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Die moralische Ambivalenz

Kurzbeschreibung
GeschichteFantasy, Action / P18 / FemSlash
29.10.2022
08.03.2023
6
20.069
8
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Dieses Kapitel
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29.10.2022 6.498
 
Kurzroman: Die moralische Ambivalenz


Anm. des Autors: In dieser Geschichte spielen Krieg, Flucht, Verlust und Angst eine Rolle. Ich habe versucht, diese Themen so sensibel wie möglich zu behandeln. Trotzdem gibt es vielleicht den ein oder anderen Leser, der diese Punkte meiden möchte. Daher dieser Hinweis von mir.


Kapitel 1


„Die Messermänner kommen wieder, oder, Pa? Sie kommen wieder und holen mich.“ Das kleine Mädchen streckte beide Hände nach ihrem Vater aus. Sie blinzelte und eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.

Milan näherte sich dem Bett seiner Tochter. Er schaute in ihre dunklen Augen, während er nach den richtigen Worten suchte. „Nein, meine kleine Aleyna. Hier sind wir in Sicherheit. Die Messermänner werden uns hier nicht finden.“

Mit einem Seufzer ließ er sich neben ihr auf die weichen Kissen sinken. Auch in seinem Kopf waren die schwarz gekleideten Männer noch immer präsent. In der dunklen Stunde vor dem Morgengrauen hatten sie Milans kleine Familie aus dem Schlaf gerissen.  Die Erinnerung griff wie eine kalte Hand nach seinen Eingeweiden und hielt sie umklammert. Einer der Geheimdienstmänner hatte ein großes Messer in der Hand gehalten. Dieses Bild hatte sich seitdem in Aleynas Kopf eingegraben, sodass sie nur noch von „den Messermännern“ sprach. Er wünschte sich sehnlichst, diese Erinnerung löschen zu können, um ihr so die Furcht zu nehmen.

Dicke Tränen kullerten jetzt über das Gesicht seiner Tochter. „Aber was ist, wenn sie uns doch finden? Was machen wir dann?“ Ihre Augen waren weit aufgerissen und rot umrandet. „Ich habe solche Angst, Pa!“

„Ich weiß, meine kleine Aleyna.“ Er nahm ihre Hand und streichelte ihr mit der anderen über die nasse Wange. Mit einer schnellen Bewegung beugte er sich vor und küsste einige der Tränen weg. „Aber wir haben es bis hierher geschafft. Wenn wir hier in diesem Versteck bleiben, findet uns Mama bestimmt bald.“

Ein kleines Lächeln bahnte sich seinen Weg zwischen die Tränen. Aleyna schniefte und wischte sich mit den Ärmeln ihres Schlafanzugs durch das Gesicht. „Ich vermisse Mama so doll. Meinst du, sie ist bald hier?“

Für einen kurzen Moment schlichen sich Zweifel in seinen Kopf und auf sein Gesicht. Er zwang sich, seiner Tochter ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. „Ganz bald, kleine Aleyna. Da bin ich sicher.“

Er lehnte sich zurück und zog Aleyna an sich. Das Mädchen war so schmächtig, dass sie in seiner Umarmung versank. Sanft drückte er ihr den Plüschfußball und den flauschigen Fußballhasen mit dem roten Trikot in den Arm.

Aleyna zitterte und blinzelte ihn an. „Mir ist kalt, Pa. Bleibst du bei mir? Ich habe Angst vor den schwarzen Männern.“

Milan hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich habe dir doch gesagt, dass wir hier in Sicherheit sind. Ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist. Und du hast ja auch noch Timothy.“ Er seufzte leise. Würde seine Tochter die Geschehnisse jemals verarbeiten? Er warf die Decke über sie.

Aleyna nahm den Fußballhasen und klammerte sich daran fest. „Ja, Timothy passt auch auf“, sagte sie tapfer.

Einen Moment später hörte Aleyna auf zu zittern. Milan atmete auf.

„Mama ist wirklich bald hier, oder?“, fragte sie leise.

„Ja“, sagte er noch einmal und versuchte, dabei so überzeugend wie möglich zu klingen. Er brachte es nicht über sich, Aleyna von seinen Zweifeln zu erzählen. Wenn seine Frau in Freiheit war, wieso antwortete sie dann nicht auf seine Nachrichten? Weshalb war sie nicht hier, bei ihm und ihrer Tochter? Kälte kroch durch seine Kleidung und ließ ihn mit den Zähnen klappern. Ein kaum hörbares Schnarchen verriet ihm, das Aleyna eingeschlafen war. Vorsichtig hob er den oberen Zipfel der Decke an und schlüpfte mit darunter. Er blinzelte, damit ihm keine Tränen kamen. Das alles kostete ihn so viel Kraft.

Fast wäre er seiner Tochter ins Reich der Träume gefolgt. Ein dumpfes, weit entferntes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Ein Knall. Dann zahlreiche Erschütterungen. Staub rieselte von der Decke. Milan blinzelte. Umsichtig, um Aleyna nicht zu wecken, stand er auf. Durch das Sichtfenster in der Tür sah er, dass die Neonröhren draußen auf dem Gang flackerten. Ein zweiter Knall, diesmal lauter und begleitet von mehr Erschütterungen, folgte dem ersten.

„Was immer das war, bitte lass es nicht zu uns kommen“, murmelte Milan mit einem Blick auf seine friedlich schlafende Tochter. Wenn sie jetzt wieder aufwachte, würde er sie in dieser Nacht nicht mehr zum Schlafen bekommen.

*

„So ein Blödsinn! Ich bin Physikerin und keine Soldatin“, murrte Franziska, während sie stur geradeaus auf den Sitz ihrer Vorderfrau blickte. Er sah aus, als hätte man ihn vor 10 Jahren aus einer Regionalbahn herausmontiert, fleckig und von Löchern übersäht.

„Pleitner!“ Kleomenes Stimme übertönte das Dröhnen des Motors, das aus dem hinteren Maschinenraum in die Mannschaftskabine drang. „Ruhe! Konzentration auf die Mission!“

Ihre Vorderfrau, eine schwere Schützin der Namibia-Legion, drehte sich zu ihr um und schnitt eine Grimasse.

„In fünf Minuten verlassen wir den neutralen Luftraum! Halten Sie sich fest. Ich aktiviere den Tarnmodus.“ Die Stimme des Piloten wies einen ähnlichen Dialekt auf wie die des Kommandanten Kleomenes.

