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Totenwacht

von Werfuchs
Kurzbeschreibung
KurzgeschichteMystery, Schmerz/Trost / P16 / Het
Hayate Gekkou Yuugao Uzuki
31.10.2022
31.10.2022
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4.888
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Ihr Atem ging schnell, als sie ein weiteres Mal vorsprang und einen raschen Schlag gegen die Gestalt vor ihr führte. Wie ein Turm ragte er über ihr auf und seine dunklen Augen blitzten auf, als er das Schwert auf sie niedersausen ließ. Yugao duckte sich weg und brachte sich mit einem schnellen Satz in Sicherheit. Gleich darauf jedoch preschte sie wieder vor und dieses Mal war es an ihm zurückzuweichen. Er begann zu keuchen, während er ihre Schläge zunehmend unbeholfener abwehrte und dabei immer mehr Boden einbüßte. Yugao packte den Schwertgriff fester und verengte die Augen. Dann zuckten Frau und Katana vor und erwischten ihn mit einem perfekten Schlag.
Kuro jaulte auf, als sie ihm das Übungsschwert aus der rechten Hand schlug und es mit einem dumpfen Laut neben ihm auf den Boden prallte. Er strauchelte und blieb an einem Grasbüschel hängen. Mit einem erschrockenen Aufschrei kippte der Junge nach hinten. Yugao hechtete nach vorn und packte ihn am Kragen. Sorgsam stellte sie ihn wieder auf die Füße und er lächelte sie verlegen an.
„Tut mir leid, Sensei“, murmelte er und senkte den Blick zu Boden.
Yugao lächelte ihn halbherzig an. Sie war noch immer unglücklich damit, dass der Hokage sie wieder zum Training zwang und ihr sogar einen Schützling aufs Auge gedrückt hatte, doch dafür konnte der Junge nichts. Er hatte keine Ahnung davon, was hinter den Kulissen wirklich vorging. Er wusste nicht, dass sie dem Kampf abgeschworen hatte. Dass sie diesen Trainingskampf führten, verdankte Kuro nur dem Befehl des Hokage. Zu echten Kämpfen jedoch konnte dieser sie nicht zwingen, diese Zeit war endgültig vorüber.
Das konnte der Junge jedoch nicht wissen, also nickte sie ihm nur zu und sagte aufmunternd: „Für den Anfang war das doch gar nicht schlecht, Kuro. Du musst nur an deiner Haltung arbeiten, dann wird es bald besser.“
Tatsächlich war sie davon nicht so überzeugt, wie sie es ihm vormachte. Kuro war im Grunde schon aus dem Alter heraus, in dem sie noch einen passablen Schwertkämpfer aus ihm machen konnte. Wer immer ihn die Grundlagen gelehrt hatte, hatte darin gründlich versagt. Der junge Mann hatte zwar die perfekte Statur für einen Schwertkämpfer, seine Haltung und Schwertführung jedoch waren weit ab von allem, was man als gut bezeichnen konnte. Vielleicht hatte der Hokage genau deshalb ausgerechnet sie ausgewählt, Kuro unter ihre Fittiche zu nehmen. Schließlich hatte sie vom Besten gelernt.
Der Gedanke an Hayate jagte einen scharfen Schmerz durch Yugaos Brust. Sie spürte, wie sich ihre Finger um den Schwertgriff verkrampften. Nicht jetzt, beschwor sie sich innerlich. Noch war der Jahrestag seines Todes nicht gekommen, noch musste sie sich zusammenreißen. Sie zwang ihren Atem zur Ruhe und konzentrierte sich nur auf den rauen Schwertgriff in ihrer Hand. Als sie den Kopf wieder hob sah sie, dass sich ein seltsamer Ausdruck auf Kuros Gesicht geschlichen hatte. Doch so schnell wie er gekommen war, war er auch wieder der üblichen schüchternen Miene gewichen.
„Für heute machen wir Schluss“, sagte sie schnell und Kuro nickte ihr zu.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu der Bank am Rand des Trainingsplatzes, auf dem sie ihre Tragetaschen gelassen hatten. Der Junge blieb ein Stück hinter ihr zurück und ließ sein Holzschwert geräuschvoll durch das Gras rascheln. An der Bank angelangt griff Yugao an ihren Rücken und zog die kleine Waffentasche nach vorn, die sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. Sie nahm sie ab und legte sie zu ihrer restlichen Ausrüstung in die große Tragetasche.
„Sieh dich vor.“
Verwirrt warf sie einen Blick über die Schulter, doch Kuro war noch ein paar Schritte von ihr entfernt und hatte den Blick auf seine Klinge gerichtet, die er gerade nach Scharten absuchte.
