2022 10 15: FREAK [by LeyLoki]
von Jahreskalender
Kurzbeschreibung
FREAK. Sein Blick huschte wie von selbst zu dem Arm. Da stand es, nur unwesentlich blasser als die ganzen Stunden davor, seit sie ihn gepackt und es ihm auf die Haut geschrieben hatten. [Leon ist unsichtbar. Ein Niemand. Ein Freak. Oder?]
GeschichteSchmerz/Trost / P12 / Gen
15.10.2022
15.10.2022
1
4.461
3
15.10.2022
4.461
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2022
Titel der Geschichte: FREAK
Song: “Lichtblick” von GReeeN
Autor: LeyLoki
Kommentar des Autors: Für Valerie. Dein ganzes Leben lang hast du dich gegen Unrecht aufgelehnt. Ich bin froh, dich gekannt zu haben.
Auf seinem Unterarm stand FREAK. Leon schrubbte darüber, bis seine Haut feuerrot war und er vor Schmerzen die Zähne zusammenbeißen musste, aber es änderte nichts. Tom und seine Freunde hatten sich vor ihrem Überfall offensichtlich genau überlegt, welcher Stift am besten halten würde.
Leon ließ die Arme und den Kopf hängen. Schwer atmend stand er mit geschlossenen Augen unter dem Wasser, das eine Spur zu warm war, um noch angenehm zu sein. Er drehte den Hahn zu und lauschte den Tropfen, die von seinen nassen Haaren auf den Boden der Dusche fielen.
Freak. Freak. Freak.
Sein Blick huschte wie von selbst zu dem Arm. Da stand es, nur unwesentlich blasser als die ganzen Stunden davor, seit sie ihn gepackt und es ihm auf die Haut geschrieben hatten. Er hörte ihr Lachen, ihr Johlen, schnell blinzelte er gegen die Tränen an, die sich in seinen Augen sammelten. Unwirsch stieß er die Glastür auf und stieg aus der Kabine. Auch mit dem Handtuch rubbelte er über den Arm, obwohl ihm völlig klar war, dass das nichts bringen würde.
Sein Gesicht sah ihm aus dem Spiegel entgegen, blass, pickelig, dunkle Ringe unter den Augen. Die Lippen zu schmal, die Haare zu braun, und ganz allgemein viel zu dürr und zu mickrig.
»Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?«, fuhr er sich selbst an und kämpfte mit aller Macht dagegen an, die Faust mitten in den Spiegel zu schmettern. Er zeigte sich die Zähne, drehte sich mit einem Ruck um, ertrug sein eigenes Bild plötzlich nicht mehr. Leon stieg hastig und ungelenk in die sauberen Sachen, die er sich bereitgelegt hatte, und flüchtete in sein Zimmer.
Er tigerte in dem kleinen Raum hin und her, seine Fäuste öffneten und schlossen sich rastlos. Wie hatte er so blöd sein können? Er hätte doch bemerken müssen, dass sich jemand von hinten seinem Platz näherte. Und warum eigentlich hatte er sich nicht stärker gewehrt? Seine Nägel kratzten zornig über die schwarzen, eckigen Buchstaben.
Leon packte eines der Modelle aus dem Regal und schleuderte es ohne nachzudenken gegen die Wand. Knackend zersplitterte das Holz des Retro-Autos, Teile flogen in alle Richtungen. Grimmige Zufriedenheit stieg in ihm auf, als er die Reste seiner stundenlangen Arbeit als Wrack auf dem Boden liegen sah. Schon hielt er das nächste Stück in der Hand, ein Segelschiff, auf das er irgendwann aus irgendwelchen bescheuerten – freakigen – Gründen stolz gewesen war.
Er holte aus, doch dann drang ein leises Piepen durch seinen Zorn und er erstarrte. Wieder piepte es, und gleich darauf noch einmal. Den Arm noch immer erhoben wurde ihm eiskalt. Er kannte diesen Ton und er hatte eine Ahnung, was er bedeutete. In Zeitlupe drehte er den Kopf, bis er sein Handy sah, das auf dem Bett lag. In diesem Moment kam die nächste Whatsapp-Nachricht an. Leon schluckte, seine Zunge lag wie ein Fremdkörper trocken und unbeweglich in seinem Mund.
Vorsichtig ließ er das Schiff sinken, legte es auf der Bettdecke ab und hob mit kalten Fingern das Handy auf. Er zitterte, musste seinen Code dreimal tippen, bis er die Kombination fehlerlos eingegeben hatte. Dann öffnete er den Klassenchat.
Leon musste das Video nicht abspielen, um zu wissen, was darin zu sehen war. Im Grunde hatte er schon die ganze Zeit darauf gewartet. Trotzdem klickte er auf die Datei. Zuerst war da viel zu groß und verwackelt Toms grinsendes Gesicht. Er hielt erst einen Edding in die Kamera, dann presste er sich mit einem leisen Gackern den Zeigefinger auf die Lippen. Das Handy wurde gedreht, Leon sah sich selbst, wie er lesend an seinem Tisch saß. Ihm wurde übel. Er wollte ausschalten, das Smartphone weglegen, aber er schaffte es nur, seine Augen zu schließen. Er hörte trotzdem sein eigenes, erschrockenes Japsen, sein erbärmliches Quieken, ihr Lachen. Dann stoppte das Video. Leon öffnete die Augen wieder. Auf dem Standbild war er selbst zu sehen, in sich zusammengesunken, völlig kraftlos, wehrlos, und auf seinem Arm stand FREAK.
Die Nachrichten im Chat überschlugen sich, im Sekundentakt flogen Smileys in die Textspalte.
„Haha damn ihr Assis habt es echt durchgezogen“, schrieb Joshua und schickte eine ganze Flut lachender Gesichter hinterher.
„freeeeeeakyyyyy diggah!!!“, kam es von Mika, mit dem er doch nie ein Problem gehabt hatte.
Rike kommentierte mit einem GIF, in dem ein sitzendes Baby vor Lachen nach hinten umfiel.
„Das ist so cringe, Leute“ Raffa setzte auf eine ganze Reihe Affen, die die Hände vor das Gesicht schlugen.
Leons Atem ging stoßweise, seine Kiefer schmerzten. Er öffnete den Mund, um die Muskeln zu lockern, aber es half nichts. Nichts gegen die Schmerzen, nichts gegen die Scham, nichts gegen das Entsetzen, das sein Rückgrat hinaufkroch und ihm alle Kraft aussaugte.
„Wie scheiße seid ihr eigentlich?!“
Leon blinzelte einmal, zweimal, las die Nachricht irritiert nochmals. Sie kam von Valerie, einer neuen Schülerin, die bisher kein Wort mit ihm gewechselt hatte. Was meinte sie?
„Frau Simon interessiert das hier sicher brennend!“, schob sie hinterher. Leon runzelte verstört die Stirn. Was hatte die Direktorin damit zu tun?
„Ey chill mal, Vally“, kommentierte Tom sofort, „Was ist dein Problem?“
Eine Weile erschien keine weitere Nachricht. Leon merkte kaum, dass er die Luft angehalten hatte. Er stieß sie aus, als Marc schrieb. Marc, der seinen Arm auf die Tischplatte gepresst hatte.
„Ist doch nix passiert, alle hatten Spaß“
„Na einer ja wohl nicht“, hielt Valerie dagegen. Der Anflug eines Lächelns bildete sich auf Leons Gesicht. War sie auf seiner Seite? Ein weiteres Ping ertönte, aber nicht aus dem Klassenchat. Es war eine private Nachricht. Von Valerie.
„Hey, alles ok bei dir? Magst du reden?“
Wieder und wieder las Leon die Worte. Warum machte sie das? Sollte er antworten? Was sollte er antworten? Wollte er reden? Wollte sie reden? Oder war das ein Trick, um ihn am Ende noch mehr zu demütigen? Er knabberte an seiner Unterlippe, den Daumen ein Stück über der Tastatur schwebend. Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den anderen. Sie konnte das doch gar nicht ernst meinen.
Oder?
„Ey die neue steht auf Freaks“, stichelte jetzt Joshua gegen Valerie. Wieder ploppten Smileys im Chat auf wie gelbe Seifenblasen aus Spott.