Franziska streckte die Hand aus und hielt sich am Griff vor ihr fest. Der Angriffstransporter ruckelte leicht, als die kleinen Fenster plötzlich in einem violetten Licht erstrahlten. Fasziniert beobachtete sie, wie der Sonnenaufgang über den bewaldeten Hügeln verschwamm und wieder klar wurde.

„Unser Institut hat diesen Tarngenerator entwickelt. Es war eine Zusammenarbeit der Abteilungen für alternative Energieformen und technische Physik“, sprudelte es aus Franziska heraus. Viel lauter, als sie es beabsichtigt hatte.

Die Schützin drehte sich wieder um. Sie hatte ihren silberblauen Infanteriehelm aufgesetzt und ihr Jetpack umgeschnallt. „Das ist dein erster Einsatz, oder?“ Ihre Stimme klang mechanisch verzerrt.

„Ja, meine militärische Grundausbildung liegt erst ein halbes Jahr zurück. Für gewöhnlich arbeite ich als persönliche Assistentin von Dr. Carnot, dem Leiter des Tingwall-Instituts. Ich habe Physik und Ingenieurwissenschaften studiert und eine Doktorarbeit in Elementarteilchenphysik geschrieben.“

Die Schützin tippte sich gegen den Helm. „Hey, ich wollte nicht gleich deine Lebensgeschichte erfahren. Du bist ganz schön nervös, was?“ Routiniert überprüfte sie das Magazin ihres Tritium-Gasgewehrs.

„Eigentlich wollte ich eine zweite Doktorarbeit in Energietechnik schreiben, aber momentan sieht es nicht so aus, als ob ich an meine Universität zurückkehre“, plapperte Franziska weiter. Bei Nervosität quasselte sie noch mehr als gewöhnlich.

Die Soldatin schüttelte den Kopf und drehte sich dann zur Seite. Der massige Körper ihres Kommandanten tauchte im Zwischengang auf. Im selben Moment geriet ihr Transporter in heftige Turbulenzen. Sofort langten die Männer und Frauen nach den Haltegriffen.

„Achtung!“, brüllte Kleomenes.

Franziska landete auf dem Boden vor ihrem Sitz. Dort unten stank es noch mehr nach Schweiß als im Rest der Kabine.

„Du musst dich festhalten“, tadelte die Soldatin sie leise. „Bei solchen Schwankungen kann man sich leicht den Kopf stoßen. Am besten setzt du auch deinen Helm auf. Das ist eigentlich Standardprozedur, wenn wir in den feindlichen Luftraum eindringen.“

Franziska griff nach ihrer Ausrüstung. Sie bestand aus einem Helm in simpler Ausführung, einem Selbstladegewehr amerikanischer Produktion und einem schweren Revolver als Ersatzwaffe. Die grünsilberne Lackierung zeigte an, dass sie zum wissenschaftlichen Personal gehörte und nur für eine begrenzte Zeit zu den Kompanien abkommandiert worden war. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Der Helm lieferte ihr dank der Augensensoren auch eine Ansicht von dem, was sich hinter ihr abspielte. Trotzdem war die Aussicht gewöhnungsbedürftig.

„Nimm dich in Acht vor dem Kommandanten. Wenn er dich dabei beobachtet, wie du einen Fehler machst oder auch nur unaufmerksam bist, lässt er dich nächtelang exerzieren.“ Das Flüstern ihrer Kameradin klang auf einmal viel klarer, aber gleichzeitig hohl.

„Du dienst schon viele Jahre unter ihm, oder?“, fragte Franziska. Sie selbst klang dumpf und ihre Frage war kaum zu verstehen. Ihr Kopf pochte, als sie ihre eigene Stimme hörte, wie der Modulator das Gesagte lauter und mechanisch verzerrt wiederholte. Bisher hatte sie nichts Positives über Kleomenes gehört.

„Nein, unter normalen Umständen führt die Tochter der Nacht Safura diese Kompanie. Kleomenes würde sich nie dazu herablassen, eine so kleine Einheit zu befehligen. Aber das hier ist eine Spezialmission.“ Die Soldatin klopfte ihr auf die Schulter.

„Eine Tochter der Nacht?“, erkundigte sich Franziska. Sie hatte bisher nur eine Angehörige dieser mysteriösen Truppe näher kennengelernt und die war so anders, als es die Gerüchte besagten.

Mit einem Mal knackte und rauschte es. Ihr Funkkanal hatte sich aktiviert. „Vor uns liegt eine Zone mit schwerem Beschuss. Der Tarngenerator läuft nur wenige Minuten. Bereitmachen zum Aussteigen“, schnarrte die kalte Stimme von Kleomenes durch den Kanal. „Wir müssen uns den Weg zum Ziel freikämpfen. Etwa 900 Meter die Hauptstraße runter.“

Franziska lief der Schweiß den Rücken herunter.

*

Aleyna riss die Augen auf und setzte sich neben ihm im Bett auf. Der fünfte Knall hatte sie geweckt. Während ihr Blick panisch den halbdunklen Raum absuchte, flog ihr Kopf hin und her. „Die Messermänner sind hier! Sie haben uns gefunden. Sie haben Mama geholt und jetzt holen sie mich.“ Das kleine Mädchen zog sich die Decke über das Gesicht und fing an zu wimmern.

„Aleyna. Aleyna! Aleyna!!“ Milan musste schreien, damit seine Tochter ihn hörte. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand er an der Tür und beobachtete die Situation draußen im Gang.

Das kleine Mädchen lugte unter ihrer Decke hervor und blinzelte unter Tränen. Ihr ganzer Körper zitterte. „Pa, ich habe solche Angst“, schluchzte sie.

„Aleyna, es ist alles in Ordnung. Die bösen Leute finden uns hier nicht. Wir sind in Sicherheit“, wiederholte er mantrahaft, obwohl ihm selbst Zweifel kamen. Die Einschläge waren in der letzten halben Stunde stetig nähergekommen. Bei der nächsten Erschütterung rieselte mehr Staub von der Decke.

Aleyna schrie auf. Blitzschnell verschwand sie unter der Decke und rollte sich dort zusammen wie ein Igel.

„Aleyna, komm raus!“, brüllte Milan. In seiner Stimme lag eine Strenge, vor der er selbst zurückschreckte. Die Verzweiflung hatte für ihn einen Moment übermannt. Als seine Tochter die Decke wieder ein Stück hochzog und ihn mit ihren Knopfaugen anschaute, füllten sich seine Augen mit Tränen.

