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Blut sollst du vergießen!

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P16 / Gen
Guy of Gisburne Robert de Rainault der Sheriff of Nottingham Robin of Loxley / Robert of Huntingdon
27.10.2022
27.10.2022
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„My Lord, lasst mich einen Wagen für Euch holen“, bat der Ritter den Sheriff, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Waldboden saß, den Rücken an einen Baum gelehnt.
De Rainault, der sich nach einem Sturz von seinem Pferd – verständlicherweise – in einer sehr schlechten Stimmung befand, fauchte den anderen an: „Ich brauche Euch hier an meiner Seite. Jeder Idiot kann einen Wagen holen. Schickt einen der Soldaten! Und trödelt nicht!“
Gisburne, der nicht wirklich damit gerechnet hatte, sein Herr würde es ihm erlauben, sich persönlich auf den Weg zu machen, hatte diesen Versuch trotzdem unternehmen müssen, denn er wollte sich nicht in diesem Wald aufhalten. Zumindest nicht nach Einbruch der Nacht und das hatte absolut nichts mit irgendwelchen Gesetzlosen zu tun. Deren Aktivitäten hatten merklich nachgelassen, seit Loxley im Sommer getötet worden war.
Aber diesen Herbst hatten ihn vermehrt Berichte über die Wilde Jagd erreicht. Früher hätte der Ritter das als Aberglauben abgetan oder er hätte die Sachsen beschuldigt, es als Ausrede dafür zu benutzen, ihren Pflichten nicht nachkommen zu wollen, aber nachdem er die Macht Hernes am eigenen Leib hatte erfahren müssen, war er sich in dieser Hinsicht nicht mehr sicher. Mal abgesehen davon, dass es nicht nur Bauern und Leibeigene waren, die von solchen Begegnungen berichteten. Es war, als hätte die Wilde Jagd die Stelle von Loxley und seiner Bande eingenommen.
Nachdem Sir Guy zwei der Soldaten zurück nach St. Mary’s gesandt hatte, um einen Wagen zu beschaffen und zwei weitere voraus nach Nottingham – nur vorsichtshalber - begab er sich an die Seite des Sheriffs zurück, auch wenn er davon ausging, dass dieser weiterhin seine schlechte Laune an ihm auslassen würde. Aber er war daran gewöhnt, denn so ging es ihm die meiste Zeit. Warum sollte es also ausgerechnet heute anders sein. Dass de Rainaults Laune nach dem Sturz nicht die beste war, konnte der Ritter verstehen. Aber wieso er ihm die Schuld daran gab, dass sie so spät von der Abtei aufgebrochen waren, war nicht nachzuvollziehen, denn es war der Abt, der immer noch etwas gefunden hatte, über das er mit seinem Bruder hatte streiten wollen. Und es war sicherlich auch nicht Gisburnes Schuld, dass de Rainaults Pferd sich über irgendein Rascheln im Unterholz erschreckt hatte und der Idiot nicht fähig war, sich im Sattel zu halten. Und dann hatte der Sheriff ihm noch nicht einmal den Gefallen getan und sich beim Sturz das Genick gebrochen. In dem Fall müssten sie nicht auf einen Wagen warten.
„Ich hoffe, Ihr habt den Soldaten zu verstehen gegeben, dass sie sich beeilen sollen. Ich will nicht die ganze Nacht hier im Wald verbringen müssen“, herrschte der Ältere seinen Stellvertreter an.
Gisburne unterdrückte – mit Mühe - einen Seufzer. Selbstverständlich hatte er den Männern genau das mit auf den Weg gegeben, trotzdem würden sie mehrere Stunden warten müssen, denn außer ihm selbst und dem Sheriff war keiner beritten. Und da de Rainaults Pferd lahmte und Gisburne niemals auf die Idee kommen würde, seinen Hengst von jemand anderem reiten zu lassen, bedeutete dies, dass die Soldaten zu Fuß unterwegs waren. Der Ritter sah es allerdings als Glück an, dass der Sheriff ihm nicht den Befehl gegeben hatte, sein Pferd zur Verfügung zu stellen, aber dies könnte auch damit zusammenhängen, dass de Rainault davon ausging, außer Gisburne könne niemand dieses Pferd reiten. Dem Hengst wurde nachgesagt, er wäre noch öfter schlecht gelaunt als der Sheriff selbst. Das Tier hatte einen mindestens so schlechten Ruf wie Gisburne. Was diesem ein Gefühl von Befriedigung verschaffte, weil er das Pferd selbst trainiert hatte.
Aber alles, was der Ritter von sich gab, war: „Ja, My Lord.“ Er wusste, dass die nächsten Stunden nicht angenehm werden würden.
„Ihr glaubt doch nicht etwa diesen Unsinn über die Wilde Jagd, Gisburne?“, wollte de Rainault auf einmal wissen. Er brachte die Frage in einem ziemlich verächtlichen Tonfall vor.
„Ich glaube, dass die Menschen jemandem begegnet sind“, entgegnete der Ritter vorsichtig, weil es nicht möglich war, die Frage zu ignorieren. Aber er würde dem Sheriff gegenüber auf keinen Fall zugeben, dass er die Berichte durchaus ernst nahm. De Rainault hatte noch nie direkt mit Herne zu tun gehabt und darüber hinaus glaubte er grundsätzlich an nichts. Weder an das, was die Kirche lehrte, noch an das, was de Belleme behauptet hatte, mit seiner Magie zu bewirken und erst recht nicht an das, was die Bauern von heidnischen Gottheiten hielten. Wenn der Ritter seine Bedenken äußerte, würde er ihn nur verspotten.
„Die Berichte sind doch nur Ausreden. Ihr lasst Euch viel zu schnell einwickeln“, warf ihm de Rainault vor und bestätigte damit Gisburnes Befürchtungen. Aber es war eigentlich egal, was er sagte, denn der Sheriff wäre immer anderer Meinung. Nichts zu sagen, kam aber auch nicht in Frage. Dann hieße es, er würde seinem Herrn nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenken. Wie an jedem anderen Tag, seitdem er in den Dienst beim Sheriff getreten war, wünschte sich der Ritter auch an diesem, er könne diesen Dienst verlassen. Und wie an jedem dieser Tage musste er damit leben, dass ihm diese Möglichkeit nicht offenstand.
Gisburne war allerdings auch nicht entgangen, dass de Rainault sich vorsichtig umgesehen hatte. Es machte fast den Anschein, als würde er sich ebenfalls bei dem Gedanken nicht wohlfühlen, hier noch einige Zeit ausharren zu müssen. Dies könnte allerdings auch etwas damit zu tun haben, dass er Schmerzen hatte. Oder sich darauf hatte einrichten müssen, zu warten, ohne die Möglichkeit zu haben, es sich einigermaßen bequem zu machen. Aber es könnte auch andere Gründe haben. Gesetzlose oder wilde Tiere kamen dem Ritter dabei in den Sinn, oder … Eine weitere Möglichkeit wollte der Ritter allerdings noch nicht einmal in seinen Gedanken benennen, weil ihm in diesem Moment so war, als würde ihn ein eisiger Hauch streifen.