Leons Handy klingelte los, Valerie Ott stand auf dem Display, und vor Schreck ließ er es fallen. Das Ding landete auf seinem Bett und leuchtete ihm weiter ihren Namen entgegen. Er schüttelte hektisch den Kopf, Panik sprang ihn aus dem Nichts an, er konnte einfach nicht mit ihr sprechen, er schlug die Bettdecke zurück, so dass diese das Klingeln dämpfte und das Leuchten vor ihm verbarg. Mit wild klopfendem Herzen betrachtete Leon seine Bettwäsche, bis das Geräusch endlich verstummte und er wieder atmen konnte. Er hörte, dass weitere Nachrichten eingingen, aber er schaffte es nicht, die Decke anzuheben. Er wandte sich ab und drehte wie schon zuvor seine Runden durch das kleine Zimmer.
»Wovor hast du eigentlich Schiss, du Feigling?«, murmelte er und warf einen erneuten Blick auf das Bett. Er wusste es selbst nicht. Er wusste nicht einmal, welche Möglichkeit ihm mehr Angst einjagte – dass sie sich am Ende doch nur über ihn lustig machen wollte oder dass sie tatsächlich auf seiner Seite war und ihm helfen wollte. Er erschreckte ihn zutiefst, und er konnte sich ihr Verhalten einfach nicht erklären.
Er fühlte sich schlagartig wie eingesperrt in seinem Zimmer. Es schnürte ihm die Luft ab, die Wände rückten bedrohlich nah. Leon ballte die Fäuste, damit seine Hände aufhörten zu zittern, dann riss er die Tür auf und rannte beinah den Flur hinunter ins Wohnzimmer. Dort war es nicht besser, im Gegenteil, ihm schlug eine abweisende, vorwurfsvolle Stille entgegen, die ihm Schamesröte ins Gesicht trieb, und die Menschen auf den zahlreichen Fotos lachten ihn spöttisch aus.
Er hetzte in die Küche, öffnete den Kühlschrank, er würde jetzt etwas essen, ganz normal, einfach etwas essen, auch wenn ihm eigentlich nur schlecht war, Essen würde sicher helfen.
Er griff nach einer Tupperdose, in der die Reste des Mittagessens lagen, und auf seinem Unterarm stand FREAK. Eine Welle Übelkeit stieg in ihm auf. Ein abgehackter Ton kroch aus seiner Kehle, irgendwo zwischen Schluchzen und Keuchen. Der Kühlschrank kommentierte das mit kaltem Licht und kalter Luft. Kalt, alles kalt. Alles kalt.
Leon knallte die Tür wieder zu und stolperte rückwärts, stieß gegen den Küchentisch, er nahm es kaum wahr.
Es klingelte an der Tür.
Leon erstarrte. Gehetzt sah er in Richtung des Eingangs. Alles in ihm befahl ihm, wegzurennen. Oder still stehen zu bleiben und zu ignorieren, dass jemand vor der Tür stand. Aber dann straffte er die Schultern, ärgerte sich darüber, dass er so ein verdammtes Weichei war, und machte sich auf den Weg.
Er öffnete und war kaum überrascht, Valerie zu sehen. Trotzdem waren seine Knie weich und seine Hand lag verkrampft auf dem Knauf, als würde er gleich einen Rückzieher machen, ihr die Tür vor der Nase zuschlagen und sich in sein Bett verkriechen. Was ja nicht ging, denn dort lauerte sein Handy.
Leon sah die Straße hinauf und hinunter, dann wieder zurück zu Valeries schüchtern lächelndem Gesicht.
»Hey«, grüßte sie zurückhaltend. Noch immer öffnete er die Tür nicht weiter, starrte sie nur an und fühlte sich so schrecklich unbeholfen. Freak, dachte sie jetzt sicher. Er kratzte sich verlegen am Kopf und befahl sich innerlich, endlich etwas zu sagen.
»Ich… ich will nicht stören, ich wollt nur, ähm…« Valerie schien ebenso unsicher zu sein wie er selbst. »Ich mein, ich hab nen Make-up-Entferner dabei, hier, siehst du…« Sie hielt eine kleine Tasche hoch und sprach dann schnell weiter. »Und Nagellackentferner und Öl, weil ich gelesen hab, dass man mit Öl so Stifte gut wegbekommt und ich dachte, wir könnten vielleicht…«
Leon öffnete den Mund, er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Heraus kam: »Willst du reinkommen?«
Vally lächelte erleichtert, stieg die drei Stufen nach oben und hing ihre Jacke an die Garderobe. Suchend sah sie sich um. »Deine Eltern gar nicht daheim?«
Leon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mama arbeitet im Krankenhaus, sie hat heut ne Doppelschicht. Ich seh sie erst morgen zum Frühstück. Sonst gibt’s hier nur noch mich.«
Wenig später saßen sie sich im Schneidersitz auf Leons Bett gegenüber. Neben ihr lag das Segelschiff, das vor kurzem beinahe wie das Auto an der Wand zerschellt wäre. Sie betrachtete es von allen Seiten und strich über das glatte Holz der Außenwand.
»Das ist toll«, bemerkte sie und warf Leon einen Blick zu, den er nicht so recht deuten konnte. Auf jeden Fall schien sie sich nicht lustig zu machen.
»Danke«, murmelte er, nahm das Schiff an sich und stellte es auf das Regal zu den anderen Modellen zurück. Auf dem Rückweg machte er einen kleinen Bogen und versuchte, unauffällig die Reste des Autos mit dem Fuß unter den Schreibtisch zu schieben. Natürlich bemerkte sie es. Ihre Stirn runzelte sich kurz, ihr Mund öffnete sich ein Stück, als würde sie etwas sagen wollen, doch sie blieb still. Sie schien in seinem Gesicht etwas zu suchen und wirkte mit einem Mal unendlich traurig. Er schluckte und wich ihrem Blick aus, seine Wangen wurden heiß. Unbeholfen setzte er sich wieder auf sein Bett. Jetzt würde sie sicher gleich ihre Tasche nehmen und vor ihm flüchten.
Tatsächlich griff sie nach ihrer Tasche, Leons Herz raste schnell. Er senkte den Kopf und sah auf seine Hände, die Finger ineinander verknotet. Was für Worte würde sie wählen? Wie würde sie ihm sagen, dass er wirklich der Freak war, für den ihn alle hielten?
»Darf ich?«
Irritiert sah er auf. Sie hatte eine kleine Flasche aus der Tasche gezogen und deutete fragend auf seinen Arm. Die Offenheit in ihrem Blick überwältigte ihn für einen Augenblick. Dann löste er seine Finger voneinander und streckte ihr den hässlichen Schriftzug entgegen. Ihre Fingerspitzen strichen leicht darüber, ihre Stirn war jetzt wieder gerunzelt.
»Diese Arschlöcher« Ihre Stimme war leise, aber voller Wut. Leon schwieg. Verräterische Tränen stiegen in seine Augen, und er brauchte seine ganze Konzentration, um nicht vor ihr loszuweinen. Vorsichtig rieb sie mit einem Wattepad über seine Haut. Er beobachtete sie, ihre Hände, ihre dunklen Locken, die sich vor ihrem Gesicht wie ein Vorhang ringelten, wenn sie nach unten sah. Eine Weile arbeitete sie schweigend vor sich hin.
»Wie lang geht das schon so?« Unvermittelt sah sie ihn an. Er zuckte mit den Schultern. Seit ich mich erinnern kann, dachte er. Es war schon immer so gewesen.
»Ne Weile«, antwortete er ausweichend. Um ihrem Blick nicht mehr standhalten zu müssen, schaute er auf seinen Arm. Die Schrift war deutlich blasser, aber trotzdem noch gut lesbar.
»Ich werd morgen einfach nen Pulli anziehen…«
»Quatsch, es soll über 30 Grad geben. Das kriegen wir schon hin. Aber hör mal… Du musst zur Direktorin gehen.« Valerie umfasste leicht sein Handgelenk, brachte ihn so dazu, sie wieder anzusehen. Er zuckte mutlos mit den Schultern.