„Pa, es tut mir leid“, flüsterte sie. „Du hast auch Angst, oder?“ Sie hob die Decke noch ein Stück hoch und drückte ihren Fußballhasen Timothy an ihre Brust. „Willst du mit unter die Decke, Pa?“

„Es muss dir nicht leidtun, mein Engel“, flüsterte Milan. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er ließ sich auf die Knie sinken und kroch ein Stück vorwärts, bis er vor ihrem Bett kniete. „Ich wollte dich nicht anschreien. Ich verstehe doch so gut, dass dir diese Leute Angst machen. Mir machen sie auch Angst. Mama haben sie uns schon genommen. Aber uns beide bekommen sie nicht auseinander.“

Aleynas Augen wurden groß und sie kam mit ihrem Kopf dicht an das Gesicht ihres Vaters. Einen Moment lang starrte sie ihn an. „Kommt Mama nicht wieder?“

Milan ließ sich Zeit, ehe er antwortete. „Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Ich habe ihr geschrieben, dass sie uns hier treffen kann. Aber sie hat nicht geantwortet.“

„Vielleicht hat sie nur wieder vergessen, auf ihr Handy zu schauen, weil sie mit Shiraz einen Kaffee trinken gegangen ist“, überlegte Aleyna. „Oder ihr Handy ist wieder in die Eismaschine gefallen.“

Milan lachte, während ihm die Tränen über die Wange liefen. Trotz der Situation kam er nicht umhin, für einen Moment wieder Mut zu fassen. „Ja, das kann sein“, bestätigte er die Überlegungen seiner Tochter. „Ich hoffe, sie kommt noch.“ Mit einem Seufzer zog er sich an der Bettkante hoch und schlüpfte mit unter die Decke.

In diesem Moment gab es einen Knall. Die Wände wackelten leicht und für einen Augenblick blieb ihm das Herz stehen.

Aleyna drückte den Fußballhasen noch stärker an sich und klammerte sich gleichzeitig an ihrem Vater fest. „Timothy beschützt uns!“, sagte sie leise gegen seine Brust.

„Ich beschütze dich“, versprach Milan und gab seiner Tochter einen Kuss auf den dunklen Haarschopf. Für einen Moment lagen sie so zusammen unter der Decke, obwohl der Lärm von draußen zunahm.

Aleyna gähnte leise. Es folgte noch ein Knall, dann war es vollkommen ruhig.

Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich.

„Dr. Hussein!“ Eine fremde Stimme zerriss die trügerische Stille wie einen Nebelschleier, der sich um kleine Familie gelegt hatte. „Dr. Hussein! Die Al Nusra Front rückt auf das Stadtzentrum vor! Die Luftwaffe des Regimes wirft Fassbomben über den Nachbarvierteln ab. Sie müssen hier weg! Wir können für Ihre Sicherheit nicht mehr garantieren.“

Milan blinzelte. Vor ihm stand ein älterer Mann mit Schnauzbart. Seine ausgebleichte Uniform zeigte, dass auch er einst zu den Soldaten des Regimes gezählt hatte.

Aleyna schniefte leise. Ihre kleine Hand legte sich in die ihres Vaters. Sie fühlte sich kalt an. „Wir müssen wieder gehen, oder, Pa?“

*

„Dieser Krieg bedeutet für uns alle nichts Gutes.“ Kaum hatte Franziska diesen Satz ausgesprochen, explodierte etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt ein Kampfhubschrauber des Regimes in einer hellen Flamme. Der Pilot ihres Angriffstransporters hatte die zielsuchende Rakete abgefeuert, bevor er das klobige Gefährt in Richtung Boden steuerte.

Dicht gedrängt standen die Soldaten der Luftlandekompanie an der Ausstiegsrampe. Es roch nach Schweiß und überall hörte man das charakteristische Klicken, wenn einer von ihnen seine Waffe entsicherte.

„Diese Leute werfen Bomben auf die Zivilbevölkerung, oder?“, raunte Franziska ihrem Vordermann zu. „Die in dem Hubschrauber, meine ich.“

Der Mann drehte sich zu ihr um. „Mitleid mit dem Feind ist unangebracht. Die würden uns ohne zu zögern abknallen, wenn sie die Gelegenheit hätten.“

Die schwere Schützin, mit der Franziska vorhin kurz geredet hatte, klopfte ihr auf die Schulter. „Versuch, diese Gedanken während des Einsatzes auszublenden“, sagte sie. Das beklemmende Gefühl in Franziskas Brust erreichte seinen Höhepunkt.

„Konzentration!“, verlangte Kleomenes. Er trat vor die Kompanie. Zwei Gardisten der Vorhut wichen respektvoll zurück, als er an ihnen vorbeiging. „Sie alle kennen das Ziel der Mission! Die Sicherheit von Dr. Hussein hat oberste Priorität. Die zweite Priorität sind seine Forschungsergebnisse. Versuchen Sie möglichst, sich nicht in die Kämpfe in der Stadt einzumischen.“ Er wandte sich an Franziska. „Pleitner, Sie operieren nicht mehr mit Gruppe 1, sondern nehmen mit Zola die Einstiegsluke zu den Tunneln.“ Dabei deutete er auf die Schützin. Sie nickte Franziska stumm zu.

„Aber in der Missionsbeschreibung stand ganz eindeutig...“, setzte Franziska an. Ein einziger kalter Blick von Kleomenes brachte sie zum Schweigen.

„Stellen Sie meine Befehle noch einmal in Frage, schicke ich Sie mit einer Degradierung zum Institut zurück!“ Er schien bei diesen Worten in die Höhe zu wachsen und seine bullige Gestalt warf einen dunklen Schatten auf Franziska.

„Bereit zum Aussteigen!“ befahl Kleomenes. Sofort salutierten die Soldaten.

„Bist du verrückt geworden?“, raunte Zola ihr zu. „Wären wir nicht mitten in der Mission, hätte er dich sofort zum Strafdienst eingeteilt. Das wird noch Folgen haben, glaub mir.“

„20 Sekunden bis zum Absetzen!“, teilte der Pilot über den Lautsprecher mit.