„Was zum …“, setzte er an, nur um sofort wieder zu verstummen, denn über den Baumwipfeln war ein Rauschen zu vernehmen, das derart ominös klang, dass er nicht weitersprechen konnte, weil seine Zunge am Gaumen kleben blieb. Ein rascher Blick auf de Rainault zeigte ihm, dass dieser blass geworden war und in diesem Moment war sich Gisburne sicher, er selbst sähe auch nicht besser aus. Wenn er sich doch nur weit von diesem Wald entfernt befinden würde.
Obwohl Gisburne seine Umgebung aufmerksam beobachtet hatte, bekam er nicht mit, woher der Mann gekommen war, der sich von einem zum anderen Moment auf der Lichtung befand. Der Ritter riss erstaunt die Augen auf und runzelte gleich darauf die Stirn, weil er zuerst geglaubt hatte, er wäre dem Fremden schon einmal begegnet, nur um dann festzustellen, dass er ihn ganz sicher nicht kannte. So etwas war ihm noch nie passiert und es verwirrte ihn ziemlich.
Gisburne musterte den anderen, um einzuschätzen, wie er weiter vorgehen sollte und stellte dabei fest, dass er so groß wie er selbst war. Aber damit endeten die Ähnlichkeiten auch schon, denn wo der Ritter hell war, war der andere dunkel. Seine Haare waren so schwarz wie die Nacht und wehten lang im Wind. Es dauerte einen Moment, bis Gisburne auffiel, dass sie das einzige waren, was der Wind auf der Lichtung berührte, aber dann hatte er das auch schon wieder vergessen, weil er in das Gesicht des anderen geblickt hatte. Dessen Augen waren von der Farbe dunkelgrünen Mooses und von langen, dunklen Wimpern umrahmt. Gisburne hatte Mühe, sich in ihrer unergründlichen Tiefe nicht zu verlieren. Er wurde aus seinen Gedanken geschreckt, als der Fremde, der von schlanker Gestalt war, aber dennoch kraftvoll wirkte, sich mit eleganter Geschmeidigkeit auf die beiden Männer zubewegte. Dem Ritter war bewusst, dass er sein Schwert ziehen sollte, aber er war nur in der Lage, den Mann anzustarren. Nicht nur er selbst war bemerkenswert, sondern auch seine Kleidung, die sich den Farben des Waldes – Grün und Braun - anzupassen schien, aber als er in das Sonnenlicht trat, flackerten auf einmal auch Gelb- und Rottöne auf, und vermittelten den Eindruck, kleine Flammen würden sich über seinen Körper bewegen. Dem Ritter war es nicht möglich, Einzelheiten zu erkennen, weil sich alles in Bewegung zu befinden schien und Gisburne wurde plötzlich von dem Gedanken beherrscht, der Fremde wäre nicht menschlich.
Mit einem Mal wurde der Ritter an die Geschichten erinnert, die er in seiner Kindheit gehört hatte. Die Geschichten über das Volk, das unter dem Hügel lebte und unvorsichtige Menschen in sein Reich lockte, um sie nie wieder gehen zu lassen. Damals hatte er nicht verstanden, wieso die Menschen ihnen gefolgt waren, denn schon sehr früh hatte ihn das Leben misstrauisch werden lassen. Aber in diesem Moment war er in der Lage, das zu begreifen, denn würde der andere ihn auffordern, mit ihm zu kommen, er würde ihm sofort folgen.
Gisburne empfand fast so etwas wie Enttäuschung, als er feststellte, dass der Fremde seinen Blick auf den Sheriff und nicht auf ihn selbst richtete, auch wenn ihm gleichzeitig bewusst war, hier stimme etwas nicht. Er hätte den Fremden gerne angesprochen, aber es war, als läge ein Bann über der Lichtung. Und der andere blieb auch stumm.
Es war schließlich der Sheriff, der sich aus dieser Erstarrung lösen konnte, aber was er von sich gab, klang für den Ritter verrückt, denn er rief nur einen Namen aus: „Loxley!“
Gisburne konnte dies nicht verstehen, denn de Rainault hatte ihm doch selbst davon erzählt, der Gesetzlose wäre tot. Und doch war ihm, als habe ihm dieser Ausruf die Augen geöffnet, denn er musste auf einmal feststellen, dass der Sheriff sich nicht getäuscht hatte. So fremd ihm der Unbekannte auch vorgekommen war, hatte der Ritter trotzdem keinen Zweifel daran, er wäre Robin of Loxley. Bei der Erkenntnis, dass ein Toter vor ihnen stand, bekreuzigte Gisburne sich unwillkürlich.
Loxley lachte. „Um dich damit vor mir zu schützen, müsste dein Glaube größer sein, Gisburne. Aber beruhige dich, denn ich bin nicht deinetwegen gekommen.“ Er blickte immer noch auf den Sheriff.
„Ihr habt mich wie ein Tier gejagt, Sheriff. Nun bin ich hier, um das Gleiche mit Euch zu machen“, erklärte er mit einer ruhigen Stimme, in der Gisburne trotzdem fernen Donner zu vernehmen glaubte. Ihn schauderte und er wandte mit Mühe den Blick von Loxley ab und zum Sheriff hin.
De Rainault war immer noch bleich, aber er vermittelte nicht den Eindruck, Angst zu haben und der Ritter konnte das nicht verstehen, denn er selbst war nicht in der Lage, Loxley etwas entgegenzusetzen.
„Ich habe nie an solche Dinge wie Hernes Macht geglaubt, Gesetzloser“, gab der Sheriff zurück. „Aber ich habe gesehen, wie du gestorben bist und ich bin bereit, zuzugeben, es könne die Wilde Jagd tatsächlich geben. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch möglich, dass ich eingeschlafen bin und von einem Toten träume.“
Loxley lachte erneut. „Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, dann sage ich Euch, Ihr werdet aus diesem Traum nicht mehr erwachen, Sheriff.“ Der Gesetzlose machte einen völlig entspannten Eindruck, obwohl er sich allein vor seinen Feinden befand.
De Rainault schien auch völlig ruhig zu sein. „Wahrscheinlich ist es tatsächlich kein Traum“, gab er zu. „Allerdings solltest du nicht davon ausgehen, du hättest mich überrascht. Ich bin auf dich vorbereitet und daher sage ich dir nun, du kannst mich nicht haben.“
„Und wie wollt Ihr mich aufhalten, Sheriff? Bedenkt, Ihr habt selbst dafür gesorgt, dass ich kein Mensch mehr bin. Ihr könnt mich nicht noch einmal töten.“ Loxley wirkte neugierig.
Nun war es am Sheriff, amüsiert zu reagieren. „Ich schlage dir einen Handel vor, Gesetzloser“, brachte er dann mit einer Ruhe hervor, als wäre er sich absolut sicher, der andere könne nicht ablehnen, was er ihm vorschlug.
