kreacher vor ihm und diesmal entfuhr Harry ein kleiner Schrei.
Grummelnd fragte er sich, wie es inzwischen wohl um die Gesundheit seines Herzens bestellt war. Wohl nicht allzu gut in Anbetracht der Tatsache, dass sein Leben sich anfühlte wie eine nie enden wollende Geisterbahn.
Der Elf, der seine Schreckhaftigkeit inzwischen gewohnt war, überging dies. Wahrscheinlich war es ihm auch schlichtweg gleichgültig.
„Kreacher hat den Kamin im Salon entfacht und die Nachspeise dort serviert.“
„Warum?“, gab Harry stumpfsinnig zurück.
„Die Familie pflegte –“
„Ja, ja, ist gut“, pampte Harry dazwischen, der wenig erpicht darauf war, sich Tag ein, Tag aus Vorträge über die Lebensgewohnheiten Sirius‘ verhasster Eltern anzuhören.

Ein zaghaftes Klopfen gegen den Türrahmen machte Harry auf Saphiras Rückkehr aufmerksam. Bei ihrem Anblick zuckten seine Mundwinkel unwillkürlich in die Höhe. Ein Hauch Schamesröte bedeckte ihre Wangen, verlieh ihr anstelle des nun entfernten Lippenstifts eine Spur Lebendigkeit. Wie schon bei der Sache mit dem Eis vor einigen Wochen, schienen ihr derartige Nebensächlichkeiten wahnsinnig unangenehm zu sein. Es passte zu ihren antiquierten Manieren, aber Harry empfand es beinahe als … irgendwas. Was auch immer. Worüber er nur schon wieder nachdachte … Nähme man seine Gedankengänge ernst, käme man noch auf die absurde Idee, er wollte wirklich ein Date mit Saphira Black haben.

„Kreacher … Kreacher hat den Nachtisch rüber gebracht.“ Er deutete auf die Flügeltüre, die ins Zimmer nebenan führte, und schritt – ohne sie dabei anzusehen – voran, innerlich nervös und seltsam verunsichert.

Was zur Hölle war nur falsch mit ihm? Wieso konnte er sich nicht wenigstens einen Abend vernünftig benehmen, ein ganz normaler, netter Typ sein, wie Ginny behauptet hatte? Missmutig ließ er sich in einem der beiden Sessel vor dem Kamin nieder, starrte in die knisternden Flammen und glaubte für einen Moment, Saphira wäre ihm nicht gefolgt. Er hätte es ihr nicht verübeln können, sich der plötzlich wieder sehr angespannten Situation zu entziehen, doch einige Sekunden später saß sie neben ihm auf der vordersten Kante des zweiten Polstermöbels und musterte ihn von der Seite.

„Passiert dir das öfter?“, fragte sie nach einer gefühlten Ewigkeit, in derer das Schokoladensoufflé auf dem gläsernen Beistelltisch zwischen ihnen kalt wurde.
„Was?“
„In schlimmen Erinnerungen gefangen sein.“
Harry zuckte die Schultern, da er schlichtweg nicht wusste, was er dazu sagen sollte.
„Sprichst du mit jemandem darüber?“
„Da gibt es nichts zu besprechen“, wehrte er ab. „Denjenigen, die das verstehen können, geht es wohl selbst kaum besser dabei, mit diesen Bildern in ihrem Kopf leben zu müssen. Warum sollte ausgerechnet ich ihnen die Ohren volljammern? Ich, der für so vieles davon mitverantwortlich ist.“
„Ich meinte eher … ach egal.“ Sie legte die kleine Stoffkugel, die vermutlich ein Drachenei darstellte, auf den Tisch, nahm sich eines der herrlich duftenden Schokodesserts und stocherte darin herum, scheinbar mehr um ihre Hände zu beschäftigen als tatsächlich aus Appetit.


„Sind das deine Eltern?“
Harry folgte ihrem Blick zu dem Fotoalbum, das er über dem Kamin platziert hatte. Sein einziger Versuch, diesem Haus eine persönliche Note zu verleihen.
„Ja“, bestätigte er. „Hagrid hat mir das im ersten Schuljahr geschenkt. Das waren die ersten Bilder, die ich von ihnen hatte.“
„Oh, dann teilen wir eine merkwürdige Gemeinsamkeit“, lächelte sie zaghaft und sah ihm dabei endlich wieder in die Augen. Seine sozialen Unzulänglichkeiten schien sie ihm zumindest nicht nachzutragen. „Mum hat mir auch nie Fotos von meinem Vater gezeigt. Sie hat alles vermieden, was mit ihm zu tun hatte – oder es zumindest so wirken lassen. Aber ich habe auch so ein Album. Draco hat es für mich zusammengestellt, sogar eigenhändig unter jedes Bild geschrieben, zu welcher Gelegenheit es aufgenommen wurde, soweit er das aus den Alben seiner Mutter rekonstruieren konnte.“

Bei der Vorstellung von Malfoy mit Bastelschere und Klebestift entfuhr Harry ein amüsiertes Schnauben.
„Was ist so lustig?“
„Ehm, an dem Thema … gar nichts, ich hätte nur Draco nicht für den kreativen Typ gehalten“, erklärte sich Harry rasch, worauf Saphira bedächtig nickte und den unangetasteten Nachtisch beiseite stellte.
„Da waren wir längst getrennt, so etwas hat er zuvor auch nie getan … Es sollte wohl so eine Art Wiedergutmachungsgeschenk sein, nachdem er mich monatelang … ziemlich mies behandelt hat. Aber ich muss zugeben, es war das beste Geschenk, das ich je von ihm erhalten habe. Na ja …“ Ihre Stimme verebbte im Knacken der Holzscheite.

„Warum habt ihr euch eigentlich getrennt?“, fragte Harry aus ehrlichem Interesse und hoffte inständig, damit keine zu persönliche Grenze zu überschreiten.
Saphira zuckte die Schultern und atmete hörbar aus, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.
„Die Sache mit Du-weißt-schon-wem, die Affäre mit Pansy … meine“, sie vollführte eine vage Geste in Richtung ihres Kopfes und strich sich dann doch nur eine Locke aus dem Gesicht, „Krankheiten … such dir was aus.“
„Darf ich … darf ich fragen, wie es dir heutzutage damit geht?“, hakte er behutsam weiter nach; immerhin hatte sie ihm das Thema bereitwillig vor die Füße geworfen.
„An manchen Tagen, als wäre nie etwas gewesen. An anderen kämpfe ich mit mir, muss mich zum Essen zwingen und zusammenreißen, um Sophie die Mutter zu sein, die sie braucht.“
Ein weiteres Mal beeindruckte ihn die Offenheit, mit der sie Schwächen zugab, während er sich für jede Form einer negativen Gefühlsregung in Grund und Boden schämte, Schuldgefühle ihn zerfraßen, da es ihm einfach nicht zustand, so zu empfinden, zu leiden, während er selbst so viel Unglück über andere gebracht hatte.