„Was hast du gesagt?“, fragte Yugao ihn.
Kuro hob den Kopf und sah sie irritiert an. „Ich habe nichts gesagt, Sensei.“
Einen Moment lang musterte sie ihn und überlegte, ob er ihr einen Streich spielte. Doch dann zuckte sie nur die Achseln und wandte sich wieder der Bank zu. Sie zurrte den Verschluss ihrer Tragetasche zu und schwang sie über ihre Schulter. Yugao drehte sich um – und fuhr erschrocken zurück, als sie Kuro direkt vor sich sah.
Er lächelte sie verwundert an. „Sie haben etwas vergessen, Sensei“, sagte er und kramte in einer der vielen Taschen seiner Uniform. Einen Moment später wurde er fündig und reichte ihr mit einem Lächeln einen Wurfstern. „Den hier haben Sie im Gras verloren.“
Yugao zögerte kurz, bevor sie die Waffe entgegennahm und einen Schritt zurücktat. „Danke“, sagte sie knapp.
Mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete sie sich von ihrem Schüler und verließ den Trainingsplatz.

Der Heimweg führte Yugao durch eine der größten Straßen Konohas. Normalerweise war sie sehr belebt, doch heute schlichen nur noch ein paar Nachzügler durch die Straße. Yugao kniff die Augen zusammen und musterte die grauen Wolken, die den Himmel bedeckten. Es regnete nicht, doch es war ein ungewöhnlich kalter Wind aufgekommen, der durch die Gassen zog. Früher wäre Yugao über Dächer und Baumwipfel zurück zu ihrer Wohnung geeilt, doch nun zog sie den langen Weg vor. Sie fürchtete sich vor der Leere, die in ihren Räumen auf sie wartete.
Ihr Blick wanderte über die Schaufenster und Auslagen, die in ihrem unbeleuchteten Zustand grau und trostlos aussahen. Ein verlassener Marktstand zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Tagsüber wurde hier frisches Gemüse verkauft, wenn sie sich recht erinnerte. Doch nun war der Stand bis auf ein paar Kisten leer. Yugao rümpfte die Nase, als ihr der Geruch von verdorbenen Gemüseresten entgegenwaberte.
Sie wich einem Mann aus, der mit gesenktem Kopf an ihr vorbeihastete. Mit einem Seufzer kam sie zu dem Schluss, dass sie die Heimkehr nicht mehr länger verzögern konnte, als plötzlich ein Lichtschein ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie ging ein paar Schritte weiter und kam vor Ichirakus Nudelrestaurant zum Stehen. Ihr Magen machte sich mit einem Knurren bemerkbar.
Yugao zuckte die Achseln und schob mit der Hand den verschlissenen Stoffvorhang zur Seite, der das kleine Lokal von der verwaisten Straße trennte. Sie nahm auf einem der Hocker Platz, die sich vor dem Tresen reihten, und wartete auf die Bedienung. Es dauerte nur einen Moment, bis der Koch sich ihr zuwandte.
„Hast du Angst?“
Yugao starrte ihn an. „Wie bitte?“, fragte sie verwirrt.
„Ob du einen Wunsch hast, habe ich gefragt“, sagte der Mann mit einem gütigen Lächeln.
Yugao verspürte den Drang, sich die Augen zu reiben, doch sie unterdrückte den Impuls und bestellte die Tagessuppe. Während sie wartete, beschlich sie ein seltsames Gefühl. Sie rutschte auf ihrem Hocker hin und her und sah sich um, doch außer ihr war das kleine Lokal leer.
Ein Windstoß ließ den Vorhang hinter ihr flattern und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Yugao wandte sich um und sah durch den Spalt hindurch eine Gestalt, die unverwandt in ihre Richtung schaute. Sie kniff die Augen zusammen und hielt inne, als sie Kuro erkannte. Doch noch bevor sie einen Gedanken fassen konnte, hob der Junge die Hand und winkte ihr.
Sie nickte ihm unwillig zu, bevor sie sich wieder zu dem Koch umwandte, der gerade eine Schüssel dampfender Nudelsuppe vor ihr abstellte.
„Einmal Ichirakus Spezialsuppe für dich.“

Yugaos Schritte wurden immer langsamer, je näher sie ihrem Wohnkomplex kam. Nichts widerstrebte ihr mehr, als in die kalte Wohnung zurückzukehren. Die Treppe fühlte sich schier unendlich an, doch irgendwann war sie oben angekommen. Sie ging den schmalen Balkon entlang, an dessen linker Seite die Türen zu den Wohnungen abgingen. Der Wind hatte sich verstärkt und zerrte an ihr, während sie die Tür aufschloss.