Gisburne verstand nicht, wieso er dieser Meinung sein konnte. Loxleys Anwesenheit allein flößte ihm schon Angst ein und nun musste er feststellen, dass hinter ihm weitere Personen Gestalt annahmen. Von denen sahen einige durchaus menschlich aus, andere aber nicht. Und ihre Reittiere, soweit er sie erkennen konnte, waren nicht nur Pferde. Wie aus dem Nichts überfiel den Ritter der Gedanke, er könne Fury an die Jagd verlieren und er hatte auf einmal noch mehr Angst.
Der Sheriff aber grinste unverhohlen über das ganze Gesicht. „Dir scheint bei deiner Jagd ein Jagdhund zu fehlen, daher biete ich dir meinen an, Gesetzloser. Nimm ihn an meiner Stelle, denn ich kann dir versichern, er wird dir viel besser gehorchen als ich es tun würde.“ Während Gisburne zuhörte, wie de Rainault Loxley diesen Vorschlag unterbreitete, stellte er sich die Frage, woher der Sheriff jetzt einen Hund nehmen wollte. Seine Jagdhunde befanden sich alle in ihren Zwingern in der Burg.
„Ich kann nicht leugnen, dass Ihr wirklich auf mich vorbereitet seid, Sheriff.“ Wenn Loxley darüber verärgert war, ließ er sich das nicht anmerken. „Dann sei es so. Ich nehme Euren Vorschlag an. Euer Jagdhund ist nun mein.“
Für Gisburne hatte die ganze Unterhaltung keinen Sinn ergeben, aber im nächsten Moment war seine Verwirrung gegenstandslos geworden. Gerade hatte er noch neben dem Sheriff gestanden und dann befand er sich auf einmal an Loxleys Seite. Aber dies war nicht das Seltsamste. Obwohl er wusste, der andere war nicht größer als er, musste er jetzt zu ihm aufblicken. Was zur Hölle war geschehen?
Er warf einen Blick auf den Sheriff und die Soldaten, die sich noch bei ihnen befunden hatten und er sah, dass de Rainault zum ersten Mal, seit Loxley auf die Lichtung gekommen war, den Eindruck vermittelte, sich zu fürchten. Und die Männer, die ihn eigentlich beschützen sollten, hatten sich bereits umgewandt und nahmen dann die Beine in die Hand. Sie waren alle im Handumdrehen verschwunden.
Der Ritter wollte hinter ihnen her brüllen, aber alles, was er hervorbrachte, war ein Grollen und Knurren. Er verstand nicht, was mit ihm los war und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass er den Waldboden unter seinen Füßen spüren konnte, obwohl er doch Stiefel trug. Und wieso spürte er ihn auch unter seinen Händen? Verwundert blickte er an sich herunter. Bei dem, was er sah, wollte er einen Fluch hervorbringen, aber was herauskam, war mehr ein Winseln, das sehr verzweifelt klang, denn statt auf Beine zu blicken, die in Hosen stecken sollten, oder Arme, die von seiner Rüstung geschützt wurden, sah er vier muskulöse, von goldblondem Fell bedeckte Beine. Dann warf er einen Blick über seine Schulter, was ihm den Körper eines Hundes mit einem langen, buschigen Schwanz offenbarte. Seiner Kehle entwich ein weiteres Winseln, als er auf einmal verstand, dass er das Opfer eines Zaubers geworden war.
Bevor er darüber nachdenken konnte, was für Möglichkeiten er hatte, verschwanden der Sheriff und die Lichtung auf einmal und ihn umgab nur noch Schwärze.
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„Du bist nun mein, Gisburne. Zuvor hast du dem Sheriff gehört, jetzt gehörst du mir. De Rainault hat dich mir angeboten und ich habe dich genommen. So wie du für ihn Blut vergossen hast, wirst du das jetzt auch für mich tun. Und so wie er dich zu dem gemacht hat, was du warst, bestimme ich jetzt die Form, in der du jagst.“
Es war ganz eindeutig Loxleys Stimme, die den Ritter aus der Schwärze holte, die ihn umschlossen hielt. Sowohl von außen, als auch von innen.
Da Gisburne wissen wollte, was vor sich ging, öffnete er die Augen und schaute sich nach dem Gesetzlosen um, der sich offenbar irgendwo hinter ihm aufhielt. Dabei entdeckte er allerdings nicht nur den anderen Mann, sondern er musste auch feststellen, dass er immer noch im Körper eines Hundes steckte. Konnte es tatsächlich sein, dass er Opfer eines Zaubers geworden war oder träumte er? Er wollte etwas sagen, aber wieder kam nur ein Knurren dabei heraus. War er vielleicht verrückt geworden?
„Nein, du bist nicht verrückt, Gisburne. Und du träumst auch nicht.“ War der andere dazu fähig, seine Gedanken zu lesen? Die nächsten Worte machten aber klar, dass dem nicht der Fall war. „An deiner Stelle würde ich mich das aber auch fragen.“ Loxley lachte leise, aber dabei vermittelte er nicht den Eindruck, er würde den Ritter auslachen. Und da er lachte, machte er auch nicht den Eindruck, ihm drohen zu wollen.
Überraschenderweise forderte er ihn stattdessen mit ruhiger Stimme auf, sich zum See zu begeben – Gisburne war bis eben noch nicht einmal aufgefallen, dass er sich in der Nähe befand – und sich im Wasser zu betrachten.
Einen Moment lang dachte der Ritter darüber nach, ob er das wirklich tun sollte. Natürlich würde er gerne wissen, wie er nun in den Augen anderer aussah, andererseits hatte er wirklich Angst vor dem, was er zu sehen bekommen würde. Schließlich gab die Tatsache den Ausschlag, dass Gisburne kein Feigling war und sich – seiner Meinung nach – schon viel schlimmeren Situationen gestellt hatte, auch wenn ihm gerade keine einfiel. Aber zumindest sah es nicht so aus, als wäre sein Leben bedroht. Daher tappte er zum Ufer hinüber, um einen Blick auf sein Spiegelbild zu werfen.
Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. De Rainault hatte davon gesprochen, er wolle Loxley seinen Jagdhund überlassen – und der Ritter hatte das nicht auf sich selbst bezogen – aber was er nun sah, war auf keinen Fall ein Hund. Und dann stellte Gisburne mit einem Anflug von Eitelkeit fest, dass er keinen schlechten Eindruck machte. Die Absurdität seiner Lage ließ ihn amüsiert schnauben. Zumindest wollte er das tun.
Aber der Wolf, der ihm aus dem Wasser entgegenblickte, zeigte stattdessen seine Lefzen und enthüllte dabei zwei Reihen scharfer und schneeweißer Zähne und eine lange, blutrote Zunge. Aber nun konnte er auch sehen, dass sein dichtes Fell den gleichen goldblonden Farbton aufwies, den sein Haar hatte – gehabt hatte? – und seine Augen genauso blau waren wie zuvor, nur nicht mehr die eines Menschen. Dann trat Loxley neben ihn und Gisburne stellte fest, dass er als Wolf riesig war, denn er reichte dem Mann bis zur Taille. Stolz erfüllte den Ritter und sein Grinsen enthüllte dabei erneut seine spitzen Zähne.