„In diesem Sinne …“ Erneut nahm sie die Dessertschale an sich, eine Spur Verlegenheit im Gesicht, die Harrys komisches Gehirn irgendwie … süß fand? Gab es tatsächlich etwas an Saphira, das diese Bezeichnung verdiente?
„Guten Appetit.“
„Hm“, nuschelte er und lenkte seine Aufmerksamkeit rasch von ihr ab, um seinen merkwürdigen Gedanken Einhalt zu gebieten. Stattdessen rief er sich ins Gedächtnis, wie unmenschlich dürr sie früher gewesen war, wie krank sie ausgesehen hatte. Ein wandelndes Skelett, ein Kopf wie ein Totenschädel mit dunklen Augenringen, die diesen Eindruck nur mehr verstärkt hatten.
Malfoys Besenstiel, grässliche Vogelscheuche, wandelnde Banshee, waren Rons kreativste Bezeichnungen für sie gewesen – und Harry konnte nicht leugnen, das ein oder andere Mal ebenfalls darüber geschmunzelt zu haben. Ein weiterer Grund, sich heutzutage zu schämen.

„Ist sicher nicht leicht, so ganz alleine“, sagte er schließlich, bevor die Stille sich zwischen ihnen manifestieren und zu einer undurchdringbaren Mauer des Schweigens werden konnte.
„Ich bin ja nicht alleine“, widersprach sie. „Andromeda hat wahnsinnig viel für mich getan, und tut es noch. Aria ist mir eine immense Stütze … Und seitdem ich zurück in England bin, habe ich auch meine Therapie wiederaufgenommen.“
Das war zwar nicht ganz, was er mit alleine gemeint hatte, aber etwas in ihm vermutete, dass Saphira der Frage nach dem Vater ihres Kindes ganz bewusst auswich, weshalb er nicht weiter darauf herumritt.

„Brauchst du das denn noch? Ich meine … du siehst … gesund aus?“
„Ein gesundes Gewicht erreichen und halten ist eine Sache, die Gedanken loswerden eine andere“, entgegnete sie mit einem Hauch von Bitterkeit in der Stimme. „Die letzten Jahre waren nicht die leichtesten und … mir tut es gut.“
„Ja, ich … ich wollte das nicht infrage stellen, ich meinte nur …“ Was meinte er eigentlich? Er wusste es selbst nicht, kannte sich mit derlei Themen zu wenig aus, um ein solches Gespräch sensibel führen zu können. Wahrscheinlich hielt er am besten einfach seine dumme Klappe.
„Schon gut“, beschwichtigte sie. „Vielleicht gibst du dem Gedanken auch mal eine Chance … mit einer neutralen Person zu sprechen, meine ich.“
„Hat Ginny auch schon einmal vorgeschlagen“, grummelte er mehr in sich hinein als in Richtung Saphira. Das war wirklich nichts für ihn. Was sollte ihm ein Fremder sagen können, um es besser zu machen, wenn seine Freunde das schon nicht vermochten?
„Ginny Weasley, deine Freundin?“

„Nee“, sagte Harry und langte nun ebenfalls nach seinem Schokoladensoufflé, um einen Grund zu haben, sie nicht anzusehen. „Wir haben uns vor zwei … oder drei Wochen getrennt. Mein Zeitgefühl ist nicht so gut momentan, sollte vielleicht auch so akribisch Kalender führen wie du.“ Er sprach locker daher, wie um seine Gefühle ob der Trennung zu verbergen. Doch was fühlte er eigentlich? Noch immer war er sich dessen nicht ganz schlüssig. Es war kein Liebeskummer, traurig war er dennoch, bedauerte den Verlust dieser Beziehung, die so perfekt hätte sein sollen und es doch nur für die flüchtigen Wochen kurz vor Ende des sechsten Schuljahres wirklich gewesen war.

„Das tut mir leid.“
„War absehbar. Ich war kein guter Partner die letzten Monate … Jahre.“
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen und Hitze, die seine Wangen heraufkroch. Trotzdem schielte er aus dem Augenwinkel zu ihr herüber und musste beinahe lächeln. Warum wusste er selbst nicht.
„Vielleicht solltest du erstmal dein Leben aufräumen und das Erlebte verarbeiten, damit ihr wieder eine Chance habt. Als es mir damals so schlecht ging, war ich auch keine gute Partnerin – und in gewisser Hinsicht konnte ich auch Draco verstehen. Nicht wie, aber dass er sich von mir getrennt hat.“
„Und, planst du heute, wieder mit ihm zusammen zu kommen?“
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
„Siehst du. Es ändert nichts.“ Einige Sekunden lang ließ er den Satz provokant zwischen ihnen schweben, ehe er ergänzte: „Mein Leben in den Griff kriegen sollte ich wohl … aber was Ginny anbelangt … ich denke, es ist vorbei.“

Wieder betrachtete Saphira das beständig vor sich hinprasselnde Feuer und sah nun ihrerseits nachdenklich in sich gekehrt aus. Eine blonde Locke fiel ihr vors Gesicht und lenkte Harrys Blick von ihren Augen hinab auf ihre Lippen, die nun – so ganz ohne Lippenstift – einen ähnlich blassen Ton wie ihre Haut aufwiesen und dadurch noch schmaler wirkten, als sie ohnehin waren. Ein weiterer Aspekt an ihr, der Harry auf absurde Weise an diese grässliche Porzellanpuppe erinnerte; als hätte jemand schlichtweg vergessen, ihre Lippen in einer Farbe anzumalen, die sie optisch vom Rest des Gesichts abhoben. Noch etwas fiel ihm allerdings auf: Die Symmetrie, welche er zuvor noch bewundert hatte, war eine Täuschung. Tatsächlich war ihre linke Oberlippe – links, von ihm aus betrachtet – etwas runder geschwungen denn die rechte. Doch diese Ungleichheit brach den Schein des Künstlichen, ließ sie wieder menschlicher wirken, irgendwie sympathischer.

„Was machst du eigentlich sonst so?“, fragte er vage, mehr um irgendetwas zu sagen und nicht weiter auf seinem eigenen Elend herumzuhacken.
„Ich? Oh, meine letzten Wochen waren gut gefüllt, aber bald wird es wieder ein wenig ruhiger zugehen – Merlin sei Dank. Aria und ich renovieren gerade das Crouch Anwesen. Das Kinderzimmer und unsere Schlafzimmer haben wir als erstes eingerichtet und das untere Stockwerk ist ebenfalls bald fertig. Der Garten wird eine immense Herausforderung, aber das Thema gehen wir langsam an. Wahrscheinlich wird Aria zunächst jemanden bezahlen, der das Gröbste bereinigt, bevor wir mit der Planung unserer Beete beginnen. Außerdem hat sie Sophie zum Geburtstag ihr erstes Pony geschenkt, unsere Herde wächst und gedeiht also langsam, ich habe nämlich auch zwei Pferde. Früher waren es mehr, aber … die Zeiten ändern sich. Im Herbst werde ich eine Ausbildung zur Reitlehrerin für Kinder anfangen, das würde mir wirklich Freude bereiten, denke ich. Ob mir jemand seine Kinder anvertraut, wird die Zeit zeigen.“

„Das sollten sie, du kannst gut mit Kindern“, gab Harry zurück und fühlte eine seltsame Art von Stolz über das echte Lächeln, das ihr diese Aussage ins Gesicht zauberte. Vielleicht war er im Umgang mit anderen Menschen doch nicht ganz so ein Versager geworden, wie er zunehmend glaubte.
„Das erklärt, warum du keine Zeit hast, mir bei der Renovierung dieser Bruchbude hier zu helfen“, führte er weiter aus und wünschte, er hätte den Mund gehalten. Alle Sozialkompetenz, derer er sich gerade gerühmt hatte, war mit einem unüberlegten Satz wieder dahin. Was verlangte er ihr da auch ab? Sie versorgte ein Kind und schaffte all diese Dinge noch nebenbei. Er konnte sich ja kaum selbst versorgen und erreichte überhaupt nichts Sinnvolles.
Schämen sollte er sich.
Tat er auch.