„Du musst aufpassen.“
Das Flüstern des Windes klang fast wie eine Stimme. Yugao fröstelte unwillkürlich und gab der Tür einen kleinen Tritt. Sie fiel zu und sperrte das ungastliche Wetter aus. Stille umfing Yugao und sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Tür sinken. Sie hatte gehofft, dass es ihr helfen würde wieder unter Menschen zu gehen. Doch nun fühlte sie sich noch ausgelaugter als zuvor.
Mit einem tiefen Seufzer streifte Yugao ihre Schuhe und Tragetasche ab und ließ sie im Flur zu Boden fallen. Der Boden fühlte sich unter ihren bloßen Füßen kalt an, als sie in den Wohnraum huschte. Sie fuhr leicht mit der Hand über die Wand, bis sie den Lichtschalter gefunden und betätigt hatte.
Eine alte Glühbirne flammte auf und tauchte den Raum in ein Meer aus Halbschatten.
Ihr Blick schweifte über die Möbel, die ihr kahl und trist vorkamen. Das Stechen in ihrer Brust wurde stärker, bis es ihr beinahe die Luft zum Atmen nahm. Dieses Mal war es nicht sein Sessel, der sie erstarren ließ. Nein, diesmal rief die Kommode nach ihr.
Wie eine Schlafwandlerin trat Yugao auf das Möbelstück zu und streckte die Hand nach der Schublade aus. Ihre Finger begannen zu zittern. Eigentlich hatte sie sich geschworen, die Schublade erst dann wieder zu öffnen, wenn der Schmerz in ihrem Inneren nachgelassen hatte. Doch nun war beinahe ein Jahr verstrichen und er brannte noch immer wie am ersten Tag. Und doch war da noch etwas anderes, ein Verlangen, ein Ziehen, das sie sich nicht erklären konnte.
Ihre Sehnsucht siegte über ihren Schmerz und sie zog die Schublade mit einem Ruck auf. Und da war er. Sein blasses Gesicht lächelte ihr aus dem Bilderrahmen entgegen. Sie griff danach, zog das Bild hervor, presste es an ihre Brust.
„Ach, Hayate …“ Ihre Stimme verklang zu einem Wispern.
Wenn sie an ihn dachte, verschwammen seine liebevollen Züge in ihrer Vorstellung. Sie wurden starr und leer und seine gebrochenen Augen sahen an ihr vorbei. Immer wieder flackerte die Erinnerung in ihr auf. Seine reglose Gestalt, die sie schon von Weitem hatte sehen können. Die Ahnung, die Gewissheit, dass er es war. Und der Schock, als er es wirklich war.
„Nein“, flüsterte Yugao, „nein, nicht jetzt.“
Der Schmerz drohte sie zu zerreißen, doch dieses Mal packte sie zu und zerriss ihn. Dieses eine Mal würde sie den Kummer nicht gewinnen lassen.
Ein, aus.
Sie konzentrierte sich auf ihren Atem und spürte, wie sie sich beruhigte.
Ein, aus.
Den Blick hatte sie fest auf das Bild geheftet, das sein wunderbares Lächeln für die Ewigkeit eingefangen hatte.
„Sieh hinaus.“
Wie oft hatte er das zu ihr gesagt? Manchmal meinte Yugao, noch jetzt seine Stimme hören zu können. Sie lächelte schmerzlich und hob den Blick – und erstarrte, als sie in den Spiegel über der Kommode blickte. Sie sah eine junge Frau, deren Gesicht vor Gram viel älter wirkte. Sie hielt ein Bild in den Händen, so fest an sich gepresst, dass sie fürchtete, es würde zerspringen. Sie sah einsame Möbel hinter der Frau. Und sie sah einen schwarzen Schatten, der durch das Fenster zu ihr hineinspähte.
Yugao fuhr herum, ihre Hand flog zu ihrem Gürtel. Doch die Waffentasche lag nutzlos im Flur. Ihr erster Instinkt schrie Flucht, doch die langen Jahre als Elitekämpferin setzten sich durch. Ohne zu zögern zerschlug sie das Glas des Bilderrahmens und ergriff eine große, scharfkantige Scherbe. Das Glas bohrte sich in ihre Handfläche, doch dieser Schmerz gab ihr Sicherheit, als sie auf das Fenster zu hechtete. Sie brauchte nicht länger als einen Wimpernschlag, doch dieser Augenblick hatte genügt. Als sie das Fenster aufstieß, war der Schatten verschwunden.