Franziskas Magen schlug einen Purzelbaum. „Ich habe früher mit meinem Bruder immer Call of Duty gespielt. Wenn ich ihm jetzt erzählen würde, dass ich in einem ähnlichen Szenario stecke und dass es REAL ist, würde er Augen machen. Natürlich darf ich es ihm nicht verraten, aber allein die Vorstellung ist amüsant. Er war immer der bessere Spieler von uns beiden“, quatschte Franziska drauflos.

Zola tippte sich an den Helm. „Hörst du eigentlich jemals auf zu plappern?“

„10 Sekunden!“

Franziskas Gliedmaßen begannen zu zittern.

„Halte dich einfach an mich, dann passiert dir nichts. Und denk an deine Grundausbildung“, sagte Zola. Sie machte ihr Gewehr feuerbereit.

„Wo finden wir den Einstieg zu den Tunneln?“, fragte Franziska. Ihre Stimme klang brüchig.

Zola wollte etwas antworten, aber in diesem Moment erklang eine schrille Sirene und die Ausstiegsluke öffnete sich. Helles Licht flutete den Innenraum des Transporters. Wie eine gut einstudierte Choreographie stürmten die Soldaten der Kompanie nach draußen. Franziska versuchte ihren Bewegungen zu folgen und zog ihre Waffe. Staub wirbelte auf. Vor ihnen lag ein Platz, umgeben von mehrstöckigen Gebäuden. Ein Rauschen über ihren Köpfen verriet ihr, dass der Angriffstransporter rasch an Höhe gewann.

„Gruppe 1 geradeaus auf die Hauptstraße zu. Straßensperre voraus, Feuer eröffnen!“, bellte jemand über den Funkkanal.

Ohne ein weiteres Kommando teilten sich die Mitglieder der Kompanie und etwa zwei Drittel stürmten geradeaus. Man musste dem Feind zugutehalten, dass sie sich von dem plötzlichen Erscheinen der Soldaten nur kurz verunsichern ließen. Ein Fauchen erklang, als die Legionäre ihre Flammenwerfer einsetzten. Ein Strahl flüssigen Feuers raste auf die Straßensperre zu. Es gab einen Knall, gefolgt von einer Stichflamme.

Franziska, die ihren Kameraden bis hierher gefolgt war, warf sich flach auf den Boden, um dem Abwehrfeuer zu entgehen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr wie der Rest der Kompanie, angeführt von Kleomenes, auf ein Gebäude zueilte. Der Kommandant zog seinen Elektrospeer und trat eine Tür ein. Die Soldaten folgten ihm wie ein Mann.

Franziska verspürte ein Ziehen an ihrem Arm. Sie schaute auf. Zola hatte sich neben sie gekniet. „Wir müssen los!“ Sie rappelte sich auf und folgte der Schützin, die auf eine Seitengasse zulief. Als Franziska einen Blick zurückwarf, sah sie, dass der Staub sich verzogen hatte und der Boden von verbogenen und verkohlten Trümmerteilen übersäht war. In der Ferne hörte sie den Kampfeslärm.

„Schneller!“, spornte Zola sie an. Sie rannten weiter, erst links durch einen Hof und dann über die Trümmer eines Hauses in eine andere Gasse. Der Staub brannte in Franziskas Lungen, aber sie biss die Zähne zusammen. Eine Frau schrie auf, als sie wieder einen Hof durchquerten, und wich in den Schatten einer Tür zurück.

Auf einen Schlag realisierte Franziska, dass sie es war, die anderen Angst machte. Die Erkenntnis schmerzte.

Zola lief weiter und stoppte erst an einem mehrstöckigen Haus. Davor standen Regale mit Kisten. Alle waren aufgebrochen und durchwühlt.

Zola schien etwas gehört zu haben und richtete ihr Gewehr auf eine der Kisten. Franziska hob ihre Waffe an. Ein abgemagerter Junge von vielleicht vierzehn Jahren blickte teilnahmslos in die Gewehrmündung. Ihre Erscheinung schien ihn ebensowenig zu schrecken wie die unmittelbare Bedrohung.

Diese Kinder kennen nur den Krieg, schoss es Franziska durch den Kopf. Das könnte ich gewesen sein, zehn Jahre jünger und an einem anderen Ort geboren.

Zola ließ ihre Waffe sinken und ging weiter, in Richtung der Haustür. Wachsam schaute sie sich um, bevor sie vorsichtig die Klinke nach unten drückte. Die Tür war offen.

„Das ist irgendwie zu leicht“, sagte sie leise. Franziska hörte sie über den Funkkanal.

„Finden wir in dem Haus den Einstieg zu den Tunneln?“, erkundigte sie sich.

Zola wandte sich zu ihr um. „Ja“, antwortete sie nach kurzem Zögern. „Zumindest laut den Plänen, die uns zugespielt wurden. Einer der Tunnel soll direkt in die Nähe des Bunkers führen, in den Dr. Hussein sich geflüchtet hat.“

Franziska ging auf sie zu und zuckte mit den Achseln. „Die Hälfte des Lebens ist Glück.“ Besorgt schaute sie sich nach dem Jungen um. Er war nirgends zu entdecken.

Zola stieß die Tür mit dem Fuß vorsichtig ein Stück auf. „Bleib dicht hinter mir.“

Mit einer raschen Bewegung stieß sie die Tür auf. Drinnen roch es bestialisch nach verfaultem Fleisch. Alle Möbel waren umgeworfen oder zerstört und doch erinnerte sie die Umgebung an eine bürgerliche Familie, die bestimmt einst in diesen vier Wänden gelebt hatte.

Zola setzte einen Fuß vor den anderen. Mit einem leisen Klicken aktivierte sie den Scheinwerfer an ihrem Helm und leuchtete die Ecken aus. Franziska schlich ihr in geduckter Haltung hinterher und drehte suchend ihren Kopf hin und her. Endlich waren ihre Helmkamera und der Augensensor zu etwas zu gebrauchen.

Zola deutete auf eine Treppe und tat zwei Schritte hintereinander. Das Licht ihres Scheinwerfers fiel auf eine große, metallene Truhe. Ein rotes Lämpchen blinkte auf und die Kiste gab einen Pfeifton von sich.

„Sprengfalle!“ schrie sie und rannte los, zurück zur Tür. Im selben Moment legte sich ein Schatten auf den Hauseingang. Ein PKW fuhr vor und blockierte ihren Fluchtweg. Vier vermummte Gestalten tauchten am Fenster auf.