»Und was soll das bringen? Sie werden nur noch wütender, wenn ich petzen gehe.«
Valerie schüttelte bestimmt den Kopf. »Aber sie dürfen damit nicht durchkommen. Und wenn sie wieder was machen, gehst du wieder zur Direktorin. So lang, bis sie es satthaben, deinetwegen in Schwierigkeiten zu kommen.«
Leon zog einen Mundwinkel nach oben. So einfach war das nicht. Er hatte es schon so oft versucht. Alle Gespräche, alle Versuche, sich zu wehren, waren nutzlos gewesen. Er war so unglaublich müde. Er rieb sich mit der freien Hand über die Augen und wollte nur noch schlafen.
»Du hast das nicht verdient, weißt du? Du bist kein Freak, du bist… immer so freundlich zu allen.« Leon zuckte wieder mit den Schultern. Er wünschte, sie hätte recht damit. Er wünschte, er wäre anders. Aber sie war erst seit ein paar Wochen in seiner Klasse. Also konnte sie nicht wissen, ob er es verdient hatte oder nicht. Er wischte die Müdigkeit mit einer Handbewegung beiseite, und plötzlich war da stattdessen eine gehörige Portion Wut.
»Was weißt du schon? Du kennst mich gar nicht! Ich wette, vor dem Video heute hast du mich noch nie bemerkt!«, fuhr er sie an. Vally zuckte überrascht ein Stück zurück und hob die Augenbrauen. Leon zog seinen Arm zu sich und verschränkte die Arme vor der Brust, verdeckte so den Schriftzug vor ihr. Sie stieß langsam die Luft aus und sah ihn etwas ratlos an.
»Naja…«, begann sie auf der Suche nach Wörtern, »ich kenn dich zumindest mal nicht lang, das stimmt. Aber… aufgefallen bist du mir.«
Er schnaubte abfällig. So ein Unsinn. Er war unsichtbar. Ein Niemand. Kein Mensch hatte ihn je bemerkt, außer wenn es darum ging, sich über ihn lustig zu machen.
»Wann?«
»In Deutsch. Beim Lechner. Immer, wenn du vorliest, bist du mir aufgefallen.«
Leon verzog den Mund. »Ja, der hat irgendein Problem mit mir. Der nimmt mich ständig dran.« Er dachte ungern an den Unterricht bei Herrn Lechner, weil es ihm dort fast unmöglich war, nicht aufzufallen. Selbst wenn er völlig desinteressiert und von dem Lehrer abgewandt auf seinem Platz saß, wurde er aufgerufen und förmlich gezwungen, vor der Klasse zu sprechen. Er hasste es so sehr.
Ein breites Lächeln erschien auf Valeries Gesicht. »Sag mal, ist es möglich, dass dir noch niemand gesagt hast, was für ne tolle Stimme du hast?«
Leon starrte sie an, als hätte sie ihm eröffnet, dass sie von einem anderen Planeten stammte.
»Doch, glaub mir. Ich lieb es, dir zuzuhören. Du hast so ne Art… keine Ahnung, was es ist, aber du liest die Sachen so lebendig vor wie niemand sonst in der Klasse.«
»So ein Blödsinn…«, widersprach Leon stammelnd. Er lehnte sich kopfschüttelnd noch ein Stück von ihr weg. »Ich sterbe jedes Mal, wenn ich lesen muss. Ich red viel zu leise, ich…«
»Ach hör auf«, unterbrach sie ihn lachend, »Es ist toll. Ich glaub es echt nicht, dass du das nicht weißt! Das ist ein riesen Talent!«
Leon sah sie unsicher an. Sicher, er stotterte nicht herum beim Lesen wie manche anderen, aber besonders gut fand er sich auch nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das der Grund dafür war, dass Herr Lechner ihn ständig drannahm. Und selbst wenn…
»Selbst wenn? Was kann ich mir davon kaufen? Das ist kein Talent, das mir irgendwann mal was nützen könnte.«
»Warum denn nicht? Du könntest Sänger werden oder so.«
Jetzt war es Leon, der laut zu lachen begann. »Nein, sorry, das… kannst du vergessen. Ich kann nicht singen. Ich bin sowas von unmusikalisch.« Er grinste. Seine Mutter hatte ihn vor ein paar Jahren zum Klavierunterricht angemeldet und es war ein Desaster gewesen. Nein, das würde sicher nichts werden. Valerie grinste mit, strich sich eine Strähne hinters Ohr und rutschte aufgeregt hin und her.
»Okay, dann nicht Sänger. Aber was ist mit Synchronsprecher? Du würdest mit deiner Stimme allen Frauen den Kopf verdrehen. Oder… Radiomoderator. Ich würd den Sender auf jeden Fall einschalten.«
Verlegen kratzte sich Leon hinter dem Ohr. Er hatte keine Ahnung, wie er mit diesem Lob umgehen sollte, aber er konnte nicht leugnen, dass sich zusätzlich zu der Hitze in seinen Wangen ein warmes, befreiendes Gefühl in seinem Körper ausbreitete. Es gab etwas, auf das er stolz sein konnte.
»Ahm… danke«, brachte er heraus und sie lachte wieder. Dann klatschte sie in die Hände und zog eine andere kleine Flasche aus ihrer Tasche. »Probieren wir´s mal damit…« Keine 10 Minuten später war auf seinem Arm nichts mehr zu sehen.
**
Sie hatten noch eine ganze Weile zusammen in Leons Zimmer gesessen und über alles Mögliche gesprochen. Es war so leicht, mit ihr zu reden und zu lachen. Sie hatte sich verabschiedet mit den Worten: »Hey, denk dran – du bist kein Niemand.«
Und jetzt trafen sie sich wie verabredet ein paar Minuten vor Unterrichtsbeginn in der Schule. Vor dem Zimmer der Direktorin.
Leon zitterte am ganzen Körper, er konnte nicht stillstehen. Seine Finger kneteten ununterbrochen den Saum seines T-Shirts. Der einzige Grund, aus dem er stehen blieb, war Valerie. Sie war ganz ruhig. Immer wieder bestätigte sie ihm, dass er das Richtige tat, und immer wieder schaffte sie es, ihn zu erden.
Schließlich war es soweit. Frau Simon öffnete die Tür. Sie traten ein. Das Gespräch war maximal unangenehm und peinlich. Er hatte das Gefühl, von diesen grauen, strengen Augen durchbohrt zu werden, während er seine Geschichte erzählte. Mit völlig reglosem Gesicht sah sie sich das Video an, dann tippte sie gefühlt stundenlang etwas in ihren Computer. Leons Kehle wurde mit jeder verstrichenen Sekunde enger, sein Herz polterte so unrhythmisch wie damals das Klavier in seiner ersten Unterrichtsstunde.
»Danke, dass du zu mir gekommen bist, Leon, das war völlig richtig«, sagte sie schließlich und sah ihn schon wieder so durchdringend an. Sein Magen krampfte sich zusammen und am liebsten hätte er sich die Hände vor das Gesicht geschlagen. Obwohl die Worte so klangen, als wäre sie auf seiner Seite, sagte ihr Blick etwas ganz anderes. »Ich werde jetzt zuerst mit deiner Lehrerin sprechen und sie nach ihren Eindrücken fragen. Danach werde ich die Herren, die in dem Video zu sehen sind, einbestellen. Sie werden eine Strafe bekommen, denn das war absolut inakzeptabel. Bitte komm sofort zu mir, wenn noch einmal etwas in dieser Art vorkommen sollte.«
Damit waren sie entlassen. Mit mulmigem Gefühl machte sich Leon auf den Weg ins Klassenzimmer. Valerie wich nicht von seiner Seite. Sie sprach mit ihm, irgendetwas Aufmunterndes, aber er konnte ihren Worten kaum folgen. Das würde kein gutes Ende nehmen, da war er sich sicher. Als eine Viertelstunde später Frau Simon eintrat und kurz darauf mit Tom, Marc und Matthias wieder verschwand, wurde ihm richtig übel. Die Blicke seiner Klassenkameraden stachen wie Dolche in seinem Rücken. Sie alle wussten, dass er gepetzt hatte. Er biss die Zähne zusammen und hielt den Blick starr auf sein Heft vor sich gerichtet. Das Atmen fiel ihm schwer.