Loxley stand immer noch neben ihm und für einen Augenblick hatte der Mann in Wolfsform den Eindruck, der andere werde ihm besitzergreifend eine Hand aufs Fell legen – als wäre er tatsächlich ein Hund – aber der Gesetzlose regte sich nicht, sondern betrachtete stattdessen ebenfalls das Spiegelbild des Wolfes im Wasser, wobei er einen zufriedenen Eindruck machte.
Aber schließlich wandte er seine Augen von dem See ab und blickte stattdessen direkt auf den Wolf.
„Und nun gehen wir auf die Jagd, Gisburne“, verkündete er. „Lass uns feststellen, zu was du in dieser Form fähig bist. Ich weiß da einen Gegner, der deiner würdig ist und den du bezwingen musst. Aber bevor du ihn erlegen kannst, musst du ihn erst einmal in diesem Wald aufspüren. Du solltest allerdings wissen, dass Sherwood keine Schrecken mehr für dich bereithält, weil du nun zu meinen Jägern gehörst. Früher hättest du dich vor Herne in Acht nehmen müssen, aber nun kann er dir nichts mehr anhaben. Und du musst dich nicht mehr vor Menschen fürchten. Sie haben aber jetzt jeden Grund, sich noch mehr als zuvor vor dir zu fürchten.“
Diese Worte verwirrten den Ritter zwar, aber sie gefielen ihm auch. Aber nicht so sehr, wie die nächsten: „Lass uns mit der Jagd beginnen, Wolf.“
Gisburne hatte in diesem Wald bereits gejagt. Er war hinter Wilderern her und hinter Gesetzlosen, aber auch hinter Hirschen, Rehen und sogar hinter Wildschweinen. Allerdings hatte er dabei auf einem Pferd gesessen und seine Beute mit Schwert, Armbrust, Speer oder Jagdbogen erlegt. Noch nie hatte er auf die Art gejagt wie an diesem Tag, als er sich mit Loxley an seiner Seite auf die Pirsch machte. Aber es waren auch noch andere dabei, die zur Wilden Jagd gehörten. Seltsamerweise störte ihn das überhaupt nicht.
Trotzdem brauchte er Zeit, um sich an seinen neuen Körper zu gewöhnen und obwohl er sich nicht aus eigenem Antrieb in ihm befand, stellte er schnell fest, er wäre gut für das geeignet, was er nun vorhatte zu tun. Es war die reinste Freude, im Wald unterwegs zu sein und auszuprobieren, zu was er nun fähig war. Und diese Freude sorgte ganz schnell dafür, dass er die Angst verlor, die er durchaus zuvor verspürt hatte. Und dann war da noch dieser Drang, diese Jagd nicht beenden zu wollen, bevor er Erfolg gehabt hatte, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, woher dieses Verlangen stammte.
Dagegen war er sich nun ganz sicher, dass Loxley über Magie verfügte, denn diese hatte sie in einen anderen Teil des Waldes gebracht und dafür hatten sie nicht länger gebraucht als für einen einzelnen Schritt, unabhängig davon, dass Gisburne nun nicht mehr auf zwei Beinen dahinschritt, sondern auf vier Beinen lief. Und dann wurde dem Ritter – auch als Wolf dachte er von sich selbst immer noch als ein solcher – auf ebenso magische Weise enthüllt, wen er jagen sollte. Oder besser gesagt, er bekam die Fährte und den dazugehörigen Geruch präsentiert. Aber bereits die Abdrücke im feuchten Ufer eines Baches hatten gezeigt, hinter was er her war und dabei spürte er Aufregung in sich aufsteigen, denn er war auf der Spur eines wilden Keilers, der den Spuren nach zu urteilen riesig sein musste.
Gisburne erinnerte sich an die Berichte, die in den letzten Monaten die Burg in Nottingham erreicht hatten und die von einem Wildschwein sprachen, welches die Dörfer im Westen von Sherwood terrorisierte. Er hatte versucht, den Sheriff dazu zu überreden, ihn eine Jagd zusammenstellen zu lassen, aber de Rainault hatte immer wieder andere Aufgaben für ihn und so hatte er keine Gelegenheit erhalten, sich mit dem Untier zu messen.
Aber nun befand er sich auf dessen Fährte und er hatte nicht vor, den Keiler davonkommen zu lassen. Ihn hatte die Lust und die Freude an der Jagd überkommen und er rannte durch den Wald – obwohl es ihm so vorkam, als wenn er flöge – wobei er sich nur am Rande bewusst war, dass hinter ihm der Rest der Wilden Jagd folgte. Er verschwendete keinen Gedanken daran, was die Menschen denken würden, die der Jagd im Wald begegneten. Er bekam nicht mit, wie sie sich – von Schrecken überwältigt – zu Boden warfen und beteten – zu wem auch immer – dass die Wilden Gesellen an ihnen vorbeiziehen würden, ohne sie zu beachten. Und von denjenigen, die den riesigen Wolf an der Spitze der Jagd erblickten, fielen viele in Ohnmacht, weil sie noch nie eine Bestie wie ihn zu Gesicht bekommen hatten. Er kam ihnen wie etwas aus einer alten Sage vor. Oder aus einem Alptraum.
Der Wolf hatte kein Gefühl dafür, wie lange er gebraucht hatte, um seine Beute aufzuspüren und zu stellen, aber er wusste genau, wie weit die anderen Jäger hinter ihm zurückgefallen waren und wie lange er sich dem Keiler alleine stellen musste. Und doch war alles, was er bei dem Gedanken an den bevorstehenden Kampf empfand, unbändige Freude, denn er hatte keinerlei Zweifel, siegreich zu bleiben. Er war sich nicht sicher, ob er es schaffen konnte, das Tier zu töten, bevor die anderen heran waren, obwohl er nichts mehr wollte, als dies zu tun. Der Keiler war sein und er wollte seinen Sieg über ihn mit niemandem teilen.
Aber auch wenn Gisburne nun ein riesiger, kraftvoller Wolf mit einem Maul voller spitzer Zähne war, so handelte es sich bei dem Keiler um ein außergewöhnlich großes Exemplar, mit den entsprechenden Muskeln ausgestattet, und um eines, das auf keinen Fall Angst oder Respekt vor dem Jäger zeigte, der ihn gestellt hatte. Bis aufs Blut gereizt drehte er sich schließlich zu seinem Verfolger um und ging sofort in die Offensive, mit der Absicht, mit seinen scharfen Hauern den weichen und verletzlichen Bauch seines Gegners aufzuschlitzen.
Der Wolf hatte natürlich nicht vor, so etwas zuzulassen, stattdessen wollte er seinerseits seine Zähne und seine Krallen in die Kehle und den Bauch seiner Beute zu schlagen. Nur ganz kurz kam ihm der Gedanke, dies werde sich nicht als einfach herausstellen und dann hatte er sich schon im Blutrausch des Kampfes verloren.