Das Adrenalin pumpte durch Franziskas Körper, als sie das Feuer eröffnete.

Zola handelte sofort. Ihr Gewehr krachte und die Wand, hinter der die Angreifer standen, barst auseinander. Staub und Steine rieselten auf sie herab. Blitzschnell hob Zola den Arm. Aus ihrem Handgelenksraketenwerfer lösten sich drei Geschosse und durchschlugen das Dach. Die metallene Truhe piepte wie verrückt. Bevor das ganze Haus in einem Feuerball explodierte, zog sie Franziska an sich und aktivierte ihr Jetpack. Mit einem Röhren und Fauchen stiegen sie auf, immer höher, während unter ihnen das Gebäude in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus.

Franziskas Magen verkrampfte sich und sie spürte, wie ihr die Magensäure hochkam. Am liebsten hätte sie sich die Hand vor den Mund gehalten, aber sie musste sich mit beiden Händen an Zola festklammern, um nicht abgeworfen zu werden. Alle Häuser schrumpften unter ihnen zusammen, als sie immer höher stiegen. Der Jetpack gab eine Menge Rauch ab.

„Wir müssen gleich landen“, warnte Zola ihre Kameradin vor.

Franziska schloss mit einem mulmigen Gefühl die Augen. Warum? Warum bloß hatte sie sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet?

Ein Ruck ging durch ihren Körper, der Jetpack rauchte noch einmal, dann setzten sie überraschend sanft auf und hatten wieder festen Boden unter den Füßen.

„Hey“, hörte sie Zolas Stimme neben sich. Sie klang auf einmal nicht mehr so künstlich verzerrt. „Wir können uns jetzt nicht ausruhen! Ich nehme von hier aus die Feinde ins Visier. Du bewachst die Dachluke. Vorwärts!“

Franziska blinzelte. Sie standen auf dem Dach eines Gebäudes, das um ein Vielfaches höher war als die übrigen Häuser. „Das war wohl mal eine Schule“, murmelte sie nachdenklich. „Aber sie ist untergegangen, zusammen mit der Zukunft dieser Stadt.“

„Völlig egal, was es war! Der Krieg hat dem Unterricht ein Ende gemacht. Jetzt ist diese Schule nur noch ein Unterschlupf für Terroristen und Kriminelle. Beeilung!“ Sie packte Franziska an der Schulter und schüttelte sie heftig. Zola hatte ihren Helm abgenommen. Die dunklen Augen blickten sie fordernd und durchdringend an. „Mach jetzt nicht schlapp! Das war noch nicht der härteste Teil!“ Als Franziskas Blick in Richtung Boden ging, packte Zola sie heftiger. „Ich zähle auf dich!“

Diese Worte holten Franziska zurück in die Realität. Sie nickte. „Aber ich habe mein Gewehr verloren.“

„Dann nimm deinen Revolver! Was hast du überhaupt in der Grundausbildung gelernt?“

Mit festen Schritten marschierte Zola zum Rand des Gebäudes, zog aus dem kleinen Fach an ihrem Pistolenholster ein Fernrohr und schraubte es flink auf ihr Gewehr. Es dauerte keine Minute, dann nahm sie die feindlichen Soldaten und Terroristen, die noch zwischen ihren Kameraden und dem Bunker standen, ins Visier.

Franziska ging zur Dachluke, die sich hinter einer Kiste befand, und horchte angespannt. Mit zitternden Händen zog sie ihren Revolver. Hoffentlich würde niemand versuchen, auf das Dach zu kommen. Ein Rumoren drang von unten herauf und sie umklammerte das kalte Metall ihrer Waffe. Zolas Gewehr krachte.

Plötzlich erzitterte die Luke zum Dach. Franziska trat einen Schritt zurück, sammelte all ihre Entschlossenheit, die sie zusammenkratzen konnte, und konzentrierte sich auf ihren Revolver. Der Boden unter ihren Füßen erbebte. Dann ging alles ganz schnell. Die Dachluke flog nach oben und ein Mann tauchte auf, das Gesicht hinter Stoffbahnen verborgen, die er sich um den Kopf gewickelt hatte. Nur die Augen konnte man sehen, helle Augen, die aufblitzten, als er Franziska erblickte. Wie in Zeitlupe hob der Mann seine Pistole.

Nein! Franziska war schneller. Sie drückte ab, es gab einen Knall und der Mann fiel herunter, in das darunterliegende Stockwerk. Ihr klingelten die Ohren. Sie hatte ihre Waffe viel zu nah am Körper gehalten. Ich habe grade einen Menschen erschossen, war das Einzige, was sie denken konnte. Sie hatte einfach abgedrückt und der Mann war heruntergefallen wie eine Puppe. Sein Leben war ausgelöscht, unwiederbringlich. Vor ihrem geistigen Auge wiederholte sich die Szene, obwohl das Ganze erst vor wenigen Sekunden geschehen war. Hatte er Familie gehabt? Wo waren seine Eltern? Kam er aus dieser Stadt?

„Komm!“ Zolas Ruf holte Franziska abermals zurück in die Realität. „Das war gute Arbeit! Ich habe zwanzig von diesen Typen erwischt. Der Weg zum Bunker ist frei.“

„Soll das heißen, du hast zwanzig Menschen erschossen?“ Franziska blinzelte. Wie konnte sie das so einfach wegstecken?

Zola verschränkte die Arme vor der Brust, während sie auf die Stadt hinabschaute. „Ich dachte, du wünschst dir etwas Action.“

Ein Schauer lief Franziskas Rücken herunter und ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sie wieder an den Mann denken musste, den sie gerade erschossen hatte. Sie hatte das Gefühl, seine Augen verfolgten sie immer noch. „In der Akte zu meiner Grundausbildung steht, dass ich im Training zwar sicher bin, mir mein Idealismus aber oft im Wege steht. Und ich kann mit psychischem Druck schlecht umgehen. Den Befehlshabern wurde davon abgeraten, mich für den Frontdienst zu verwenden. “

„Das solltest du aber nicht jedem verraten“, sagte Zola. Sie setzte ihren Helm wieder auf.

„Bewegt euch!“, bellte Kleomenes durch den Funkkanal. „Händchen halten könnt ihr später. Wir brauchen zusätzliche Feuerkraft.“

Zola schulterte ihr Gewehr. „Komm schon, den halben Weg schaffen wir mit dem Jetpack.“

*

Milan passierte das Tor des Bunkers mit seiner Tochter auf dem Arm. Sie wog schwer, obwohl sie in letzter Zeit an Gewicht verloren hatte. Eine Gruppe von zwanzig Familien hatte sich um sie geschart.