Zum Ende der Stunde kamen die drei zurück. Leon schluckte, als sie an seinem Platz vorbeigingen. Er schaffte es nicht, den Blick zu heben und sie anzusehen. Einer von ihnen trat unauffällig gegen sein Tischbein, der Ruck ließ ihn zusammenzucken, als wäre er selbst getroffen worden.
Doch entgegen seinen Befürchtungen passierte – nichts.
Der ganze Tag war wie ein Spießrutenlauf. Die Augen der anderen verfolgten ihn auf Schritt und Tritt, aber niemand sagte ein Wort. Vielleicht lag es an Valerie. Sie ließ sich nicht davon stören, dass er ein reines Nervenbündel war und blieb ständig in seiner Nähe. Sie sprach mit ihm, als würde sie nichts von der seltsamen Anspannung in der Klasse bemerken.
Mit dem Klingeln der letzten Stunde riss Leon seinen Ranzen nach oben und flüchtete, so schnell er konnte ohne zu rennen, aus dem Schulgebäude. An der Bushaltestelle war er auf sich gestellt. Valerie wohnte nur ein paar Straßen entfernt und ging zu Fuß nach Hause. Natürlich war ausgerechnet heute der Bus noch nicht da. So stand er in dem Gedränge, die Augen weit offen, und hielt Ausschau nach der Linie 15.
»Hey, Freak!« Leon fuhr herum, da waren sie, alle drei, mit wutverzerrten Gesichtern kamen sie im Laufschritt auf ihn zu. Es war beinah komisch, wie die Gespräche ringsum sofort verstummten. Die Schüler neben ihm rückten von ihm ab, es bildete sich ein Kreis mit ihm im Mittelpunkt.
Leon kam sich sonderbar leicht vor. Die ganze Furcht, die Anspannung, die Bauchschmerzen des Vormittags, waren mit einem Schlag verschwunden.
Das muss jetzt aufhören, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die verdächtig wie Valerie klang. Leon atmete tief durch und drehte sich seinen Mitschülern entgegen.
»Wegen dir Pisser müssen wir nachsitzen!«, keifte ihn Tom an, der inzwischen direkt vor ihm stand. Er pikste ihm seinen Zeigefinger in die Brust, so hart, dass Leon überrascht einen Schritt zurücktaumelte. Sofort schlossen die drei auf, kamen ihm viel zu nah, und da war die Furcht wieder. Aber dazu hatten sich Widerwillen und Trotz gesellt.
»Dann hättet ihr nicht so ne Scheiße abziehen sollen«, schoss er zurück und wischte Toms Hand zur Seite, als der versuchte, ihn am Kragen zu packen. Die Überraschung, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, wäre beinah komisch gewesen, wäre es nicht so ernst gewesen.
»Habt ihr das gehört? Der Freak gibt Widerworte« Toms Stimme war verzerrt vor Sarkasmus, in seinen Augen funkelte es böse.
»Der will halt was aufs Maul«, ätzte Marc mit einem gemeinen Grinsen. Leon biss sich auf die Lippen, hob aber den Kopf noch höher. Tom schubste ihn wieder rückwärts, und beinah wäre er über seine Füße gefallen.
»Hör auf damit!« Er war unglaublich froh, dass nichts Bettelndes in seiner Stimme lag. Trotzdem lachten seine Peiniger nur.
»Warum denn? Rennst du sonst wieder zur Simon und heulst dich aus?« Matthias sprach mit ihm wie zu einem Kleinkind. Er schürzte die Lippen und rieb sich die Augen, als würde er weinen. Immer weiter drängten die drei ihn zurück. Leon schaute sich hastig um. Wieso sahen alle weg? Wieso half ihm niemand? Die würden ihn verprügeln, hier, zwischen allen Schülern, einfach so, und keiner wollte etwas dagegen unternehmen?
Hilfloser, heißer Zorn packte ihn, und gleichzeitig packte Tom sein Handgelenk. Leon reagierte instinktiv. Mit einem harten Ruck riss er den Arm zurück.
Tom strauchelte.
Stolperte.
Da lag ein Ranzen.
Auf dem Boden.
Toms Arme ruderten durch die Luft.
Die Wut verschwand aus seinem Gesicht.
Wurde zu Überraschung.
Zu Entsetzen.
Bremsen kreischten.
Eine Hupe dröhnte.
Schreie.
So laute Schreie.
**
Zwei Tage später saß Leon auf seinem Platz. Er konnte den Blick nicht von dem leeren Stuhl abwenden, auf dem Tom normalerweise saß. Es war still in der Klasse. Viel stiller als sonst. Niemand redete lautstark mit seinem Nachbarn. Niemand rannte herum. Niemand lachte. Vorn an der Tafel standen die Klassenlehrerin, die Direktorin und der Schulsozialarbeiter. So ernst hatte Leon die drei noch nie gesehen.
Die Tür öffnete sich und Tom trat ein. Ein Raunen ging durch die Klasse. Sein rechter Arm steckte in einem grünen Gips, der vom Handgelenk bis zur Mitte des Oberarms reichte. Manche klatschten, aber es verebbte schnell. Marc stand halb auf, setzte sich auf einen Blick der Direktorin aber wieder hin. Unruhig tuschelten die Jugendlichen miteinander und rutschten auf ihren Stühlen herum.
Die Lehrerin lächelte Tom zu, der ungewohnt unsicher dort vorne stand und nicht so recht wusste, wohin mit seinem Blick und seiner freien Hand.
»Schön, dass du da bist, Tom, ich – wir alle – sind so froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Bitte setz dich.«
»Ja, danke… gleich« Tom nickte ihr mit einem angespannten Gesichtsausdruck zu, dann wandte er sich an Leon. Der blinzelte überrascht und hielt dem Blick halb misstrauisch, halb neugierig stand. Tom räusperte sich und kratzte sich mit der linken Hand verlegen an seinem Handgelenk, dort, wo der Gipsverband begann.
»Also, hey, ähm, Leon… ich wollt dir erst sagen, dass…« Er hielt inne und sah sich hilfesuchend um. Im Klassenzimmer war es jetzt so leise wie noch nie. Leons Lippen waren trocken und er leckte nervös darüber. Sollte das eine Entschuldigung werden?
»Also, ich hatte im Krankenhaus viel Zeit zum Nachdenken und auch zum Reden. Dank geht an der Stelle raus an Vally für die verbalen Ohrfeigen. War nötig, denk ich.«
Sie reckte schmunzelnd einen Daumen nach oben. »Jederzeit wieder!«, rief sie und erntete den einen oder anderen verhaltenen Lacher. Auch Leon musste grinsen.
»Auf jeden Fall hat sich rausgestellt, dass ich ´n Arschloch war. Es… es tut mir leid, Leon, ehrlich.«
Leon legte den Kopf schief und zuckte unbehaglich mit den Schultern. Die Blicke der Klasse prickelten erwartungsvoll auf seiner Haut. Er sah auf sein Heft und murmelte: »Schon okay…«
Tom schüttelte vehement den Kopf. »Nein, gar nicht okay. Man, wenn du mich nicht noch gepackt hättest, dann… Shit, du hast mir das Leben gerettet, und das, obwohl ich mich so bodenlos verhalten hab.«
Leon wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte doch nur reagiert, hatte nicht bewusst gehandelt. Er hatte nach vorn gegriffen und rein zufällig Toms Arm erwischt. Der Bus hatte ihn um Haaresbreite verfehlt, trotzdem hatte er sich bei dem Sturz die Elle gebrochen. Natürlich war er froh, dass die Szene an der Bushaltestelle kein anderes Ende genommen hatte. Für Tom, und auch für sein eigenes Seelenheil. Aber auch für ihn hatte sich an diesem Tag etwas geändert. Jetzt und hier schien es ihm nicht mehr völlig unmöglich, dazuzugehören.
»Es ist echt okay«, wiederholte er nochmals leise, aber diesmal sah er sein Gegenüber an. Tom verzog nachdenklich das Gesicht.
»Ich hab kein Plan, wie ich das wieder wirklich gut machen kann, Leon. Für den Anfang vielleicht, quasi als… als Friedensangebot… ich fänd es cool, wenn mein Lebensretter als Erster auf meinem Gips unterschreiben würde. Was sagst du?«
Leon starrte eine Sekunde lang auf den Marker, den Tom ihm hinhielt, nahm ihn entgegen und schrieb.