Gisburne bekam nicht mit, wie der Rest der Wilden Jagd die Lichtung erreichte, auf der er sich mit dem Keiler maß, aber auch nicht, dass Loxley die anderen davon abhielt, einzugreifen. Der Mann, der noch vor wenigen Monaten als Robin Hood die Gesetzlosen angeführt hatte und der sich jetzt an der Spitze der Wilden Jagd befand, hielt selbst einen schweren Speer in der Hand, offenbar bereit, sofort zu handeln, sollte der Wolf Gefahr laufen zu verlieren, und doch begnügte er sich damit, zuzusehen. Es reichte ihm wohl nur Zeuge zu werden, wie der Wolf den Keiler mit seinem kraftvollen Biss die Kehle zerfetzte, um ihn dann so schnell zu töten, dass das Tier nicht lange leiden musste.
Der Wolf blieb schließlich über dem reglosen Körper des Verlierers stehen, mit hängendem Kopf, die Zunge zwischen den Zähnen hervorlugend, und rang keuchend nach Luft. Von seinem wunderschönen, goldfarbenen Fell war nichts mehr zu erkennen, denn er war über und über mit Blut bedeckt. Erst nachdem Loxley von seinem Pferd gestiegen war, schaffte Gisburne es, langsam den Kopf zu heben und den anderen aus blauen Augen anzublicken, in denen der ehemalige Gesetzlose den Stolz des Jägers über seinen Erfolg erkennen konnte.
„De Rainault hat dich einen Jagdhund genannt, weil er nie verstanden hat, was du bist, was er und vor ihm Sir Edmund aus dir gemacht haben. Ich hingegen weiß, dass du nicht mein Hund, sondern meine Bestie bist. Du wirst für mich die Beute zur Strecke bringen, die ich dir zeige. Egal, ob es sich dabei um einen wilden Keiler, einen majestätischen Hirsch oder einen verschlagenen Menschen handelt.“
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Erneut erfolgte ein magischer Ortswechsel und die Jagd – einschließlich Gisburnes und seiner Beute – befand sich wieder an einem anderen Ort, was den Ritter genauso verwirrte, wie die Tatsache, sich in seiner menschlichen Gestalt wiederzufinden. Weil ihn noch die Erinnerung daran beherrschte, wie er sich als Wolf gefühlt hatte, brauchte er erneut Zeit, diesmal, um sich wieder an seinen menschlichen Körper zu gewöhnen. Aber er musste auch mit der Erinnerung an den Blutrausch fertig werden, in den die Jagd auf den Keiler ihn versetzt hatte. Da war es kein Wunder, dass er seiner Umgebung erst mal nicht so viel Aufmerksamkeit schenkte.
Zuerst fiel ihm dann auf, dass er sich am Rand einer Lichtung befand und sich außer ihm noch andere Angehörige der Wilden Jagd hier aufhielten. Erst nachdem er der Meinung war, er habe sich wieder unter Kontrolle – er hatte immer noch den Geschmack von Blut im Mund und ein Bedürfnis, jemanden zu beißen, was nur langsam verschwand – konnte er damit beginnen, sich umzusehen. Als ihm aufging, wie viele Personen sich hier befanden, überkam ihn erneut Verwunderung, denn er hatte nicht mitbekommen, dass ihm so viele gefolgt waren.
Dann fragte er sich, ob sie sich tatsächlich noch in Sherwood befanden, denn er hatte gedacht, er kenne jede Lichtung in diesem Wald, die so riesig wie diese war. Von denen gab es nicht sehr viele und darüber hinaus waren auf den meisten von ihnen Dörfer entstanden. Andererseits sagte ihm ein Gefühl, sie würden sich immer noch in diesem Wald befinden, was ihn erneut in Verwirrung stürzte. Da er aber nicht in der Lage war, dieses Rätsel jetzt zu klären, gab er sich schließlich einen Ruck und fasste den Entschluss, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Genauso wenig war er in der Lage, eine Antwort auf die Frage zu finden, wieso er wieder ein Mensch war.
Um sich von all dem abzulenken, was ihn beschäftigte, fing er damit an, die anderen Personen zu mustern, die sich auf der Lichtung aufhielten. Er hatte gedacht, die Angehörigen der Wilden Jagd wären so wie Loxley. Mit dem Aussehen von Menschen und doch nicht völlig menschlich wirkend, aber er stellte schnell fest, sich in dieser Hinsicht geirrt zu haben. Diejenigen, die er nun vor sich sah, waren ohne Zweifel alle völlig menschlich. Und doch versetzte ihn ihr Anblick in Erstaunen, denn er hatte noch nie so viele unterschiedlich aussehende Menschen zu Gesicht bekommen.
Er begann sich vorsichtig zwischen die Gruppen zu begeben, die um die vielen Feuerstellen herumsaßen oder lagen. Die Menschen waren mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten beschäftigt. Sie kümmerten sich um ihr Essen, sie tranken, redeten und lachten, sie lagen schlafend auf dem Boden, besserten ihre Sachen aus, pflegten ihre Waffen und machten dabei keinen anderen Eindruck auf ihn als die Kameraden, mit denen er in der Normandie gekämpft hatte. Allerdings hatte er sich damals hauptsächlich unter Normannen befunden, aber er hatte auch mit sächsischen Soldaten zu tun gehabt und einigen Walisern und Schotten, sowie mit den Söldnern aus Flandern, Deutschland und Italien. Nicht zu vergessen die Händler, die ins Lager kamen und unter den sich auch Spanier und Griechen befanden, die wiederum sarazenische und nubische Sklaven dabeihatten. Damals hatte er über die Vielfalt an Völkern gestaunt, die ihm über den Weg liefen. Die Franzosen und Burgunder, gegen die sie kämpften, kamen ihm dagegen nicht so fremd vor.
Später war er dann – neben Normannen und Sachsen – vor allem Walisern, Iren und Schotten begegnet, aber hier sah er nun Angehörige von noch viel mehr Völkern, die ihm nicht vom Sehen her bekannt waren. Da waren bemalte Wilde von kleinerer Gestalt, in denen er Pikten aus den Erzählungen seiner Kindheit zu erkennen glaubte, aber hochgewachsene Männer – aber auch Frauen! – mit Tätowierungen konnte er nicht einordnen. In riesigen blonden oder rothaarigen, bärtigen Riesen meinte er Nordmänner zu erkennen, die er ebenfalls nur aus den Sagen kannte, denn von ihnen war schon lange keiner mehr gesehen worden, wenn er die Kaufleute nicht mitzählte, die sich auf ihre Wikingervorfahren beriefen.