Er rang nach Luft. Vor ihm stand ein einziger Mann in ausgebleichter Uniform. Ein desertierter Soldat. Er winkte die Flüchtlinge durch.

„Keine Angst, Papa“, hauchte Aleyna ihm ins Ohr. „Wir laufen den bösen Männern einfach weg!“

Milan spurtete los, über ihren Köpfen dröhnte es. Ein Kampfhubschrauber des Regimes vermutlich. Milan kämpfte sich durch eine enge Gasse, die halb von einer eingestürzten Wand blockiert war. Wie gerne hatte er als Kind in den verwinkelten Durchgängen arabischer Städte Verstecken gespielt. Jetzt spielte niemand hier. Für so etwas wie Kindheit gab es in diesem Land keinen Platz mehr.

„Weiter! Nicht stehenbleiben“, japste eine ältere Frau hinter Milan. „Sonst kriegen sie uns.“

Er schaute sich um. Hinter ihnen lag der Bunker im Schatten der Nacht. Ein Schuss mischte sich unter die übrigen Geräusche. Jemand war dabei das Gebäude zu stürmen. War es die Armee? Waren es die Islamisten? Spielte das überhaupt eine Rolle?

Milan schaute nach vorne. Entschlossen ballte er die freie Hand zur Faust. Er würde sich nicht aufhalten lassen. Der Strom an Flüchtlingen ebbte nicht ab.

„Weiter“, forderte auch Aleyna. Ihren kleinen Hände waren kalt auf seiner Haut. Tränen tropften von ihrem Gesicht hinunter auf seine Jacke.

„Wir können nicht blindlings weiterlaufen“, sagte er zu denen, die mit ihnen liefen. „Hat jemand sein Handy griffbereit? Wir müssen zum Ortsausgang.“

Zustimmendes Gemurmel ertönte. Der Kampflärm hinter ihnen ließ nach. „In die Richtung“, sagte ein junges Mädchen mit rotem Kapuzenpulli und wies mit der Hand die Straße hinauf. Sie liefen weiter.

Ich kann sie nicht mehr lange tragen. Der Gedanke lag Milan schwer auf dem Herzen. Er musste sie tragen, bis sie beide in Sicherheit waren. Aleyna war so geschwächt, dass sie es nicht aus eigener Kraft schaffen würde. Er keuchte, als sie eine Treppe erklommen. Oben angekommen erblickte er eine Häuserfront mit zersplitterten Fenstern neben einem geplünderten Gemüsehandel. Ein paar Kohlköpfe faulten in hölzernen Kisten vor sich hin. Am Ende der Häuserfront blockierte ein umgestürzter Jeep den Weg.

Einige Mitglieder ihrer Gruppe waren so hungrig, dass sie zögerlich ein paar Schritte in Richtung des geplünderten Geschäfts schlichen. Milan schüttelte den Kopf. „Das bringt doch nichts“, murmelte er.

„Ich habe Hunger“, quengelte Aleyna dicht bei seinem Ohr. Sie hatte das verdorbene Gemüse entdeckt.

„Wir können jetzt nicht an die nächste Mahlzeit denken“, sagte er, mehr zu sich selbst, obwohl die Umstehenden ihn hörten. „Wir haben keine Zeit!“

Er hatte sich nie als Anführer gesehen, aber jetzt setzte Milan sich an die Spitze der Gruppe. Als Erster kletterte er über das Fahrzeugwrack und half dann den übrigen, auf die andere Seite zu kommen, während er mit einer Hand seine Tochter festhielt. Ihm klebte die Zunge im Mund fest. Sie fühlte sich an wie Pergament und seine Arme brannten höllisch vor Anstrengung. Ausruhen war keine Option. Milan blickte in die Gesichter der Flüchtlinge. Nichts als Hoffnungslosigkeit und Angst lag darin, leere Blicke und die Erinnerung an so viel Schreckliches. Ein Baby weinte auf dem Arm seiner Mutter. Aleyna sollte nicht noch mehr Schlimmes erleben müssen. Er wollte nicht die gleiche Mutlosigkeit in den Augen seiner Tochter sehen.

Milan straffte die Schultern. Wenn niemand Zuversicht ausstrahlte, dann musste er eben diese Aufgabe übernehmen. Nachdem sie alle den Jeep passiert hatten, winkte er mit der freien Hand. „Los, es ist nicht mehr weit! Wir können die Grenze erreichen!“

*

„Wir sind hier festgenagelt“, brüllte einer der Gardisten über den Funkkanal. „Brauchen sofort Feuerunterstützung!“

Franziskas Magen drehte sich mit, als Zola im Flug eine Kehrtwende vollzog, um in westlicher Richtung weiterzufliegen. Sekunden später gingen sie in einen Sinkflug. Mit schmerzenden Fingern klammerte Franziska sich an der Uniform ihrer Kameradin fest.

Das charakteristische Fauchen des Jetpacks verklang, als die beiden Frauen den Boden erreichten. Die Landung war unsanft und holte Franziska zurück in die Gegenwart.

Sie hatte getötet. Einen Menschen erschossen. Dieser Gedanke ließ sie nicht los. Er hatte sich eingebrannt. Das Rattern des Maschinengewehrs mischte sich mit dem Schuss, der in ihrem Kopf nachhallte.

„Runter!“, brüllte ein Soldat in blausilberner Rüstung.

Franziska und Zola machten gleichzeitig einen Hechtsprung in die Deckung. Der Bunker lag im Licht der Morgensonne. Vor ihnen hatte sich eine Einheit der Armee mit einem Maschinengewehr hinter einer Barrikade verschanzt. Etliche Mitglieder ihrer Kompanie hatten sich auf der anderen Seite der Kreuzung eingegraben und nahmen die Soldaten von dort aus unter Beschuss.  

Zola lud ihr Gewehr nach und überprüfte ihren Handgelenksraketenwerfer. „Ein Schuss noch“, murmelte sie.

Einer ihrer Kameraden erhob sich blitzschnell hinter einem Fahrzeugwrack. Mit drei präzisen Schüssen schaltete er die feindlichen Soldaten aus, die neben dem Maschinengewehr Deckung gesucht hatten. Das charakteristische Rattern erklang wieder. Die Zeit schien still zu stehen. Ein Geschoss aus der entgegengesetzten Richtung traf ihren Kameraden am Kopf. Er ging zu Boden.