Es wurde eine lange Nacht. Als das erste Licht des Tages am Horizont auftauchte, hatte Yugao noch immer keinen Schlaf gefunden. Viele Stunden hatte sie ausgeharrt, zunächst mit der Scherbe, später mit ihren Waffen. Sie hatte so lang im dunklen Wohnraum gehockt und aus dem Fenster gestarrt, bis sich alles in ihrem Kopf drehte. Vielleicht hatte sie sich den Schatten nur eingebildet, sagte eine zaghafte Stimme in ihr. Doch das Blut in ihrer Handfläche, die sie sich mit der Glasscherbe zerschnitten hatte, erstickte diese Stimme.
Erst als die letzte Dunkelheit wich, beendete sie ihre Wache. Wessen Schatten auch immer in der Nacht vor ihrem Fenster gehockt hatte, bei Tag würde er sich nicht in ihre Nähe wagen. Dafür lag das Haus zu zentral und offen. Und so fand Yugao einen tiefen und doch unruhigen Schlaf, in dem sie von Toten und Körperlosen träumte.
Als Yugao erwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie wollte erneut die Augen schließen und wegsacken, doch ein Geräusch bohrte sich ungnädig in ihr Gehör. Es war ein lautes Klopfen und sie meinte sogar, ein Rufen zu hören. Unwillig quälte sie sich aus dem Bett und sah an sich hinab. Sie trug noch immer die Sachen vom Vorabend. Yugao näherte sich der Tür, gegen die jemand inzwischen höchst eindringlich bollerte.
Mürrisch rupfte sie die Tür auf. „Was ist denn?“, fuhr sie ihr Gegenüber an.
„Sensei Yugao“, fragte eine erschrockene Stimme, „ist alles in Ordnung?“
Es dauerte einen Moment, bis sie in dem jungen Mann Kuro erkannte. Er musterte sie mit einem leicht besorgten Ausdruck.
„Ich habe mir Gedanken gemacht, weil Sie nicht zum Training erschienen sind“, sagte Kuro und klang dabei ein wenig eingeschüchtert.
Seine betroffene Miene ließ sie wieder in die Gegenwart zurückschnappen. Mit einem Mal schämte sie sich, dass sie ihn so angeraunzt hatte.
„Verzeih mir, Kuro“, sagte sie betreten, „ich hätte dich informieren sollen. Geh nur vor, ich komme gleich nach.“
Er nickte und deutete eine Verbeugung an, bevor er sich zum Gehen wandte. Nachdem Yugao die Tür hinter ihm geschlossen hatte, lehnte sie sich einen Moment an sie. Das Holz an ihrem Rücken war kühl. Noch immer fühlte sie sich, als sei sie in einem Traum gefangen. Etwas kam ihr unstimmig vor, geradezu falsch. Und doch konnte sie den Finger nicht darauflegen, was sie störte.
Sie schüttelte den Gedanken mit einem entnervten Schnauben ab. Bereits gestern war sie sich vorgekommen, als würde sie den Verstand verlieren – und nun begann der neue Tag ähnlich verworren.
Ein heißer Tee würde ihr sicher helfen. Mit diesem Vorsatz ging sie in die Küche und setzte Wasser auf. Mit einem geübten Griff drehte sie das kleine Radio auf, das neben dem Wasserkocher stand. Da das Wasser immer eine Weile brauchte, huschte sie zum Klang des Radios in ihr Bad, um sich dort wenigstens kurz zu waschen.
Die Katzenwäsche half. Mit dem Gedudel des Radios im Ohr suchte sich Yugao neue Kleidung heraus und zog sich flugs an. Sie summte gerade die letzten Takte eines Liedes mit, als ein Nachrichtensprecher den Sänger unbarmherzig abwürgte. Seine Stimme war anders als gewohnt, seltsam leise und ein wenig verzerrt. Hier im Schlafzimmer konnte sie nicht verstehen, was er sagte, doch ihr fiel die ungewöhnliche Sprachmelodie auf. Es klang beinahe, als würde der Sprecher immer das Gleiche wiederholen. Neugierig ging sie wieder in die Küche und fing den letzten Fetzen der Durchsage auf.
„Du bist in großer Gefahr.“
Yugao blieb wie angewurzelt stehen. Was? Am gestrigen Abend war sie noch gewillt gewesen, die seltsamen Vorfälle auf ihre Müdigkeit zu schieben, doch das konnte kein Produkt ihrer Fantasie mehr sein. Angespannt wartete sie, dass dem Satz ein weiterer folgte, doch es waren die ersten Klänge eines neuen Liedes, die nun aus dem Radio tönten.