Toms Augen weiteten sich überrascht, dann platzte ein lautes Lachen aus seinem Mund.
Auf seinem Unterarm stand FREAK.
Titel der Geschichte: FREAK
Song: “Lichtblick” von GReeeN
Autor: LeyLoki
Kommentar des Autors: Für Valerie. Dein ganzes Leben lang hast du dich gegen Unrecht aufgelehnt. Ich bin froh, dich gekannt zu haben.
FREAK
Auf seinem Unterarm stand FREAK. Leon schrubbte darüber, bis seine Haut feuerrot war und er vor Schmerzen die Zähne zusammenbeißen musste, aber es änderte nichts. Tom und seine Freunde hatten sich vor ihrem Überfall offensichtlich genau überlegt, welcher Stift am besten halten würde.
Leon ließ die Arme und den Kopf hängen. Schwer atmend stand er mit geschlossenen Augen unter dem Wasser, das eine Spur zu warm war, um noch angenehm zu sein. Er drehte den Hahn zu und lauschte den Tropfen, die von seinen nassen Haaren auf den Boden der Dusche fielen.
Freak. Freak. Freak.
Sein Blick huschte wie von selbst zu dem Arm. Da stand es, nur unwesentlich blasser als die ganzen Stunden davor, seit sie ihn gepackt und es ihm auf die Haut geschrieben hatten. Er hörte ihr Lachen, ihr Johlen, schnell blinzelte er gegen die Tränen an, die sich in seinen Augen sammelten. Unwirsch stieß er die Glastür auf und stieg aus der Kabine. Auch mit dem Handtuch rubbelte er über den Arm, obwohl ihm völlig klar war, dass das nichts bringen würde.
Sein Gesicht sah ihm aus dem Spiegel entgegen, blass, pickelig, dunkle Ringe unter den Augen. Die Lippen zu schmal, die Haare zu braun, und ganz allgemein viel zu dürr und zu mickrig.
»Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?«, fuhr er sich selbst an und kämpfte mit aller Macht dagegen an, die Faust mitten in den Spiegel zu schmettern. Er zeigte sich die Zähne, drehte sich mit einem Ruck um, ertrug sein eigenes Bild plötzlich nicht mehr. Leon stieg hastig und ungelenk in die sauberen Sachen, die er sich bereitgelegt hatte, und flüchtete in sein Zimmer.
Er tigerte in dem kleinen Raum hin und her, seine Fäuste öffneten und schlossen sich rastlos. Wie hatte er so blöd sein können? Er hätte doch bemerken müssen, dass sich jemand von hinten seinem Platz näherte. Und warum eigentlich hatte er sich nicht stärker gewehrt? Seine Nägel kratzten zornig über die schwarzen, eckigen Buchstaben.
Leon packte eines der Modelle aus dem Regal und schleuderte es ohne nachzudenken gegen die Wand. Knackend zersplitterte das Holz des Retro-Autos, Teile flogen in alle Richtungen. Grimmige Zufriedenheit stieg in ihm auf, als er die Reste seiner stundenlangen Arbeit als Wrack auf dem Boden liegen sah. Schon hielt er das nächste Stück in der Hand, ein Segelschiff, auf das er irgendwann aus irgendwelchen bescheuerten – freakigen – Gründen stolz gewesen war.
Er holte aus, doch dann drang ein leises Piepen durch seinen Zorn und er erstarrte. Wieder piepte es, und gleich darauf noch einmal. Den Arm noch immer erhoben wurde ihm eiskalt. Er kannte diesen Ton und er hatte eine Ahnung, was er bedeutete. In Zeitlupe drehte er den Kopf, bis er sein Handy sah, das auf dem Bett lag. In diesem Moment kam die nächste Whatsapp-Nachricht an. Leon schluckte, seine Zunge lag wie ein Fremdkörper trocken und unbeweglich in seinem Mund.
Vorsichtig ließ er das Schiff sinken, legte es auf der Bettdecke ab und hob mit kalten Fingern das Handy auf. Er zitterte, musste seinen Code dreimal tippen, bis er die Kombination fehlerlos eingegeben hatte. Dann öffnete er den Klassenchat.
Leon musste das Video nicht abspielen, um zu wissen, was darin zu sehen war. Im Grunde hatte er schon die ganze Zeit darauf gewartet. Trotzdem klickte er auf die Datei. Zuerst war da viel zu groß und verwackelt Toms grinsendes Gesicht. Er hielt erst einen Edding in die Kamera, dann presste er sich mit einem leisen Gackern den Zeigefinger auf die Lippen. Das Handy wurde gedreht, Leon sah sich selbst, wie er lesend an seinem Tisch saß. Ihm wurde übel. Er wollte ausschalten, das Smartphone weglegen, aber er schaffte es nur, seine Augen zu schließen. Er hörte trotzdem sein eigenes, erschrockenes Japsen, sein erbärmliches Quieken, ihr Lachen. Dann stoppte das Video. Leon öffnete die Augen wieder. Auf dem Standbild war er selbst zu sehen, in sich zusammengesunken, völlig kraftlos, wehrlos, und auf seinem Arm stand FREAK.
Die Nachrichten im Chat überschlugen sich, im Sekundentakt flogen Smileys in die Textspalte.
„Haha damn ihr Assis habt es echt durchgezogen“, schrieb Joshua und schickte eine ganze Flut lachender Gesichter hinterher.
„freeeeeeakyyyyy diggah!!!“, kam es von Mika, mit dem er doch nie ein Problem gehabt hatte.
Rike kommentierte mit einem GIF, in dem ein sitzendes Baby vor Lachen nach hinten umfiel.
„Das ist so cringe, Leute“ Raffa setzte auf eine ganze Reihe Affen, die die Hände vor das Gesicht schlugen.
Leons Atem ging stoßweise, seine Kiefer schmerzten. Er öffnete den Mund, um die Muskeln zu lockern, aber es half nichts. Nichts gegen die Schmerzen, nichts gegen die Scham, nichts gegen das Entsetzen, das sein Rückgrat hinaufkroch und ihm alle Kraft aussaugte.
„Wie scheiße seid ihr eigentlich?!“
Leon blinzelte einmal, zweimal, las die Nachricht irritiert nochmals. Sie kam von Valerie, einer neuen Schülerin, die bisher kein Wort mit ihm gewechselt hatte. Was meinte sie?
„Frau Simon interessiert das hier sicher brennend!“, schob sie hinterher. Leon runzelte verstört die Stirn. Was hatte die Direktorin damit zu tun?
„Ey chill mal, Vally“, kommentierte Tom sofort, „Was ist dein Problem?“
Eine Weile erschien keine weitere Nachricht. Leon merkte kaum, dass er die Luft angehalten hatte. Er stieß sie aus, als Marc schrieb. Marc, der seinen Arm auf die Tischplatte gepresst hatte.
„Ist doch nix passiert, alle hatten Spaß“
„Na einer ja wohl nicht“, hielt Valerie dagegen. Der Anflug eines Lächelns bildete sich auf Leons Gesicht. War sie auf seiner Seite? Ein weiteres Ping ertönte, aber nicht aus dem Klassenchat. Es war eine private Nachricht. Von Valerie.
„Hey, alles ok bei dir? Magst du reden?“
Wieder und wieder las Leon die Worte. Warum machte sie das? Sollte er antworten? Was sollte er antworten? Wollte er reden? Wollte sie reden? Oder war das ein Trick, um ihn am Ende noch mehr zu demütigen? Er knabberte an seiner Unterlippe, den Daumen ein Stück über der Tastatur schwebend. Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den anderen. Sie konnte das doch gar nicht ernst meinen.
Oder?
„Ey die neue steht auf Freaks“, stichelte jetzt Joshua gegen Valerie. Wieder ploppten Smileys im Chat auf wie gelbe Seifenblasen aus Spott.