„Ist dir denn wirklich daran gelegen? Ich dachte, du wolltest bloß schnell hier raus.“ Ihre skeptische Miene ob seiner ganzen erbärmlichen Jammerei über dieses Haus war ihm unfassbar unangenehm, dennoch blieb er bei seinem wiederholt geäußerten Vorschlag:
„Ich denke, du hattest da vielleicht wirklich eine gute Idee – und wenn ich es am Ende nur mit Wertsteigerung verkaufe … Es wäre ein gutes Projekt.“
„Eine Aufgabe würde dir sicher guttun“, pflichtete sie ihm bei. „Ich sehe nur nicht, wo ich da ins Spiel komme.“
„Na ja …“, sagte er gedehnt und kratzte sich verlegen am Kopf. „Dir ist an diesem Haus gelegen, oder? Du kannst den positiven Geist, die Ästhetik hieran wahrscheinlich besser erkennen als ich, denn ich sehe nur Düsternis. Wer außer einer echten Black käme dafür infrage, diesem Anwesen wieder Leben einzuhauchen?“
„Eine ausgefuchste Motivationsrede“, schmunzelte sie und schüttelte tadelnd den Kopf. „Schön, schön, du hast die Aschwinderin im Feuer, ich bin interessiert. Aber warum willst du mich dabei haben?“
„Ich … versteh die Frage nicht ganz“, gestand er, fürchtete jedoch zu wissen, worauf sie hinaus wollte.

Einige quälende Sekunden blieb sie still, biss sich – gedankenversunken und vermutlich unbewusst – auf die Unterlippe und Harry beobachtete zunehmend nervös, wie sich ihre Zähne in die dünne Haut bohrten, ehe sie unvermittelt weitersprach, ohne das vorherige Thema zu einem Ende zu bringen: „Falls dir das ernst ist … komm einfach mal in Cornwall vorbei. Aria und ich haben unzählige Tapeten-, Stoff- und Bodenmuster, die du dir für einen ersten Überblick ansehen kannst. Und solltest du nächsten Freitag Zeit haben, könnte ich versuchen, einen Termin mit Mr Fernsby, dem Möbelrestaurateur, zu vereinbaren, um euch miteinander bekannt zu machen.“

„Ehm, ja, gerne“, stammelte Harry, verwundert über ihr plötzliches Entgegenkommen (und noch erstaunter ob seiner immensen Freude darüber).


„Ach du Schreck, so spät schon“, stieß Saphira aus und deutete auf die glücklicherweise schon seit Jahren nicht mehr tickende Standuhr. Bis heute war Harry Molly für ihre hocheffektiven Stillezauber zu tiefstem Dank verpflichtet, denn das unablässige Ticktack, Ticktack, Ticktack hätte ihn so ganz alleine in diesem leblosen Haus wahrscheinlich längst über den Rand des Wahnsinns geworfen.

Es waren noch fünfzehn Minuten, bis der Portschlüssel sie zurück nach Cornwall bringen sollte, und wieder einmal sah Harry nutzlos dabei zu, wie Saphira in müheloser Gewohnheit ihr schläfriges Kind zum Aufbruch bereit machte. Wie nur die Zeit schon wieder verflogen war … Das alles, die gesamten vergangenen Stunden kamen ihm unwirklich vor, als hätte sein einsames Hirn sie sich zusammengesponnen. Eben noch hatte er sich gefragt, wie er das Essen überhaupt rumkriegen, worüber er mit ihr reden sollte. Nun ging sie schon wieder und Harry fühlte sich, als könnten sie noch ewig dort am Feuer sitzen, sich über alles und nichts unterhalten …


„Mach’s gut“, sagte Saphira, den rechten Arm fest um Sophie geschlungen, die linke Hand über der Tonvase schwebend.
„Bis nächsten Freitag?“, entgegnete Harry.
„Ich schreib dir, ob wir so kurzfristig einen Termin bekommen.“
Und in der nächsten Sekunde begannen die beiden sich vor seinen Augen im Kreis zu drehen und in Luft aufzulösen.

An diesem Abend ging Harry mit einem guten Gefühl zu Bett, fühlte sich – obgleich er wieder alleine war – nicht länger einsam.

+

Freitag, 14.04.2000

„Tut mir leid, Augustus hatte zufällig gerade Dienst im Mungo und wir haben uns verquatscht“, begrüßte Saphira ihn, als sie etwa fünf Minuten zu spät am Belgrave Square auftauchte. Nun dämmerte es Harry auch, weshalb sie ausgerechnet Freitag für dieses Treffen vorgeschlagen hatte – sie war ohnehin in London, da bot es sich an, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Kein Wunder, schließlich hatte sie im Gegensatz zu Harry Verpflichtungen und Termine außerhalb ihrer Besuche bei Andromeda.

„Kein Problem“, winkte er ab. „Hätte allerdings nicht gedacht, dass dein hoch angepriesener Restaurateur sein Geschäft ausgerechnet in Muggellondon hat.“
„Hat er nicht“, gab Saphira stirnrunzelnd zurück und ruckte mit dem Kopf in Richtung der Statue eines Mannes, der entspannt auf einem Felsen sitzend mit gruselig realistischen Gesichtszügen auf sie herabschaute. Die rechte Hand stützte seinen Kopf, auf welchem er eine Art Seefahrer-Hut trug, in der linken hielt er eine Pergamentrolle.
Rasch wandte Saphira sich um, ehe sie mit dem Zauberstab einen Anker in die Luft zeichnete und einen höflichen Knicks vollführte. Die Statue erwachte zum Leben, zog den Hut zum Gruß und erhob sich von ihrem Felsen, der augenblicklich entzwei glitt und den Durchgang in eine Straße prunkvoller Häuser einer überaus gestrigen Architektur-Periode freigab – die Saphira sicherlich benennen könnte, während Harry nicht einmal den Hauch einer Idee davon hatte.

„Was, hast du geglaubt, Winkel- und Nokturngasse wären die einzigen Magierstraßen in ganz London?“, neckte sie ihn im Angesicht seiner irritierten Miene.
„Ne, ich hab sowas befürchtet“, gestand er und zog den Tarnumhang aus seiner Tasche. „Hättest du was dagegen, wenn ich …“
„Wenn du dich damit wohler fühlst. – Aber komm jetzt endlich, wir können den Durchgang nicht ewig offen halten.“

~

Erst beim Betreten des marmornen Ateliers, dessen endlos hohe Wände jedem noch so vorsichtigen Schritt einen einschüchternden Widerhall verliehen, wagte Harry, den Umhang wieder abzulegen.