Bei den Sarazenen, die er hier zu Gesicht bekam, musste er natürlich sofort an de Bellemes Bogenschützen denken, der später an Hoods Seite gekämpft hatte, aber als er nach dem Mann Ausschau hielt, der den Namen Nasir trug, konnte er ihn zwischen den Menschen hier nicht entdecken. Dafür entging ihm nicht, dass die Nubier, die unbefangen zwischen den anderen saßen, einen sehr viel stolzeren Eindruck machten als die Sklaven, die er in seiner Jugend gesehen hatte. Und dann fielen ihm noch viele andere Menschen auf, mit heller oder mit mehr oder weniger dunkler Haut, hochgewachsen oder ziemlich klein, schlank oder stämmig, mit Haar in den unterschiedlichsten Farben, von ganz hell bis schwarz. Manche von ihnen hatten Haut die rotbraun war wie bei einem irdenen Krug oder an die Farbe von Bein erinnerte, aus dem Figuren oder auch schon mal der Griff eines Dolches geschnitzt wurde. Manche von den Menschen hier hatten Augen, die seltsam geformt waren oder Nasen, die eher an den Schnabel eines Adlers erinnerten. Gisburne wusste nicht, wohin er als erstes sehen sollte, so viel ihm Unbekanntes war hier zu bestaunen.
Und dann war da auch noch das Wirrwarr an Sprachen, das von allen Seiten auf ihn eindrang. Zuerst war ihm nicht aufgefallen, dass jeder hier in der Sprache seiner Heimat zu sprechen schien und doch waren sie offenbar alle in der Lage, sich zu verstehen. Erst als er sich einzelnen Gruppen näherte, um ihre Kleidung, ihre Waffen und ihre Rüstungen besser erkennen zu können, fiel ihm auf, wie sie sprachen, aber auch, dass er sie ebenfalls verstehen konnte, so seltsam ihm das auch vorkam.
Er war so sehr damit beschäftigt, die anderen zu mustern, dass es eine ganze Zeitlang dauerte, bis ihm etwas auffiel, was ihn nicht erfreute. Denn während die anderen offenbar kein Problem damit hatten, in entspannten Gruppen um die Feuer herumzusitzen und sich höchstens einmal einige unschöne Bemerkungen an den Kopf warfen, ließen sie ihn nie aus den Augen, sondern beobachteten ihn sehr aufmerksam und mit Misstrauen, und wenn sie ihm begegneten, dann machten sie ihm schleunigst Platz. Erst dann wurde er der geflüsterten Worte gewahr, welche ihm durch das Lager folgten. „Das Biest des Jägers“ hörte er nun von überall her und er verstand, dass sie ihn damit meinten. Außerdem fiel ihm jetzt auch auf, dass sie den Eindruck erweckten, sich vor ihm zu fürchten. Es hatte ihn immer gefreut, in anderen Furcht hervorzurufen, aber früher hatte er gewusst, aus welchem Grund ihm das gelang. Nun aber wusste er das nicht mehr und er verstand auch nicht, wieso sie ihm diesen Namen gegeben hatten. Dies war der Moment, als er in der Beobachtung der anderen innehielt, um einen Blick auf sich selbst zu werfen.
Nun musste er feststellen, dass er sich von den anderen unterschied. Während alle von ihnen – ohne Ausnahme – in sauberer Kleidung, mit gewaschenen Gesichtern, Händen, Haaren und Bärten am Feuer saßen, waren seine Hose und sein Hemd – die von einfacher Machart waren, anders als seine Kleidung in Nottingham – immer noch mit Blut bedeckt, ebenso wie seine Hände. Als er sich durch Gesicht und Haare fuhr, hatte er keine Zweifel daran, unter seinen Fingern getrocknetes Blut zu spüren. Nun wusste er auf einmal, dass er unter den anderen hervorstach wie … ein Wolf unter Haushunden. Nun verstand er, wieso sie ihn das Biest des Jägers nannten, denn sicherlich musste er genau diesen Eindruck auf sie machen.
„Dort hinten ist ein Bach, dort kannst du dich waschen. Und wenn du damit fertig bist, solltest du dich zu den Pferden begeben“, vernahm er auf einmal die wohlvertraute Stimme Loxleys hinter sich. Als er sich nach ihm umdrehte, erkannte er, dass der Mann, der von sich behauptete, die Wilde Jagd anzuführen, in der vollen Nachmittagssonne erneut den Eindruck erweckte, nicht völlig menschlich zu sein. Aber im Gegensatz zu ihm selbst war er zumindest völlig sauber.
„Es ist als Lob gedacht, wenn die anderen dich mein Biest nennen. Sie wollen damit ihrer Anerkennung für deinen Jagderfolg Ausdruck geben. Außerdem haben sie recht damit, dich zu fürchten, denn sie wurden alle Zeuge davon, was du mit dem Keiler angestellt hast. Und trotzdem werden sie dich bald in ihre Gemeinschaft aufnehmen, auch wenn du niemals so sein wirst wie sie“, fuhr er fort, ohne sich offenbar an der Verwirrung und der Verwunderung auf dem Gesicht des Ritters zu stören.
Weil Gisburne absolut keine Ahnung hatte, was er darauf antworten sollte – aber auch nicht das Gefühl, eine Antwort werde erwartet - wandte er sich einfach ab, auch wenn ihm nicht entging, dass er damit keinen besonders höflichen Eindruck vermittelte. Andererseits war er noch niemals als sehr höflich bezeichnet worden und aus diesem Grund sollte auch eigentlich niemand über sein Verhalten verwundert sein. Darüber hinaus betrachtete der Ritter Loxley immer noch eher als einen Gesetzlosen, als den Anführer der Wilden Jagd und er hatte Hood oder seine Leute noch nie höflich behandelt. Wenn dem anderen das nicht gefiel, dann musste er das sagen. Gisburne war auf jeden Fall nicht in der Stimmung, sein Verhalten von sich aus zu ändern.
Ohne sich noch einmal zu dem anderen umzublicken – obwohl er meinte, ein leises Lachen gehört zu haben – setzte er sich in Richtung des Baches in Bewegung, denn das Blut auf seiner Kleidung und seiner Haut störte ihn schon, vor allem, weil es erneut den Drang in ihm hervorrief, jemanden zu beißen. Es war fast so, als wäre er immer noch ein Wolf. Dabei fiel ihm auf einmal ein, dass er vergessen hatte Loxley zu fragen, ob er sich erneut in einen vierbeinigen Jäger verwandeln würde. Wenn er allerdings an dessen Bemerkung dachte, dass er nun sein Biest genannt würde, dann war es wohl wahrscheinlich, dass er sich erneut als Wolf wiederfinden würde. Diesen Gedanken fand Gisburne allerdings nicht so erschreckend, wie er zuvor gedacht hatte. Er sorgte im Gegenteil dafür, dass sein Herz anfing schneller zu schlagen, als wenn dies ein Grund zur Freude wäre. Und vielleicht war es tatsächlich so?
Der Rest von Loxleys Worten fiel ihm erst wieder ein, als er – hoffentlich – das ganze Blut abgewaschen hatte und er fragte sich, wieso der andere ihn aufgefordert hatte, zu den Pferden zu gehen. Es entsprach zwar der Wahrheit, dass er diese Tiere liebte, aber dies waren die Pferde anderer, nicht seine. Sie würden ihn nur daran erinnern, dass er Fury hatte zurücklassen müssen. Andererseits hatte er als Wolf keine Verwendung für ein Pferd.