Yugao traf zusammen mit den ersten Gewitterwolken auf dem Trainingsplatz ein. Er war ungewöhnlich leer, wie sie erstaunt feststellte. Für gewöhnlich tummelten sich immer eine Handvoll Shinobi auf dem weitläufigen Gelände. Gerade dieser Trainingsplatz war bei den fortgeschrittenen Kämpfern beliebt, da er eine große Vielfalt bot. Er war ein gutes Stück vom Zentrum des Dorfes entfernt und schmiegte sich an einen Fluss, der rauschend durch sein dunkles Bett strömte. Ein Teil des Trainingsplatzes breitete sich in dem Wald aus, der an das Dorf grenzte. So war es den Shinobi möglich, mit unterschiedlichen Licht- und Bodenverhältnissen zu üben, wie es auch im Kampf vorkommen konnte. Auch Yugao genoss den Schatten, den die Bäume ihr spendeten. Heute jedoch war dies kaum nötig, denn die dunklen Wolken am Himmel warfen einen beklemmenden Schatten auf den Trainingsplatz.
„Daran wird’s liegen“, murmelte Yugao zu sich, während sie ihre Sachen ablegte, und ihre Waffentasche an ihrem Gürtel befestigte und hinter den Rücken zog.
„Was meinen Sie, Sensei?“, fragte jemand schräg hinter ihr.
Dieses Mal erkannte sie Kuros Stimme sofort und drehte sich mit einem versöhnlichen Lächeln zu ihm um. „Ich habe überlegt, ob der Trainingsplatz wegen der Wolken so leer ist. Wie es aussieht, werden wir heute nass werden.“
Kuro nickte nachdenklich. „Ja, daran wird es wohl liegen“, stimmte er ihr zu.
Der junge Mann wirkte ein wenig blass. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch den dunklen Hakama, den Kuro anstelle der üblichen Uniform trug. Einen Moment lang wunderte Yugao sich über das traditionelle Gewand. Vielleicht wollte er ihr so zeigen, dass ihm das Training sehr wichtig war. Ein Anflug schlechten Gewissens überkam Yugao, als sie überlegte, wie lange er heute wohl schon vergeblich auf sie gewartet hatte.
Ein erster Donnerschlag rollte in der Ferne und Yugao rieb sich über die Arme. Sie mochte Gewitter nicht, sie gaben ihr das Gefühl, klein und verletzlich zu sein.
„Wir werden uns heute im wieder im Schwertkampf üben“, sagte sie rasch um sich davon abzulenken.
Kuro nickte eifrig, doch dann schlich sich ein seltsam betretener Ausdruck in sein Gesicht. Er scharrte unruhig mit dem Fuß am Boden herum und kaute auf seiner Lippe.
Yugao sah ihn fragend an. „Kuro?“
Er hob den Kopf und sah sie bittend an. „Darf ich heute mein eigenes Katana anstelle des Übungsschwerts verwenden?“
Yugao überlegte. Eigentlich war der Junge noch nicht so weit, doch ihr schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort. Was konnte es schaden, ihm eine kleine Freude zu machen?
„In Ordnung“, sagte sie also. Einen Moment lang zuckte ein schwer zu deutender Blick durch seine Augen, doch dann machte er einem begeisterten Funkeln Platz.
„Wirklich?“, stieß Kuro hervor. „Es ist mir eine Ehre!“
Er deutete eine Verbeugung an und hastete zu den Bänken, auf denen er seine Ausrüstung gelassen hatte. Yugao blieb zurück, ihr eigenes Katana locker in der Hand. Sie stieß einen leisen Seufzer aus, als sie zum dem tanzenden, schäumenden Fluss blickte. Hier hatten sie und Hayate oft zusammen trainiert – und viele Nächte damit zugebracht, den Mond zu beobachten. Der Schmerz traf sie so hart, dass sie sich verkrampfte. Sie fühlte sich so einsam, so verloren ohne ihn.
Sie schluckte schwer und richtete den Blick wieder auf den Jungen, der die Bank inzwischen erreicht hatte und eifrig in seiner Tragetasche wühlte. Seine Schultern bebten und Yugao fragte sich unwillkürlich, worüber er lachte. Wind zerzauste sein dunkles Haar und riss an seinen Kleidern.