„Miss Black, welch Freude, Sie so rasch wiederzutreffen.“
Mr Fernsby war ein untersetzter Mann (kaum zehn Zentimeter größer als Saphira) mit albern gezwirbeltem Schnauzbart, dessen pikfeiner Zwirn, straffe Haltung und selbstbewusst gerecktes Kinn ihm dennoch eine merkwürdige Art Erhabenheit verliehen. Als Harry in sein Sichtfeld trat, entglitten ihm die vornehmen Gesichtszüge für den Bruchteil einer Sekunde; dann sah er wieder unbeeindruckt aus.
„Die Freude ist ganz meinerseits.“
Das ist also der mysteriöse Kunde, um den Sie kein Aufsehen erregen wollten?“, fragte er mit einem Kopfrucken in Richtung Harry, als sei er ein besonders wurmstichiges Möbelstück, das Saphira halb verrottet in einem modrigen Keller gefunden hatte.
„Mr Fernsby, das ist Harry Potter. Harry, darf ich vorstellen: Mr Fernsby, der einzige, dem ich die Möbel an deiner Stelle anvertrauen würde.“
„Hallo“, sagte Harry kleinlaut und kam sich mal wieder vor, als besäße er die sozialen Fähigkeiten eines Trolls. Eines scheuen, leicht zu verunsichernden Trolls … Wahnsinn, und da sollte ihm jemand abkaufen, er hätte den dunkelsten Magier der jüngeren Geschichte besiegt? Lächerlich.
Mr Fernsby schaute drein, als ob er exakt dies dachte.
„Nun, was haben Sie denn Interessantes zu bieten? Sie sollten wissen, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Ich nehme nicht jeden Auftrag an, nur weil der Kunde zufällig ein bisschen berühmt ist. Die Arbeit muss mich schon reizen.“
„Oh, da machen Sie sich mal keine Gedanken, Mr Fernsby“, frohlockte Saphira an Harrys Stelle zuckersüß, doch auf seltsame Weise souverän und … selbstbewusst, beinahe forsch, aber nicht unhöflich. Ihr Gebaren hatte etwas durchaus Attraktives an sich.
Könnte man meinen …
Also, vielleicht, wenn man auf versnobte Reinblüterinnen stand. Was Harry nicht tat. Wie käme er dazu? Absurd.

„Ich verrate Ihnen ein Geheimnis“, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, sodass Mr Fernsby sich näher an sie heran lehnte und sie mit gehobenen Brauen über den Rand seiner filigranen Brille musterte. Harry ignorierte er dabei vollkommen. Aber das war er inzwischen bereits von Kreacher gewohnt. Sowas brachte ihn längst nicht mehr aus der Ruhe, im Gegenteil. Unbeachtet im Hintergrund rumstehen war eine von Harrys liebsten Aktivitäten. Eine seiner Stärken, könnte man fast schon behaupten.
„Sie müssen es aber für sich behalten, bis Mr Potter Ihnen etwas Gegenteiliges genehmigt.“
„Ich bitte Sie, Miss Black, Diskretion ist mein Aushängeschild.“
„Wir planen, die londoner Stadt-Villa der Blacks zu renovieren, und die Aufbereitung der Möbel … eventuell in Ihre fähigen Hände zu legen.“
„Die londoner … Orion und Walburga Black?”
Saphira nickte.
„In welchem Zustand ist es?“ Ein Leuchten war in Mr Fernsbys Augen getreten.
„Oh, es wird eine Menge Arbeit – und ich wäre Ihnen verbunden, wenn Ihr Sohn sich die Stuckaturen einmal ansähe, die bröckeln an allen Ecken und Enden von den Decken – aber sie müssen einst so wunderschön gewesen sein.“
„Eine Selbstverständlichkeit – Graham wird sich freuen, Sie wiederzutreffen, Miss Black. Sie beide hätten wahrlich ein schönes Paar abgegeben, das habe ich immer gesagt“, führte er aus und tätschelte mit seiner massigen Hand Saphiras Schulter, die – wenn Harry nicht irrte – ein winziges Stück zurückwich. „Aber nun sind Sie ja gebunden – mit einer Vorbelastung bleiben Frauen selbst heutzutage alleine.“
Harry blinzelte irritiert und brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Mr Fernsby von Sophie sprach, als er das Wort Vorbelastung in den Mund nahm.

„Wunderbar“, lächelte Saphira, als hätte sie diese Anmaßung überhaupt nicht gehört, doch Harry entging nicht, wie die Finger ihrer rechten Hand sich für den Bruchteil einer Sekunde verkrampften. „Und bei der Wandvertäfelung können wir ebenfalls mit Ihrer Unterstützung rechnen?“
„Aber natürlich“, pflichtete Mr Fernsby gewichtig bei.
„Du hast es gehört, Harry. Der Rest obliegt nun deiner Verantwortung.“ Diese unvermittelte Ansprache erwischte ihn eiskalt. Die Rolle des unbeteiligten Beobachters war ihm schließlich wie auf den Leib geschneidert.
„Ehm, ja. Vielen Dank, Mr Fernsby, ich würde Ihnen dann schreiben“, brachte er hervor, unbeholfen, aber zum Glück nicht stammelnd.
„Es wird mir eine Ehre sein, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Mr Potter“, erwiderte Mr Fernsby so betont höflich, dass es beinahe schon wieder unhöflich klang – und doch … gewissermaßen erfrischend anders in Harrys Ohren. Endlich mal wieder jemand, der ihm nicht in den Allerwertesten kriechen wollte. Fast ein wenig amüsant.

~

„Wieso lässt du so mit dir reden?“, fragte Harry, als er unter dem Schutz des Tarnumhangs an Saphiras Seite wieder hinaus in die frische Aprilluft trat.
„Wie?“
Mit einer Vorbelastung bleiben Frauen selbst heutzutage alleine“, äffte er den Restaurateur nach und verdrehte die Augen, vergessend, dass sie ihn nicht sehen konnte.
Als Reaktion ruckte Saphira nur undefinierbar mit dem Kopf.
„Hm?“, hakte er etwa eine halbe Minute des Schweigens später nach.
„Ich rede nicht mit dir, solange du unsichtbar bist. Wie sieht das denn aus?“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Legitim“, gestand Harry – obgleich sie statt dieser Vorhaltungen auch einfach hätte antworten können – und lief stumm neben ihr her, bis sie das Portal zurück in die Muggelwelt erreichten.

„Also?“, fragte er erneut, nachdem er den Tarnumhang abgestreift hatte.
„Ich habe nichts anderes von ihm erwartet. Er macht seine Arbeit ordentlich, das ist alles, was mich interessiert“, gab sie unbeeindruckt zurück, und bis zu einem gewissen Grad nahm er ihr diese Einstellung sogar ab. Er glaubte zwar nicht, dass es sie völlig kalt ließ, aber sonderlich tief bewegen tat es sie ebenfalls nicht.
„Ich weiß nicht, ob ich mit so einem Mann zusammenarbeiten will“, stellte er klar, woraufhin Saphira etwas murmelte, das nach: „Sankt Potter macht nur Geschäfte mit moralischen Vorzeige-Hampelmännern“, klang.
„Bitte?“ Die Jahre mit Draco waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen.
„Das bleibt dir überlassen“, entgegnete sie stattdessen ungerührt. „Du hast nach meinem Rat gefragt, das war er. Was auch immer du persönlich von ihm halten magst, er ist der Fähigste. Eine bessere Arbeit wirst du nicht finden.“
„Ich muss darüber nachdenken.“

„Also … dann?“ Unschlüssig blieb Saphira an der Straßenkreuzung stehen, offenbar im Begriff, sich zu verabschieden.
„Was hältst du davon, wenn wir in der Winkelgasse noch etwas trinken gehen?“, schlug Harry vor, ungewohnt gerade heraus und furchtlos wie schon lange nicht mehr. Wo kam das denn nun plötzlich her? Manchmal gelang es ihm sogar, sich selbst zu überraschen – und das nicht ausschließlich im negativen Sinne.