Aber er konnte sich auch nicht dazu aufraffen, sich sofort zu den anderen Menschen zurückzubegeben. Sie hatten ihm deutlich gezeigt, dass sie ihn nicht als einen von ihnen ansahen und so seltsam das auch war, er befand sich hier wieder in der gleichen Situation wie in Nottingham. Unter all den Menschen war er allein. Allerdings mit dem Unterschied, dass Loxley ihm tatsächlich lieber war als de Rainault, denn er war niemand, der sich verstellte. Bei ihm wusste er immer, woran er war. Seltsam, dies von jemandem zu denken, den er immer als Feind angesehen hatte. Diese Einstellung würde er jetzt wohl ändern müssen.
Gisburne wanderte langsam zu den Pferden hinüber, die sich in einem schattigen Bereich am Rand der Lichtung befanden, mit Zugang zu einer Wiese und Wasser. Schon zuvor war ihm aufgefallen, dass die Menschen hier auch noch andere Tiere bei sich hatten. Neben einigen der Männer und Frauen hatte er Hunde gesehen, bei anderen Greifvögel. Und bei einer Gruppe hatte er eine Art von großer Katze bestaunt, die ihm genauso fremd war wie einige der Menschen. Er wusste aber. dass dies alles keine Tiere waren, zu denen er eine Beziehung aufbauen konnte, zumindest nicht so wie zu …
Fury! Erst wollte er seinen Augen nicht trauen, aber dort zwischen den anderen Pferden stand tatsächlich sein schwarzer Hengst. Auf einmal konnte der Ritter gar nicht schnell genug zu ihm kommen und dann schlang er seine Arme um den muskulösen Hals des treuen Tieres. „Fury“, brachte er nur heraus und spürte dabei, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er hatte nicht geglaubt, den Hengst noch einmal wiederzusehen, denn er war davon ausgegangen, der Sheriff habe ihn mit zurück nach Nottingham genommen. Und er war sich sicher, dass der Mann ihn ohne mit der Wimper zu zucken verkauft hätte, weil niemand mit ihm zurechtgekommen wäre.
„Du wirst nicht immer in Wolfsform mit mir jagen, Gisburne“, erklang Loxleys Stimme, der offenbar wieder hinter ihm stand. „Und dann wirst du ein Pferd brauchen. Aber ich dachte auch, du würdest dich über die Anwesenheit eines Freundes freuen.“
Gisburne drehte sich um und konnte den anderen nur verblüfft anstarren, denn mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Er wusste nicht, was er sagen sollte, denn er war es nicht gewohnt, etwas „geschenkt“ zu bekommen und er war auch nicht daran gewöhnt, sich zu bedanken. Aus diesem Grund brachte er nicht mehr als ein Nicken zustande.
Loxley schien das aber nicht zu stören. „Ihm geht es gut“, verkündete er mit einem Blick zu dem Hengst, „und in diesem Moment benötigt er dich nicht. Jetzt solltest du dich erst einmal um dich selbst kümmern. Begleite mich“, bat er ihn und fuhr fort. „Wenn einer sich ein Stück von dem Keiler verdient hat, dann bist du das. Leiste mir Gesellschaft.“
Der Gedanke an das Fleisch des Tieres, welches er als Wolf erlegt hatte, ließ dem Ritter das Wasser im Mund zusammenlaufen. Gleichzeitig knurrte sein Magen und erinnerte ihn daran, wie lange es bereits her war, dass er etwas gegessen hatte. Auch wenn er sich nicht wirklich sicher war, wie viel Zeit vergangen war, seitdem de Rainault ihn „verschenkt“ hatte.
„Ich habe dafür gesorgt, dass du ein großes Stück Fleisch bekommst, Gisburne“, erklärte Loxley ihm mit einem leichten Lächeln. Wieder konnte der Ritter zum Dank nur nicken. Er wusste einfach nicht, was er zu dem anderen sagen sollte.
Der Anführer der Wilden Jagd führte ihn an eine Feuerstelle, die sich in der Mitte der Lichtung befand und an der niemand saß. Ohne darüber nachzudenken, wartete Gisburne, bis Loxley sich niedergelassen hatte, bevor er förmlich zu Boden sank. Erst jetzt fiel ihm auf, wie müde er war, trotzdem hatte er sich nicht als Erster hinsetzen wollen, denn der Sheriff hatte großen Wert daraufgelegt, den gebührenden Respekt gezeigt zu bekommen und dies konnte der Ritter nicht so einfach abschütteln. Aber sobald er sich niedergelassen hatte, hielt ihm der ehemalige Gesetzlose ein wirklich großes Stück Fleisch entgegen, welches dem Ritter für einen Moment als ziemlich blutig vorkam. Aber dann dachte er: ‚Was zum Teufel?‘, und schlug seine Zähne in das Stück. Nur um festzustellen, dass es ganz genau so war, wie er es haben wollte, auch wenn er ebenfalls wusste, er habe Fleisch früher nie auf diese Weise gegessen.
Loxley hatte ihm auch einen Becher Wein eingeschenkt, bevor er sich selbst vom Fleisch bediente. Seines machte allerdings den Eindruck, durchgegart zu sein und Gisburne stellte fest, dass er dies nicht appetitlich fand.
Die beiden Männer saßen für eine geraume Zeit am Feuer, während sie ihr Fleisch verschlangen und mit Wein hinunterspülten, und sie vermieden es, das Essen durch Reden zu unterbrechen. Der Ritter stellte fest, dass er dies als sehr viel angenehmer empfand als jedes Festessen, an dem er in Nottingham hatte teilnehmen müssen und zum ersten Mal, seitdem Loxley ihn mitgenommen hatte, dachte er, vielleicht doch einmal Glück gehabt zu haben. Aber egal, was nun geschah, er war auf jeden Fall von de Rainault weggekommen und dies war etwas, wofür er dem anderen eigentlich danken sollte. Wenn er denn jemals gelernt hätte, wie man sich aufrichtig bedankte.
Schließlich aber konnte er seine Neugier nicht mehr länger zügeln und er fragte Loxley, was es denn mit diesem Lager auf sich hatte.
Der andere hatte offenbar nicht vor, ihm eine Erklärung zu verweigern. „Du bist nun ein Teil der Wilden Jagd und wirst niemals mehr etwas anderes sein. Den anderen hier geht es auch nicht anders. Und genau, wie du immer noch ein Wesen aus Fleisch und Blut bist und entsprechende Bedürfnisse hast, gilt das auch für die Menschen, die du um uns herum siehst. Sie müssen essen und trinken und schlafen und sind auf die Gesellschaft der anderen angewiesen. Ich bin derjenige, der für euch verantwortlich ist und für euch sorgt. Aber du solltest daran denken, dass du dich auch in anderer Hinsicht nicht von ihnen unterscheidest, denn auch du wirst die Wilde Jagd nie wieder verlassen können.“
Gisburne musste schlucken. Bisher hatte er vermieden, darüber nachzudenken, wie sich sein Leben in Zukunft gestalten würde – abgesehen von der Tatsache, nun frei von de Rainault zu sein – denn er hatte nicht gewahr werden wollen, dass es für ihn jetzt nur noch die Jagd geben würde.