„Oh Gott“, entfuhr es Franziska.

„Scharfschützen!“, brüllte Zola.

Nur einen Sekundenbruchteil später huschte ein Schatten über ihren Köpfen vorbei, sprang von einem Häuserdach zum nächsten. Ein lauter Schrei übertönte alles andere, selbst das Rattern des Maschinengewehrs. Augenblicke darauf stürzten zwei leblose Gestalten in schwarzen Uniformen vom Dach. Franziska warf einen Blick seitwärts und erkannte zwei blattförmige Klingen, die in ihren Hälsen steckten.

„Safura“, wisperte Zola neben ihr.

Franziska riskierte einen Blick nach oben. Niemand war zu sehen. Der Kampf an der Kreuzung ging unvermittelt weiter. Wie als Reaktion auf die getöteten Scharfschützen entfesselte das Maschinengewehr ein Dauerfeuer, obwohl die Soldaten kaum etwas mitbekommen haben durften. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Die Hauswand neben ihnen zerbarst. Staub regnete auf Zola und Franziska herab.

Geistesgegenwärtig zog Franziska ihre Kameradin weiter nach unten. In ihren Ohren klingelte es. Die Bilder des Menschen, den sie erschossen hatte, ließen sie nicht los. Trotzdem nahm sie jetzt ihren Revolver zur Hand und gab ein paar unkontrollierte Schüsse in Richtung der feindlichen Soldaten ab. Sie wollte niemanden töten oder verletzen. Aber genauso wenig sollte noch ein Mitglied ihrer Einheit getroffen werden. Fahrig hob sie die Hand, um sich durch ihr Gesicht zu wischen. Das war aufgrund des Helms natürlich unmöglich.

„Das bringt nichts“, kommentierte Zola ihre unkoordinierten Schussversuche.

Der Funkkanal rauschte. Franziskas Kopf dröhnte, ihr Magen fühlte sich flau an, doch am meisten beschäftigte sie der Gedanke an den toten Mann. Nur Angst verspürte sie seltsamerweise nicht. Dennoch wehrte sich ihr ganzer Körper gegen das Bild der Scharfschützen, die tot vom Dach gefallen waren.

„Angriff in drei Sekunden“, verkündete Kleomenes schroff, sodass alle ihn hören konnten.

Trotz des Risikos hob Franziska den Kopf. Sie fragte sich, was passieren würde. Ein Knistern ertönte. Eine Staubwolke erhob sich um das Maschinengewehr. Darin konnte sie eine Gestalt erkennen, die sich erstaunlich flink bewegte.

„Kleomenes“, murmelte Franziska. „Heilige...“

Kleomenes‘ Geschwindigkeit war verblüffend, umso mehr da er eine imposante Statur besaß. Ihr Anführer schwang seinen Elektrospeer und jagte ihn durch zwei gegnerische Infanteristen. Wieder und wieder ertönte das Knistern. Todesschreie erschütterten sie bis ins Mark. Während sich Franziska flach auf den Boden presste, wusste sie, dass sie diese Schreie niemals würde vergessen können.

„Feuer auf das Maschinengewehr“, befahl Kleomenes über den Funkkanal. „Schaltet es aus.“

Auf das Kommando hin richtete sich Zola blitzschnell auf und feuerte ihren Handgelenksraketenwerfer ab. Zwei ihrer Kameraden taten es ihr gleich. Die Wucht riss die Barrikaden auseinander, es gab einen Knall und eine Stichflamme.

„Gute Arbeit“, befand Kleomenes, der im letzten Moment in Deckung gegangen war. „Versorgt die Verwundeten und bringt sie zum Sammelpunkt. Das Ziel liegt vor uns.“

*

Freiheit!

Das Wort leuchtete in Milans Kopf auf wie die Tafel einer Leuchtreklame. Seine Arme waren taub, aber er hielt Aleyna immer noch fest.

„Papa, ich habe Durst“, murmelte sie leise vor sich hin.

Milan konnte nicht antworten. Er litt ebenfalls unter dem quälenden Durst. Dafür sah er jetzt, wie sich vor ihm der Weg verbreiterte. Die letzten Häuser standen weiter auseinander. Dahinter lag die offene Straße, die bis zur Grenze führte. Sein ganzer Körper spannte sich an. Ohne zu zögern rannte er los. Ein Lächeln flog über sein Gesicht. Als er sich umblickte, sah er in den Augen der übrigen Flüchtlinge Hoffnung aufblitzen.

„Kommt, wir haben die Terroristen hinter uns gelassen! Aber bis zur Grenze ist es noch mindestens eine Stunde.“ Er winkte die Menschen zu sich und deutete dann nach Westen. „Bleibt jetzt nicht stehen!“

„Aber wir sind entkommen. Wie sollen wir weiterrennen, wenn wir am Ende unserer Kräfte sind?“, fragte eine junge Frau. Das junge Mädchen im roten Kapuzenpulli pflichtete ihr bei. Schon ließen sich die ersten Flüchtlinge auf den sandigen Boden fallen und streckten die Gliedmaßen von sich.

Eine seltsame Form von Ärger stieg in Milan auf. Eigentlich konnte er ihnen die Erschöpfung nicht verübeln. Auch er war erschöpft.

Er setzte Aleyna ab, hielt sie dann aber fest an seiner Hand und ging mit ihr zusammen auf die anderen zu. Bei jedem Schritt schmerzten seine Füße, seine Arme fühlten sich tot an. „Ihr wollt doch nicht vom Regime geschnappt werden! Oder von den Islamisten? Denkt ihr, nur weil ihr die Stadtgrenze überquert habt, seid ihr sicher vor denen? Die scheren sich nicht um euch. Kommt jetzt, sonst sind wir so gut wie tot.“

„Wenn wir uns nicht mal ausruhen, sind wir sowieso so gut wie tot“, widersprach ein junger Mann mit seinem Smartphone in der Hand. „Eine kurze Rast, dann können wir gleich wieder schneller laufen.“

„Wir haben es doch fast geschafft.“ Milans Antwort ging in einem lauten Geräusch unter. Ein Rauschen, das aus dem Himmel kam. Alle hoben im selben Moment ihre Köpfe. „Hubschrauber!“, brüllte Milan.