„In der Winkelgasse? Bei deiner Panik vor der magischen Öffentlichkeit wohl eher nicht“, gab Saphira nüchtern zurück. „Ich muss dich wohl kaum daran erinnern, was sie das letzte Mal geschrieben haben, als wir zusammen unterwegs waren. Und ich unterhalte mich ganz sicher nicht mit einem unsichtbaren Mann, von dessen Existenz nur ich weiß.“
„Na ja“, begann er und zog ein Fläschchen voll dunkel-schleimiger Brühe aus der Innentasche seines Umhangs hervor. „Ich bin diesmal besser vorbereitet.“
„Ist das … Vielsaft-Trank?“
„Jep.“ Er nickte, einigermaßen stolz über den neuerlichen Einfallsreichtum. „Also, lässt du mich hängen oder kommst du mit? Wir hätten zwei Stunden.“
Saphira seufzte tief und warf einen kurzen Blick auf die Uhr, welche sie als Kette um ihren Hals trug, ehe sie antwortete.
„Von hier brauchen wir etwa zwanzig Minuten bis Charing Cross … Und dann maximal zwei Stunden, ja? Sodass ich vor 22 Uhr wieder bei Andromeda sein kann?“

Mit einem triumphierenden Nicken setzte Harry sich wieder in Bewegung, wurde jedoch prompt von Saphira am Ärmel gepackt und in die entgegengesetzte Richtung mitgeschleift.
„Zur U-Bahn geht es dort entlang“, erklärte sie so streng dreinschauend, dass Harry sich fragte, wie schwer es heute wohl werden würde, ihr ein Lachen zu entlocken. Eine Herausforderung für seine eingerosteten Sozialfähigkeiten … vielleicht stellte Saphira in der Tat ein hervorragendes Testobjekt dar, immerhin hatte er bei ihr nichts zu verlieren, denn sie waren schließlich nicht einmal Freunde, oder? Bloß Bekannte.

„Wieso kennst du dich eigentlich so gut mit dem Muggel-Bahn-System aus?“
„Bin drauf angewiesen, auch ohne Kind“, erklärte sie lakonisch. „Ich lege meine Apparierprüfung erst im Sommer zusammen mit den Hogwartsschülern ab. Das Ministerium hat momentan keine Kapazitäten für weitere Prüfungstermine. Außerdem … ach, unwichtig.“
„Außerdem?“, wiederholte Harry in einem schwachen Versuch, seine geweckte Neugier zu stillen, aber Saphira blieb diesmal hartnäckig.
Eines musste er ihr lassen: Sie bot ihrem Schicksal als gestrandete Reinblüterin ziemlich souverän die Stirn, bahnte sich pragmatische Wege um ihre Hindernisse herum, anstatt – wie Harry – die Probleme zum unbezwingbaren Teil ihres Lebens zu erklären und tatenlos die Ausweglosigkeit zu bewundern.

~

„Na, wie seh ich aus?“, erkundigte sich Harry, als er aus dem Hinterhof, in welchem er die widerwärtige Verwandlungsprozedur durchgestanden hatte, zurück auf die Straße trat.
„Wie ein völlig anderer Mensch“, entgegnete sie trocken.


Aller Maßnahmen zum Trotz fühlte Harry hunderte von Augenpaaren auf sich ruhen, während sie durch den gar nicht so vollen Tropfenden Kessel in die Winkelgasse gingen … Ihm war, als durchschaute jeder seine perfekte Maskerade, könnte ihm von der nun sommersprossigen Nasenspitze ablesen, dass dieser strohblonde Kerl in Wahrheit Harry Potter höchst persönlich war.
Er bildete sich das ein, oder?
Verunsichert schielte er zu Saphira, die unbeeindruckt stur geradeaus sah, und wagte nicht, ihr seinen peinlichen Verfolgungswahn mitzuteilen.

„Wollen wir hier reingehen?“, schlug er vor und deutete auf ein Lokal schräg gegenüber des Tropfenden Kessels, in das Ron ihn bereits mehrfach zu schleppen versucht hatte. Es fühlte sich nicht ganz richtig an, nun mit jemand anderem herzukommen und Harry musste sich wirklich bemühen, ein besserer Freund zu sein, wenn er Ron nicht auch noch verlieren wollte; aber ob dieser ihm die feige Aktion mit dem Vielsafttrank durchgehen ließe, wagte er zu bezweifeln.

Der Laden war das komplette Gegenteil des muffig verstaubten Tropfenden Kessels. Ulkige kleine Gnome spielten auf winzigen Instrumenten erstaunlich laute Musik, zu der sich einige besonders selbstbewusste junge Hexen sogar auf einer beinahe noch leeren Tanzfläche in der hinteren rechten Ecke rhythmisch bewegten. Ausgelassenes Geplauder drang von den besetzten Tischen an ihre Ohren und bildete ein Stimmenwirrwarr, in dem Harry niemanden wirklich verstand, der sich nicht in seiner unmittelbaren Nähe aufhielt. Ein perfekter Ort, um Gespräche zu führen, ohne sich alle zwei Sekunden paranoid umdrehen zu müssen.
Ein Glück nur, dass sie noch so verhältnismäßig früh dran waren, denn nur wenige Tische, die nicht direkt im Mittelpunkt des Geschehens standen, waren noch komplett frei.


„Ich habe übrigens eine Überraschung für dich“, verkündete Saphira, nachdem sie einige Minuten lang lose über mögliche Farbgestaltungen der verschiedenen Räume debattiert hatten – wenn man ein Gespräch, in dem Harry maßgeblich nickte und: „Hm“, machte als Debatte bezeichnen durfte.
„Was?“
„Das zeige ich dir, wenn du mal nach Cornwall kommst“, erklärte sie mit einem Zwinkern, das ein höchst merkwürdiges Gefühl in seiner Magengegend auslöste. Rasch senkte er den Blick auf den giftgrünen Cocktail, den er sich angesichts der überfordernd hohen Anzahl an Auswahlmöglichkeiten ziemlich wahllos ausgesucht hatte.
„Okay“, sagte er dumpf, da sein Hirn keine sinnvollere Antwort zustande brachte. Schon wieder verunsicherte ihn irgendetwas, obwohl er sich insgesamt recht wohl fühlte. Molly hatte Recht; Ginny hatte Recht. Und Ron sowieso. Seine Befürchtungen zu überwinden und sich mal wieder in die Öffentlichkeit zu trauen, ganz normale Dinge zu tun, die junge Männer seines Alters tun sollten, fühlte sich gut an – solange er für die Öffentlichkeit eben nicht Harry Potter war, sondern irgendein namenloser junger Mann, für den sich niemand interessierte.