Yugao fröstelte. Obwohl der Sommer erst wenige Wochen her war, breitete sich eine herbstliche Kühle über Konoha aus. Mit kritischem Blick beäugte sie die Wolkenwand, die sich immer weiter auf das Dorf zu wälzte. Der Wind säuselte und brachte Blätter und Grashalme gleichsam zum Rascheln.
„Er wird dich töten.“
Inzwischen hatte Yugao beinahe schon Übung darin, diese seltsamen Halluzinationen abzuschütteln. Denn etwas anderes konnte es nicht sein. Sie lächelte bitter in sich hinein. Zuerst verlor sie ihren Geliebten und nun auch noch den Verstand, wie es schien. Vielleicht war es gut, wenn sie im Übungskampf die Klingen kreuzte. Viele Monate hatte es sie gegraust, ihr Schwert erneut in die Hand zu nehmen, doch der Hokage hatte sie dazu gezwungen. Und vielleicht hatte er recht damit gehabt. Je länger sie zögerte, desto mehr wuchs ihr Abscheu … und ihre Angst.
„Wollen wir uns unter die Bäume zurückziehen?“, fragte Kuro, als er mit dem Schwert in der Hand wieder bei ihr ankam. „Ich denke, die Wolken werden jeden Moment aufreißen.“
Als hätte ihn der Himmel vernommen, fiel ein erster kalter Tropfen auf Yugaos Stirn. Obwohl ihr Kämpfe im Regen durchaus nicht fremd waren, zog sie sie doch im Trockenen vor.
„Geh voran“, sagte sie mit einem Nicken.
Kuro setzte sich in Bewegung und marschierte zielstrebig auf den Waldrand zu. Yugao folgte ihm. Er tauchte tiefer zwischen die Bäume ein, als sie es für nötig gehalten hatte, doch immerhin waren sie hier vor dem Regen geschützt, der nun hart auf das Blätterdach prasselte. Die Schatten um sie herum vertieften sich mit jeder Minute und aus dem Augenwinkel sah es fast so aus, als bewegten sie sich. Yugao schauderte und schüttelte den Gedanken ab.
„Hier ist ein guter Ort, nicht wahr?“, fragte Kuro sie mit einem schrägen Lächeln.
Yugao zuckte die Achseln. Für ihren Geschmack war es etwas zu dunkel. Der Wald hatte hier seine Freundlichkeit verloren und zeigte sein dunkles Gesicht.
Sie nahm ihre Kampfposition ein und Kuro tat es ihr gleich. Sie seufzte, als er wieder dieselbe Haltung einnahm wie am Vortag. Seine Schultern hingen schlaff herunter und das Katana hing schwer in seiner rechten Hand. Etwas an dem Schwert zog ihre Aufmerksamkeit an sich. Sie entdeckte eine schmale Gravur in der Klinge, die sie dunkel an etwas erinnerte.
Yugao schob den Gedanken zur Seite. Selbst in einem Übungskampf musste der Geist stets präsent sein, wenn man sich nicht von seinem Gegner übertölpeln lassen wollte.
Sie machte einen Schritt zur Seite und Kuro folgte ihrer Bewegung. Langsam, beinahe feierlich begannen sie einander zu umkreisen. Donner grollte in der Ferne.
„Wo haben Sie den Schwertkampf erlernt, Sensei?“, fragte Kuro, während er ihre Bewegungen spiegelte, dabei jedoch immer wieder an Wurzeln und kleinen Steinen hängen blieb.
Yugao behielt seine Fußstellung im Blick, während sie antwortete. „Ich habe in der Akademie damit begonnen, doch das Meiste habe ich von meinem Partner gelernt.“
Kuros Miene verriet nicht, was er vorhatte, doch Stück für Stück verringerte er den Abstand zwischen ihnen. „Sein Name war Hayate Gekkou, nicht wahr? Ich habe viel von ihm gehört. Er soll ein großartiger Shinobi gewesen sein.“
Yugao konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. „Das war er. Und er war ein großartiger Mensch“, sagte sie leise und blinzelte, als ihre Augen feucht wurden.
Kuros rechtes Augenlid zuckte leicht, als er ihre Schwäche witterte. Er sprang vor und Yugao fing seinen ersten Schlag mit Leichtigkeit ab. Erschrocken wich er wieder zurück und begann sie erneut zu umkreisen.
„Ich habe von dem Angriff auf die Yoru-Bewegung gehört, den er angeführt hat.“
Yugao runzelte die Stirn, während sie sich zu erinnern versuchte. Der Name sagte ihr etwas, doch das musste vor der Zeit gewesen sein, in der Hayate und sie ein Paar wurden. Wieder sang Kuros Katana, bevor sie es abblockte.