Die Flüchtlinge sprangen auf die Beine und liefen los. Ein Kampfhubschrauber des Regimes erschien im Tiefflug über ihnen. Niemand kümmerte sich mehr um den anderen, alle rannten um ihr Leben, liefen durcheinander, warfen sich gegenseitig um. Milan befand sich fast am Ende der Gruppe Er trug Aleyna jetzt wieder auf seinem Arm.

Er war nun langsamer als zuvor. Milan blickte noch im Laufen hoch zum Himmel. Der Helikopter eröffnete nicht das Feuer. Da traf ihn die Erkenntnis und ein Schauer jagte ihm über den Rücken. Die sind hinter mir her! Wie zum Test blieb er stehen und wirklich folgte der Hubschrauber nicht der Gruppe, sondern kreiste über ihm.

Er setzte Aleyna ab. Ihre Augen waren weit aufgerissen. „Hör zu, du musst laufen!“, schrie er über den Lärm des Helikopters hinweg. Er wollte sich nicht von seiner Tochter trennen, aber mit ihm hatten sie keine Chance. Diese Entscheidung war die schwierigste, die er je hatte treffen müssen, doch er traf sie innerhalb von Sekunden. Er blinzelte die Tränen weg. Die Angst durfte ihn nicht lähmen. Ungeachtet seines geschundenen Körpers schmerzte vor allem sein Brustkorb und er hatte das Gefühl, jeden Moment würde sein Herz zerspringen.

„Nein! Nein! NEIN! Ich will nicht! Die Messermänner sollen dich nicht kriegen. Ich gehe nicht ohne dich!“ Wild schlug Aleyna um sich.

Milan versuchte, seine Tochter festzuhalten. „Aleyna! Aleyna, hör mir zu!“ Er brüllte und hielt ihre Hände fest, aber das ließ sie nur lauter kreischen. Sie war wie ein wildes Tier. gefangen in ihrer Angst. „Sei doch vernünftig“, flehte er mit Tränen in den Augen. Plötzlich nahm das Dröhnen des Hubschraubers zu. Milan warf einen Blick zum Himmel, während Aleyna immer noch wüst um sich schlug. Aus dem Nichts zog ein Schmerz seine Wirbelsäule hinunter. Er schmeckte Blut. Der spitze Schrei seiner Tochter hallte in seinem Kopf nach. Dann wurde alles dunkel.

*

„Da.“ Kleomenes deutete auf einen der intakten Bildschirme in der Sicherheitszentrale des Bunkers. Eine Gestalt war undeutlich darauf zu erkennen. „Das ist Dr. Hussein. Er hat das Gebäude vor Anbruch des Tages verlassen.“

Franziska nahm ihren Helm ab. Ihr Kopf, nein, ihr ganzer Körper tat weh und das blonde Haar hing ihr schweißnass und strähnig ins Gesicht. „Was trägt er da?“, fragte sie laut und versuchte, auf dem flimmernden Standbild etwas zu erkennen. Zumindest für einen kurzen Moment hatte sie den erschossenen Mann, die getöteten Scharfschützen und all das in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins verbannt und konzentrierte sich stattdessen auf die Mission.

„Es ist ein Kind“, erkannte Zola. Franziska fragte sich, ob sie genauso mitgenommen war wie sie selbst. In diesem Fall ließ sie es sich nicht anmerken.

„Ein Kind?“, hakte Franziska reflexartig nach. „Das macht unsere Suche umso dringender.“

„Und wenn er hundert Bälger dabeihätte!“, blaffte Kleomenes.

Zola streckte die Hand aus und schaltete zum nächsten Standbild um. Von vorne war es besser zu erkennen. Dr. Hussein trug ein kleines Mädchen auf dem Arm. „Seine Tochter Aleyna“, murmelte sie. „Er muss mit ihr geflüchtet sein.“

„Wissen wir wohin?“, erkundigte sich Franziska.

„Darüber können wir nachdenken, wenn wir wieder auf der Lykurg sind. Es ist riskant, lange an einem Ort zu verweilen. Wir schauen uns kurz um, dann sprengen wir den Bunker. Keine Zeugen, keine Spuren.“ Kleomenes verließ die Sicherheitszentrale.

Zola, die ihren Helm ebenfalls abgenommen hatte, warf Franziska einen bedeutungsvollen Blick zu. Franziska hätte zu gerne Anteil an ihren Gedanken gehabt.

Über eine arg beschädigte Treppe gelangten Kleomenes und die zwei Frauen ins Erdgeschoss, wo etliche Mitglieder ihrer Einheit die leeren Räume inspizierten. Eine Person mit einer Sturmhaube näherte sich ihnen. Um die Augen schimmerte weißes Make-up durch den schwarzen Stoff.

„Safura“, sagte Zola und nickte ihr zu. Mit Schrecken dachte Franziska an die beiden gegnerischen Scharfschützen, die vom Dach gefallen waren.

„General, bis auf einen abgelaufenen Reisepass, ein Buch und zwei Kartenspiele für Kinder haben wir nicht viel gefunden, was darauf hindeutet, das Dr. Hussein und seine Tochter hier waren“, erläuterte ein Soldat.

Kleomenes verzog das Gesicht und knurrte leise. „Ein Schlag ins Wasser“, raunzte er. „Ordnet einen taktischen Rückzug an. Wir benötigen Zeit, um uns neu zu sortieren. Macht die Sprengsätze scharf und dann ab zum Sammelpunkt.“ Er drehte sich um und stapfte zurück in Richtung Treppe. „Zivilisten, Familienangehörige und Kinder spielen keine Rolle. Wir brauchen nur diesen Biologen. Vergessen Sie das nicht!“, rief er noch über die Schuler.

Franziska schaute ihm nach. Die Geschehnisse der letzten halben Stunden drangen zurück in ihr Bewusstsein. Mit zitternden Knien drehte sie sich um und ging den Flur entlang. Dr. Hussein war am Leben und mit seiner Tochter auf der Flucht. Ihr Fuß stieß auf etwas Weiches. Sie bückte sich und hob einen weißen Kuscheltierhasen vom Boden auf. Er war verdreckt und trug ein Fußballtrikot. Das Mädchen schob sich in ihre Gedanken. Ein kleines, unschuldiges Kind. Ihre Hände schlossen sich fest um das weiche Plüschtier, als wäre es schuld am Schicksal seiner Besitzerin.
 
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