„Was wolltest du vorhin eigentlich noch sagen wegen der Apparierprüfung?“, erinnerte er sich, indessen er krampfhaft nach einem Gesprächsthema suchte. Eine Aufgabe, mit der er sich häufig alleine konfrontiert sah. Saphira schien das Schweigen nach wie vor wenig anzuhaben.
Es vergingen einige Sekunden, in denen sie an ihrem Wein nippte, ihn ansah, wieder wegsah und schließlich wieder ansah, ehe sie antwortete:
„Nichts.“
„Sicher?“ Etwas an der Art, wie sie es abtat, erweckte bei ihm den Eindruck, als wollte sie sehr wohl darüber reden.
„Das Ministerium und ich sind momentan nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen, das könnte noch komplizierter werden als gedacht.“
„Oh, damit kenne ich mich gut aus“, frohlockte Harry, vielleicht eine Spur zu überschwänglich in Anbetracht der sehr realen Probleme, die ihm das Ministerium seit dem Trimagischen Turnier eingehandelt hatte. „Erzähl mal, so von Ministeriumsfeindin zu Ministeriumsfeind.“ Saphira lachte nicht.

„Es werden Karteien angelegt mit Infos über Angehörige der Todesser“, begann sie schleppend.
„Das habe ich mitbekommen“, nickte Harry. „Sie wollen bei verdächtigen Vorkommnissen gleich die richtigen unter Verdacht stellen und nicht riskieren, dass sich jemand über gute Beziehungen mit einzelnen Beamten wieder freikaufen kann. Daher die offiziellen Akten, die jeder Abteilung der Strafverfolgung zugänglich sind. – Ob das so gut funktionieren wird, sei mal dahingestellt, aber vom Grundgedanken unterstelle ich ihnen ausnahmsweise mal gute Absichten.“
„Sicherlich.“
„Über dich gibt es vermutlich auch so eine Kartei“, schlussfolgerte er. „Aber wollen sie dir deshalb die Zulassung zur Apparierprüfung verweigern? Ohne konkreten Verdacht gegen dich?“ Vielleicht gab es da ja doch noch etwas … etwas, von dem Harry nichts ahnte.

„Ja und nein“, seufzte Saphira und sah endlich wieder von der holzgemaserten Tischplatte auf, deren Muster sie in den vergangenen Minuten unablässig mit dem Zeigefinger nachgezeichnet hatte. „Also … Eigentlich geht es um Sophie. Ich habe ihre Existenz erst im Januar angemeldet und weil ich sie so lange versteckt habe, und wegen meiner Vergangenheit in Todesserkreisen, akzeptieren sie nicht, dass ich keinen Erzeuger angeben kann und werde.“
Nun war Harry ganz Ohr.
Seine Neugier offenbar bemerkend betonte sie nachdrücklich:
„Es gibt keinen Vater. Es gibt nur sie und mich.“
„Nun, zwingen können sie dich nicht, oder?“
„Wir werden sehen. Vergangene Woche hat die Sachbearbeiterin angedeutet, dass sie mir die Apparierprüfung verweigern könnten, wenn ich als Gefährderin eingestuft werde. Wer weiß, was ihnen noch einfällt. Ich werde mich wohl nach einem ordentlichen Rechtsbeistand umsehen müssen. Früher hätte ich in solchen Angelegenheiten Drews Rat eingeholt … aber nun ja.“
„Gefährderin?“, wiederholte Harry ungläubig. „Wegen Sophie? Das kann doch nicht deren Ernst sein. Soll ich mal versuchen, mit ihnen zu reden?“
„Auf keinen Fall“, wehrte Saphira ab. „Ich will kein Aufsehen darum erregen – und was meinst du, was passiert, wenn der berühmte Harry Potter anfängt, sich da einzumischen? Insbesondere nach dem, was sie bereits über uns geschrieben haben.“
Beim Klang seines Namens sah Harry sich nun doch paranoid um, nur zur Sicherheit.

„Jah“, erwiderte er gedehnt und runzelte nachdenklich die Stirn. „Darf ich … darf ich fragen, warum du es nicht einfach eintragen lässt? Die Akten sind ja nicht öffentlich.“ Hoffte er jedenfalls. Andererseits mahnte ihn eine kluge Stimme angesichts seiner eigenen Erfahrungen mit dem Ministerium, doch etwas weniger naiv an die Sache heranzugehen. Was auch immer Saphiras Grund für das Verschweigen sein mochte, sie tat wohl recht daran, ihr Geheimnis nicht ausgerechnet in einem Ministeriumsdokument verewigen zu lassen. Aber verdammt, seine Neugier machte ihn ganz unruhig. Nun wollte er es wirklich wissen.

„Weil es keine Rolle spielt und ich es einfach nicht möchte.“ Saphira schloss die Lider und kreiste mit Daumen und Zeigefinger über den Bereich zwischen Augen und Nasenrücken. Genau wie Ginny, wenn Harry ihre Geduld mal wieder überstrapaziert hatte … Mit Frauen konnte er wirklich nicht so gut. Eigentlich schade.
„Wenn ich doch irgendwas tun kann …“

„Danke, Harry“, erwiderte sie nach einer kurzen Pause deutlich milder und lockerte den unangenehmen Knoten der Selbstvorwürfe in Harrys Magen damit erheblich.
„Ich habe wirklich großen Respekt davor, wie du das alles schaffst“, fuhr er fort, um das Gespräch zurück in eine positive Richtung zu lenken, aber auch, weil er es ehrlich so meinte.
„Ach, Unsinn“, wehrte sie ab und doch … War das die Andeutung eines winzigen Lächelns in ihren Mundwinkeln? Ehe er genauer hinsehen konnte, hob sie das Glas an die wein-geröteten Lippen.
„Das meine ich ganz ehrlich“, bekräftigte er. „Ich könnte das nicht. Ich kann gerade gar nichts …“
Wirklich, Harry? Ist Selbstmitleid das beste Thema, das dir zur Stimmungsauflockerung einfällt?
„Gib dir Zeit. Solche Wunden heilen nicht über Nacht.“ Nun lächelte sie wirklich, doch nicht erfreut, sondern aufmunternd. Ihr Mitleid zu erhaschen war nicht sein Ziel gewesen. Wundervoll. Gar nichts bekam er hin. Wirklich absolut –

„Was ich ganz vergessen hatte, dich zu fragen“, unterbrach sie seine selbstdestruktiven Gedankengänge. „Ist es in Ordnung für dich, dass Kreacher Sophie die Puppe geschenkt hat?“
„Was – wann … Ja, schon, ich habe es ihm erlaubt, aber wann hat er das denn getan?“
„Oh, schon bevor wir das letzte Mal bei dir waren. Er stand plötzlich im Salon und hatte die Puppe dabei.“
„Er war schon immer ganz groß darin, das Gesagte sehr frei zu seinen Gunsten auszulegen“, murrte Harry bei der Erinnerung daran, wie Kreacher den Befehl Raus einst zur Erlaubnis erklärt hatte, bei den Malfoys aufkreuzen und sich dort mit Bellatrix gegen Sirius zu verschwören … Ganz verzeihen würde er ihm dies wohl nie. Egal, was Dumbledore und Hermione darüber gesagt hatten.
„Tut mir leid, wenn dir das nicht recht war.“
„Doch, doch, schon in Ordnung. Mir tut es leid, wenn er einfach bei euch reingeplatzt ist.“

„Alles gut“, lächelte sie so viel unbeschwerter und offener als noch vor wenigen Minuten, dass Harry ganz warm ums Herz wurde und er hektisch nach einem positiven Thema suchte, um die Atmosphäre aufrecht zu erhalten.