Er schien ihr die Verwirrung aus dem Gesicht abzulesen. „Hayate führte einen Angriff auf ein kleines Dorf an, das unter Verdacht stand, mit der Yoru-Bewegung zu sympathisieren.“ Ein heftiger Donnerschlag grollte über ihnen und einen Moment lang umkreisten sie sich schweigend. „Es wurde gesagt, sie planen einen Angriff auf Konoha. Also hat er sie zerschlagen.“
Langsam begann Yugao sich zu erinnern. Es war in der Tat einige Jahre her, so lange, dass sie diesen unbedeutenden Zwischenfall fast vergessen hatte. Damals hatte der Hokage sich um eine kleine Gruppierung Gedanken gemacht, die sich unter dem Mantel der Nacht versteckte und die Dörfer in ihrer Nähe heimsuchte.
„Hayate kehrte als Sieger heim, nachdem er ihren Anführer erschlagen hatte“, fuhr Kuro fort. Seine Schläge nahmen an Geschwindigkeit zu, doch sie waren unpräzise und es fiel ihr leicht ihnen zu entgehen.
„Ich erinnere mich“, sagte Yugao ausweichend, während sie um Kuro herumtanzte.
„Nun ist der Sieger tot.“ Ein Blitz zuckte über den Himmel und ließ Kuros Gesicht aufleuchten. Nur seine Augen waren schwarz wie die Nacht. „Früher, als ich es mir erhofft hatte.“
Yugao hielt inne, doch Kuros nächster Schlag zwang sie zum Ausweichen. „Was meinst du damit?“, fragte sie scharf. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus und sie machte unwillkürlich einen Schritt zurück.
Ein schmales Lächeln schlich sich auf Kuros Gesicht. „Ich hatte gehofft, dass ich es sein würde.“
Seine Klinge begann zu singen, als er schneller und härter zuschlug.  
Yugao wich zurück und wollte ihm Einhalt gebieten, doch Kuro drang auf sie ein. Noch immer klebte dieses merkwürdige Lächeln in seinem Gesicht.
„Wovon redest du?“, stieß Yugao hervor, während sie seine Hiebe parierte. Ihr standen die Haare zu Berge. Sie gab ihm das Handzeichen, das den Übungskampf beendete, doch Kuro starrte sie unverwandt an und schlich weiter um sie herum.
„Der Anführer der Bewegung hieß Shou. Er war ein großer Mann … Und ein guter Vater.“
Der nächste Schlag war so heftig, dass Yugao den Stoß bis in ihre Schultern spürte. Sie keuchte auf, als der Schmerz durch ihre Arme zuckte. Es fiel ihr schwer, sich einen Reim auf Kuros Worte zu machen. Sie hörte ihn, doch sie konnte ihn nicht, sie wollte ihn nicht verstehen. Alles in ihr schrie, als er auf sie zu pirschte.
Etwas flackerte in Kuros Augen auf. „Wie geht es eigentlich deiner Hand?“
Yugao zuckte heftig zusammen, als sie begriff. Angst flammte in ihr auf. Die Schnitte in ihrer Handfläche begannen zu brennen, als hielte sie die Scherbe noch immer fest umklammert. Sein nächster Hieb fuhr mit so viel Wucht auf sie nieder, dass sie ins Taumeln geriet. Ein weiterer Blitz jagte sein grelles Licht durch den Wald, leuchtete jeden Winkel aus. Danach waren die Schatten noch tiefer und Yugao spürte, wie sie nach ihr griffen.
„Aber wenn ich ihn nicht haben kann“, sagte Kuro in einem spöttischen Singsang, „dann nehme ich eben mit dir vorlieb!“
Das Lächeln wich aus seinem Gesicht und machte einer Fratze Platz. Es war, als fiele eine Maske, als Kuro sich aufrichtete und die Schwerthand wechselte. „Wollen wir doch mal sehen, wie gut du wirklich kämpfen kannst!“
Yugao konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen, bevor er bei ihr war. Wie ein Sturm brach er über sie herein und seine Schläge kamen so schnell, als kämpfte er mit zwei Schwertern. Ihr war, als stünde ihr ein fremder Mann gegenüber. Wie ein Rachegott ragte er über ihr auf, mit gestrafften Schultern und einem kalten Funkeln in den Augen. Blitze jagten einander über den Himmel und brachten ihre tanzenden Schwerter zum Leuchten. „Hör auf, Kuro“, flehte sie ihn an, doch ihre Stimme verklang im Kreischen der Klingen, als sie sich verzweifelt wehrte.