„Für den Rest meines Lebens?“, wollte er trotzdem wissen.
Loxley lächelte. „So könnte man es ausdrücken.“ Er drehte sich von dem Ritter weg und blickte auf die anderen Menschen, die es sich auf der Lichtung bequem gemacht hatten. „Sieh sie dir an. Einige von ihnen sind schon sehr lange bei der Wilden Jagd. Und damit meine ich nicht etwa Jahre oder Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte. Es gibt nicht viel, das ein Mitglied der Wilden Jagd umbringen kann und sie altern auch nicht. Nur in der Zeit, in der sie erneut in die Welt der Menschen hineingeboren werden, sind sie vom Rest von uns getrennt, aber sie kehren nach ihrem Tod zurück.“
„So wie bei dir?“ Die Frage war Gisburnes Lippen entschlüpft, bevor er über die Worte nachdenken konnte, aber Loxley schien sie ihm nicht übel zu nehmen, denn er nickte zustimmend.
„Genau wie bei mir“, bestätigte er dann. „Aber für alle hier gab es ein erstes Mal. Und jeder hier erinnert sich an das Ereignis, das sie oder ihn zu einem Angehörigen der Wilden Jagd gemacht hat. Auch du wirst es nicht vergessen.“
Gisburne verzog das Gesicht. „Ich würde mich lieber nicht daran erinnern, wie ich hier gelandet bin“, gab er dann zu, obwohl er sich nicht wohl dabei fühlte, dies ausgerechnet zu Loxley zu sagen. Der andere Mann war ihm immer als jemand vorgekommen, der sich für etwas Besseres hielt und es hatte das Selbstwertgefühl des Ritters nicht gerade gestärkt, als etwas angesehen zu werden, mit dem der Sheriff sich freikaufen konnte. Er wartete darauf, dass der ehemalige Gesetzlose über seine Worte lachte.
Nur um erstaunt festzustellen, dass da nichts kam. Gisburne konnte nicht anders, als deswegen aufzuschauen, aber auch, weil er zumindest einen mitleidigen Blick erwartete. Aber auch diesen gab es nicht. Stattdessen lächelte Loxley auf eine Art und Weise, die er zuvor immer für seine Leute reserviert hatte. Den Ritter schauderte es, denn er konnte sich nicht erinnern, dass ihn irgendwann jemand so angelächelt hätte.
„Es war dir vorherbestimmt, ein Teil der Wilden Jagd zu werden, selbst wenn de Rainault sich deiner nicht auf diese Weise bedient hätte. Früher oder später wärst du sowieso zu uns gestoßen. Ich bin aber froh, nicht zu lange auf dich warten zu müssen, denn es war dir auch vorherbestimmt, an meiner Seite zu jagen. Ich wusste nur zuvor nicht, in welcher Form du das tun würdest, aber ich muss zugeben, dass der Wolf gut zu dir passt. Und wenn du dich erst daran gewöhnt hast, dann kannst du selbst entscheiden, wie du auf die Jagd gehen willst. Dies ändert nichts daran, dass du immer an meiner Seite sein wirst, außer während der Zeiten, in denen ich wiedergeboren werde. Oder du selbst. Leider können wir uns nicht daran erinnern, zur Wilden Jagd zu gehören, wenn wir erneut als Menschen leben, aber wer einmal ein Teil von ihr war, kehrt immer wieder zu ihr zurück. Es ist unser Schicksal, uns immer wiederzufinden und dies wurde vor langer Zeit festgelegt.“
Gisburne starrte ihn verblüfft an, weil er Probleme hatte, zu verstehen, was dies bedeutete. Würde er tatsächlich ab jetzt für alle Ewigkeiten an die Wilde Jagd und Loxley gebunden sein? Auf eine solche Möglichkeit war er durch seinen Glauben nicht vorbereitet worden. Man hatte ihm erzählt, er könne nach seinem Tod im Himmel landen. Oder in der Hölle, wobei das nach allem, was er getan hatte, sehr viel wahrscheinlicher war. Von Wiedergeburt und Ewigkeiten als Jäger war nie die Rede. Und auch nicht von Vorherbestimmung. Und ganz bestimmt nichts davon, in Wolfsform zu jagen. Obwohl er bereit war, sich selbst gegenüber zuzugeben, er habe es genossen. Nachdem er seinen anfänglichen Schrecken überwinden konnte.
Robin of Loxley schien erneut genau zu wissen, was er dachte. „Jeder, der dem Weißen Christ folgt, hat Probleme damit zu akzeptieren, was mit ihm geschehen ist. Aber die Wilde Jagd ist alt, sehr alt. Und sie ist sehr viel mehr als das, was du hier sehen kannst, aber das wirst du mit der Zeit noch lernen. Fürs erste reicht es, wenn du verstehst, dass du nun des Jägers Biest bist.“ Der andere lächelte ihn erneut an und wieder schauderte es den Ritter. „Und du solltest nicht glauben, de Rainault wäre uns entkommen. Auch wenn ihm jemand vor langer Zeit verraten hat, wie er sich freikaufen kann, so galt das doch nur für diese eine Begegnung. Er wird nicht ungestraft davonkommen. Und seine Bestimmung ist es nicht, ein Teil der Jagd zu werden. Seine Bestimmung ist es, unsere Beute zu sein. Denn bei der Wilden Jagd geht es darum, diejenigen zu bestrafen, die andere terrorisieren, sei es Tier oder Mensch. Bei der Wilden Jagd geht es nicht um Vergebung, sondern um Vergeltung.“
Gisburne hatte den anderen nicht aus den Augen gelassen und daher entging ihm nicht, dass das Lächeln, welches er jetzt zeigte, nichts mit Freundlichkeit oder Güte zu tun hatte. Loxley war ihm auch zuvor nie als jemand vorgekommen, der dem christlichen Glauben angehörte, aber nun war er sich sicher, dass er sehr viel älteren Göttern huldigte. Der ehemalige Ritter erkannte jetzt aber auch, dass er damit kein Problem hatte. Er fühlte sich im Gegenteil bei diesem Gedanken sehr wohl, denn endlich meinte er nach Hause gekommen zu sein.
Der Anführer der Wilden Jagd saß noch lange an seinem Feuer und neben sich hatte er den riesigen Wolf liegen, von dem er wusste, er werde ihn von nun an bei der Jagd unterstützen. Und beide machten einen sehr zufriedenen Eindruck.
Ob es nun Einbildung war, der alle hören ließ, was ihr Anführer über den Wolf dachte, sei dahingestellt. Aber jeder war sich sicher, es gehört zu haben.
„Blut sollst du vergießen!“
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