„Du … du hast gesagt, ihr habt Pferde?“, begann er völlig zusammenhanglos.
„Ja, wieso?“
„Und Sophie hat ihr eigenes? Kann sie das denn überhaupt schon?“ Gerade nochmal mit einer sinnvollen Frage gerettet. Innerlich klopfte Harry sich auf die Schulter.
„Ein Mini-Shetty.“
Harry hatte keine Ahnung, was das sein sollte, nickte aber, als würde ihm das etwas sagen.
„So ein süßes Mäuschen und genauso eine Zicke wie Sophie“, lachte Saphira nun wirklich fröhlich, wie ausgewechselt … „Wir fangen gerade erst an zu üben, dass sie das Gleichgewicht halten kann. Jeden Tag fünf bis zehn Minuten, das ist momentan anstrengend genug, aber sie wird von Woche zu Woche besser.“
„Schön, wenn man ein Hobby hat“, sprach Harry planlos daher, um das Gespräch am Laufen zu halten. Er kannte sich mit Pferden so überhaupt nicht aus, aber er mochte diese raren Momente, in denen Saphira so zufrieden und frei heraus erzählte, die in einem deutlichen Kontrast zu ihrer ansonsten ernsten, beherrschten Art standen.
„Pferde zu haben ist eine Lebensaufgabe“, korrigierte Saphira ihn. „Es sei denn, man kann sich ein Stallmädchen leisten …“
„Habt ihr eins?“
„Meiner großzügigen Stiefschwester zum Dank: natürlich“, kicherte Saphira. Über so viel unverblümte und doch irgendwie sympathische Dekadenz musste nun auch Harry lachen.

„Spass beiseite, man muss das wirklich wollen, denn es bleibt auch so noch genug Arbeit liegen; immerhin wollen die Tiere regelmäßig bewegt werden, aber ich habe es schon immer geliebt. So schwierig unser Verhältnis auch war, werde ich meiner Mutter ewig dankbar sein, dass sie mir diese Beschäftigung in meinen Kindertagen nahegebracht hat. Ich war ein sehr melancholisches Kind … und eine melodramatische Jugendliche, aber Zeit mit meinen Pferden zu verbringen, hat mich auch in meinen dunkelsten Tagen mit Glück erfüllt. Der Gedanke, in den Stall zu gehen, hat mir geholfen, das Bett zu verlassen, wenn ich eigentlich keine Kraft dazu hatte. Ich weiß nicht, wo ich heute wäre, wenn ich nicht wenigstens diesen Lichtblick gehabt hätte.“

Für Harry war dieser Lichtblick lange Zeit Quidditch gewesen. Wenn er so darüber nachdachte, vermisste er das Gefühl, auf einem Besen zu sitzen, den Wind in seinen Haaren zu spüren, die Kraft der Beschleunigung … dieses angenehme Kribbeln in der Magengegend, das nur der Flug auf einem Besen und Ginnys Küsse in ihm auszulösen vermochten. Vermocht hatten. Vielleicht sollte er zumindest dem Fliegen noch einmal eine Chance geben. Ron wäre fraglos sofort dabei, schlüge er ihm und George eine Partie Quidditch auf der Wiese beim Fuchsbau vor. Auch wenn Fred für immer fehlte … es sich falsch anfühlte, ohne ihn Spass bei den Aktivitäten zu haben, die sie vier einst zusammen unternommen hatten. Aber Fred hätte nicht gewollt, dass sie nie wieder gemeinsam Freude empfanden, oder?

Er hob zu einer Antwort an, um diesen endlos im Kreis führenden Grübeleien ein Ende zu bereiten, wurde allerdings von einem Kellner unterbrochen, der mit gleich zwei Zauberstäben hantierte. Mit dem einen ließ er ein Tablett voll Butterbier lässig neben seinem Kopf schweben, den anderen nutzte er offenbar, um die neuen Bestellungen an die Tafel über der Bar zu projizieren. Ein gewagtes Konzept.
„Darf es bei euch noch etwas sein?“
„Ich schau mal in die –“

Weiter kam Harry nicht, da sich im selben Moment ein Gast zwischen Kellner und Nebentisch hindurchzwängte und mit dem Saum seines Umhangs an einem der Stühle hängen blieb.
In der nächsten Sekunde war Harry patschnass und über und über mit Butterbier bekleckert.
Das alles passierte so schnell, dass er sich nur zusammenreimen konnte, wie der Stolpernde dem Kellner mit haltsuchend rudernden Armen den Zauberstab aus der Hand geschlagen und dieses Unheil angerichtet hatte.
„Au verdammt!“, fluchte der Kellner in der inzwischen proppenvollen, lauten Bar, in der sich zum Glück kaum jemand für ihre missliche Lage interessierte.
„Tut mir leid, tut mir leid!“, rief er Harry zu und tastete auf dem klebrig nassen Boden nach seinen Zauberstäben, die er vor Schreck beide hatte fallen lassen.
„Ich mach das weg“, bot er an und hob unter weiteren peinlich berührten Entschuldigungen den Zauberstab, indes Harry kaum reagieren konnte und nur perplex wie ein begossener Pudel dasaß, während der Verursacher dieses Ungeschicks sich hinter dem Kellner still und heimlich aus dem Staub machte.

„Lass nur“, mischte Saphira sich ein, deren Anwesenheit Harry siedend heiß wieder bewusst wurde.
„Hast du auch was abbekommen?“, wollte er wissen.
„Marginal“, winkte sie beiläufig ab. Ihre Aufmerksamkeit lag auf dem Kellner, vor dessen Zauberstab sie einhaltgebietend die Hand hielt.
„Das ist nicht notwendig, ich mache das schon.“ Ihr Tonfall war der einer strengen Mutter und ließ den eben noch so selbstsicheren jungen Mann in sich zusammenschrumpfen.
„Sorry, ich … ich bring euch was aufs Haus“, nuschelte er, fegte mit einem Schlenker seines Zauberstabs zumindest rasch die Scherben vom Boden und verschwand mit eingezogenem Kopf hinter der Bar.

„Darf ich?“, fragte Saphira und deutete auf Harrys nasse Haare und Kleidung. „Diese Säuberungs-Zauber können sich auf der Haut wie das Raspeln einer Thestralzunge anfühlen, wenn man sie nicht richtig beherrscht, und ich habe soeben das Vertrauen in die Fähigkeiten dieses Kellners verloren. Deine Kleidung bekomme ich solange du sie trägst allerdings auch nur trocken, nicht sauber.“
„Er wurde geschubst“, verteidigte Harry (dem die gesamte Angelegenheit mindestens so peinlich war wie dem Kellner, obwohl es der Schubser war, der sich schämen sollte) ihn halbherzig. „Aber na klar, darfst du.“
„Du lässt also eine potentielle Gefährderin den Zauberstab auf dich richten?“
„Ich vertraue dir.“

Sie hielt in der Bewegung inne und sah ihm endlich wieder richtig in die Augen, irritiert und nur für einen flüchtigen Moment, dann blinzelte sie und das wohlige Gefühl der Verbundenheit verflüchtigte sich.
„Klingt seltsam aus dem Mund einer fremden Person.“
Es dauerte ein wenig, bis Harry begriff, was sie meinte. In der Hoffnung, dass es tatsächlich nur sein verändertes Aussehen war.