Dieses Mal erklang die Stimme neben ihrem Ohr und sie spürte die Schatten auf ihrer Haut.
„Kämpfe oder stirb.“
Und Yugao kämpfte.
Wieder und wieder prallten die Schwerter aufeinander und mit jedem Treffer schmerzten Yugaos Arme mehr. Sie spürte, wie die Schnitte in ihrer Hand aufrissen. Blut machte den Schwertgriff glitschig, doch sie ließ nicht locker. Wenn sie jetzt das Schwert fallen ließ, war das ihr Tod. Donnergrollen schallte über den Wald, so laut, dass ihre Ohren zu klingeln begannen.
Kuro trieb sie tiefer in den Wald hinein, immer weiter entfernte sich das letzte Licht des Waldrands. Während ihre Kräfte zusehends erlahmten, setzte er unerbittlich nach. Alles an ihm war anders, seine Haltung, seine Schläge. Yugaos Herz schlug wie verrückt und sie rang nach Luft, als sie begriff, dass er ihr überlegen war. Wieder und wieder zuckte sein Schwert auf sie nieder und es fiel ihr immer schwerer zu parieren. Sein Gesicht verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, als er ihre Schwäche witterte.
„Ich hätte gedacht, du hast mehr drauf“, höhnte Kuro, „aber es wundert mich nicht, Hayate hat schließlich auch verloren.“
Ihre Gedanken rasten, drehten sich im Kreis, raubten ihr den Atem, doch sie sah nur Hayates Gesicht vor sich.
„Wenn dein Gegner denkt, er hat dich besiegt, ist er am verwundbarsten. Gib ihm seinen Triumph und verwende ihn gegen ihn“, sagte er ernst zu ihr, während er das Übungsschwert an ihre Kehle hielt.
Eine Wurzel bohrte sich in ihre Ferse und Yugao ging mit einem Aufschrei zu Boden. Mit einem schnellen Sprung war Kuro bei ihr und schlug ihr Katana zur Seite, das sie schützend vor sich hielt. Mit einem Übelkeit erregenden Knacken gab ihr Handgelenk nach und das Schwert fiel aus ihrer Hand.
Ein weiterer Blitz zog über den Himmel und Yugao sah das Gesicht des Rächers über sich leuchten. Sein Lächeln war verschwunden und in seinen Augen brannte nur noch Hass.
„Scheint, als wäre Hayate doch kein so guter Lehrer gewesen. Und nun stirbst du, Yugao“, sagte er kalt und hob sein Katana.
Yugao hielt den Atem an und zwang sich stillzuhalten. Ihr Herz raste. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie dem Schwert entgegen – und als es auf sie herabfuhr, rollte sie sich blitzschnell zur Seite. Sie fuhr mit der anderen Hand in die Waffentasche an ihrem Rücken und schnellte hoch.
Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen und Schweigen hüllte den Wald ein. Als Kuro sich wieder regte, sog Yugao scharf die Luft ein und kroch rückwärts von ihm weg. Sie wimmerte, als sie mit dem gebrochenen Handgelenk einen Stein streifte.
Kuros Schwert war tief in die Erde gefahren. Er hielt den Griff noch immer umklammert und stützte sich darauf. Langsam, ganz langsam drehte er den Kopf zu ihr. Das Shuriken in seinem Hals verschob sich, als er sich bewegte. Wie hypnotisiert starrte Yugao auf das dünne Rinnsal Blut, das seinen Hals entlanglief.
„Ich glaube, jetzt stirbst du“, erklärte sie ihm mit zitternder Stimme.
Mit einem Röcheln glitt Kuro vom Schwert ab und fiel neben diesem auf den Boden. Der Wurfstern rutschte aus seiner Haut heraus und hinterließ einen roten Bach, der sich neben Kuros Kopf zu einem kleinen See formte. Sein Blick brach.
Yugao saß ein Stück entfernt und musterte das Blut, das so viel mehr war, als sie es erwartet hatte. Verwundert stellte sie fest, dass es die gleiche Farbe hatte wie jenes, das sich in ihrer Handfläche sammelte. Über ihr trommelte der Regen auf das Blätterdach und Blitze zuckten durch die Nacht.
Etwas strich behutsam über ihre Hand. Staunend sah Yugao zu, wie sich ein Blatt nach dem anderen auf die Schnitte bettete und die Blutung versiegte. Ein sanfter Hauch streichelte ihre Wange und dieses Mal war die Stimme ganz nah und voller Wärme.
„Ich liebe dich.“
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