Leons Handy klingelte los, Valerie Ott stand auf dem Display, und vor Schreck ließ er es fallen. Das Ding landete auf seinem Bett und leuchtete ihm weiter ihren Namen entgegen. Er schüttelte hektisch den Kopf, Panik sprang ihn aus dem Nichts an, er konnte einfach nicht mit ihr sprechen, er schlug die Bettdecke zurück, so dass diese das Klingeln dämpfte und das Leuchten vor ihm verbarg. Mit wild klopfendem Herzen betrachtete Leon seine Bettwäsche, bis das Geräusch endlich verstummte und er wieder atmen konnte. Er hörte, dass weitere Nachrichten eingingen, aber er schaffte es nicht, die Decke anzuheben. Er wandte sich ab und drehte wie schon zuvor seine Runden durch das kleine Zimmer.
»Wovor hast du eigentlich Schiss, du Feigling?«, murmelte er und warf einen erneuten Blick auf das Bett. Er wusste es selbst nicht. Er wusste nicht einmal, welche Möglichkeit ihm mehr Angst einjagte – dass sie sich am Ende doch nur über ihn lustig machen wollte oder dass sie tatsächlich auf seiner Seite war und ihm helfen wollte. Er erschreckte ihn zutiefst, und er konnte sich ihr Verhalten einfach nicht erklären.
Er fühlte sich schlagartig wie eingesperrt in seinem Zimmer. Es schnürte ihm die Luft ab, die Wände rückten bedrohlich nah. Leon ballte die Fäuste, damit seine Hände aufhörten zu zittern, dann riss er die Tür auf und rannte beinah den Flur hinunter ins Wohnzimmer. Dort war es nicht besser, im Gegenteil, ihm schlug eine abweisende, vorwurfsvolle Stille entgegen, die ihm Schamesröte ins Gesicht trieb, und die Menschen auf den zahlreichen Fotos lachten ihn spöttisch aus.
Er hetzte in die Küche, öffnete den Kühlschrank, er würde jetzt etwas essen, ganz normal, einfach etwas essen, auch wenn ihm eigentlich nur schlecht war, Essen würde sicher helfen.
Er griff nach einer Tupperdose, in der die Reste des Mittagessens lagen, und auf seinem Unterarm stand FREAK. Eine Welle Übelkeit stieg in ihm auf. Ein abgehackter Ton kroch aus seiner Kehle, irgendwo zwischen Schluchzen und Keuchen. Der Kühlschrank kommentierte das mit kaltem Licht und kalter Luft. Kalt, alles kalt. Alles kalt.
Leon knallte die Tür wieder zu und stolperte rückwärts, stieß gegen den Küchentisch, er nahm es kaum wahr.
Es klingelte an der Tür.
Leon erstarrte. Gehetzt sah er in Richtung des Eingangs. Alles in ihm befahl ihm, wegzurennen. Oder still stehen zu bleiben und zu ignorieren, dass jemand vor der Tür stand. Aber dann straffte er die Schultern, ärgerte sich darüber, dass er so ein verdammtes Weichei war, und machte sich auf den Weg.
Er öffnete und war kaum überrascht, Valerie zu sehen. Trotzdem waren seine Knie weich und seine Hand lag verkrampft auf dem Knauf, als würde er gleich einen Rückzieher machen, ihr die Tür vor der Nase zuschlagen und sich in sein Bett verkriechen. Was ja nicht ging, denn dort lauerte sein Handy.
Leon sah die Straße hinauf und hinunter, dann wieder zurück zu Valeries schüchtern lächelndem Gesicht.
»Hey«, grüßte sie zurückhaltend. Noch immer öffnete er die Tür nicht weiter, starrte sie nur an und fühlte sich so schrecklich unbeholfen. Freak, dachte sie jetzt sicher. Er kratzte sich verlegen am Kopf und befahl sich innerlich, endlich etwas zu sagen.
»Ich… ich will nicht stören, ich wollt nur, ähm…« Valerie schien ebenso unsicher zu sein wie er selbst. »Ich mein, ich hab nen Make-up-Entferner dabei, hier, siehst du…« Sie hielt eine kleine Tasche hoch und sprach dann schnell weiter. »Und Nagellackentferner und Öl, weil ich gelesen hab, dass man mit Öl so Stifte gut wegbekommt und ich dachte, wir könnten vielleicht…«
Leon öffnete den Mund, er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Heraus kam: »Willst du reinkommen?«
Vally lächelte erleichtert, stieg die drei Stufen nach oben und hing ihre Jacke an die Garderobe. Suchend sah sie sich um. »Deine Eltern gar nicht daheim?«
Leon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mama arbeitet im Krankenhaus, sie hat heut ne Doppelschicht. Ich seh sie erst morgen zum Frühstück. Sonst gibt’s hier nur noch mich.«
Wenig später saßen sie sich im Schneidersitz auf Leons Bett gegenüber. Neben ihr lag das Segelschiff, das vor kurzem beinahe wie das Auto an der Wand zerschellt wäre. Sie betrachtete es von allen Seiten und strich über das glatte Holz der Außenwand.
»Das ist toll«, bemerkte sie und warf Leon einen Blick zu, den er nicht so recht deuten konnte. Auf jeden Fall schien sie sich nicht lustig zu machen.
»Danke«, murmelte er, nahm das Schiff an sich und stellte es auf das Regal zu den anderen Modellen zurück. Auf dem Rückweg machte er einen kleinen Bogen und versuchte, unauffällig die Reste des Autos mit dem Fuß unter den Schreibtisch zu schieben. Natürlich bemerkte sie es. Ihre Stirn runzelte sich kurz, ihr Mund öffnete sich ein Stück, als würde sie etwas sagen wollen, doch sie blieb still. Sie schien in seinem Gesicht etwas zu suchen und wirkte mit einem Mal unendlich traurig. Er schluckte und wich ihrem Blick aus, seine Wangen wurden heiß. Unbeholfen setzte er sich wieder auf sein Bett. Jetzt würde sie sicher gleich ihre Tasche nehmen und vor ihm flüchten.
Tatsächlich griff sie nach ihrer Tasche, Leons Herz raste schnell. Er senkte den Kopf und sah auf seine Hände, die Finger ineinander verknotet. Was für Worte würde sie wählen? Wie würde sie ihm sagen, dass er wirklich der Freak war, für den ihn alle hielten?
»Darf ich?«
Irritiert sah er auf. Sie hatte eine kleine Flasche aus der Tasche gezogen und deutete fragend auf seinen Arm. Die Offenheit in ihrem Blick überwältigte ihn für einen Augenblick. Dann löste er seine Finger voneinander und streckte ihr den hässlichen Schriftzug entgegen. Ihre Fingerspitzen strichen leicht darüber, ihre Stirn war jetzt wieder gerunzelt.
»Diese Arschlöcher« Ihre Stimme war leise, aber voller Wut. Leon schwieg. Verräterische Tränen stiegen in seine Augen, und er brauchte seine ganze Konzentration, um nicht vor ihr loszuweinen. Vorsichtig rieb sie mit einem Wattepad über seine Haut. Er beobachtete sie, ihre Hände, ihre dunklen Locken, die sich vor ihrem Gesicht wie ein Vorhang ringelten, wenn sie nach unten sah. Eine Weile arbeitete sie schweigend vor sich hin.
»Wie lang geht das schon so?« Unvermittelt sah sie ihn an. Er zuckte mit den Schultern. Seit ich mich erinnern kann, dachte er. Es war schon immer so gewesen.
»Ne Weile«, antwortete er ausweichend. Um ihrem Blick nicht mehr standhalten zu müssen, schaute er auf seinen Arm. Die Schrift war deutlich blasser, aber trotzdem noch gut lesbar.
»Ich werd morgen einfach nen Pulli anziehen…«
»Quatsch, es soll über 30 Grad geben. Das kriegen wir schon hin. Aber hör mal… Du musst zur Direktorin gehen.« Valerie umfasste leicht sein Handgelenk, brachte ihn so dazu, sie wieder anzusehen. Er zuckte mutlos mit den Schultern.
»Und was soll das bringen? Sie werden nur noch wütender, wenn ich petzen gehe.«
Valerie schüttelte bestimmt den Kopf. »Aber sie dürfen damit nicht durchkommen. Und wenn sie wieder was machen, gehst du wieder zur Direktorin. So lang, bis sie es satthaben, deinetwegen in Schwierigkeiten zu kommen.«
Leon zog einen Mundwinkel nach oben. So einfach war das nicht. Er hatte es schon so oft versucht. Alle Gespräche, alle Versuche, sich zu wehren, waren nutzlos gewesen. Er war so unglaublich müde. Er rieb sich mit der freien Hand über die Augen und wollte nur noch schlafen.
»Du hast das nicht verdient, weißt du? Du bist kein Freak, du bist… immer so freundlich zu allen.« Leon zuckte wieder mit den Schultern. Er wünschte, sie hätte recht damit. Er wünschte, er wäre anders. Aber sie war erst seit ein paar Wochen in seiner Klasse. Also konnte sie nicht wissen, ob er es verdient hatte oder nicht. Er wischte die Müdigkeit mit einer Handbewegung beiseite, und plötzlich war da stattdessen eine gehörige Portion Wut.
»Was weißt du schon? Du kennst mich gar nicht! Ich wette, vor dem Video heute hast du mich noch nie bemerkt!«, fuhr er sie an. Vally zuckte überrascht ein Stück zurück und hob die Augenbrauen. Leon zog seinen Arm zu sich und verschränkte die Arme vor der Brust, verdeckte so den Schriftzug vor ihr. Sie stieß langsam die Luft aus und sah ihn etwas ratlos an.
»Naja…«, begann sie auf der Suche nach Wörtern, »ich kenn dich zumindest mal nicht lang, das stimmt. Aber… aufgefallen bist du mir.«
Er schnaubte abfällig. So ein Unsinn. Er war unsichtbar. Ein Niemand. Kein Mensch hatte ihn je bemerkt, außer wenn es darum ging, sich über ihn lustig zu machen.
»Wann?«
»In Deutsch. Beim Lechner. Immer, wenn du vorliest, bist du mir aufgefallen.«
Leon verzog den Mund. »Ja, der hat irgendein Problem mit mir. Der nimmt mich ständig dran.« Er dachte ungern an den Unterricht bei Herrn Lechner, weil es ihm dort fast unmöglich war, nicht aufzufallen. Selbst wenn er völlig desinteressiert und von dem Lehrer abgewandt auf seinem Platz saß, wurde er aufgerufen und förmlich gezwungen, vor der Klasse zu sprechen. Er hasste es so sehr.
Ein breites Lächeln erschien auf Valeries Gesicht. »Sag mal, ist es möglich, dass dir noch niemand gesagt hast, was für ne tolle Stimme du hast?«
Leon starrte sie an, als hätte sie ihm eröffnet, dass sie von einem anderen Planeten stammte.
»Doch, glaub mir. Ich lieb es, dir zuzuhören. Du hast so ne Art… keine Ahnung, was es ist, aber du liest die Sachen so lebendig vor wie niemand sonst in der Klasse.«
»So ein Blödsinn…«, widersprach Leon stammelnd. Er lehnte sich kopfschüttelnd noch ein Stück von ihr weg. »Ich sterbe jedes Mal, wenn ich lesen muss. Ich red viel zu leise, ich…«
»Ach hör auf«, unterbrach sie ihn lachend, »Es ist toll. Ich glaub es echt nicht, dass du das nicht weißt! Das ist ein riesen Talent!«
Leon sah sie unsicher an. Sicher, er stotterte nicht herum beim Lesen wie manche anderen, aber besonders gut fand er sich auch nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das der Grund dafür war, dass Herr Lechner ihn ständig drannahm. Und selbst wenn…
»Selbst wenn? Was kann ich mir davon kaufen? Das ist kein Talent, das mir irgendwann mal was nützen könnte.«
»Warum denn nicht? Du könntest Sänger werden oder so.«
Jetzt war es Leon, der laut zu lachen begann. »Nein, sorry, das… kannst du vergessen. Ich kann nicht singen. Ich bin sowas von unmusikalisch.« Er grinste. Seine Mutter hatte ihn vor ein paar Jahren zum Klavierunterricht angemeldet und es war ein Desaster gewesen. Nein, das würde sicher nichts werden. Valerie grinste mit, strich sich eine Strähne hinters Ohr und rutschte aufgeregt hin und her.
»Okay, dann nicht Sänger. Aber was ist mit Synchronsprecher? Du würdest mit deiner Stimme allen Frauen den Kopf verdrehen. Oder… Radiomoderator. Ich würd den Sender auf jeden Fall einschalten.«
Verlegen kratzte sich Leon hinter dem Ohr. Er hatte keine Ahnung, wie er mit diesem Lob umgehen sollte, aber er konnte nicht leugnen, dass sich zusätzlich zu der Hitze in seinen Wangen ein warmes, befreiendes Gefühl in seinem Körper ausbreitete. Es gab etwas, auf das er stolz sein konnte.
»Ahm… danke«, brachte er heraus und sie lachte wieder. Dann klatschte sie in die Hände und zog eine andere kleine Flasche aus ihrer Tasche. »Probieren wir´s mal damit…« Keine 10 Minuten später war auf seinem Arm nichts mehr zu sehen.
**
Sie hatten noch eine ganze Weile zusammen in Leons Zimmer gesessen und über alles Mögliche gesprochen. Es war so leicht, mit ihr zu reden und zu lachen. Sie hatte sich verabschiedet mit den Worten: »Hey, denk dran – du bist kein Niemand.«
Und jetzt trafen sie sich wie verabredet ein paar Minuten vor Unterrichtsbeginn in der Schule. Vor dem Zimmer der Direktorin.
Leon zitterte am ganzen Körper, er konnte nicht stillstehen. Seine Finger kneteten ununterbrochen den Saum seines T-Shirts. Der einzige Grund, aus dem er stehen blieb, war Valerie. Sie war ganz ruhig. Immer wieder bestätigte sie ihm, dass er das Richtige tat, und immer wieder schaffte sie es, ihn zu erden.
Schließlich war es soweit. Frau Simon öffnete die Tür. Sie traten ein. Das Gespräch war maximal unangenehm und peinlich. Er hatte das Gefühl, von diesen grauen, strengen Augen durchbohrt zu werden, während er seine Geschichte erzählte. Mit völlig reglosem Gesicht sah sie sich das Video an, dann tippte sie gefühlt stundenlang etwas in ihren Computer. Leons Kehle wurde mit jeder verstrichenen Sekunde enger, sein Herz polterte so unrhythmisch wie damals das Klavier in seiner ersten Unterrichtsstunde.
»Danke, dass du zu mir gekommen bist, Leon, das war völlig richtig«, sagte sie schließlich und sah ihn schon wieder so durchdringend an. Sein Magen krampfte sich zusammen und am liebsten hätte er sich die Hände vor das Gesicht geschlagen. Obwohl die Worte so klangen, als wäre sie auf seiner Seite, sagte ihr Blick etwas ganz anderes. »Ich werde jetzt zuerst mit deiner Lehrerin sprechen und sie nach ihren Eindrücken fragen. Danach werde ich die Herren, die in dem Video zu sehen sind, einbestellen. Sie werden eine Strafe bekommen, denn das war absolut inakzeptabel. Bitte komm sofort zu mir, wenn noch einmal etwas in dieser Art vorkommen sollte.«
Damit waren sie entlassen. Mit mulmigem Gefühl machte sich Leon auf den Weg ins Klassenzimmer. Valerie wich nicht von seiner Seite. Sie sprach mit ihm, irgendetwas Aufmunterndes, aber er konnte ihren Worten kaum folgen. Das würde kein gutes Ende nehmen, da war er sich sicher. Als eine Viertelstunde später Frau Simon eintrat und kurz darauf mit Tom, Marc und Matthias wieder verschwand, wurde ihm richtig übel. Die Blicke seiner Klassenkameraden stachen wie Dolche in seinem Rücken. Sie alle wussten, dass er gepetzt hatte. Er biss die Zähne zusammen und hielt den Blick starr auf sein Heft vor sich gerichtet. Das Atmen fiel ihm schwer.
Zum Ende der Stunde kamen die drei zurück. Leon schluckte, als sie an seinem Platz vorbeigingen. Er schaffte es nicht, den Blick zu heben und sie anzusehen. Einer von ihnen trat unauffällig gegen sein Tischbein, der Ruck ließ ihn zusammenzucken, als wäre er selbst getroffen worden.
Doch entgegen seinen Befürchtungen passierte – nichts.
Der ganze Tag war wie ein Spießrutenlauf. Die Augen der anderen verfolgten ihn auf Schritt und Tritt, aber niemand sagte ein Wort. Vielleicht lag es an Valerie. Sie ließ sich nicht davon stören, dass er ein reines Nervenbündel war und blieb ständig in seiner Nähe. Sie sprach mit ihm, als würde sie nichts von der seltsamen Anspannung in der Klasse bemerken.
Mit dem Klingeln der letzten Stunde riss Leon seinen Ranzen nach oben und flüchtete, so schnell er konnte ohne zu rennen, aus dem Schulgebäude. An der Bushaltestelle war er auf sich gestellt. Valerie wohnte nur ein paar Straßen entfernt und ging zu Fuß nach Hause. Natürlich war ausgerechnet heute der Bus noch nicht da. So stand er in dem Gedränge, die Augen weit offen, und hielt Ausschau nach der Linie 15.
»Hey, Freak!« Leon fuhr herum, da waren sie, alle drei, mit wutverzerrten Gesichtern kamen sie im Laufschritt auf ihn zu. Es war beinah komisch, wie die Gespräche ringsum sofort verstummten. Die Schüler neben ihm rückten von ihm ab, es bildete sich ein Kreis mit ihm im Mittelpunkt.
Leon kam sich sonderbar leicht vor. Die ganze Furcht, die Anspannung, die Bauchschmerzen des Vormittags, waren mit einem Schlag verschwunden.
Das muss jetzt aufhören, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die verdächtig wie Valerie klang. Leon atmete tief durch und drehte sich seinen Mitschülern entgegen.
»Wegen dir Pisser müssen wir nachsitzen!«, keifte ihn Tom an, der inzwischen direkt vor ihm stand. Er pikste ihm seinen Zeigefinger in die Brust, so hart, dass Leon überrascht einen Schritt zurücktaumelte. Sofort schlossen die drei auf, kamen ihm viel zu nah, und da war die Furcht wieder. Aber dazu hatten sich Widerwillen und Trotz gesellt.
»Dann hättet ihr nicht so ne Scheiße abziehen sollen«, schoss er zurück und wischte Toms Hand zur Seite, als der versuchte, ihn am Kragen zu packen. Die Überraschung, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, wäre beinah komisch gewesen, wäre es nicht so ernst gewesen.
»Habt ihr das gehört? Der Freak gibt Widerworte« Toms Stimme war verzerrt vor Sarkasmus, in seinen Augen funkelte es böse.
»Der will halt was aufs Maul«, ätzte Marc mit einem gemeinen Grinsen. Leon biss sich auf die Lippen, hob aber den Kopf noch höher. Tom schubste ihn wieder rückwärts, und beinah wäre er über seine Füße gefallen.
»Hör auf damit!« Er war unglaublich froh, dass nichts Bettelndes in seiner Stimme lag. Trotzdem lachten seine Peiniger nur.
»Warum denn? Rennst du sonst wieder zur Simon und heulst dich aus?« Matthias sprach mit ihm wie zu einem Kleinkind. Er schürzte die Lippen und rieb sich die Augen, als würde er weinen. Immer weiter drängten die drei ihn zurück. Leon schaute sich hastig um. Wieso sahen alle weg? Wieso half ihm niemand? Die würden ihn verprügeln, hier, zwischen allen Schülern, einfach so, und keiner wollte etwas dagegen unternehmen?
Hilfloser, heißer Zorn packte ihn, und gleichzeitig packte Tom sein Handgelenk. Leon reagierte instinktiv. Mit einem harten Ruck riss er den Arm zurück.
Tom strauchelte.
Stolperte.
Da lag ein Ranzen.
Auf dem Boden.
Toms Arme ruderten durch die Luft.
Die Wut verschwand aus seinem Gesicht.
Wurde zu Überraschung.
Zu Entsetzen.
Bremsen kreischten.
Eine Hupe dröhnte.
Schreie.
So laute Schreie.
**
Zwei Tage später saß Leon auf seinem Platz. Er konnte den Blick nicht von dem leeren Stuhl abwenden, auf dem Tom normalerweise saß. Es war still in der Klasse. Viel stiller als sonst. Niemand redete lautstark mit seinem Nachbarn. Niemand rannte herum. Niemand lachte. Vorn an der Tafel standen die Klassenlehrerin, die Direktorin und der Schulsozialarbeiter. So ernst hatte Leon die drei noch nie gesehen.
Die Tür öffnete sich und Tom trat ein. Ein Raunen ging durch die Klasse. Sein rechter Arm steckte in einem grünen Gips, der vom Handgelenk bis zur Mitte des Oberarms reichte. Manche klatschten, aber es verebbte schnell. Marc stand halb auf, setzte sich auf einen Blick der Direktorin aber wieder hin. Unruhig tuschelten die Jugendlichen miteinander und rutschten auf ihren Stühlen herum.
Die Lehrerin lächelte Tom zu, der ungewohnt unsicher dort vorne stand und nicht so recht wusste, wohin mit seinem Blick und seiner freien Hand.
»Schön, dass du da bist, Tom, ich – wir alle – sind so froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Bitte setz dich.«
»Ja, danke… gleich« Tom nickte ihr mit einem angespannten Gesichtsausdruck zu, dann wandte er sich an Leon. Der blinzelte überrascht und hielt dem Blick halb misstrauisch, halb neugierig stand. Tom räusperte sich und kratzte sich mit der linken Hand verlegen an seinem Handgelenk, dort, wo der Gipsverband begann.
»Also, hey, ähm, Leon… ich wollt dir erst sagen, dass…« Er hielt inne und sah sich hilfesuchend um. Im Klassenzimmer war es jetzt so leise wie noch nie. Leons Lippen waren trocken und er leckte nervös darüber. Sollte das eine Entschuldigung werden?
»Also, ich hatte im Krankenhaus viel Zeit zum Nachdenken und auch zum Reden. Dank geht an der Stelle raus an Vally für die verbalen Ohrfeigen. War nötig, denk ich.«
Sie reckte schmunzelnd einen Daumen nach oben. »Jederzeit wieder!«, rief sie und erntete den einen oder anderen verhaltenen Lacher. Auch Leon musste grinsen.
»Auf jeden Fall hat sich rausgestellt, dass ich ´n Arschloch war. Es… es tut mir leid, Leon, ehrlich.«
Leon legte den Kopf schief und zuckte unbehaglich mit den Schultern. Die Blicke der Klasse prickelten erwartungsvoll auf seiner Haut. Er sah auf sein Heft und murmelte: »Schon okay…«
Tom schüttelte vehement den Kopf. »Nein, gar nicht okay. Man, wenn du mich nicht noch gepackt hättest, dann… Shit, du hast mir das Leben gerettet, und das, obwohl ich mich so bodenlos verhalten hab.«
Leon wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte doch nur reagiert, hatte nicht bewusst gehandelt. Er hatte nach vorn gegriffen und rein zufällig Toms Arm erwischt. Der Bus hatte ihn um Haaresbreite verfehlt, trotzdem hatte er sich bei dem Sturz die Elle gebrochen. Natürlich war er froh, dass die Szene an der Bushaltestelle kein anderes Ende genommen hatte. Für Tom, und auch für sein eigenes Seelenheil. Aber auch für ihn hatte sich an diesem Tag etwas geändert. Jetzt und hier schien es ihm nicht mehr völlig unmöglich, dazuzugehören.
»Es ist echt okay«, wiederholte er nochmals leise, aber diesmal sah er sein Gegenüber an. Tom verzog nachdenklich das Gesicht.
»Ich hab kein Plan, wie ich das wieder wirklich gut machen kann, Leon. Für den Anfang vielleicht, quasi als… als Friedensangebot… ich fänd es cool, wenn mein Lebensretter als Erster auf meinem Gips unterschreiben würde. Was sagst du?«
Leon starrte eine Sekunde lang auf den Marker, den Tom ihm hinhielt, nahm ihn entgegen und schrieb.
Toms Augen weiteten sich überrascht, dann platzte ein lautes Lachen aus seinem Mund.
Auf seinem Unterarm stand FREAK.