„Hier, sorry nochmal, geht aufs Haus.“ Mit diesen Worten stellte der Kellner ein randvolles Glas Feuerwhisky auf Eis vor den – nun wenigstes wieder trockenen – Harry, wich Saphiras strengem Blick aus und entfernte sich unauffällig.
„Magst du?“ Harry hielt ihr den Whisky hin, während sie gleichzeitig den Kopf zurück in seine Richtung wandte, sodass sie das Glas direkt unter die Nase hatte; deutlich zu nah wohl, da Saphira ein hochgradig angewidertes Gesicht zog und seine Hand reflexartig wegstieß.
„Nein, danke“, entgegnete sie frostig. Ihr Lebensmittel anzubieten sollte er zukünftig wohl unterlassen. Das ging irgendwie jedes Mal schief.

Er wischte seine Hand am Ärmelsaum trocken und nahm dann selbst einen Schluck zu sich. Die typische Wärme eines guten Feuerwhiskys breitete sich von seinem Rachen bis hinunter in den Magen aus und er fühlte sich auf der Stelle besser.
Das gute Gefühl verpuffte so rasch, wie es gekommen war, als er Saphiras starre Miene bemerkte.
„Alles in Ordnung?“
„Natürlich“, entgegnete sie wenig überzeugend und winkte der Barhexe zu:
„Wir würden dann zahlen.“
„Wirklich? Ich hab noch 40 Minuten“, wandte Harry mit Blick auf seine Armbanduhr ein.
„Wir können das ja ein andermal wiederholen, aber … ja, wirklich.“ Sie kramte in der Handtasche nach ihrem Geldbeutel.
„Ich … lad dich ein“, sagte Harry vorsichtig, gedanklich auf der Suche nach dem Grund für die unterkühlte Stimmung. Was hatte er nun getan, um sie zu verärgern? Oder lag es gar nicht an ihm?
„Nicht nötig.“

Kaum war die Rechnung beglichen, erhob Saphira sich und warf den Reiseumhang über, sodass Harry nichts übrig blieb, als den restlichen Whisky in einem Zug hinunter zu kippen und ihr hinaus in die Dämmerung zu folgen.

Ohne ein Wort miteinander zu wechseln begaben sie sich durch den Tropfenden Kessel in die belebte londoner Muggelwelt, während Harry Mühe hatte, seine vom Alkohol gelockerte Zunge im Zaum zu halten, um Saphira mit einer unüberlegten Äußerung nicht noch mehr zu verärgern als ohnehin schon. Auch wenn sich seinem Verständnis entzog, welche Laus ihr wohl über die Leber gelaufen sein mochte.

„Soll ich dich zum Bahnhof begleiten?“
„Nein, das ist wirklich nicht nötig.“ Endlich klang sie etwas weniger verbissen, doch nicht minder entschlossen. An einer breiteren Stelle des Bürgersteigs blieb sie abrupt nahe einer Hauswand stehen und kratzte mit dem Nagel ihres Ringfingers am unteren Lidrand ihres rechten Auges herum. Es sah beinahe gefährlich aus.
„Nur nicht nötig – oder möchtest du nicht?“
„Harry, ich …“ Sie hielt inne und ließ kurz von ihrem Auge ab, um ihn anzusehen, blinzelte dabei aber noch immer sehr schnell und unregelmäßig. „Das hat nichts mit dir zu tun, aber ich wäre jetzt einfach gerne alleine.“
„Okay“, sagte er langsam und ließ ratlos die Schultern hängen. Da war sie wieder, die Leere in seinem Innern, das Gefühl, nichts richtig machen zu können, Gesellschaft nicht zu verdienen, und über allem schwebend bittere Enttäuschung. Dabei begriff Harry nicht einmal im Ansatz, was überhaupt schief gelaufen war.

„Hast du was im Auge?“, fragte er, als Saphira verärgert ausatmete und schon wieder daran herumzunesteln begann.
„Ich fürchte schon“, murmelte sie.
„Lass mich mal sehen.“ Ehe sie reagieren konnte, beugte Harry sich zu ihr herab und berührte ihre Wange, die von kleinen Rötungen überzogen war. Reagierte ihre Haut auf den Alkohol oder waren es hektische Flecken? Mit dem Daumen zog er die Haut unter ihrem geröteten Auge ein wenig herunter und hoffte so zu entdecken, was ihr dort hineingeraten war.
Er spürte, wie ihr Körper sich unter seiner Berührung versteifte, während sie ihn starr ansah, nicht einmal mehr blinzelte.
Alles in Ordnung?, war, was er eigentlich hatte sagen wollen, doch dann entdeckte er die verirrte Wimper.
„Ich glaub, ich seh’s!“, stieß er unpassend siegessicher aus – der Alkohol war seiner sozialen Inkompetenz leider nicht sonderlich zuträglich.
Er kam jedoch nicht mehr dazu, Saphiras Problem zu beheben, da sie ihm urplötzlich einen Stoß versetzte, mit einer Kraft, die er der zierlichen Frau kaum zugetraut hätte. Harry stolperte rückwärts und sah sie verdattert an.
„Lass mich los!“, keuchte sie atemlos – obwohl er sie nicht mehr berührte – und hielt sich eine Hand vor Mund und Nase, indes ihr Oberkörper einmal zusammenzuckte, als unterdrückte sie ein Würgen.
„Fass mich nicht an.“ Ihre Stimme klang brüchig.

„Tut mir leid, ich … ehm …“, stammelte Harry hilflos. „Hab ich dir wehgetan?“
„Ich muss los.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte im Laufschritt in Richtung des U-Bahnhofs davon.
„Saphira!“, rief er ihr nach, aber sie drehte sich nicht noch einmal um.


_______________________________________


Der kursivgeschriebene Teil mit Tonks wurde teilweise (wörtliche Rede) aus dem Buch übernommen, den Erzähltext habe ich ein bisschen angepasst.

„Drache (hab Draco geschrieben, lol)“, murmelte Sophie und hielt ihr Plüschtier vors Gesicht.
Harry konnte sich nicht helfen, die Tatsache, dass es ausgerechnet ein Kuscheldrache war, erinnerte ihn unweigerlich an Draco (also hab ich Draco gleich mal mit eingebaut) …

„Brauchst du das denn noch? Ich meine … du siehst … gesund aus?“
#hastdumichgeradefettgenannt?

„Ich weiß nicht, ob ich mit so einem Mann zusammenarbeiten will“, stellte er klar.
Harry ist einfach dieser übertrieben politisch korrekte Freund, der jeden nervt, aber den man trotzdem lieb hat.

Ich wünsche euch frohe Weihnachten und hoffe, wir lesen uns im nächsten Jahr wieder ;)
Bis dahin dürft ihr fröhlich spekulieren, welche Laus Saphira wohl über die Leber gelaufen ist.
Review schreiben
 
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast